Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 63. Band, (Jahrgang 1869)

J. J. Rousseau’s Leben. 
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sich wohl, ob denn mit der moralischen Besonnenheit so viel Kraft 
werde verbunden sein, dass in entscheidenden Augenblicken die 
Heftigkeit des Begehrens werde in Schranken gehalten werden 
können? ob denn die Ungebundenheit sich werde erkühnen wollen, 
auch die strenge Sprache gebietender Pflichten zu missachten? Rous 
seau besass einen lebhaften Sinn für das Rechte und Gute i) und er 
besass vermöge der grossen Regsamkeit seiner Einbildung eine 
Wärme und Innigkeit des bessern Gefühls, welche eine edle Be 
geisterung zu begleiten pflegt. Als das Bewusstsein seiner Kraft er 
wachte und ihn mit stolzem Math erfüllte, als er, ein neuer Reformator 
der Sitten, allgemeine Umkehr verlangte, da offenbarte die Liebe für 
das Bessere eine solche Kraft, dass er mit seltener Resignation sich 
selbst Entbehrungen aufzuerlegen im Stande war. Aber die Kraft hatte 
keinen solchen Bestand, dass sie auch den Äusserungen festgewach 
sener Neigungen auf die Länge hätte Widerstand leisten können. Ein 
neuer geschlechtlicher Reiz wirft den moralischen Ernst mit Gewalt 
wieder zurück und die Liebe zur Unabhängigkeit und Ungebunden 
heit ist so gross, dass das Gebot strenger Pflichten ungehört zu ver 
hallen vermag. „Sind wir denn dazu geschaffen, um angeheftet am 
Rande des Brunnens zu sterben, wohin die Veredlung sich zurück 
gezogen hat?“ Diese Frage erhebt sich aufs Neue, aber sie 
erhält nicht mehr wie in der kritischen Periode seines Lebens auch 
in Beziehung auf seine festgewurzelten Neigungen eine verneinende 
Antwort. So bleibt denn das Innere ein Schauplatz verschiedener, 
einander widerstreitender Neigungen und Rousseau ist eine solche 
innerlich kämpfende Natur, in welcher der bessere Theil mit seinen 
Widersachern ringt, bisweilen siegt, im Taumel des vermeintlich ent 
scheidenden Sieges zu jener moralischen Einbildung gelangt, aber 
nie die völlige Herrschaft gewinnt. Seine innere Beschaffenheitgleicht 
einer offenen Frage, welche von der bessern Überzeugung gegenüber 
seinen Neigungen und Bestrebungen aufgeworfen wird, aber von den 
letztem keine dauernde Anwendung erfährt, die als entscheidende 
Antwort gelten könnte. So war das, was er wollte, nicht durchaus 
das, was er tliat und das bessere Ich erlangte nicht die wahrhaft 
a ) Auch Diderot spricht in Marmontel’s Memoiren von einem „Fonds von Güte und 
Rechtlichkeit in seiner Seele“, Rosenkranz I. 369. 
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