Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 64. Band, (Jahrgang 1870)

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Scherer 
Der Anonymus und Spervogel liegen dieser Erhebungsperiode 
voraus. Und auf ihr Niveau sinken die späteren Dichter wieder hinab. 
Dürfen wir jene genannten als das erste Lebenszeichen, gleich 
sam als Vorboten, der langen bürgerlichen Epoche ansehen? 
Nur für den geistlichen Zug ihrer Poesie kann das zugegeben 
werden. Sonst aber haben vielleicht die obigen Betrachtungen genügt, 
um eine andere Auffassung wahrscheinlich zu machen. Spervogel und 
seine Verwandten stehen nebst den Verfassern des Rother, Morolt, 
Orendel, Oswald usw. wie Endmoränen eines ehemals vorhan 
denen, für uns aber verschwundenen Gletschers da, der in ähnlicher 
Zusammensetzung mindestens vom Ende des neunten bis ans Ende 
des zwölften Jahrhunderts gedauert hatte, dann auf kurze Zeit zu 
rückwich, bis er fünf Jahrhunderte lang abermals und nun vjel weiter 
sich ausbreitete, so dass — wenn der Ausdruck erlaubt ist — eine 
allgemeine Vergletscherung unserer Poesie eintrat. 
Wodurch wurde das Zurückweichen im zwölften und wieder im 
achtzehnten Jahrhundert bewirkt? Oder, um mein früheres Bild wie 
der aufzunehmen, welches sind die Hebungskräfte, durch welche die 
Blüteepochen unserer Poesie, durch welche unsere grossen Dichter 
hervorgetrieben wurden aus dem Tietlande? 
Die Frage würde eine besondere Untersuchung verlangen. Das 
Vorurthcil ist sehr verbreitet, dass die deutsche Litteratur des acht 
zehnten Jahrhunderts sich wesentlich von allen modernen europäi 
schen Litteraturen dadurch unterscheide, dass sie nicht mit einem 
Aufstreben des nationalen Selbstgefühls zusammen falle. Ich glaube, 
es lässt sich das Gegentheil beweisen. Doch hiervon jetzt nichts. 
N ft c h t r n g. 
Zu S. 285 13], DieS. 321. [39]. 322 140] angeführten Strophen, 
Denkm. Nr. 49,3 und die von Keinz publicirte, lassen sich vielleicht 
für die Vorgeschichte des zweiten Tons verwerthen. Jene stellt sich 
als sechszeilige Strophe dar, bestehend aus zwei stumpfen Reim 
paaren von vier Hebungen und einem klingenden Reimpaare von drei 
Hebungen. Diese zeigt dieselbe Form mit Verlängerung der letzten 
Zeile auf fünf Hebungen, Dazu brauchte nur noch die Waise hinzuzu 
treten, und der zweite Spervogelton war fertig.
	        
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