SITZUNGSBERICHTE
DEK
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DEK KAISERLICHEN
K
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
HUNDERTZWANZIGSTER BAND.
WIEN, 1890.
IN COMMISSION BEI F. TEMPSKY
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
r
300122
Druck von Adolf Holzliausen,
fc. und k. Hof- und Universitäts-Buchdrucker in Wien.
INHAL T.
I. Abhandlung. Miklosich: Über die Einwirkung des Türkischen auf
die Grammatik der südosteuropäischen Sprachen.
II. Abhandlung. Reich: Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker. Ein
Beitrag zur Geschichte der Kunstphilosophie.
III. Abhandlung, v. Kremer: Studien zur vergleichenden Cultur-
geschichte, vorzüglich nach arabischen Quellen. I. und II.
IV. Abhandlung. V. Rockinger: Berichte über die Untersuchung von
Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels. XI.
V. Abhandlung. Brandt: Ueber die dualistischen Zusätze und die
Kaiseranreden bei Lactantius. Nebst Untersuchungen über das
Leben des Lactantius und die Entstehungsverhältnisse seiner
Prosaschriften. III. Ueber das Leben des Lactantius.
VI. Abhandlung, v. Hartei: Patristische Studien. I. Zu Tertullian de
spectacidisj de idololatria.
VII. Abhandlung. v. Rockinger: Berichte über die Untersuchung von
Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels. XII.
^VIII. Abhandlung. V. Kremer: Studien zur vergleichenden Cultur-
geschichte, vorzüglich nach arabischen Quellen. III. und IV.
IX. Abhandlung. Gomperz: Die Apologie der Heilkunst, eine grie
chische Sophistenrede des fünften vorchristlichen Jahrhunderts.
XIX. SITZUNG VOM 9. OCTOBER 1889.
Der Präsident begrüsst die Mitglieder der Classe bei der
Wiederaufnahme der Sitzungen nach den akademischen Ferien.
Sodann gedenkt Se. Excellenz des Verlustes, den die
Akademie inzwischen erlitten hat durch das am 5. d. M. zu
Görz erfolgte Ableben des inländischen corr. Mitgliedes Sr.
Excellenz des wirkl. Geheimrathes Dr. Karl Freiherrn Czörnig
von Czernhausen und durch den Tod des corr. Mitgliedes im
Auslande, des Senators Michele Amari in Rom, welcher am
16. Juli zu Florenz verschieden ist.
Die Mitglieder erheben sich zum Zeichen des Beileides.
Se. kais. und königl. Hoheit der durchlauchtigste Herr
Erzherzog Ludwig Salvator und Se. Durchlaucht der regierende
Fürst Johann von Liechtenstein danken für die Wahl zu Ehren
mitgliedern der Akademie.
Ferner sprechen ihren Dank aus Herr Prof. Dr. David
H. Müller für seine Wahl zum correspondirenden Mitgliede
im Inlande und Herr Geheimrath Dr. August Nauck in St.
Petersburg für seine Wahl zum ausländischen correspondirenden
Mitgliede.
Mit Rücksicht auf die Zuwendung von Schriften der
Classe sind Dankschreiben eingelaufen:
von der k. italienischen Botschaft am Wiener Hofe, sowie
von dem Municipium aus der Communal-Bibliothek in Verona;
von derDirection der k. k. UniversitätsbibliothekinWien, und
von der Direction des nunmehr aufgehobenen Gymnasiums
zu Freiberg.
VI
Mit Begleitschreiben eingelangt sind folgende Druck
schriften, welche zur Vorlage gebracht werden:
des vierten Bandes zweite Lieferung des niederländisch
chinesischen Wörterbuches von Dr. Schlegel, übermittelt durch
das k. und k. Ministerium des Aeussern;
der fünfte Band des Wtirtembergischen Urkundenbuches,
übersendet von der k. Archivdirection zu Stuttgart;
die ,Standesregister in Oesterreich'. Vorläufige Ergebnisse
der von der k. k. statistischen Central-Commission ausgeführten
Erhebung, mitgetheilt von dem Präsidenten der genannten
Commission;
,Les grands problemes sociaux ä l’Academie royale des
Sciences morales et politiques d’Espagne*, eingesendet von dem
Berichterstatter, Herrn Leon Lallemand, Mitglied der k. belgi
schen Akademie;
,Die periodische Wiederkehr der Hegemoniefrage zwi
schen der germanischen und slavischen Race in der Geschichte*,
mitgetheilt von dem Verfasser Herrn Rittmeister Kematmüller
in Temesvar.
Von Herrn Dr. Johann Kirste in Wien werden die Pflicht
exemplare seines auf Kosten der kais. Akademie gedruckten
Werkes: ,The Grihyasütra of Hiranyakesin* vorgelegt.
Das k. k. Unterrichts-Ministerium übermittelt das von
der k. und. k. Botschaft in Madrid zugesandte Programm eines
aus Anlass der im Jahre 1892 beabsichtigten Feier der vor
400 Jahren erfolgten Entdeckung Amerikas ausgeschriebenen
internationalen literarischen Concurses.
Herr Prof. Dr. Wilhelm Klein aus Prag erstattet Bericht
über seine erste Reise zur Sammlung von Material für ein
Werk über griechische Vasen mit Lieblingsinschriften.
Das w. M. Se. Excellenz Herr Goheimrath Dr. Franz
Ritter von Miklosich legt eine für die Sitzungsberichte be-
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VII
stimmte Abhandlung: ,Über die Einwirkung des Türkischen
auf die Grammatik der südosteuropäischen Sprachen' vor.
Das c. M. Herr Hofrath Dr. von Inama-Sternegg,
Präsident der lc. k. statistischen Central-Commission, theilt zur
Veröffentlichung in dem , Anzeiger' einige zur Einbegleitung der
von der gedachten Commission ausgeführten Erhebung der
Standesregister in Oesterreich dienende Bemerkungen mit.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academie, Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique:
Bulletin. 59' annee, 3' Serie, tome 17, Nos. 6, 7, 8. Bruxelles, 1889; 8°.
Accademia della Crusca: Vocäbolario degli Accademici. Vol. VI, Fase. III
ed ultimo. Firenze, 1889; 4°.
Akademija, Srpska Kralewska: Glas. XVI. Belgrad, 1889; 8°.
Archaeological Survey of India: Epigrapliia Indica. Part III. Calcutta,
1889; 4«.
BibliotliÄque de l’Ecole des Chartres: Revue d’Erudition. L. 3' livraisou.
Paris, 1889; 8».
Central-Cominission, k. k. statistische: Oesterreichische Statistik. XIX.
Baud, 4. Heft. XV1I1. Statistische Uebersiclit der Verhältnisse der öster
reichischen Strafanstalten und der Gerichtsgefänguisse im Jahre 1885.
— XXI. Baud, 4. Heft: Statistik des Sauitiitswesens für das Jahr 1886.
— XXII. Band, 1. Heft: Der österreichische Staatshaushalt in den Jahren
1885 und 1886. — XXIII. Band, 4. Heft: Waaren-Durchfuhr durch das
allgemeine österreichisch-ungarische Zollgebiet im Jahre 1888. AVien,
1889; gr. 4".
