Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 95. Band, (Jahrgang 1879)

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M a y r. 
ihr in klug berechnender Absicht Geschenke darbringt und 
Ehrerbietigung erweist. 1 So weit geht Voltaire mit der 
Schreckenstheorie; wie sie leitet er die primitive Gottesvor 
stellung aus der psychischen Reaction gegen die Wahrnehmung 
des Weltelendes ab. Jedoch nur die primitive Religion ruht 
auf so schwankem Fundamente. 
Wird dann die Einbildungskraft weiter angeregt, fährt 
Voltaire fort, so bevölkert sich bald die ganze Erde mit gött 
lichen Wesen; die Dörfer bekommen Kenntniss von den Göttern 
ihrer Nachbarn und nehmen dieselben unter Umständen an. 
Dies ist der Ursprung des Polytheismus, der Religion der 
Masse, deren Gottesvorstellung immer und überall auf niedrigen, 
unedlen Motiven beruht. 2 Jedoch sondert sich bei zunehmender 
Cultur aus der Menge ein Häuflein Weiser ab, welche zu der 
erhabenen und gütigen Idee eines Schöpfers, Ordners, Er 
halters der sichtbaren Welt und zugleich Vergelters von Gut 
und Böse Vordringen. 3 Wäre die Religion bloss auf die Motive 
der Massen gebaut, so wäre sie der Beachtung nicht werth; 
die Religion der Weisen aber (oder die Philosophie) macht 
die Religionsgeschichte zu einem würdigen Objecte der Be 
trachtung. 
Iliemit sind wir an der Schwelle der eigentlichen Historie, 
an der Schwelle der Ueberlieferung, bei den Religionen der 
alten Culturvölker angelangt; Inder, Chinesen, Chaldäer sind 
die ältesten derselben, jünger sind die Aegypter, Phönizier, 
Juden, Griechen und Römer. Sie alle haben so ziemlich die- 
1 Phil, de l’hist., V. — D’oii est donc derivee eette idee? du Sentiment 
et de cette logique naturelle qui se developpe avee Tage dans les hommes 
les plus grossiers. On a vu des effets etonnants de la nature, des moissons 
et des sterilites, des bienfaits et des fleaux, et on a seuti un maitre. (Art. 
Dieu I.) — Aber auch die moralische Naturanlage des Menschen bezeichnet 
Voltaire als religiös. ,11 faut donc, avant tous les cultes, une religion 
naturelle, qui trouble le cceur de l’hömme, quand il eut . . commis une 
action inhumaine. 1 (Art. Expiation.) 
2 Der Polytheismus folgt dem Ur-Monotlieismus zeitlich nach. ,J’ose croire 
qu’on a commence d’abord par reconnaitre un seul Dieu, et qu’ensuite la 
faiblesse humaine en a adopte plusieurs. 1 (Art. Eeligion, III, 2.) 
3 Cependant il faut bien que la raison se perfeetionne . . Tous ces philo- 
sophes babyloniens, persaus etc. admettent un Dieu supreme remunera- 
teur et vengeur. (Art. Eeligion, ibid.)
	        
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