Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 107. Band, (Jahrgang 1884)

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G o m p e r z. 
vor uns liegt. Das Eine sehlicsst das Andere in sich, oder 
vielmehr es sind nur zwei Seiten eines und desselben geistigen 
Processes. Nun stehen wir aber einer Epoche gegenüber, welche 
reformlustiger und fortschrittstrunkener war als irgend eine an 
dere, als selbst der Höhepunkt des vernunftberauschten acht 
zehnten Jahrhunderts. Es waren die Lenzestage des erwachenden 
Menschengeistes, dessen schwellenden Jugenddrang der Mehl- 
thau des Misserfolges noch nicht gestreift, dessen siegesfrohen 
Aufschwung der ernüchternde Hauch der Erfahrung noch nicht 
gedämpft hatte. Wer in solcher Zeit ein Uebel zu bekämpfen 
unternimmt, der bescheidet sich nicht leicht damit, etwa blos 
seinen Besitzstand einzuschränken oder es mit schonender Hand 
einer schrittweisen Verbesserung zuzuführen. Er will dasselbe 
— und sei es noch so weit verzweigt oder noch so tief gewurzelt 
— frischweg ausrotten und durch ein möglichst Vollkommenes 
ersetzen. 41 Und so empfiehlt es sich denn allerdings als die wahr 
scheinlichste Annahme, dass unser graphischer Neuerer sich das 
höchste Ziel gesteckt hat, das er sich zu setzen vermochte: die 
Umwälzung des hellenischen Schriftwesens überhaupt, die Ver 
drängung der althistorischen Schrift der Griechen durch seine 
Neuschöpfung, die er an der geweihtesten Stätte des ,Pryta- 
neums von Hellas* seinen Volksgenossen zur Beurtheilung vor 
legte und zur Annahme empfahl. 
Doch hierüber, über die Zwecke und den Umfang der 
geplanten Reform ist eine Meinungsverschiedenheit möglich. 
Nicht aber in Rücksicht des Geistes, von dem sie durchweht 
ist und der sie so überaus denkwürdig macht. Es ist dies der 
Geist der unbedingtesten Vernunftmässigkeit, — der vollständig 
sten Emancipation von Pierkommen und Ueberlieferung. Es 
ist dies der Geist eines Mannes, der einer praktischen Aufgabe 
gegenüber nicht nach rechts und nicht nach links, sondern 
nur gerade vor sich hin blickt und nur die eine Frage kennt: 
welche Wirkung gilt es zu erzielen und welche sind die ge 
eignetsten Mittel, um sie zu erzeugen? Es ist jener Geist vor- 
aussetzungs- und vorbehaltloser Zweckherrschaft, der insbe 
sondere durch Sokrates auf den Thron gehoben und von den 
Cynikern auf allen Lebensgebieten zu schonungslosester Anwen 
dung gebracht ward, — der alles geschichtlich Entstandene, 
vom Höchsten bis zum Niedrigsten, von den Grundlagen der
	        
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