Gesellschaft, Deutsche morgenländische: Zeitschrift. XLIII. Band, 2. Heft.
Leipzig, 1889; 8 11 .
— lt. k. geographische in Wien: Mittheilungen. XXXII. Baud, Nr. 6 rxnd 7.
AVien, 1889; 8".
— königlich sächsische der AAüssenscliaften: Abhandlungen der philologisch
historischen Classe. XI. Band, Nr. H, III und IV. Leipzig, 1889; 4°.
— Serbische Gelehrten: Glasnik. 69. Band. Belgrad, 1889; 8°.
Johns Hopkins’ University: The American Journal of Philology. Vol. IX,
Nrs. 1, 2 and 3. Baltimore, 1888; 8°.
Institut, kaiserlich deutsches archäologisches, römische Abtheilung: Mit
theilungen. IV. Band, 2. Heft. Rom, 1889; 8°.
Institute, the Anthropological of Great Britain and Ireland: The Journal.
Vol. XIX, Nr. 1. London, 1889; 8°.
Instituut, Koninklijk voor de Taal-, Land- eu Volkenkunde van Neder-
landsch-Indie: Bijdragen tot de Land- and Volkenkunde van Nederlandsch-
Indie. 5 te Volgreeks, 4. Deel, 3. Aflevering. ’s Gravenhage, 1889; 8°.
VIII
Kiew, Universität: Universitäts-Nachrichten. Tom. XXIX, Nr. 5, 6, 7 und 8.
Kiew, 1889; 8°.
Mit.theilun'gen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. 35. Band. 1889. VIII und IX und Ergänzungsheft Nr. 94. Gotha; 4°.
Sanskrit Manuscripts in the library of the India office: Catalogue. Part II.
— Sanskrit literature. London, 1889; 4".
Soc.ietü Italiana di Antropologia, Etnologia ■ e Psicologia comparata: Ar-
chivio. XIX. Volume, Fascicolo 1°. Firenze, 1889; 8°.
Society, the Asiatic of Bengal: Bibliotheca Indica. N. S. No. 699 — 710,
712—714. Calcutta, 1889; 8°.
— the English historical: The English historical Review. Nr. 15. London,
1889; 8°.
— the Royal geographical: Proceedings and Monthly Record of Geograpliy.
Vol. XI, Nrs. 7, 8 and 9. London, 1889; 8 n .
— the Royal Scottish geographical: The Scottish geographical Magazine.
Vol. V, Nrs. 8—10. Edinburgh, 1889; 8°.
Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens: Zeitschrift. XXIII. Band.
Breslau, 1889; 8°. — Codex diplomaticus Silesiae. XIV. Band. Breslau,
1889; 4°. — Stammtafeln der schlesischen Fürsten bis zum Jahre 1740,
Breslau, 1889; 4°.
— für Localgeschichte zu Giessen: 1.—5. Jahresbericht. Giessen, 1879—1888.
— Mittheilungen des Oberhessischen Geschichtsvereines. Band I. Giessen,
1889; 8».
— für hamburgische Geschichte: Zeitschrift. N. F. V. Band, 3. (Schluss-) Heft,
Hamburg, 1889; 8". — Das fünfzigjährige Stiftungsfest des Vereines für
hamburgische Geschichte. Hamburg, 1889, 8°.
— historischer für Niedersachsen: Atlas vorgeschichtlicher Befestigungen
in Niedersachsen. Heft I und II. Hannover, 1887 —1888; Fol.
— von Alterthumsfreunden im Rheinlande: Jahrbücher. Heft LXXXVII.
Bonn, 1889; 4°.
Wissenschaftlicher Club in Wien: Monatsblätter. X. Jahrgang, Nr. 10,
11 und 12. Wien, 1889; 8°.
XX. SITZUNG VOM 16. OCTOBER 1889.
Herr Dr. Heinrich Schliemann in Athen ersucht die kais.
Akademie, ihm einen Gelehrten oder mit archäologischen For
schungen vertrauten Techniker zu bestimmen, welcher den
im November d. J., spätestens aber im März 1890 beabsich
tigten Ausgrabungen in Hissarlik als unparteiischer Zeuge
beiwohnen soll.
IX
Das w. M. Herr Hofrath Ritter von Harte] legt im Namen
der Kirchenvater-Commission zur Aufnahme in die Sitzungs
berichte eine weitere Abhandlung: ,Ueber die dualistischen
Zusätze und die Kaiseranreden bei Lactantius. Nebst Unter
suchungen über das Leben des Lactantius und die Entstehungs
verhältnisse seiner Prosaschriften. III. Ueber das Leben des
Lactantius*, von Herrn Dr. Samuel Brandt, Professor in
Heidelberg, vor.
Das w. M. Freiherr v. Kremer legt eine für die Sitzungs
berichte bestimmte Abhandlung vor, betitelt: ,Studien zur
vergleichenden Culturgeschichte, vorzüglich nach arabischen
Quellen. I und IP.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academia, Real de la Historia: Boletin. Torao XIV, Cuaderno VI. Madrid,
1889 5 8°. — Tomo XV, Cuaderno I—III. Madrid, 1889; 8°.
Academie des Sciences et Lettres de Montpellier: Memoires. Tome VIII,
2 e fascicule. Ann6e 1888. Montpellier, 1888; 8 n .
— des Inscriptions et Belles-Lettres: Comptes-rendus des s&inces de kan
nte 1889. 4 e Serie, tome XVII. Bulletin de Mars —Juin. Paris, 1889; 8°.
— Royale de Belgique: Compte-rendu des seances de la Commission Royale
d’Histoire. 4 e Serie, tome XIV. 2 e —4 e Bulletins. Bruxelles, 1887; 8°. —
Tome XV. 1 er —4 e Bulletins. Bruxelles, 1888; 8°. — Tome XVI.
1 er Bulletin. Bruxelles, 1889; 8°. — Biographie nationale. Tome IX,
3 e fascicule. Bruxelles, 1886 —1887; 8°..— Tome X, 1 er et 2 e fascicules.
Bruxelles, 1886—1887 et 1888—1889; 8 ,J . — Memoires couronnes et
autres Memoires. Vol. XL, XLI et XLII. Bruxelles, 1887—1889; 8°. —
Memoires couronnes et Memoires des Savauts Etrangers. Tome XLIX.
Bruxelles, 1888; 4°. — Memoires des Sciences, des Lettres et des
Beaux-Arts de Belgique. Tome XLVII. Bruxelles, 1889; 4°.
Accademia, R. dei Lincei: Atti. Anno CCLXXXIII. 1886. Serie IV. Vol. II,
parte l a e 2 a . Roma, 1886; 4°. — Anno CCLXXXIV. 1887. Serie IV.
Vol. III, parte l a e 2 a . Roma, 1887; 4°. — Anno CCLXXXIV. 1888.
Serie IV. Memorie. Vol. V. Roma, 1888; 4°. — Anno CCLXXXV. 1888.
Serie IV. Vol. IV, parte 2 a . Roma, 1888; 4°.
