Lorenz. Friedlich Christoph Schlosser
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Friedrich Christoph Schlosser und über einige
Aufgaben und Principien der Geschichtschreibung.
Von
Ottokar Lorenz,
wirkl. Mitglied der k. Akademie der Wissenschaften.
I.
M an wird nicht behaupten können, dass über unsere
meisten und hervorragendsten Geschichtschreiber eine auch nur
einigermassen sicher stehende Ansicht vorhanden und geläufig
wäre. Wenn man von der unmittelbaren Wirkung absieht,
welche die Gegenwart auch auf dem Gebiete der Geschicht
schreibung auszuüben pflegt, und wenn man auch nur einiger
massen zurückgreift in die Vergangenheit, so wird man bald
gewahr werden, dass über Jene, welche wenige Jahre vorher
noch in anerkannter Wirksamkeit gestanden, ein unzuverlässiges,
ungleiches und nicht selten ungerechtes Urtheil vorherrscht.
Die Werthschätzung des Geschichtschreibers wird unter allen
Umständen von mannigfachen localen und idealen Verhältnissen
beeinflusst sein; auch die Veränderungen des Lebens und Ge
schmacks werfen überall und zu allen Zeiten ihr wechselndes
Gewicht in die Wagschale der Beurtlieilung historiographischer
Leistungen, aber alle diese Momente reichen nicht aus, um die
ungewöhnliche Wandelbarkeit zu erklären, welcher der deutsche
Geschichtschreiber meist in der Meinung der Gelehrten und
Laien unterliegt. Die Annalen unserer Geschichtschreibung
verzeichnen die äussersten Extreme in der Behandlung und
Beurtheilung neuerer und neuester Geschichtswerke, und die
heftigste Verwerfung wird dem Schriftsteller neben der grössten
Anerkennung in rasch folgendem Wechsel zu Theil. Man
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