Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 15. Band, (Jahrgang 1855)

Über das Cantieum und den Chor in der römischen Tragödie. 
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griechischen nachgebildet haben. Der, wenn auch allgemein angenom 
mene Satz, Seneca’s Stücke seien nicht für die Bühne bestimmt 
gewesen, ist immer noch nicht gehörig erwiesen und nicht einmal 
durch eine einzige Andeutung der Alten glaublich gemacht 1 ). Nichts 
destoweniger werde ich in der Beweisführung für das was ich über 
beide Bestandtheile der römischen Tragödie zu sagen habe, von 
diesen Tragödien vorläufig absehen und nur solche Data vorlegen, 
welche keine Art der Bezweiflung zulassen. Die Untersuchung über 
das Cantieum steht aber mit der über den Chor in einem engeren 
Zusammenhänge; weil beide die lyrischen Partien der römischen 
Tragödie gebildet und einander gewissermassen ergänzt haben. 
I. Das Cantieum. 
Mit dem Entstehen des kunstgemässen Drama's tritt gleich das 
Cantieum als ein Hauptbestandtheil desselben hervor. Livius Andro- 
nicus, derselbe der zuerst in Rom im J. 514 a. l T . c. ein nach dem 
Muster der Griechen geformtes Drama aufführte, hat darin auch 
gleich anfangs das Cantieum angebracht und dem Vortrag desselben 
eine Form gegeben, welche auf der römischen Bühne für immer 
beibehalten worden ist. Die Sache wird von Liv. VII, 2 mit folgen 
den Worten berichtet: Livius dicitur, quum saepius revocatus vocem 
obtudisset, venia petita puerum ad canendum ante tibicinem quum 
statuisset, cantieum egisse aliquanto magis vigente motu, quia nihil 
vocis usus impediebat. Inde ad manum cantari histrionibus coepfum, 
diverbiaque tantum ipsorum voci relicta. Aus dieser Stelle ergibt 
sich erstens, dass in dem von Livius componirten Drama ursprünglich 
ein von dem Dialog durchaus verschiedener Bestundfhei 1 enthalten 
war, der nicht nur nach der Musik, der Flöte, abgesungen, -— 
daher Cantieum genannt — sondern auch mit besonders lebhafter 
Gesticulation vorgetragen wurde. (Dass unter Cantieum ein besonderer 
l ) Dieselbe Muthmassung ist von Manchen auch in ßpzug auf die Tragödien des 
Asinius Pollio, der allerdings das Institut der Recitalionen ins Lehen gerufen, und 
in BetrelT der Tragödien des Varius ausgesprochen worden. Aber die bekannte 
Stelle im Horaz, carrn. II, p. 1, 9: Paulum severae Musa tragoediae desit theatris, lasst 
über die wirkliche Aufführung keinen Zweifel zu; und aus einem erst in der jüngsten 
Zeit in einem Pariser Codex des Isidorus entdeckten allen Scholien wissen wir jetzt, 
dass der Thvestes des Varius im J. 723 nach der Schlacht bei Aetium an den Spielen 
beim Triumphe des Octavian auf der Bühne aufgefiihrt worden. Vgl. rliein. Museum 
1842, S. 106 und 1843 S. 638.
	        
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