Akademie der Wissenschaften in Krakau: Anzeiger. 1889. Nr. 6 und 7.
Krakau, 1889; 8°.
— Rocznik. Rok 1888. W Krakowie, 1889; 8°.
— Scriptores rerum Polonicarum. Tom. XIV. Krakow, 1889; 8°. — Pa-
mietnik pietnastoletniej dzi&lalnosci Akademii Umiejetnosci w Krakowie.
1873—1888. Krakow, 1889; 8°. — Rozprawy i Sprawozdania z posiedzeh
X
wydziatu filologicznego. Tom. XIII. W Krakowie, 1889; 8". — Szymona
Szymonowicza Castus Josepli przlädania Stanislawa Goslawskiego
1597. Wydal Roman Sawilinski. W Krakowie, 1889; 8°. — Mareina
Bielskego Satyry. I. Sen Majowy. II. Rozmowa baranöw. III. Sejm nie-
wiesci. Wydal Dr. Wladyslaw Wislocki. W Krakowie, 1889; 8". —
Mareina Kwiatkowskiego Ksiazecki rozkoszne o Poezciwem Wichowaniu
dziatek 1561 y wszystkiej Lifflanckiej ziemi opisanie. 1567. Wydal
Dr. Sygmunt Celichowski. W Krakowie, 1889; 8°. — Volumina
Iegum. Tom. IX. Krakow, 1889; 41
Gesellschaft der Wissenschaften, königlich böhmische: Jahresbericht für
das Jahr 1888, erstattet am 15. Januar 1888. Prag, 1889; 8°.
— Sitzungsberichte für 1887 und 1888. Prag; 8°. — Abhandlungen vom
Jahre 1887/88. 7. F., II. Band. Prag, 1888; 4°. — Manuale Q. V. Ven-
ceslai Korandae; pfepsal a vidal Josef Trulilaf. V Praze, 1888; 8°.
— Gelehrte Esthnische zu Dorpat: Verhandlungen. Band XIV. Dorpat,
1889, 8°. — Sitzungsberichte. 1888. Dorpat, 1889; 8".
Johns Hopkins University: Studies in historical and political Science.
7 th series. I. Arnold Toynbee. Baltimore, 1889; 8".
Kronstadt, Ausschuss der Stadt: Quellen zur Geschichte der Stadt Kron
stadt in Siebenbürgen. IV. Band. Kronstadt, 1889; 8°.
Maatschappij der Nederland’sehe Letterkunde: Haudelingen en Mede-
deelingen over liet Jaar 1888. Leiden, 1888; 8“. — Levensberichten
der afgestorvene Medeleden. Leiden, 1888; 8°.
Ministre dTnstruction publique: Recueil des Chartes de l’Abbaye de Cluny.
Tome IV. 1027—1090. Paris, 1888; 4“.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. 35. Band. 1889. X. Gotha; 4°.
Musees publics et Roumantzow ii Moscou: Compte-reudu pour les annees
1886 — 1888. Moscou, 1889; 8". — et Description systematique des Col-
lections du Musee Ethnographique Daschkow. Moskwa, 1889; 8°.
Ramos-Coelho, Jose: Ilistoria do Infaute D. Duarte Irmäo de el Rei D.
Joäo IV. Tomo I. Lisboa, 1889; 8°.
Revue, Ungarische. VII. lieft, IX. Jahrgang. Budapest, 1889; 8°.
Societä storica Lombarda, Giornale: Archivio storico Lombardo. Serie 2“,
fascicoli 22 e 23. Milano, 1889; 8 U .
Society, the Birmingham philosophical: Proceedings. Vol. VI, part 1. Bir
mingham, 1887 —1888; 8".
Verein für Geschichte der Deutschen in Böhmen: Mittheilungeu. XXVII.
Jahrgang. Nr. I—IV. Prag, 1889; 8°.
— für siebenbürgische Landeskunde: Archiv. N. F. XXII. Band, 2. Heft.
Hermannstadt, 1889; 8°.
Zeitschrift, Internationale für allgemeine Sprachwissenschaft von F.
Techmer. IV. Band, 2. Heft. Heilbronn, 1889; 4°. — V. Band, 1. Heft.
Heilbronn, 1889; 41
XI
XXL SITZUNG- VOM 23. OCTOBER 1889.
Se. Excellenz der Präsident legt als Obmann der histo
rischen Commission die unter deren Aegide erschienenen selbst
ständigen Publicationen:
Venetianische Depeschen vom Kaiserhofe (Dispacci di
Germania), Erster Band, und
Mittheilungen aus dem Yaticanischen Archive, Erster
Band : Actenstücke zur Geschichte des deutschen Reiches unter
den Königen Rudolf I. und Albrecht I., gesammelt von Fanta,
Kaltenbrunner, von Ottenthal, und mitgetheilt von Kalten-
brunner, vor.
Herr Devendranath Dhar in Calcutta übersendet einen
Abdruck seiner Wall-map of India in Hindi.
Von der Savigny-Commission wird zur Veröffentlichung
in den Sitzungsberichten der elfte der ,Berichte über die
Untersuchung von Handschriften des sogenannten Schwaben
spiegels' von dem c. M. Herrn Reichsarchiv-Director Dr. Ludwig
Ritter von Rockinger in München vorgelegt.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Acad^mie d’Arch^ologie de Belgique: Annales. XLIV. 4° Serie, tome IV.
Arivers, 1888; 8°.
— Bulletin. XVII—XX. Anvers, 1888—1889; 8°.
Academy, Royal Irish: Todd Lecture Series. Vol. II. Dublin, 1887; 8°. —
Vol. I, part 1. Dublin, 1889; 8°.
Akademie der Wissenschaften, k. bayr. zu München: Sitzungsberichte der
philosophisch-philologischen und historischen Classe. 1888. Band II,
Heft 3. München, 1889; 8°.— 1889: Heft 1 und 2. München, 1889; 8".
— Bericht der historischen Commission über die 30. Plenarversammlung.
München, 1889; 4°.
— der Wissenschaften, k. preussische zu Berlin: Abhandlungen aus dem
Jahre 1888. Berlin, 1889; 4°.
— Sitzungsberichte. 1889. Nr. 1—38. Berlin, 1889; 8°. — Politische Corre-
spondenz Friedrichs des Grossen. XVH. Band, Berlin, 1889; 4°.
XII
Akademija Jugoslavenska znanosti i umjetnosti: Rad. Knjiga XCIV, XXIV.
U Zagrebu, 1889; 8°. — Knjiga XCVI, XXV. U Zagrebu, 1889; 8°.
Bibliothique de PEcole des Chartes: Revue d’Erudition. L. 4" et 5 e
livraisons. Paris, 1889; 8°.
Bureau of Education. Circular of information, Nr. 4, 5, 6 and 7, 1889.
Washington, 1889; 8°.
Central-Commission, k. k. zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und
historischen Denkmale. 1. Abtheilung, redigirt von D. Much. Wien,
1889; Fol.
Genootscliap, het Bataviaasch van Künsten en Wetenschappen: Notulen
van de Algemeene en Bestuurs-Vergaderingen. Deel XXVI, 1888,
Aflevering 2 en 3. Batavia, 1888; 8°. — Deel XXVII, 1889, Aflevering 1.
