Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 107. Band, (Jahrgang 1884)

Ueber ein griechisches Schriftsystem des vierten Jahrhunderts. 
375 
Gesellschaft bis zu den Einzelnheiten der Tracht, des Städtebaus 
und des Geschäftsverkehrs vor sein Forum lud und was sich nicht 
als probehältig erwies durch rational-utilitarische Neubildungen 
zu ersetzen strebte. Der inschriftliche Fund, der uns beschäftigt, 
fügt dem Bild dieser Epoche einen neuen Zug hinzu, den wir 
nicht gerne darin missen möchten. Ist uns doch, als ob er 
demselben nie gefehlt hätte. Zwischen den Schachbrett-Städten 
des Hippodamos und dem Markengeld der Cyniker war der 
auf phonetischer Grundlage ruhenden Kurzschrift, man möchte 
sagen ihr Platz bereitet und gewiesen. Und tönt uns nicht 
aus jeder Zeile dieses Marmors der Schlachtruf des Zeitalters 
entgegen: Natur wider Uebereinkunft, Ordnung wider Planlosig 
keit, Vernunft wider Willkür und Zufall? 42 Allein hier timt eine 
Unterscheidung noth. Die Vernunftmässigkeit sollte in mensch 
lichen Dingen nur ein anderer Name für die Zweckgemässheit 
sein. Denn der Intellect kann ja selbstverständlich dem Han 
deln keine Ziele setzen; ihm liegt in Fragen der Praxis kaum 
etwas Anderes ob als gleichsam Verbindungslinien zu ziehen 
zwischen zwei Endpunkten, deren einen die von Gefühlen 
irgend welcher Art erhobene Forderung, deren anderen das von 
der Natur der Dinge (die Menschennatur inbegriffen) gebo 
tene Befriedigungsmittel darstellt. Allein gerade in den grossen 
Aufklärungsepochen pflegt sich an den Begriff der Vernünf 
tigkeit ein arger und nicht selten ein gefährlicher Missverstand 
zu heften. Wenn irgend ein Altherkömmliches, es sei nun ein 
Staats- und Gesellschaftsbau oder auch nur ein Schriftsystem, 
in Trümmer fällt oder als zweckwidrig verworfen wird, so richten 
sich die Anstrengungen der Menschen nicht sofort und aus 
schliesslich darauf, an die Stelle des Gestürzten ein Zweckdien 
licheres und Gemeinnützigeres zu setzen. Da vielmehr das 
Zweckwidrige zugleich ein allmälig Gewordenes und zumeist 
ein stückweise und planlos Umgestaltetes, mithin ein Ver 
wickeltes, Unebenmässigcs, Unharmonisches und gar häufig 
ein Verkünsteltes war: so erlangt — in Folge eines begreif 
lichen Rückschlags — das blos Einfache, Symmetrische, Har 
monische und sogenannte Natürliche eine ungebührliche Werth 
schätzung, eine höhere als der allein zuständige Richter, 
der gemeine Nutzen ihm zuzusprechen vermag. Welche Ver 
heerungen dieser falsche Natur- und Vernunftcultus in den
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.