Full text: Die Staatsbahn von Wien bis Triest mit ihren Umgebungen

fühlen, denn Niemand kann läugnen, daß auch das Wunder der Neuzeit, dem der 
Verfasser mit eben so viel Verständniß als Begeisterung huldigt, sein Poetisches 
hat, wie jedes Wunder. 
Es ist nicht das Schöne, worin die Eisenbahnpoesie liegt, aber das Erhabene, 
das Erhabene der Bewegung, der Kraft, dieses gewaltige, allen Hindernissen und 
Gefahren trotzende Fortstuͤrmen nach dem Ziele, dieses mächtige Zusammenraffen 
kleiner Bilder und Eindrücke zu einem großen Gesammtbild und Gesammteindruck, 
dieser Prometheus-Trotz, der Berge spaltet, uͤber Stroͤme setzt, über Thalschluch⸗ 
ten hinwegspringt, Felswände durch Schlangenwindungen überlistet, gegen die 
kleinen Neckereien heimlicher Quelladern und tückischer Erdschlüpfe siegreich an— 
kämpft und die widerspenstigsten Elemente zwingt zu willfährigem Frohndienste. 
Wußte aber gleich die Poesie im Großen sich zu behaupten, so hat doch 
die Detail-⸗Poesie unbestreitbar viel eingebüßt. Wohin schwand seit dem Augen⸗ 
blicke, wo der Dampf schnaubt, die liebliche Poesie des Posthorns, durch dessen 
langgezogenen Ton der trauliche „Schwager“ das schlummernde Echo der Berge 
weckt, wenn gleich nicht den theuern Cameraden*), der ihm auf mondbeglaͤnztem 
Kirchhof schlummert? Wohin das Lied der Sennerin bei sinkendem Abend, das 
jetzt der gellende Pfiff der Signalpfeife spottend übertäubt? Wohin der rollende 
Nachhall des fernen Wetters, das jetzt beim Rasseln des Waggons ungehoͤrt sich 
verliert? Wohin alle Postwagen-Romane und Gasthof-Abenteuer, alle Bergbesteigun— 
gen und Ruinenbesuche, alle Dorfgeschichten und Kirchtagscenen, wohin all' die 
kleinen Ueberraschungen und Fatalitäten, welche hundertmal erzählt und wiederer⸗ 
zählt als heitere Familien-Tradition vom Großvater auf die Enkel sich vererbten? 
Sie sind dahin! 
2Zusammen eng geschmiedet wird der Raum, 
Gebrochen seine Rechte an die Zeit, 
Die Wirklichkeit sie wird zum Traum, 
Und unser Traum stirbt an der Wirklichkeitt*e)« 
Dessenungeachtet ist der Uebersprung aus der alten Zeit in die neue gewiß 
kein so plötzlicher und gewaltsamer, daß unter den Reisenden, welche den Waggon 
besteigen, nicht immer noch einige sich fänden, die den Comfort des neuen Reise⸗ 
mittels gerne mit den Genüssen verbänden, durch welche die alte Art zu reisen 
ihre Märtyrer entschädigte. Es giebt noch immer „müßige“ und „empfindsame“ 
Reisende, wie NYorick sie tauft, welche den einförmigen Act des Abfahrens und 
Anhaltens und Wiederabfahrens gern unterbrochen wüßten durch anregendes Bei— 
werk, und die Fühlfäden ihrer Empfindung und Einbildungskraft gern hinausstreck⸗ 
len nach rechts und links, um die Voesie, die am Wege liegt, in zeitweiligen kleine⸗ 
) Vergl. N. Len au's Gedicht: »Der Postillon« 
*) Vergl. J F. Scheren ber g's Gedicht: »Eise nbahn undimmer Eisenbahn« 
in dessen Gedichten. Berlin, A. W. Hayn, 1853. 3. Aufl. S. 83. 
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