Batavia, 1889; 8.
— Tijdsclirift voor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde. Deel XXXII,
Aflevering 4 en 5. Batavia, 1889; 8°. — Deel XXXIII, Aflevering 1.
Batavia, 1889; 8°. — Algemeen Reglement en Reglement van Orde
opgericht op den 24. April 1778 onder de Zinspreuk: ,Tot nut van’t
Allgemeen. 1 Batavia, 1889; 8°. — Nederlaudscli-Indisch Plakaatboek,
1602—1811. 5. Deel. 1743—1750. Batavia, 1888; 8.
Gesellschaft der Wissenschaften, Oberlausitzische: Neues Lausitzisches
Magazin. LXV, Band, 1. Heft. Görlitz, 1889; 8 n .
Institut, kaiserlich deutsches archäologisches: Jahrbuch. Band IV, 1889,
2. Heft. Berlin, 1889; 40.
John Hopkins’ University Studies in historical and political Science.
Vol. VI. History of Cooperation in tlie United States. Baltimore, 1888; 8°.
Mittheilungen aus der livländischen Geschichte. XIV. Band, 3. Heft.
Riga. 1889; 8».
Nationalmuseum, germanisches: Mittheilungen. II. Band, 2. Heft. Jahr
gang 1888. Leipzig 1888; 8°.
— Anzeiger. H. Band, 2. Heft. Jahrgang 1888. Leipzig, 1888; 8°. — Katalog
der im germanischen Museum befindlichen deutschen Kupferstiche des
XV. Jahrhunderts. Nürnberg, 1888; 8°.
Review, the English historical. Nr. 16, October 1889. London, 1889; 8°.
Society, the Royal: The Council of the Royal Society, Nov. 30, 1888.
London; 4°.
Verein, historischer der fünf Orte Luzern, Uri, Schwyz, Unterwalden und
Zug. XLIV. Band. Einsiedeln und Waldshut, 1889; 8°.
— historischer für das Grossherzogthum Hessen: Quartblätter. 1888. Nr. 1—4.
Darmstadt; 8°.
XIII
XXII. SITZUNG VOM 6. NOVEMBER 1889.
Von Herrn Dr. Emanuel Hannak, Director des Wiener
Lehrer-Pädagogiums, wird die von ihm in vierter Auflage ver
mehrte, verbesserte und umgearbeitete ,Geschichte der Päda
gogik in der vorchristlichen Zeit' von K. Schmidt; ferner von
dem Herrn Commendatore Marco Bes so seine Schrift ,Roma
nei proverbi e nei modi di dire' der Classe übersendet.
Herr Eduard Hammer übermittelt einen als Manuscript
gedruckten Beitrag ,Zur Lösung der Gold- und Währungs
frage und zur Beseitigung des Agios' mit dem Ersuchen,
Kenntniss davon nehmen zu wollen.
Von Herrn Prof. Dr. Wilhelm Klein in Prag wird der
Bericht über den zweiten Theil seiner mit Unterstützung der
kais. Akademie zur Herstellung eines Werkes über die grie
chischen Vasen mit Lieblingsinschriften unternommenen Reise
erstattet.
Das c. M. Herr Geheime Justizrath und Prof. Dr. J. Fried
rich Ritter von Schulte in Bonn stellt unter Vorlegung eines
druckfertigen Manuscriptes, enthaltend die Summae über das
Gratianische Decret von Paucapalea, Rufinus und Stephanus
Tornacensis, das Ansuchen um Gewährung eines Druckkosten
beitrages für die Herausgabe der genannten Werke.
Herr Dr. Johann Pajk, Professor an dem k. k. Franz
Josephs-Gymnasium in Wien, überreicht eine Abhandlung unter
dem Titel: ,Francis Bacon’s Forschungstheorie. Ein Beitrag
zur Geschichte der Philosophie und Erkenntnisslehre' mit dem
Ersuchen um ihre Aufnahme in die Sitzungsberichte.
XIV
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Aeademie des Sciences, Arts et Belles-Lettres de Dijon. 8 C Serie, tome X.
AnnÄe 1887. Dijon, 1888; 8°.
Akademia kralevska Srpska: Ghlas. XVII. Belgrad, 1889; 8°.
— der Wissenschaften, k. preussische: Sitzungsberichte 1889. XXIX.
Berlin; 8°.
Archeologiae Storia Dalmata: Bullettino. Anno XII, Nos. 7, 8, 10. Spalato,
1889; 8°.
Genootschap, het Bataviaasch van Künsten en Wetenschappen: Tijdschrift
voor Indische Taal-, Land- en Volkenkunde. Deel XXXII, Aflevering 6.
Batavia ’s Hage, 1889; 8 n .
— Notulen van de Algemeene en Bestuurs-Vergaderingen. Deel XXVI,
1888, Aflevering 4. Batavia, 1889; 8°. — Dagh-Register gehouden int
Casteel Batavia vant passerende daer ter plaetse als over geheel Neder-
landts-India. Anno 1659. Batavia ’s Hage, 1889; 8°.
Gesellschaft, geographische in Bremen: Deutsche geographische Blätter.
Band XII, Heft 3. Bremen, 1889; 8°.
Instituut, Koninldijk voor de Taal-, Land- en Volkenkunde van Nederlandsch
Indie: Bijdragen. ö tc Volgreeks. 4. Deel, 4. Aflev. ’s Gravenliage, 1889; 8°.
Istituto, R. di Studi superiori pratici e di perfezionamento in Firenze:
Le seconde Nozze del coniuge superstite di Alberto del Vecchio.
Firenze, 1885; 8°. — I piü antichi Frammenti del Costituto Fiorentino
di Giuseppe Rondoni. Firenze, 1882; 8°.
Landesamt, k. statistisches: Württembergische Jahrbücher für Statistik
und Landeskunde. Jahrgang 1887. I. Band, 1. und 2. Heft. Stuttgart,
1889; 4°. — Württembergische Vierteljahreshefte für Landesgeschichte.
Jahrgang XII. 1889. Heft 1. Stuttgart, 1889; 4°.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. Ergänzungsheft Nr. 95. Gotha, 1889; 4°.
Musee Guimet, Annales : Revue de l’Histoire des Religions. 9 e annee,
tome XVIII, Nos. 1—3. Paris, 1888; 8°.
Nationalmuseum, germanisches: Anzeiger. September und October 1889.
H. Band, Nr. 17. Nürnberg; 8°.
Nordiske Oldslrrift-Selskab, kongelige: Aarb^ger for Nordisk Oldkyndighed
og Historie. 1889. II. Raekke, 4. Bind, 3. Hefte. Kjjibenhavn; 8°.
Soc ie td des Antiquaires de Picardie: Bulletin. Armee 1888, No.3. Amiens, 1888; 8°.
— de Geographie: Bulletin. 7° Serie, tome X, l er trimestre 1889. Paris, 1889; 8°.
— nationale des Antiquaires de France: Bulletin et Memoires. 5 0 Serie,
tome VIII. Memoires 1887. Paris, 1888; 8°. — Bulletin. 1887. Paris; 8°.
