Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 142. Band, (Jahrgang 1900)

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II. Abhandlung: Th an er. 
in der Frage der Unfreiheit war Ivo von Chartres. Darauf 
hingewiesen zu haben, hat A. Esmein das Verdienst. Bevor 
ich auf das Decret Gratians eingehe, sind also die Ansichten 
Ivo’s zu erörtern, umsomehr als ich darin in einigen Stücken 
von Esmein abweiche. 1 
Ivo von Chartres vertrat, den Worten des Apostels Paulus 
folgend, die Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. 
Er wurde vom Bischof von Orleans um Rath angegangen, wie 
er sich die Anwendung derselben auf die ungleiche Ehe denke. 
Ivo sah sich den decreta patrum und leges saeculi gegenüber 
vor eine unlösbare Frage gestellt, denn die Gleichheit in der 
Ehe war nur auf zwei Wegen herzustellen: entweder durch 
Wegnahme der Freiheit, oder durch Beseitigung der Unfreiheit. 
Den ersten Weg hat zu Gunsten der Herrengewalt das natio 
nale Recht eingeschlagen, für Ivo war er natürlich verschlossen; 
zu dem zweiten, Aufhebung der Leibeigenschaft, fehlte dem 
Bischöfe die Macht. Er hätte also die Lösung der Frage ab 
lehnen und es dem Gewohnheitsrechte überlassen sollen, Wandel 
zu schaffen, denn es gab schon damals Gegenden, in denen 
wenigstens der freie Theil seine Freiheit bewahrte. Aber Ivo 
war zu sehr Theoretiker, um sich abschrecken zu lassen. Er 
setzte sich zuerst für die Freiheit in der Weise ein, dass er 
ihr die Ehe opferte; damit der Freie dem Unfreien nicht zu 
folgen brauche, schuf er für ihn eine Ehe, die keine mehr war. 
Als dies vom Bischof von Evreux beanstandet wurde, suchte 
er dem freien Theile die Freiheit wenigstens dann zu retten, 
wenn die ungleiche Ehe unbeabsichtigt, in Folge Betruges, 
eingegangen worden war; in diesem Falle opferte er gleichfalls 
der Freiheit die Ehe, und so vollständig, dass er sie für nichtig 
erklärte. Damit war Ivo, was die praktische Seite der An 
gelegenheit betraf, nach kühnem Fluge auf dem Standpunkte 
der decreta patrum et leges saeculi, d. i. des fränkischen 
Reichskirchenrechtes vom 8. Jahrhundert angelangt; indem er 
die Rückgewinnung der Freiheit auf den Fall des Betruges 
1 Ich bin der Ansicht, dass der französische Bischof nicht sowohl für die 
Unauflöslichkeit der Ehe, als in favorem libersatis gesprochen hat. Ivo 
von Chartres und Abälard konnten sich die Hand reichen, jener als 
Wortführer der persönlichen Freiheit, dieser als Vertlieidiger der freien 
Vernunft.
	        
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