366 Prof. Dr. Grysar. darin seinen Grund mag gehabt haben, dass von den vielen römischen Tragödien welche bis in die Augustische Zeit hinein gedichtet worden, nicht eine einzige sich erhalten hat, und nur Titel und spär liche Fragmente derselben übrig geblieben sind, so dass auch nur eine vollständige Probe von den in Rede stehenden Bestandteilen vorzu legen unmöglich ist. Niemand hat sich zu berufen gewagt auf die freilich noch vorhandenen vollständigen zehn Tragödien die den Namen des Seneca tragen und, möge es mit dem Verfasser stehen wie es will, jedenfalls in das erste Jahrhundert der Kaiserzeit gehören; obgleich in denselben nicht nur mehrere cantica, sondern auch in jeder einige und sogar grössere Chorgesänge enthalten sind. Diese Stücke seien nicht — so hat es Einer dem Andern nachgesagt — für die Auf führung auf der Bühne, sondern für Recitationen in engeren Hörer kreisen bestimmt gewesen. Fragt man nach dem Grunde dieser Annahme, so wird geantwortet einmal: dass diese Stücke durch ihren declamatorischen Ton und durch den Mangel an dramatischem Gehalt sich für die Bühne weniger geeignet hätten; dann ergebe sich dies auch aus den eingeflochtenen, dem griechischen Chore nach gebildeten Cborgesängen; denn Chöre seien auf der römischen Bühne nie aufgeführt worden. Aber für diese letztere Behauptung ist bis zur Stunde der Beweis nicht geliefert worden, und was das erstere betrifft, so hat man übersehen, dass, was alles in dem ersten Jahr hundert in der schönen Literatur geleistet wurde — und die drama tischen Produetionen machten am wenigsten eine Ausnahme — mehr oder minder den Charakter des Declamatorischen an sich trug. So erklärt es sich, warum sogar die Diverbien in Seneca's Tragödien, die, wenn man sie mit denen in den Komödien des Plautus undTerenz vergleicht, eine auffallend kleine Zahl ausmachen, sehr gedehnt und in einer ganz oratorischen Form gehalten sind; denn so wollte es ja der damalige Zeitgeschmack. Dass aber trotzdem Seneca’s Tragödien noch bühnengerecht genug sind, dafür dürfte schon der eine Umstand hinreichend sprechen, dass die grössten Meister der französischen Tragödie, Corneille und Racine, seine Stücke mehr als selbst die II, 3, S. 1368 Chorlieder in einigen Tragödien vorauszusetzen, bespricht die Sache aber im Allgemeinen nicht. Der erste welcher auf das Vorhandensein eines tragischen Chores hinwies, war Lange, in den vindic. trag. Rom. p. 22. Alles aber, was er darüber sagt, ist mit einer kurzen Note abgethan. Eben so wenig bietet Regel in den Abhandl. de trag. Rom. iudicia p. 5, Not. 3 und 4.