Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 67. Band, (Jahrgang 1871)

Ueber Kant’s mathematisches Vorurtlieil und dessen Folgen. 
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Eine solche über jeden Zweifel erhabene Erkenntniss war 
Kant die Mathematik, vor allem die Geometrie und diese 
wieder in der Form, die ihr Euclid gegeben. Die Geome 
trie, sagt er (II. 65), ist eine Wissenschaft, welche die Eigen 
schaften des Raumes synthetisch und doch a priori bestimmt. 
Kant legt sich die Frage vor: was muss die Vorstellung des 
Raumes dann sein, damit eine solche Erkenntniss von ihm mög 
lich sei? und antwortet: sie muss eine Anschauung sein! 
Den Beweis für diese Antwort zerlegt er in zwei Theile, in 
dem er besonders beweist, dass der Raum Anschauung, 
und dass diese a priori sei. Ersteres folge daraus, weil sich 
aus einem blossen Begriffe keine Sätze, die über den Begriff 
hinausgehen, ziehen lassen, welches doch in d,er Geometrie, wie 
Einleitung V bewiesen sei, geschehe. Ob es an jener Stelle 
bewiesen sei, hängt von der oben angestellten Betrachtung ab. 
Letzteres aber kommt daher, weil die geometrischen Sätze ins- 
gesammt. apodiktisch, d. i. mit dem Bewusstsein ihrer Nothwcn- 
digkeit verbunden sind; dergleichen Sätze aber nicht empiri 
sche oder Erfahrungsurtheile sein, noch aus ihnen geschlossen 
werden können. 
Der Anschauung bedürfen geometrische Sätze nur, weil 
sie synthetisch, bedürfen derselben also nicht, wenn sie im Gegcn- 
theile analytisch (oder identisch) sind. Einer apriorischen An 
schauung aber bedürfen sie, weil sie ,apodiktisch', d. i. ,mit dem 
Bewusstsein ihrer Nothwendigkeit verbunden sindh Letzteres 
dient als Erkenntnissgrund, aus dem die Apriorität der 
Anschauung, worauf die geometrischen Urtheile beruhen, 
erschlossen wird. Keineswegs müsste aus demselben auf die 
synthetische Natur der geometrischen Urtheile ein Rück 
schluss gemacht werden. Apodikticität könnte denselben auch 
dann zukommen, wenn sie analytisch oder identisch wären, 
ja müsste es sogar; denn das identische oder analytische 
Urtheil kann nicht anders als mit dem Bewusstsein seiner 
Nothwendigkeit verbunden auftretep. Nicht weil die geome 
trischen Urtheile apodiktisch, dürfen sie nicht analytisch, son 
dern nur, wenn sie synthetisch, müssen sic, weil apodiktisch, 
durch eine reine Anschauung vermittelt sein. Das Vor ur 
theil von der synthetischen Natur der mathematischen, hier 
der geometrischen Urtheile, zieht die Voraussetzung einer
	        
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