Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 15. Band, (Jahrgang 1855)

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Prof. Dr. Grysar. 
darin seinen Grund mag gehabt haben, dass von den vielen römischen 
Tragödien welche bis in die Augustische Zeit hinein gedichtet 
worden, nicht eine einzige sich erhalten hat, und nur Titel und spär 
liche Fragmente derselben übrig geblieben sind, so dass auch nur eine 
vollständige Probe von den in Rede stehenden Bestandteilen vorzu 
legen unmöglich ist. Niemand hat sich zu berufen gewagt auf die 
freilich noch vorhandenen vollständigen zehn Tragödien die den Namen 
des Seneca tragen und, möge es mit dem Verfasser stehen wie es will, 
jedenfalls in das erste Jahrhundert der Kaiserzeit gehören; obgleich 
in denselben nicht nur mehrere cantica, sondern auch in jeder einige 
und sogar grössere Chorgesänge enthalten sind. Diese Stücke seien 
nicht — so hat es Einer dem Andern nachgesagt — für die Auf 
führung auf der Bühne, sondern für Recitationen in engeren Hörer 
kreisen bestimmt gewesen. Fragt man nach dem Grunde dieser 
Annahme, so wird geantwortet einmal: dass diese Stücke durch 
ihren declamatorischen Ton und durch den Mangel an dramatischem 
Gehalt sich für die Bühne weniger geeignet hätten; dann ergebe sich 
dies auch aus den eingeflochtenen, dem griechischen Chore nach 
gebildeten Cborgesängen; denn Chöre seien auf der römischen Bühne 
nie aufgeführt worden. Aber für diese letztere Behauptung ist bis 
zur Stunde der Beweis nicht geliefert worden, und was das erstere 
betrifft, so hat man übersehen, dass, was alles in dem ersten Jahr 
hundert in der schönen Literatur geleistet wurde — und die drama 
tischen Produetionen machten am wenigsten eine Ausnahme — mehr 
oder minder den Charakter des Declamatorischen an sich trug. So 
erklärt es sich, warum sogar die Diverbien in Seneca's Tragödien, 
die, wenn man sie mit denen in den Komödien des Plautus undTerenz 
vergleicht, eine auffallend kleine Zahl ausmachen, sehr gedehnt und in 
einer ganz oratorischen Form gehalten sind; denn so wollte es ja der 
damalige Zeitgeschmack. Dass aber trotzdem Seneca’s Tragödien 
noch bühnengerecht genug sind, dafür dürfte schon der eine Umstand 
hinreichend sprechen, dass die grössten Meister der französischen 
Tragödie, Corneille und Racine, seine Stücke mehr als selbst die 
II, 3, S. 1368 Chorlieder in einigen Tragödien vorauszusetzen, bespricht die 
Sache aber im Allgemeinen nicht. Der erste welcher auf das Vorhandensein eines 
tragischen Chores hinwies, war Lange, in den vindic. trag. Rom. p. 22. Alles aber, 
was er darüber sagt, ist mit einer kurzen Note abgethan. Eben so wenig bietet 
Regel in den Abhandl. de trag. Rom. iudicia p. 5, Not. 3 und 4.
	        
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