Über das Cantieum und den Chor in der römischen Tragödie.
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griechischen nachgebildet haben. Der, wenn auch allgemein angenom
mene Satz, Seneca’s Stücke seien nicht für die Bühne bestimmt
gewesen, ist immer noch nicht gehörig erwiesen und nicht einmal
durch eine einzige Andeutung der Alten glaublich gemacht 1 ). Nichts
destoweniger werde ich in der Beweisführung für das was ich über
beide Bestandtheile der römischen Tragödie zu sagen habe, von
diesen Tragödien vorläufig absehen und nur solche Data vorlegen,
welche keine Art der Bezweiflung zulassen. Die Untersuchung über
das Cantieum steht aber mit der über den Chor in einem engeren
Zusammenhänge; weil beide die lyrischen Partien der römischen
Tragödie gebildet und einander gewissermassen ergänzt haben.
I. Das Cantieum.
Mit dem Entstehen des kunstgemässen Drama's tritt gleich das
Cantieum als ein Hauptbestandtheil desselben hervor. Livius Andro-
nicus, derselbe der zuerst in Rom im J. 514 a. l T . c. ein nach dem
Muster der Griechen geformtes Drama aufführte, hat darin auch
gleich anfangs das Cantieum angebracht und dem Vortrag desselben
eine Form gegeben, welche auf der römischen Bühne für immer
beibehalten worden ist. Die Sache wird von Liv. VII, 2 mit folgen
den Worten berichtet: Livius dicitur, quum saepius revocatus vocem
obtudisset, venia petita puerum ad canendum ante tibicinem quum
statuisset, cantieum egisse aliquanto magis vigente motu, quia nihil
vocis usus impediebat. Inde ad manum cantari histrionibus coepfum,
diverbiaque tantum ipsorum voci relicta. Aus dieser Stelle ergibt
sich erstens, dass in dem von Livius componirten Drama ursprünglich
ein von dem Dialog durchaus verschiedener Bestundfhei 1 enthalten
war, der nicht nur nach der Musik, der Flöte, abgesungen, -—
daher Cantieum genannt — sondern auch mit besonders lebhafter
Gesticulation vorgetragen wurde. (Dass unter Cantieum ein besonderer
l ) Dieselbe Muthmassung ist von Manchen auch in ßpzug auf die Tragödien des
Asinius Pollio, der allerdings das Institut der Recitalionen ins Lehen gerufen, und
in BetrelT der Tragödien des Varius ausgesprochen worden. Aber die bekannte
Stelle im Horaz, carrn. II, p. 1, 9: Paulum severae Musa tragoediae desit theatris, lasst
über die wirkliche Aufführung keinen Zweifel zu; und aus einem erst in der jüngsten
Zeit in einem Pariser Codex des Isidorus entdeckten allen Scholien wissen wir jetzt,
dass der Thvestes des Varius im J. 723 nach der Schlacht bei Aetium an den Spielen
beim Triumphe des Octavian auf der Bühne aufgefiihrt worden. Vgl. rliein. Museum
1842, S. 106 und 1843 S. 638.