Friedrich Christoph Schlosser.
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noch nicht der leiseste Versuch einer Verständigung gemacht
worden ist und es den Anschein hat, als ob ein literarisches
Bedürfniss für eine solche gar nicht vorhanden wäre? Ist es
nicht ein Beweis der fortdauernden Zerfahrenheit der wissen
schaftlichen Bestrebungen und Zielpunkte, wenn hier Schlosser,
dort der gleichaltrige Niebuhr hundert Jahre nach ihrer Geburt
einen gesicherten Standplatz in der Wissenschaft entbehren?
Von Schlosser konnte versichert werden, dass er den ersten
Anforderungen, welche an einen Historiker zu stellen wären,
nicht genügt und dass er nichts für die Ermittlung der Wahr
heit zu leisten vermocht hätte. 1 Und wenn Gervinus glaubte,
er könnte den Deutschen umgekehrt in der Schlosser’schen Ge
schichtschreibung ein Normalmaass für alle zukünftige Histo
rik aufdrängen, so blieb dies — man muss sagen glücklicher
weise — ein fast vereinzelter Versuch, ein kühnes Abenteuer.
Ein schönes und verständiges Wort war es aber, welches
Löbell sagte, nachdem er der leidenschaftlichsten Verurtheilung
selbst die Zügel schiessen lassen: ,Die Perioden des falschen
Ruhmes und der unbegründeten Geringschätzung müssen ab
gelaufen sein, um der rechten Kritik Raum zu verschaffen. So
wird auch die Anerkennung des Verdienstes, welches sieh
Schlosser um die historischen Studien in Deutschland wirklich
erworben hat, in seinen rechten Grenzen erst dann Statt finden,
wenn die übertriebenen Vorstellungen von seiner Bedeutung
windet sicli mühsam von den ästhetisirenden Gesichtspunkten Humboldt’s
los und steckt überall in der apriorischen Philosophie, die er aber ver
wirft, tief drin. Im Jahre 1844 hat Wuttke in dem ,Grenzboten 1
Nr. 18 einen wenig unterrichtenden Artikel über Schlosser geschrieben,
zu dessen Verurtheilung damals auch Buchhändlerspeculationen in ab
scheulichster Weise mitwirkten.
1 Als nach dem Tode Schlosser’s Gervinus seinen Nekrolog, Leipzig 1862,
veröffentlichte, in welchem ohne tieferes Eingehen auf die Principien-
fragen eine weit über ein billiges Maass binausgehende Vergleichung
zwischen Schlosser und Ranke in der Art geliefert wurde, als hätte die
heutige Geschichtschreibung nichts Anderes zu thun, als in den Bahnen
Schlosser’s fortzuwandeln, antwortete Löbell, leider anonym, wodurch
die Gehässigkeit des Streites noch mehr hervortrat. Briefe über den
Nekrolog F. Chr. Schlosser’s von G. G. Gervinus. Die bezeichnete Ver
urtheilung besonders im neunten Brief S. 33 ff. Einen ruhigeren Artikel
lieferte dagegen Haym im Preuss. Jahrb. IX. 4. 1862 April.