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M a y r.
ihr in klug berechnender Absicht Geschenke darbringt und
Ehrerbietigung erweist. 1 So weit geht Voltaire mit der
Schreckenstheorie; wie sie leitet er die primitive Gottesvor
stellung aus der psychischen Reaction gegen die Wahrnehmung
des Weltelendes ab. Jedoch nur die primitive Religion ruht
auf so schwankem Fundamente.
Wird dann die Einbildungskraft weiter angeregt, fährt
Voltaire fort, so bevölkert sich bald die ganze Erde mit gött
lichen Wesen; die Dörfer bekommen Kenntniss von den Göttern
ihrer Nachbarn und nehmen dieselben unter Umständen an.
Dies ist der Ursprung des Polytheismus, der Religion der
Masse, deren Gottesvorstellung immer und überall auf niedrigen,
unedlen Motiven beruht. 2 Jedoch sondert sich bei zunehmender
Cultur aus der Menge ein Häuflein Weiser ab, welche zu der
erhabenen und gütigen Idee eines Schöpfers, Ordners, Er
halters der sichtbaren Welt und zugleich Vergelters von Gut
und Böse Vordringen. 3 Wäre die Religion bloss auf die Motive
der Massen gebaut, so wäre sie der Beachtung nicht werth;
die Religion der Weisen aber (oder die Philosophie) macht
die Religionsgeschichte zu einem würdigen Objecte der Be
trachtung.
Iliemit sind wir an der Schwelle der eigentlichen Historie,
an der Schwelle der Ueberlieferung, bei den Religionen der
alten Culturvölker angelangt; Inder, Chinesen, Chaldäer sind
die ältesten derselben, jünger sind die Aegypter, Phönizier,
Juden, Griechen und Römer. Sie alle haben so ziemlich die-
1 Phil, de l’hist., V. — D’oii est donc derivee eette idee? du Sentiment
et de cette logique naturelle qui se developpe avee Tage dans les hommes
les plus grossiers. On a vu des effets etonnants de la nature, des moissons
et des sterilites, des bienfaits et des fleaux, et on a seuti un maitre. (Art.
Dieu I.) — Aber auch die moralische Naturanlage des Menschen bezeichnet
Voltaire als religiös. ,11 faut donc, avant tous les cultes, une religion
naturelle, qui trouble le cceur de l’hömme, quand il eut . . commis une
action inhumaine. 1 (Art. Expiation.)
2 Der Polytheismus folgt dem Ur-Monotlieismus zeitlich nach. ,J’ose croire
qu’on a commence d’abord par reconnaitre un seul Dieu, et qu’ensuite la
faiblesse humaine en a adopte plusieurs. 1 (Art. Eeligion, III, 2.)
3 Cependant il faut bien que la raison se perfeetionne . . Tous ces philo-
sophes babyloniens, persaus etc. admettent un Dieu supreme remunera-
teur et vengeur. (Art. Eeligion, ibid.)