Friedrich Christoph Schlosser.
139
eigentlich nicht zu Deutschland, welches, selbst ein dunkler
Begriff, für den Sohn der friesischen Erde stets eine imaginäre
Grösse blieb. 1 Was die heimatlichen Erinnerungen von den
Beziehungen zu den benachbarten deutschen Ländern erzählten,
kleidete sich in die Tradition despotischer Eroberungsversuche
und ungerechter kirchlicher oder politischer Unterdrückung.
Der friesische Wahlspruch aber in einem alten Wappen lautete:
,lieber todt als Sklave', und diesem Lakonismus persönlichen
Unabhängigkeitsdranges, welcher auch Schlosser’s Seele erfüllte,
hielt nirgends ein grösseres Staatsgefühl ruhig wägend, das
Gegengewicht. »Schlosser besass wohl eine Heimat, aber kein
Vaterland und auch von dieser Heimat kann man nicht sagen,
dass er sie übermässig hochgeschätzt hätte. Ob sich aber aus
solchen .Tugendempfindungen ein sicherer historischer Stand
punkt, insbesondere nach der Seite staatlicher Geschichte ent
wickeln konnte, müssen wir vorläufig dahin gestellt sein lassen.
Denn wenn auch eine Antwort auf diese Frage durch Beispiele
aller Zeiten ebenso, wie vielleicht aus naheliegenden Erfah
rungen gegeben werden könnte, so träfe uns doch leicht der
Vorwurf, an die spätere wissenschaftliche Arbeit des Historikers
mit einem vorurtheilenden Maasstab herangetreten zu sein.
Wie die deutsche Welt gegen Ende des vorigen Jahr
hunderts beschaffen war, lag ihr nichts ferner, als die Grund
festen eines nationalen Staatsbewusstseins aufzusuchen, oder
den Mangel davon zu bedauern. Man war von sehr allgemeinen
Gesichtspunkten in der Wissenschaft, in der Kunst von so
genannten menschheitlichen Idealen erfüllt. Der concrete Inhalt
menschlicher, gesellschaftlicher, staatlicher Verhältnisse wurde
in einer Zeit allgemeiner Erschütterung dem jungen Menschen
absolut nur auf dem Wege wissenschaftlicher Theorien oder
1 Weber-Schlosser S. i. Er erwähnt aber gar nicht, dass Jever nicht zu
Deutschland gehörte, was gleichwohl vollkommen sicher ist, vgl. Berghaus
Deutschland seit hundert Jahren II. 210 ff. Ich lege Werth auf diesen
Umstand, weil Gervinus sich Mühe gibt, es zu erklären, warum Schlosser
,das ganze Gebiet der Geschichte durchwandert und nur der deutschen den
Rücken gekehrt 1 habe. Gervinus woiss die seltsamsten principiellen und
wissenschaftlichen Erklärungen hiefiir. Aber dass es dem Kosmopoliten des
vorigen Jahrhunderts schon seiner Geburt nach an eigentlich nationaler
Anr egung fehlen musste, ist nicht bemerkt.