Kant und die positive Philosophie.
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Zustand, ,in welchem die Menschheit alle ihre Anlagen völlig
entwickeln kann', beide nach Kant’s eigenem treffenden Aus
druck als eine Art ,philosophischen Chiliasmus 4 auf. Jenem
sind nach der Lehre Comte’s ein metaphysischer und ein
theologischer Zustand der Menschheit, diesem ist nach jener
Kant’s ein Zustand des Krieges zwischen Individuen und
Staaten vorhergegangen. Ersterer wie letzterer stellen nur
Uebergangsstadien, aber als solche unvermeidliche Phasen dar,
durch welche die Menschheit, um zu jenem Ziele zu gelangen,
hindurchgehen muss, die sich nach Comte wie Kindheit und
Jugend als organische Vorstufen zur Mannbarkeit, nach Kant
wie von der Natur g’ewollte Mittel zu dem von derselben
beabsichtigten Zwecke verhalten.
Hierin liegt ein Grundunterschied beider Geschichts
philosophien. Beide Autoren sprechen von einem ,Naturgesetz 4
der Entwicklung der Menschheit; aber der eine versteht dar
unter ein lediglich physiologisches, der andere ein moralisches.
Comte spricht von einer ,evolution 4 , Kant von einer ,Bestim
mung 4 des Menschengeschlechtes. Jener überträgt das von ihm
entdeckte Fundamentalgesetz der Entwicklung der Wissen
schaft auf die Geschichte der Menschheit. Wie sich die
Wissenschaft durch die drei successiven Zustände, den theo
logischen, metaphysischen und positiven (Kindheit, Jugend,
Mannheit) hindurchzieht, so zerfällt die Geschichte der Mensch
heit in ein theologisches, metaphysisches und positives Zeit
alter. Die Kenntniss dieses Gesetzes stammt aus der Er
fahrung; woher es selbst stamme, ob es der Menschheit durch
einen übernatürlichen oder durch einen ,Naturwillen 4 auferlegt
sei, verbietet sich die positive Philosophie erforschen zu wollen.
Ersteres wäre ein Rückfall auf den ,theologischen 4 , dieses auf
den ,metaphysischen 4 Standpunkt der Geschichtswissenschaft.
Indem Kant der Natur eine ,Endabsicht 4 zuschreibt d. b. sie
selbst als mit Intelligenz und Willen begabt ansieht, hat er
nach Comte’s Ansicht den ,positiven 4 Standpunkt des Wissens
noch nicht erreicht, ist er noch immer ,trop metaphysique 4 ,
obgleich er demselben ,näher als jeder andere Metaphysiker 4
stehen soll.
Das Charakteristische einer ,naturgesetzlichen 4 Entwick
lung im Gegensatz einer künstlichen liegt darin, dass sie ,un-