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Mayr.
zu Gott, mit anderen Worten auf Voltaire’s Philosophie der
Religionsgeschichte tiberzugehen. 1 Was immer man von dem
Werthe seiner Auffassung göttlicher und menschlicher Dinge
denken mag, das Verdienst der Klarheit, Nüchternheit und
Consequenz wird man seinen Ansichten kaum absprechen
dürfen. Gerade in seiner Philosophie der Religionsgeschichte,
dem historisch bedeutsamsten Abschnitte seiner Thätigkeit,
treten diese nicht hochklingenden, aber seltenen Eigenschaften
in ungewöhnlichem Maasse hervor.
Jeder Mann der Wissenschaft ist schliesslich von dem
ihm zugänglichen empirischen Materiale abhängig; die Nach
welt hat es leicht, die vorangehenden Generationen an Fülle
des Stoffes, an Verallgemeinerungen und Schlussfolgerungen,
welche die ausgedehntere Erfahrung an die Hand gibt, zu
überbieten. Die heutige Welt wird über die Dürftigkeit des
Materiales, das unserem Philosophen zu Gebote stand, lächeln;
sie darf es: denn mit eisernem Floisse hat sie Unbekanntes
aufgespürt, Thatsache auf Thatsache gehäuft und auch nicht
verabsäumt, zu inductiven Verallgemeinerungen zu gelangen.
Allein, einen eigentlichen Vorwurf kann sie weder dem Jahr
hunderte noch dem grossen Schriftsteller, von dem wir sprechen,
aus dem Umstande machen, dass diese nicht verwerthet haben,
was sie nicht gewusst haben. Ferner folgt aus dem berührten
Verhältnisse noch lange nicht Recht oder Pflicht, die Leistungen
des abgelaufenen Jahrhunderts als irrelevant anzusehen. Ein
Jahrhundert, das in der denkenden Betrachtung, in der kriti
schen Beurtheilung seine Stärke hatte, kann und darf für die
Wissenschaft nie umsonst gearbeitet haben.
Voltaire kannte die Religionen Vorderasiens und Aegyptens
nur aus den griechischen und hebräischen Berichten; die Monu
mente dieser Völker traf damals noch kein forschender Blick. 2
Besser kannte er die Religion Zoroaster’s — schon hatten
Hyde und Anquetil - Duperron begonnen, das Geheimniss der
selben .zu enthüllen — besser auch die Religion Altindiens;
1 Zu diesem Abschnitte vgl. besonders: Philosophie de l’histoire (1765) —
Dieu et les hommes (1769) — Art. Religion.
2 II faut däsesperer d’avoir jamais rien des Egyptiens; leurs livres sont
perdus, leur religion s’est aneanti. (Phil, de l’hist., 17.)