Studien zur Vorgeschichte einer romanischen Tempuslehre. 49
Dieser Wechselwirkung zwischen dem literarischen und
dem Umgangslatein schreibe ich auch die wichtigsten Änderun
gen in der Syntax des Verbums zu. So hat wohl die literarische
Sprache den Konjunktiv im Temporalsatz und Konsekutivsatz
eingeführt, ursprünglich mit einer besonderen Färbung im Aus
druck des Verbums. Die Volkssprache griff die literarische
Mode auf und verallgemeinerte sie wahllos (§5f.). Später erfolgte
eine Reaktion gegen das Eindringen der -ss-Formen in jede
Art von untergeordnetem Satze; die Volkssprache überschreitet
wieder die Grenzen und führt nun auch den Indik. Plusqu. in
den innerlich abhängigen Nebensatz ein, wie wir noch sehen
werden. Charakteristischerweise sind es gerade die Provinzen
mit der stärksten literarischen Bildung wie Südfrankreich und
die iberische Halbinsel, welche das unliterarische Ubergreifen
der Literärsprache auf das Volksidiom am stärksten zeigen;
Nordfrankreich und die Alpengegenden mit einer ausgesprochen
bäuerlichen Bevölkerung sind viel konservativer und literarischen
Einflüssen gegenüber ablehnend. Das will aber nicht sagen,
daß hier alle Entwicklung sich ohne Einwirkung von außen
abgespielt hat. Aber hier erfolgt die Beeinflussung auf geogra
phischem Wege, in der Form der wellenförmigen Fortpflanzung.
Während bis jetzt psychologische Momente in der Aus
bildung des Verbalsystems innerhalb der Schriftsprache kon
statiert werden konnten, werden wir von dem Momente an, wo
das Einwirken eines literarischen Idioms aufhört, nichts Ähn
liches mehr finden. Lautliche Entwicklung und daraus sich
ergebende Homonymität ursprünglich verschiedener Verbal
formen werden von nun an die einzigen Kräfte in der Aus
bildung syntaktischer Verschiebungen sein.
34. So ergibt sich mit dem beginnenden Mittelalter das
folgende Verbalformenschema der Umgangssprache:
Selbständig
Abhängig
liabeo
habebam 1
liabiii >
licibueram )
habuero (Fut.)
habeam, höherem
habuissem
— urus sim, — essem, bzw.
habere habeam, h. höherem
Sitzungsber. d. phil.-hist. Kl. 172. Bd. 6. Abb.