J. J. Rousseau'« Lehen.
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Auge des Fremden hatte sich nichts ereignet. Dafür gewann jenes
Zwitterbild von Mutter und Geliebte nach solchem Erlehniss einen
ganz andern und festem Bestand, als es früher in Folge blosser
phantastischer Träume gehabt hatte<). Nicht bloss durch zärtlichen
Umgang sollte das Bild der Geschlechtsliebe eine idealisirte Gestalt
annehmen: auch der Beischmack des Freundschaftlichen, Mütter
lichen muss in enge Verbindung mit derselben gesetzt werden. Da
musste eine ganz eigenthümliche, Rousseau’sche, aber freilich an
innerem Widerstreit kränkelnde Art von Geschlechtsliebe sich ent
wickeln und zum bleibenden Bestandtheil seiner Anschauung werden.
Was aber das Wichtigste ist und auf seine spätere Handlungweise
einen gar nicht unwesentlichen Einfluss ausgeübt hat, so lernte Rous
seau im Zusammenleben mit der kinderlosen 2 ) Frau von Warens das
Vergnügen des geschlechtlichen Umgangs gemessen, ohne die Pflich
ten der Ehe damit zu verbinden.
Indessen fehlte doch viel, dass seine Wünsche mit der Befrie
digung zur Ruhe gekommen wären. Das ist schon nach dem natür
lichen Laufe undenkbar, aber noch viel weniger bei einer romanhaf
ten Phantasie zu erwarten. Ihre Schönmalerei, ihr weiter Flug ver
gällten ihm selbst den Genuss»), wenn in der Erinnerung Verglei
chungen mit der Wirklichkeit entstanden. Er hätte überrascht wer
den sollen und ward enttäuscht. Das war eine neue Quelle innerer
Unruhe. Hiezu kamen noch äussere Anlässe, um dieselbe eine Zeit
lang in einen gähnenden Zustand zu versetzen. Die vielen Projeete
der Frau von Warens führten mit Ausnahme einer einzigen nach
Besancon zum Behüte der musikalischen Ausbildung unternommenen
Reise 4 ) zu nutzlosem Herumwandern und einem „ziemlich unstäten
Leben“ *). Da konnten die bedeutenderen oder unbedeutenderen Be
schäftigungen, welche in die Zwischenzeit Helen, für seine Entwick-
9 Nach I. p. 1 :SG sagte sie zu ihm: petit, „Kleiner“.
2 ) I. p. 24.
8 ) Rousseau drückt dies so aus: Wenn ich eine Frau hatte, waren meine Sinne be
ruhigt, mein Herz nie. I. p. 1)3.
4 ) !. p. 107. Die Rückreise wurde in kurzer Zeit wahrscheinlich desshalb angetreten,
weil nach einem Briefe aus Besanpon (IV. 166) der Musikmeister an der dortigen
Kathedrale nach Paris reiste. Der Darstellung in den Confess. scheint ein Gediicht-
nissfehler zu Grunde zu liegen.
s ) I. p. 111.
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