Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 47. Band, (Jahrgang 1864)

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hürnen Sigfried, von Eeke u. a. Ist uns alter der Inhalt dieser allite- 
rirenden Lieder erhalten, so liegt die Vermutlning nahe, dass auch 
von der Form derselben uns Manches, wenn gleich nur trümmer 
weise, verborgen unter der später hinzugekommenen Form des 
Reimes überliefert ist. Wider eine solche Vermuthung kann als 
Hauptgrund geltend gemacht werden die Länge der Zeit, welche 
zwischen dem Aufhören der Alliteration und der Abfassungszeit des 
Nibelungenliedes liegt. Wir haben allerdings nach dem Jahre SSO 
kein Gedicht mehr in alliterirender Form, 3S0 Jahre also vor dem 
Zustandekommen unseres Liedes. Aber während die Geistlichen sich 
von der deutschen Dichtung und namentlich von der als heidnisch 
verschmähten Alliteration ab wendeten, kann das Volk die alten 
Lieder auch noch in der alten Form fortgesungen haben und die 
Zaubersprüche, dieWaitz in einer Handschrift des 10. Jahrhunderts 
fand, beweisen uns die Erhaltung der alten Form in ganz unverän 
derter Weise. Tauchen doch in dem Hexenwesen des 16. Jahrhun 
derts, 300 Jahre nach dem Nibelungenlied, Formeln auf, die ihrem 
Ursprünge nach auf das 9. Jahrhundert zurückweisen. Allerdings 
ist wohl nach 830 Neues auch vom Volke nicht mehr in der alten 
Form gedichtet worden, aber das Alte wird um so treuer bewahrt 
worden sein; denn Treue ist eine Haupteigenschaft echter unge 
trübter Volkstradition. Wenn es noch in neuer Zeit möglich ist, 
dass ein Märchen in Prosa auch den Worten nach ohne einen Zusatz 
von Geschlecht zu Geschlecht sich erhält, wenn wir sehen, wie 
rechte Märchenerzähler noch in unserer Zeit auf die getreue Über 
lieferung der Worte ein grosses Gewicht legen, wie viel mehr Kraft 
der Bewahrung müssen wir einer Zeit zuschreiben, in der das Volks 
leben noch frischer war, als jetzt, in der das Gedächtniss noch nicht 
durch vielerlei Erlerntes abgeschwächt, noch nicht durch das Ver 
trauen auf Gedrucktes und Geschriebenes gestört, die Freude an 
den alten Volkshelden noch ungeschmälert und ungetrübt war. Die 
Erhaltung einer poetischen Form, wie der Alliteration, ist der Natur 
der Sache nach weit leichter, als die Erhaltung einer prosaischen 
Erzählung. Keine Form ist aber für die Bewahrung so geeignet, wie 
gerade die Alliteration. Jede andere Form der Poesie, auch der 
Reim, ist mehr oder weniger von aussen dem Inhalte angepasst, die 
Alliteration aber ergibt sich durch den Inhalt von selbst, sie wird 
durch die Hauptworte der Erzählung getragen, — erhielt sich die
	        
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