Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 67. Band, (Jahrgang 1871)

Müller. Morphologie u. Entwicklungsgeschichte d. Sprachen. 
139 
Beiträge zur Morphologie und Entwicklungs 
geschichte der Sprachen. 
I. 
Von 
Dr. Friedrich Müller. 
Professor an der Wiener Universität. 
Im Leben der Sprache lassen sich, wie innerhalb einer 
jeden auf organischer Entwicklung beruhenden Existenz, zwei 
Perioden genau unterscheiden, nämlich erstens die Periode des 
Wachsthums, zweitens die Periode der inneren Ausbil 
dung, mit welcher gemeiniglich auch der Verfall der Aus- 
senseite, — hier des Lautes, einzutreten pflegt. Diese beiden 
Perioden muss eine jede Sprache durchmachen, wenn wir auch 
gegenwärtig dieselben an einer Sprache zu beobachten nicht 
vermögen. 
Es scheint, dass die Sprachen sämmtlich die Periode des 
Wachsthums bereits hinter sich haben und gegenwärtig in dem 
Zustande der inneren Ausbildung und des lautlichen Verfalles 
sich befinden. Dies ist auch mit dem Menschen überhaupt der 
Fall; die sogenannten Naturvölker, welche den Culturvölkern 
gegenüber auf einer niederen Stufe erscheinen, repräsentiren 
nichts weniger als etwa den Zustand der ersten Kindheit. 
Dieselben haben ebenso wie die Culturvölker eine nach 
Tausenden von Jahren zählende Entwicklungsgeschichte hinter 
sich, nur ist der Fortschritt beider ein sehr verschiedener. 
Während die Culturvölker, von Haus aus ungleich höher 
begabt, um bildlich zu sprechen, aus Kindern zu reifen 
Männern sich entwickelt haben, sind die Naturvölker während 
derselben Zeit kaum zu Knaben herangewachsen. 
Auf dem Gebiete der Sprachwissenschaft ist man in der 
neuesten Zeit übereingekommen, den Zustand des Wachsthums
	        
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