Society, the Royal Asiatic: Journal of the China Branche. Vol. XXIII,
Nr. 3. Shanghai, 1888; 8°.
— R. Scottish geograpliical: The Scottish geographical Magazine. Vol. V,
Nr. 11. Edinburgh, 1889; 8°.
Verein für Lübeckische Geschichte und Alterthumskunde: Urkundenbuch
der Stadt Lübeck. VIII. Theil, 11. und 12. Lieferung. Lübeck, 1889; 4°.
XV
XXIII. SITZUNG VOM 13. NOVEMBER 1889.
Von Sr. Excellenz dem Präsidenten wird der erste Band
der von ihm in Gemeinschaft mit Herrn Jules Flammermont
in Lille herausgegebenen ,Correspondance secrete du comte de
Mercy-Argenteau avec l’empereur Joseph II et le prince de
Kaunitz' der Classe überreicht.
Ferner hat das k. und k. Kriegs-Archiv den vierten Band
seiner ,Mittheilungen', Neue Folge, eingesendet.
Der Vorstand und Ausschuss des Journalisten- und Schrift
steller-Vereins ,Concordia' theilt mit, dass derselbe an Stelle
des verstorbenen Hofrathes von Weilen den Herrn Professor
Josef Bayer für das laufende Triennium zum Preisrichter der
Grillparzer-Stiftung gewählt hat.
Von der Kirchenväter-Commission wird der XX. Band
des Corpus scriptorum ecclesiasticorum latinorum, enthaltend:
,Quinti Septimi Florentis Tertulliani opera ex recensione
A. Reifferscheid et G. Wissowa pars I' vorgelegt.
Der Archivar und Bibliothekar des Stiftes Admont, Herr
P. Jakob Wichner, übersendet eine Abhandlung unter dem
Titel: ,Das Kloster Admont und seine Beziehungen zur Wissen
schaft und zum Unterrichte' mit dem Ersuchen um ihre Auf
nahme in die akademischen Schriften.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Aeademie Impdriale des Sciences de St.-Petersbourg: Zapisky. Tome LIX,
II. —• tome LX. St.-Pdtersbourg, 1889; 8°.
Accademia, Regia di Scienze, Lettere ed Arti in Modena: Memorie. Ser. 2,
volume VI. Modena, 1888; 4°.
Akademie, k. ungarische: Archaeologiai Ertesitö. IX. Kütet, 4. szäm.
Budapest, 1889; 4°.
Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Kunst- und
historischen Denkmale: Mittheilungen. XV. Band, 3. Heft. Wien, 1889; 4 n .
XVI
Gesellschaft, allgemeine geschichtforschende der Schweiz: Jahrbuch für
Schweizerische Geschichte. XIV. Band. Zürich, 1889; 8°.
— k. k. geographische in Wien: Mittheilungen. Band XXXII, Nr. 8 und 9.
Wien, 1889; 8°.
— Schlesische für vaterländische Cultur: LXVI. Jahresbericht im Jahre 1888.
Breslau, 1889; 8 n .
Harz-Verein für Geschichte und Altertlmmskunde: Zeitschrift. 22. Jahr
gang. 1889. Erste Hälfte. Wernigerode, 1889; 8°.
Institut, kaiserlich deutsches archäologisches: Jahrbuch. Band VI, 3. Heft.
Berlin, 1889; 4".
Kiel, Universität: Akademische Schriften pro 1888/89. 95 Stücke 4° und 8°.
Kiew, Universität: Universitäts-Berichte. Tom. XXIX, Nr. 9 und 10. Kiew,
1889; 8°.
Landes amt, k. statistisches: Wiirttembergische Jahrbücher für Statistik
und Landeskunde. Jahrgang 1888. II. Band, 1.—4. Heft. Stuttgart, 1887,
1889; 4°. — Jahrgang 1889. II. Hälfte. Stuttgart, 1889; 4°.
Revue, Ungarische: 1889. IX. Jahrgang, VIII—IX. Heft. Budapest, 1889; 8°.
Societä, Reale di Napoli: Atti della R. Accademia di Seienze morali e
politiche. Vol. XXIII. Napoli, 1889; 8°. — Rendiconto delle tornate e
dei lavori. Anno XXVII. Gennaio a Dicembre 1888. Napoli, 1888; 8°.
— Istriana di Archeologia e Storia patria: Atti e Memorie. Vol.V, fascicolo 1°
e 2 a °. Anno sesto 1889. Parenzo; 8°.
Society, the American geographical: Bulletin. Vol. XXI, Nr. 3. New-York,
1889; 8».
— the American philosophical: Proceedings. Vol. XXV, Nr. 128. Philadelphia,
1888; 8°.
— the Royal geographical: Proceedings and Monthly Record of Geograpby.
Vol. XI, Nrs 10 and 11. London, 1889; 8 n .
Wissenschaftlicher Club in Wien: Monatsblätter. XI. Jahrgang, Nr. 1.
Wien, 1889; 8".
XXIV. SITZUNG VOM 20. NOVEMBER 1889.
Die k. k. geographische Gesellschaft in Wien ladet die
Mitglieder der kais. Akademie zu der am 27. d. M. zu Ehren
der Afrikaforscher Graf Teleki und Linienschiffs-Lieutenant
Ritter von Höhnel stattfindenden ausserordentlichen Versamm
lung ein.
Von dem galizischen k. k. Landesschulrath wird mit
Zuschrift ein Exemplar des Berichtes Uber den Stand der
galizischen Mittelschulen in den Jahren 1884—1888 übermittelt.
XVII
Herr Dr. Heinrich Singer, Professor des Kirchenrechtes
an der Universität Czernowitz, übersendet eine die Summa
des Rufinus betreffende Mittheilung mit dem Ersuchen um ihre
Veröffentlichung in dem ,Anzeiger'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Archeologia e Storia Dalmata: Bullettino. Anno XII, Nr.9. Spalato, 1889; 8°.
Central-Commission, k. k. zur Erforschung und Erhaltung der Kunst-
und historischen Denkmale: Mittheilungen. XV. Band, 2. Heft. Wien,
1889; 40.
Gesellschaft, Deutsche für Natur- und Völkerkunde Ostasiens in Tokio;
(V. Band, S. 43—82) 42. Heft. Yokohama, 1889; 4°.
— Deutsche morgenländische: Abhandlungen für die Kunde des Morgen
landes. IX. Band, Nr. 2. Leipzig, 1889; 8°.
Giessen, Universität: Akademische Schriften pro 1888/89; 35 Stücke,
4° und 8°.
Instituto Archeologico sezione Romana: Repertorio universale delle opere,
dall’ anno 1874—1885. Roma, 1889; 8°.
John Hopkins’ University Circulars. Vol. VHI, Nr. 74.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. 35. Band, 1889. XI. Gotha; 4°.
Münster-Blätter: Festgruss zum 25. Juni 1889. VI. Heft. Stuttgart; Folio.
Muzej um zemaljskog u Bosni iHereegovini: Glasnik. Godina 1889. Knjigalll.
Sarajevo, 1889; 8°.
