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II. Abhandlung: Reich.
,Wer den Dichter will versteh’n — Muss in Dichters
Lande geh’n ; — aber auch wer den Kunstphilosophen recht
begreifen will, muss erwägen, wann, wo und unter welchen
Zeitströmungen dessen geistige Entwicklung sich vollzog. Am
18. Februar 1664 wurde zu Rogiano in Calabrien der Knabe
Gianvincenzo Gravina geboren. 1 Seine Eltern waren in dem
nahe der Stadt Cosenza gelegenen Orte angesehen und von
Einfluss. Dieselben vertrauten seine Erziehung ihrem Ver
wandten Gregorio Caloprese an, zu welchem der junge Gravina
nach Scalea gesandt wurde. Caloprese war 1650 zu Scalea
geboren, hatte die Universität zu Neapel besucht, sich aber
nach Vollendung seiner Studien wieder in seinen Geburtsort
zurückgezogen, wo er bis zu seinem Tode (1714) verblieb.
Er galt nach dem Zeugniss der Besten seiner Zeit für einen
sehr gelehrten, tiefsinnigen Philosophen der Cartesischen
Schule. Der Begründer der Geschichtsphilosophie, Gianbattista
Vico, nennt ihn rühmend und Pietro Metastasio bezeichnet ihn
in einem Briefe, welcher von Wien den 1. Juni 1772 datirt
und an Giuseppe Aurelio Morano gerichtet ist, als einen der
berühmtesten Philosophen seiner Zeit (,filosofo dei pia illustri
dell’etä suci‘). — In demselben Briefe erwähnt der genannte
Dichter auch, dass Caloprese’s schriftstellerischer Nachlass in
die Hände seines Schülers, des Fürsten von Scalea, überging,
dass er aber nicht wisse, welchen Gebrauch der Cavalier
davon gemacht habe. Es ist dies wohl derselbe Francesco
Maria Spinelli, Principe della Scalea, welchem Gravina seine
1712 erscheinenden Tragödien widmete. Caloprese war es,
welcher dem Knaben schon jene unbegrenzte Bewunderung
für die griechischen und lateinischen Schriftsteller einimpfte,
die der Mann sein Leben lang bewahrte. Als der Jüngling
im Jahre 1681 die Universität Neapel bezog, war er von
seinem Lehrer bereits mit der Philosophie nicht nur des
Cartesius, sondern auch des Bernardino Telesio und des
Pietro Gassendi vertraut gemacht worden. Caloprese hatte ihm
1 Das Taufdocument, durch welches der früher unrichtig angegebene Tag
sichergestellt wurde, bezeichnet als Eltern die Eheleute Gennaro Gravina
und Anna Lombarda und wurde zuerst veröftentlieht im ,Saggio sulla
vita e sulle opere di G. V. Gravina per il prof. Vincenzo Julia“ (Co
senza, Tipografia Migliaccio 1879), S. LXXXI.