.1. J. Rousseau’s Leben.
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Musikus') geworden, — noch dazu ein Musikus ohne gründliche
Studien 2 ), ein dilettantischer Schwärmer. Etwas Seltenes ist es
freilich nicht, dass gerade diese Kunst, weil sie die Gemüther zu er
greifen weiss, ohne dass dieselben eine eingehende Kenntniß ihi
entgegenbringen, den Reiz ausüht, sich mit ihr zu beschäftigen, se.
es nun durch praktische Übung oder durch ästhetisirendes Spielen
mit Worten. In Rousseau fand sie noch dazu einen günstigeren Ro
den als gewöhnlich. Die Kindheit ist damit vertraut gemacht»), die
Jugend, voll von romantischen Träumen, sucht auch dem Unsagbaren
Worte zu leihen 4 ), ein Herz, welches gefühlswarm ist bis zur Senti
mentalität: da dürfte wohl die Musik als ein herrliches Feld erschei
nen und geeignet genug, für alles dies eine Sprache zu reden! Der
durch frühere Praxis gewachsene Muth des Autodidakten wird schon
das Übrige thun, die mangelnde Kenntniss irn Lehren zu lernen, von
den prächtigen Gelegenheiten gar nicht zu reden, die eine solche
Stellung von selbst entgegenträgt, in schöne Cirkel und weibliche
Herzen Eingang zu finden.
Der letztere Umstand hätte hei dem Grade von Reizbarkeit,
welchen Rousseau besaß, ihm leicht eine neue Quelle von Zerstreu
ungen werden können, statt Früchte einer musicirenden Praxis zu
sammeln. Indessen blieb er diessmal vor neuen Irrungen der Phanta
sie verschont und die Vermuthung hat eigentlich keinen grossen
Spielraum, auf welche seine Wahl fällen dürfe, denn er brauchte ja
nicht in der Ferne zu suchen, was ihm so nahe war. Seine bisherige
Freundin und Erzieherin wurde seine Geliebte. Gutmüthig wie er»),
*) Wie wenig dieser Beruf damals in Ansehen stand, dafür gibt Rousseau selbst Be
lege an die Hand. Bei Erwähnung eines Streites des Chormeisters von Annecy mit
seinen geistlichen Oberen sagt er von diesen am Ende des 3. Buches (I. p. 63),
dass sie jenen „sehr von oben herab“ (avec assez de hauteur) behandelten; und
in einem Briefe vom 20. Juni 1733 (IV. p. 166) sagt er von sieh seihst, er wolle
nicht in Besangon bleiben und für einen blossen Musiker gelten, was ihm für die
Folge viel schaden würde. Es dauerte überhaupt noch lange — man denke nur an
die Behandlung, welche Mozart unter dem Erzbischof von Salzburg erfuhr — ehe
der Stand der Musiker im Ansehen der Leute stieg.
2 ) Sie wurden erst einige Zeit später in Angriff genommen. S. unten.
*) S. 1. Capitel.
4 ) I. p. 33. 70. 78.
6 ) Rousseau hatte z. B. aus Sorge für die Zukunft der Frau von Warens (siehe die
2. Anm. der nächstfolgenden Seite) eine Sparbüchse angelegt, deren Betrag sie,
wenn sie dieselbe ausfindig machte, wieder zu seinen Gunsten verwendete. I. p. 107.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXHI. Bd. III. Ilft. W