Societas seientiarium Fennica: Acta. Tomus XVI. Ilelsingforsiae, 1888; 4".
— Öfversigt af Förhandlingar. XXX. 1887—1S88. Helsingfors, 1888; 8 n .
Societä Italiana di Antropologia. Etnologia e Psicologia comparata: Archivio.
XIX. Volume, fascicolo 2°. Firenze, 1889; 8°.
Society, the Royal Asiatic China Branch: Journal. Vol. XXIII, Nr. 2.
Shanghai, 1888; 8°.
Verein, historischer für Steiermark: Mittheilungen. XXXVII. Heft. Graz,
1889; 8».
— kroatisch-archäologischer: Viestnik. Godina XI, Br. 4. U Zagrebu, 1889; 8°.
Sitzungsber, 1. phil.-ltist. CI. CXX. Iid.
b
XVIII
XXV. SITZUNG VOM 4. DECEMBER 1889.
Das w. M. Herr Professor Dr. Schipper überreicht der
Classe seine soeben erschienene Schrift: ,Zur Kritik der Schalt-
spere-Bacon-Prage' (Wien, Alfred Holder, 1889).
Ferner wurden mit Zuschriften eingesendet folgende
Druckwerke:
,Codex iuris Bohemicb Tomi 2 pars 3, herausgegeben
von dem c. M. Herrn Ministerialrath Dr. H. Ritter von Jireöek;
,Memoire sur l’abolition de l’esclavage et de la traite
des noirs sur le territoire Portugals', übermittelt von der
k. portugiesischen Gesandtschaft in Wien; endlich
,Mittelhochdeutsche Dichtung in ihrer Beziehung zur
biblisch-rabbinischen Literatur, Heft II‘, herausgegeben von
Herrn Dr. Gelbhaus in Prag.
Das w. M. Herr Hofrath Ritter von Hartei legt eine
für die Sitzungsberichte bestimmte Abhandlung unter dem
Titel: ,Patristische Studien I. Zu Tertullian de spectaculis, de
idololatria‘ vor.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academia, Romana: Nunta la Romani. Studiü istorico-etnograficü de Elena
Sevastos. Bucuresci, 1889; 8°. — Psaltirea Sclieianä (1482) MSS. 449
B. A. R. publicata de Prof. J. Bianu. Tomul I. in facsimile .?i trans-
criere cu variantele din coresi (1577). Bucuresci, 1889; 8°.
Akademie der Wissenschaften, k. bayr. zu München: Sitzungsberichte der
philosophisch-philologischen und historischen Classe. 1889. Band II,
Heft 1. München, 1889; 8°.
Archeologia e Storia Dalmata: Bullettino. Anno XII, Nr. 11. Spalato,
1889; 8».
Bodemann Eduard: Der Briefwechsel des Gottfried Wilhelm Leibnitz.
Hannover, 1889; 8°.
Gesellschaft, Deutsche morgenländische: Abhandlungen für die Kunde
des Morgenlandes. IX. Band, Nr. 3. Leipzig, 1889; 8°. — Zeitschrift.
XLIH. Band, 3. Heft. Leipzig, 1889; S".
XIX
Halle, Universität: Akademische Schriften pro 1888/89; 54 Stücke 4°
und 8".
Heidelberg, Universität: Akademische Schriften pro 1888/89; 22 Stücke
4° und 8°.
Lugari Giov. Batt.: Sull’origine e fondazione di Roma. Roma, 1889; 4 n .
Simonsen D.: Sculptures et Inscriptions de Palmyre ä la Glyptotheque
de Ny Carlsberg. Copenliague, 1889; 8°.
Stabil Konrad D.: Die Ursachen der Räumung Belgiens im Jahre 1794.
Bunzlau, 1889; 8 n .
Verein für Erdkunde in Dresden: Jubiläumsschrift. Literatur der Landes
und Volkskunde des Königreichs Sachsen. Dresden, 1889; 8°.
Wissenschaftlicher Club in Wien: Monatsblätter. XI. Jahrgang, Nr. 2
und Ausserordentliche Beilage Nr. 1. Wien, 1889; 8°.
XXVI. SITZUNG VOM 11. DECEMBER 1889.
Im Namen des Conseil general der Facultäten von Paris
wird der 1. Band des ,Chartularium universitatis Parisiensis'
herausgegeben von H. Denifle und E. Chatelain,
von Herrn Professor Dr. Alwin Schultz in Prag der
2. Band der zweiten Auflage seines Werkes: ,Das höfische
Leben zur Zeit der Minnesinger' übersendet.
Die Sa vigny : Commission legt den XII. der ,Berichte
über die Untersuchung von Handschriften des sogenannten
Schwabenspiegels' von dem c. M. Herrn Dr. Ludwig Ritter
von Rockinger, Director des Allgemeinen Reichsarchives in
München, zur Aufnahme in die Sitzungsberichte vor.
Das w. M. Herr Alfred Freiherr von Krem er überreicht
zur Aufnahme in die Sitzungsberichte die Fortsetzung seiner
,Studien zur vergleichenden Culturgeschichte, vorzüglich nach
arabischen Quellen IH und IV'.
Von Herrn Professor Dr. H. von Zwiedineck-Süden-
horst in Graz wird eine Abhandlung unter dem Titel: ,I)ie
b*
XX
Augsburger Allianz von 1686‘ mit dem Ersuchen um ihre
Veröffentlichung in dem Archiv übersendet.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academia, Real de la Historia: Boletin. Tomo XV, Cuaderno IV et V.
Madrid, 1889; 8°.
— Romana: Analele. Serie II, Tomulu X. 1887—1888. Memoriile scetiunel
istorice et Partea administrativ!! iji desbaterile. Bueuresci, 1889; 4".
Academie, Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Bel-
gique: Bulletin. 59 c annäe, 3 e sÄrie, tome 18, Nos. 9 et 10. Bruxelles,
1889; 8°.
Freiburg i. B., Universität: Akademische Schriften pro 1888/89; 121
Stücke 4° und 8°.
Friedländer, M. H.Dr.: Populär-wissenschaftliche Vorträge. Brünn,1889; 8°.
Gesellschaft, k. lc. geographische in Wien: Mittheilungen. Band XXXII,
Nr. 10. Wien, 1889; 8».
Rosa Agustin de la Presb.: Estudio de la Filosofia y Riqueza de la lengua
Mexicana. Guadalajare, 1889; 8°.
Societe de Geographie: Compte-rendu. Nos. 13 et 14. Paris, 1889; 8°.
— Finno-Ougrienne, Journal: Suomalais-Ugrilaisen seuran Aikakauskirja.
VII. Helsingissä, 1889; 8°.
Society, tlie Asiatic of Bengal: Journal. Vol. LVIII, part I, Nr. 1. 1889.
Calcutta, 1889; 8°.— Proceedings. 1889. Nrs. I—VI. Calcutta, 1889;8 n . —
The modern vernacular Literature of Hindustan; by George A. Grier-
son, B. A., B. C. S. Calcutta, 1889; 8°.
Verein für Erdkunde zu Halle a. S.: Mittheilungen. 1889. Halle a. S.,
1889; 8°.
