Voltaire-Studien.
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aus denen bei dem Wilden, dem Kinde, dem Bauern religiöse
Vorstellungen hervorgehen, sind also nach seiner Ansicht die
nämlichen, aus denen die primitiven Religionen überhaupt
hervorgegangen sind. Ist einmal der göttliche sowohl, als der
teuflische Ursprung der Religionen abgelehnt und der mensch
liche acceptirt, so ergibt sich auch für die Werthbeurtheilung
derselben ein anderer Standpunkt. Was involvirt doch die
bekannte Herleitung der Religion aus dem Affecte der Furcht?
Doch dies, dass die Religion selbst dahinfällt, wenn sich zeigen
sollte, dass die Furcht eine leere ist, oder wenn die Furcht
der inneren Missbilligung unterliegt und einer tapferen, edlen
Seele unwürdig erscheint. Jedoch, Voltaire’s Theorie fällt mit
der eben besprochenen nicht gänzlich zusammen.
Den religionsbildenden Urmenschen dürfen wir uns nach
Voltaire nicht völlig roh und thierisch vorstellen, sondern in
geselligem Vereine lebend, etwa in einer Dorfschaft ,dans unc
bourgade d’hommes presque sauvages'. 1 Vor der Urgesellung
liegt eine Periode absoluter Gottlosigkeit. So lange sich der
Mensch ausschliesslich mit der Sorge um die Fristung des
Daseins befasst, ist er der Conception eines übernatürlichen
Wesens unfähig. 2 Voltaire beruft sich auf die thatsächliche
Existenz atheistischer Völker, die man jedoch nicht im ge
wöhnlichen Sinne atheistisch nennen dürfe, indem sie Gott
nicht läugnen, sondern einfach nicht kennen. Nehmen wir
also an, einige nahezu wilde Menschen hätten sich zu einer
Dorfschaft vereinigt. Sie sehen ihre Nährfrüchte zu Grunde
gehen, eine Ueberschwemmung zerstört ihre Hütten, Blitz und
Donner erschrecken sie; kurz sie tragen, wer ihnen all das
angethan habe. Es muss eine geheimnissvolle Macht sein, die
sie misshandelt hat; es gilt, dieselbe zu versöhnen, indem man
1 Phil, de l’hist., V.
2 Alt. Atheisme: Pour les peuples entierement sauvages on a d^jä dit
qu’on ne peilt les coinpter ni parmi les athees, ni panni les theistes . .
ils ne sont pas plus ath4es, rpie peripateticiens. — Ausser der Entwick
lung der Gottesidee behandelt Voltaire auch die Entstehung des Glaubens
an eine Seele, den Ursprung der Riten, Orakel, Prodigien etc. gemäss
dem im vorangehenden Capitel erörterten Grundsätze: La nature etant
partout la meme, les hommes ont du necessairement adopter les meines
veriRs et les meSmes erreurs. (Phil, de l’hist., VI.)