Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 63. Band, (Jahrgang 1869)

J. J. Rousseau'« Lehen. 
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Auge des Fremden hatte sich nichts ereignet. Dafür gewann jenes 
Zwitterbild von Mutter und Geliebte nach solchem Erlehniss einen 
ganz andern und festem Bestand, als es früher in Folge blosser 
phantastischer Träume gehabt hatte<). Nicht bloss durch zärtlichen 
Umgang sollte das Bild der Geschlechtsliebe eine idealisirte Gestalt 
annehmen: auch der Beischmack des Freundschaftlichen, Mütter 
lichen muss in enge Verbindung mit derselben gesetzt werden. Da 
musste eine ganz eigenthümliche, Rousseau’sche, aber freilich an 
innerem Widerstreit kränkelnde Art von Geschlechtsliebe sich ent 
wickeln und zum bleibenden Bestandtheil seiner Anschauung werden. 
Was aber das Wichtigste ist und auf seine spätere Handlungweise 
einen gar nicht unwesentlichen Einfluss ausgeübt hat, so lernte Rous 
seau im Zusammenleben mit der kinderlosen 2 ) Frau von Warens das 
Vergnügen des geschlechtlichen Umgangs gemessen, ohne die Pflich 
ten der Ehe damit zu verbinden. 
Indessen fehlte doch viel, dass seine Wünsche mit der Befrie 
digung zur Ruhe gekommen wären. Das ist schon nach dem natür 
lichen Laufe undenkbar, aber noch viel weniger bei einer romanhaf 
ten Phantasie zu erwarten. Ihre Schönmalerei, ihr weiter Flug ver 
gällten ihm selbst den Genuss»), wenn in der Erinnerung Verglei 
chungen mit der Wirklichkeit entstanden. Er hätte überrascht wer 
den sollen und ward enttäuscht. Das war eine neue Quelle innerer 
Unruhe. Hiezu kamen noch äussere Anlässe, um dieselbe eine Zeit 
lang in einen gähnenden Zustand zu versetzen. Die vielen Projeete 
der Frau von Warens führten mit Ausnahme einer einzigen nach 
Besancon zum Behüte der musikalischen Ausbildung unternommenen 
Reise 4 ) zu nutzlosem Herumwandern und einem „ziemlich unstäten 
Leben“ *). Da konnten die bedeutenderen oder unbedeutenderen Be 
schäftigungen, welche in die Zwischenzeit Helen, für seine Entwick- 
9 Nach I. p. 1 :SG sagte sie zu ihm: petit, „Kleiner“. 
2 ) I. p. 24. 
8 ) Rousseau drückt dies so aus: Wenn ich eine Frau hatte, waren meine Sinne be 
ruhigt, mein Herz nie. I. p. 1)3. 
4 ) !. p. 107. Die Rückreise wurde in kurzer Zeit wahrscheinlich desshalb angetreten, 
weil nach einem Briefe aus Besanpon (IV. 166) der Musikmeister an der dortigen 
Kathedrale nach Paris reiste. Der Darstellung in den Confess. scheint ein Gediicht- 
nissfehler zu Grunde zu liegen. 
s ) I. p. 111. 
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