— historischer der Pfalz: Mittheilungen. XIV. Speier, 1889; 8°.
XXVII. SITZUNG VOM 18. DECEMBER 1889.
Von Herrn Dr. Johann von Komorzynski, Hof- und Gre-
richtsadvocat in Wien, wird mit Begleitschreiben seine Schrift:
,Der Werth in der isolirten Wirthschafff übersendet.
Von Sr. Excellenz dem w. M. Herrn F. Ritter von
Miklosich wird der 6. Band der von ihm und Herrn Professor
XXI
Josef Müller in Turin mit Unterstützung der kais. Akademie
herausgegebenen ,Acta et diplomata Graeca medii aevi sacra
et profana' vorgelegt.
Ferner werden die Pflichtexemplare des mit Unterstützung
der kais. Akademie erschienenen Werkes von Herrn Josef
Neuwirth: ,Die Wochenrechnungen und der Betrieb des Prager
Dombaues in den Jahren 1372 — 1378' übergeben.
Die k. k. Central-Commission für Kunst- und historische
Denkmale theilt das von dem Conservator Herrn Dr. von Otten-
thal zusammengestellte, im 1. Bande ihrer ,Archivalischen Mit
theilungen' erscheinende Verzeichniss ungedruckter oder un
genügend publicirter Tirolischer Weisthümer, ferner die im
Jahre 1889 von Herrn von Ottenthal und dem Correspondenten
Dr. Redlich bei verschiedenen Gemeinden constatirten der
artigen Urkunden mit.
Das w. M. Herr Professor Th. Gomperz überreicht eine
für die Sitzungsberichte bestimmte Arbeit unter dem Titel:
,Die Apologie der Heilkunst, eine griechische Sophistenrede
des fünften vorchristlichen Jahrhunderts.'
Von Herrn Dr. Alois Rzach, Professor an der deutschen
Universität in Prag, wird eine Abhandlung unter dem Titel:
,Kritische Studien zu den Sibyllinischen Orakeln' mit dem Er
suchen um ihre Veröffentlichung in den akademischen Schriften
eingesendet.
Die Abhandlung wird einer Commission zur Begutachtung
überwiesen.
Der Trauer über den am 18. December früh zu München
erfolgten Tod des ausländischen Ehrenmitgliedes Geheimen-
rathes und Universitätsprofessors Dr. Friedrich Wilhelm Ben
jamin von Giesebrecht wurde in der Gesammtsitzung vom 20.
Ausdruck gegeben.
XXII
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academie, Impdriale des Sciences de St.-Petersbourg: Bulletin. N. S. I.
(XXXIII). No. 2. St.-Pdtersbourg, IS89; 4°.
Akademie der Wissenschaften in Krakau: Anzeiger. 1889. October und
November. Krakau; 8°.
Genootschap, het Zeeuwsch der Wetenschappen te Middelburg: Ver-
zamelingen 1885.
Gesellschaft, historische und antiquarische zu Basel: Beiträge zur vater
ländischen Geschichte. N. F. Band III, Heft 2. Basel, 1889; 8°.
— Serbische gelehrte: Glasnik. 70. Band. Belgrad, 1889; 8°.
— der Wissenschaften in Christiania: Forhandlingar 1889. Nr. 1—13. Chri-
stiania, 1888; 8°. — Oversigt over Videnskabs-Selskabets Moder i 1888.
Christiania; 8°.
Greifswald, Universität: Akademische Schriften pro 1888; 86 Stücke 4°
und 8°.
Institut, kaiserlich deutsches archäologisches: Mittheilungen. Band IV,
Heft 3. Rom, 1889; 8°.
John Hopkins’ University Circulars. Vol. IX, Nr. 76. Baltimore, 1889; 4°.
Mittheilungen aus Justus Perthes’ geographischer Anstalt von Dr. A. Peter
mann. 35. Band, 1889. XII. Gotha; 4 n .
Programme: XV. Jahresbericht der Gewerbeschule zu Bistritz. 1889. —
Jahresbericht des k. k. Staats-Obergymnasiums in Böhm.-Leipa. 1889.
— 27. Jahresbericht des Ausschusses des Vorarlberger Museums-Vereines
in Bregenz. 1888. — 39. Programm des k. k. Gymnasiums zu Brixen.
1889. — 13. Verwaltungsbericht der Akademischen Lesehalle an der
k. k. Franz Josefs-Universität zu Czernowitz. 1889. — Programm des
evangelischen Gymnasiums A. B. und der damit verbundenen Real
schule, sowie der evangelischen Elementarschule A. B. zu Hermann
stadt. 1888/89. — Jahresbericht der k. k. Oberrealschule zu König-
grätz. 1888/89. — Izwjesee c. k. gospodarskom i sumarskom ucilistu
u Krizeveih. 1887/88. — Jahresbericht des k. k. Staatsgymnasiums in
Marburg. 1889. — Jahresbericht des k. k. Gymnasiums in Mähr.-Weiss-
kirchen. 1888/89. — Jahresbericht der Mährisch-schlesischen Forst
lehranstalt zu Eulenberg in Mähren. 1887/88. — 20. Jahresbericht
des Steiermärkischen Landes-Untergymnasiums zu Pettau. 1888/89.
13. Jahresbericht der k. k. deutschen Staatsgewerbeschule zu Pilsen.
1889. — Programm des k. k. Staats-Obergymnasiums zu Saaz. 1889. —
40. Ausweis des fürsterzbischöflichen Gymnasiums Collegium Borromäum
zu Salzburg. 1888/89. — Programm des evangelischen Gymnasiums
A. B. in Schässbnrg und der damit verbundenen Lehranstalten. 1888/89.
— 19. Jahresbericht der deutschen Staats-Oberrealschule in Triest.
1888/89. — 6. Jahresbericht des k. k. Staatsgymnasiums in Unter-
Meidling bei Wien. 1888/89. — Jahresbericht des k. k. Akademischen
Gymnasiums in Wien. 1888/89. — 15. Jahresbericht über das k. k.
Franz Josefs-Gymnasium in Wien. 1888/89. — 38. Jahresbericht über die
k. k. Staats-Oberrealschule und die gewerbliche Fortbildungsschule im
XXIII
III. Bezirke in Wien. 1888—1889. — Jahresbericht des k. k. Ober-
gymnasiums zu den Schotten. 1889. — 24. Jahresbericht der nieder-
österreichischen Landes-Oberrealschule und der Fachschule für Maschinen
wesen in Wr.-Neustadt. 1889. — 8. Programm der königlich nautischen
Schule in Bakru. 1888/89.
Socictc de Geographie: Bulletin. 7 e Serie, tome X, 2 e trimestre 1889.
Paris 1889; 8°.
Society, the Royal Scottish geographica!: The Scottish geographical Maga
zine. Vol. V, Nr. 12 and Contents. Edinburgh, 1889; 8°.
Verein, historischer für Niederbayern: Verhandlungen. XXVI. Band, 1. und
2. Heft. Landshut, 1889; 81
Wiener Freiwillige Rettungs-Gesellschaft: VII. Jahresbericht. Wien,
1889; 8°.
