74 M a y r. ihr in klug berechnender Absicht Geschenke darbringt und Ehrerbietigung erweist. 1 So weit geht Voltaire mit der Schreckenstheorie; wie sie leitet er die primitive Gottesvor stellung aus der psychischen Reaction gegen die Wahrnehmung des Weltelendes ab. Jedoch nur die primitive Religion ruht auf so schwankem Fundamente. Wird dann die Einbildungskraft weiter angeregt, fährt Voltaire fort, so bevölkert sich bald die ganze Erde mit gött lichen Wesen; die Dörfer bekommen Kenntniss von den Göttern ihrer Nachbarn und nehmen dieselben unter Umständen an. Dies ist der Ursprung des Polytheismus, der Religion der Masse, deren Gottesvorstellung immer und überall auf niedrigen, unedlen Motiven beruht. 2 Jedoch sondert sich bei zunehmender Cultur aus der Menge ein Häuflein Weiser ab, welche zu der erhabenen und gütigen Idee eines Schöpfers, Ordners, Er halters der sichtbaren Welt und zugleich Vergelters von Gut und Böse Vordringen. 3 Wäre die Religion bloss auf die Motive der Massen gebaut, so wäre sie der Beachtung nicht werth; die Religion der Weisen aber (oder die Philosophie) macht die Religionsgeschichte zu einem würdigen Objecte der Be trachtung. Iliemit sind wir an der Schwelle der eigentlichen Historie, an der Schwelle der Ueberlieferung, bei den Religionen der alten Culturvölker angelangt; Inder, Chinesen, Chaldäer sind die ältesten derselben, jünger sind die Aegypter, Phönizier, Juden, Griechen und Römer. Sie alle haben so ziemlich die- 1 Phil, de l’hist., V. — D’oii est donc derivee eette idee? du Sentiment et de cette logique naturelle qui se developpe avee Tage dans les hommes les plus grossiers. On a vu des effets etonnants de la nature, des moissons et des sterilites, des bienfaits et des fleaux, et on a seuti un maitre. (Art. Dieu I.) — Aber auch die moralische Naturanlage des Menschen bezeichnet Voltaire als religiös. ,11 faut donc, avant tous les cultes, une religion naturelle, qui trouble le cceur de l’hömme, quand il eut . . commis une action inhumaine. 1 (Art. Expiation.) 2 Der Polytheismus folgt dem Ur-Monotlieismus zeitlich nach. ,J’ose croire qu’on a commence d’abord par reconnaitre un seul Dieu, et qu’ensuite la faiblesse humaine en a adopte plusieurs. 1 (Art. Eeligion, III, 2.) 3 Cependant il faut bien que la raison se perfeetionne . . Tous ces philo- sophes babyloniens, persaus etc. admettent un Dieu supreme remunera- teur et vengeur. (Art. Eeligion, ibid.)