J. J. Rousseau’s Leben.
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sich wohl, ob denn mit der moralischen Besonnenheit so viel Kraft
werde verbunden sein, dass in entscheidenden Augenblicken die
Heftigkeit des Begehrens werde in Schranken gehalten werden
können? ob denn die Ungebundenheit sich werde erkühnen wollen,
auch die strenge Sprache gebietender Pflichten zu missachten? Rous
seau besass einen lebhaften Sinn für das Rechte und Gute i) und er
besass vermöge der grossen Regsamkeit seiner Einbildung eine
Wärme und Innigkeit des bessern Gefühls, welche eine edle Be
geisterung zu begleiten pflegt. Als das Bewusstsein seiner Kraft er
wachte und ihn mit stolzem Math erfüllte, als er, ein neuer Reformator
der Sitten, allgemeine Umkehr verlangte, da offenbarte die Liebe für
das Bessere eine solche Kraft, dass er mit seltener Resignation sich
selbst Entbehrungen aufzuerlegen im Stande war. Aber die Kraft hatte
keinen solchen Bestand, dass sie auch den Äusserungen festgewach
sener Neigungen auf die Länge hätte Widerstand leisten können. Ein
neuer geschlechtlicher Reiz wirft den moralischen Ernst mit Gewalt
wieder zurück und die Liebe zur Unabhängigkeit und Ungebunden
heit ist so gross, dass das Gebot strenger Pflichten ungehört zu ver
hallen vermag. „Sind wir denn dazu geschaffen, um angeheftet am
Rande des Brunnens zu sterben, wohin die Veredlung sich zurück
gezogen hat?“ Diese Frage erhebt sich aufs Neue, aber sie
erhält nicht mehr wie in der kritischen Periode seines Lebens auch
in Beziehung auf seine festgewurzelten Neigungen eine verneinende
Antwort. So bleibt denn das Innere ein Schauplatz verschiedener,
einander widerstreitender Neigungen und Rousseau ist eine solche
innerlich kämpfende Natur, in welcher der bessere Theil mit seinen
Widersachern ringt, bisweilen siegt, im Taumel des vermeintlich ent
scheidenden Sieges zu jener moralischen Einbildung gelangt, aber
nie die völlige Herrschaft gewinnt. Seine innere Beschaffenheitgleicht
einer offenen Frage, welche von der bessern Überzeugung gegenüber
seinen Neigungen und Bestrebungen aufgeworfen wird, aber von den
letztem keine dauernde Anwendung erfährt, die als entscheidende
Antwort gelten könnte. So war das, was er wollte, nicht durchaus
das, was er tliat und das bessere Ich erlangte nicht die wahrhaft
a ) Auch Diderot spricht in Marmontel’s Memoiren von einem „Fonds von Güte und
Rechtlichkeit in seiner Seele“, Rosenkranz I. 369.
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