30 II. Abhandlung: Th an er. in der Frage der Unfreiheit war Ivo von Chartres. Darauf hingewiesen zu haben, hat A. Esmein das Verdienst. Bevor ich auf das Decret Gratians eingehe, sind also die Ansichten Ivo’s zu erörtern, umsomehr als ich darin in einigen Stücken von Esmein abweiche. 1 Ivo von Chartres vertrat, den Worten des Apostels Paulus folgend, die Idee der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Er wurde vom Bischof von Orleans um Rath angegangen, wie er sich die Anwendung derselben auf die ungleiche Ehe denke. Ivo sah sich den decreta patrum und leges saeculi gegenüber vor eine unlösbare Frage gestellt, denn die Gleichheit in der Ehe war nur auf zwei Wegen herzustellen: entweder durch Wegnahme der Freiheit, oder durch Beseitigung der Unfreiheit. Den ersten Weg hat zu Gunsten der Herrengewalt das natio nale Recht eingeschlagen, für Ivo war er natürlich verschlossen; zu dem zweiten, Aufhebung der Leibeigenschaft, fehlte dem Bischöfe die Macht. Er hätte also die Lösung der Frage ab lehnen und es dem Gewohnheitsrechte überlassen sollen, Wandel zu schaffen, denn es gab schon damals Gegenden, in denen wenigstens der freie Theil seine Freiheit bewahrte. Aber Ivo war zu sehr Theoretiker, um sich abschrecken zu lassen. Er setzte sich zuerst für die Freiheit in der Weise ein, dass er ihr die Ehe opferte; damit der Freie dem Unfreien nicht zu folgen brauche, schuf er für ihn eine Ehe, die keine mehr war. Als dies vom Bischof von Evreux beanstandet wurde, suchte er dem freien Theile die Freiheit wenigstens dann zu retten, wenn die ungleiche Ehe unbeabsichtigt, in Folge Betruges, eingegangen worden war; in diesem Falle opferte er gleichfalls der Freiheit die Ehe, und so vollständig, dass er sie für nichtig erklärte. Damit war Ivo, was die praktische Seite der An gelegenheit betraf, nach kühnem Fluge auf dem Standpunkte der decreta patrum et leges saeculi, d. i. des fränkischen Reichskirchenrechtes vom 8. Jahrhundert angelangt; indem er die Rückgewinnung der Freiheit auf den Fall des Betruges 1 Ich bin der Ansicht, dass der französische Bischof nicht sowohl für die Unauflöslichkeit der Ehe, als in favorem libersatis gesprochen hat. Ivo von Chartres und Abälard konnten sich die Hand reichen, jener als Wortführer der persönlichen Freiheit, dieser als Vertlieidiger der freien Vernunft.