Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 95. Band, (Jahrgang 1879)

Voltaire-Studien. 
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aus denen bei dem Wilden, dem Kinde, dem Bauern religiöse 
Vorstellungen hervorgehen, sind also nach seiner Ansicht die 
nämlichen, aus denen die primitiven Religionen überhaupt 
hervorgegangen sind. Ist einmal der göttliche sowohl, als der 
teuflische Ursprung der Religionen abgelehnt und der mensch 
liche acceptirt, so ergibt sich auch für die Werthbeurtheilung 
derselben ein anderer Standpunkt. Was involvirt doch die 
bekannte Herleitung der Religion aus dem Affecte der Furcht? 
Doch dies, dass die Religion selbst dahinfällt, wenn sich zeigen 
sollte, dass die Furcht eine leere ist, oder wenn die Furcht 
der inneren Missbilligung unterliegt und einer tapferen, edlen 
Seele unwürdig erscheint. Jedoch, Voltaire’s Theorie fällt mit 
der eben besprochenen nicht gänzlich zusammen. 
Den religionsbildenden Urmenschen dürfen wir uns nach 
Voltaire nicht völlig roh und thierisch vorstellen, sondern in 
geselligem Vereine lebend, etwa in einer Dorfschaft ,dans unc 
bourgade d’hommes presque sauvages'. 1 Vor der Urgesellung 
liegt eine Periode absoluter Gottlosigkeit. So lange sich der 
Mensch ausschliesslich mit der Sorge um die Fristung des 
Daseins befasst, ist er der Conception eines übernatürlichen 
Wesens unfähig. 2 Voltaire beruft sich auf die thatsächliche 
Existenz atheistischer Völker, die man jedoch nicht im ge 
wöhnlichen Sinne atheistisch nennen dürfe, indem sie Gott 
nicht läugnen, sondern einfach nicht kennen. Nehmen wir 
also an, einige nahezu wilde Menschen hätten sich zu einer 
Dorfschaft vereinigt. Sie sehen ihre Nährfrüchte zu Grunde 
gehen, eine Ueberschwemmung zerstört ihre Hütten, Blitz und 
Donner erschrecken sie; kurz sie tragen, wer ihnen all das 
angethan habe. Es muss eine geheimnissvolle Macht sein, die 
sie misshandelt hat; es gilt, dieselbe zu versöhnen, indem man 
1 Phil, de l’hist., V. 
2 Alt. Atheisme: Pour les peuples entierement sauvages on a d^jä dit 
qu’on ne peilt les coinpter ni parmi les athees, ni panni les theistes . . 
ils ne sont pas plus ath4es, rpie peripateticiens. — Ausser der Entwick 
lung der Gottesidee behandelt Voltaire auch die Entstehung des Glaubens 
an eine Seele, den Ursprung der Riten, Orakel, Prodigien etc. gemäss 
dem im vorangehenden Capitel erörterten Grundsätze: La nature etant 
partout la meme, les hommes ont du necessairement adopter les meines 
veriRs et les meSmes erreurs. (Phil, de l’hist., VI.)
	        
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