I. Abhandlung: Miklosich. Ober die Einwirkung des Türkischen etc.
1
I.
Uber die Einwirkung des Türkischen auf die
Grammatik der südosteuropäischen Sprachen.
Von
Dr. Franz Miklosich,
wir kl. Mitgliede der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
ln einigen Abhandlungen sind mit der mir erreichbaren
Vollständigkeit die Wörter verzeichnet worden, welche aus dem
Türkischen in die Sprachen der den Türken in Europa be
nachbarten Völker aufgenommen worden sind. Nach allen
Richtungen wird der Einfluss des Türkischen erst dann er
forscht sein, wenn die türkischen Elemente in den Sprachen
der an die Türken in Asien grenzenden Völker, der Armenier,
Perser, Araber usw. nachgewiesen sein werden.
Die Einwirkung der Türken auf ihre Nachbarn beschränkt
sich nicht auf Wörter, sie umfasst auch die Grammatik und
sociale und staatliche Einrichtungen.
Was die Grammatik anlangt, so sind hier einige Er
scheinungen der Stamm- und Wortbildungslehre und der Syntax
zu behandeln.
I. Stamini)i 1 d ungs 1 ehre.
Die Aufnahme von Suffixen hat man sich nicht etwa so
vorzustellen, als ob die von den Wörtern losgelösten türkischen
Suffixe wären aufgenommen worden, sondern so, dass Wörter
Eingang gefunden haben, deren Suffixe dann auch an ein
heimische Themen angetreten sind. Nach serb. ajluk, türk. ajtylc
Monatgeld, von aj; nach serb. antilulc, türk. altgl§k Sechser, von
all§; nach serb. ArnauÜuk, türk. ArnautluJc Albanien, von Anmut,
Sitzungsber. d. phü.-hist. CI. CXX. Bd. 1. Abh. 1
2
I. Abhandlung: Mi kl os icli.
sind serb. bestiluk Thorbeit, pasjaluk hündische Bosheit, pogan-
luk Unflath von bestija, pasji, pogan usw. gebildet worden.
Die Suffixe zerfallen in Nominal- und Verbalsuffixe.
A. Nominalsuffixe.
1. Suffix ca.
Das Suffix ca bildet im Persischen Deminutiva: bäg,
bägSa Garten, Gärtchen. Darmesteter 1. 288. Das pers. ca, das
auch im Hindustani vorkommt, wird türk, dza, dze, ehedem
ca, ce.
Das türkische Suffix ist in das Bulgarische und Serbische
eingedrungen; es ist da gleichfalls ein Deminutivsuffix.
bulg. argatce Taglöhner, berberce Barbier, bqlfce Floh,
Milad. 22. B§lgarce Bulgar. bratovbe Vetter, cigance Zigeuner.
gglgbce Täubchen. glogSe Weissdorn, gradce Städtchen, fcgsce
Stückchen, Jcivce Sträusschen: kita, Milad. 383. kopilce Held.
kosce Körbchen, Icozufce Pelzlein, kravajce, gen. kravajceta.
Igtince Lateiner. Vinga. pqdarüc: p>$dar. sokolce. st§klen£e Glas.
tasce Schälchen, vlalice Walache, volce Ochslein, zlatarce Gold
schmied, Milad. 278. vergl. Avramöo. PN.
serb. begce kleiner Beg. biserce Perle, gen. biserceta. bu-
garce. bulce. govedZe. grnce. gunce. konjöe. kumce. latinCe. mjesie
(vina). paripce. pramce kleiner Prahm, tajce Füllen, travni-
can£e. vlasce. zobanie, Reö. 29. sejiScad beruht auf sejiSce.
In den angeführten Fällen ist türk, ce Suffix. Dagegen
ist das .Suffix et eingetreten in bulg. bardaSe: bardak Art Ge-
fäss. b§klice Fässchen: b§klica. cjabuce Pfeife: Sjabuk. dobice
Vieh: dobytzki. junce kleiner Ochs: jumci. lmize Büchelchen.
mnuce Enkelchen: mnukz. dete povojnice. ptiSe Vögelchen:
pütica. vrabce, rgpce : vrabbct. sirace armer Mensch : sirakz.
klruss. tuluca, junger Bär, Wolf: tuluk. turca, turSenja
Türkenkind: turok.
In momöe, nemce, zmejce ist das Suffix et an momzkz,
nembcb, zmijica angetreten. Ebenso im cech. andelce, andelSatko:
andelek. poln. oivcze, owczqtko. Vergl. Gramm. 2. 190.
Weniger wahrscheinlich ist die Ansicht, nach welcher
analog dem movice die oben angeführten Formen gebildet worden
wären, welche sich Vergl. Gramm. 2. 191 vorgetragen findet.
Über die Einwirkung des Türkischen etc.
3
Für den fremden Ursprung des Suffixes scheint der Um
stand zu sprechen, dass ce auch an Feminina antritt: bulg.
knigce, Biichelchen. kosidce Hemdchen. lamce kleine Schlange,
serb. maramce. Jastr. Dagegen kann für cyt angeführt werden
bulg. sokolcence. serb. macukcence. Jastr. 187. Die aus Jastr.
angeführten Wörter scheinen eigentlich bulgarisch zu sein.
Man beachte magy. szemcse, Äuglein, virdgcsa Blümchen.
2. Suffix dzi, dze, ci, ce.
Das Suffix dzi usw. bildet Deverbativa und Denominativa:
jaz§-dz§ Schreiber: jaz-mak schreiben. kaj§k-dz§, d. i. kaj§k-c§,
Schiffer: kajek Schiff, fertig-dzi Conducteur auf Eisenbahnen:
fertig, Ruf der meist deutschen Eisenbahnbediensteten.
Das Suffix dzi wird angewandt im Bulgarischen, Serbi
schen und im Rumunischen. Es tritt wie im Türkischen an
Verba und Nomina an. Das Suffix wird im Bulgarischen und
Serbischen durch a (daher dzi-j-a) erweitert, wodurch die
Wörter im Serbischen declinirbar werden.
bulg. borbadzija Kämpfer. Milad. 11: borbba. furnazija.
Bog. gajdardzija. Ljub. ispoldzija. .kljucardzija 298. kontrakdzija
Unternehmer. Bog. kosadzija Mäher, lisindzija Betrüger, lov-
dzija, lovcija Jäger, Kac. 532. paet.ondzija Lenker eines Phae
tons. svirdzija. Ljub. svirelzija Musikant, vamjnrdzija der den
Vampir tödtet.
serb. bojadzi.ja, Streiter, boltadzija Krämer: bolta. bundzija
Aufwiegler: buniti. cetedzija Anführer: türk, cete, serb. ceta.
deladzija, koji deli: deliti. dunavdzijci Anwohner der Donau:
dunav. Jastr. 431. govordzija redseliger Mensch: govor. hvaldiija
Prahler: hvaliti. ispindzija Trinker. Hör. 218. kaladzija der
Fische aufschneidet, um sie zu dörren: kalati. koniordzija
Packknecht: komora. krpedzija Flicker: krpiti. larmadzija
Lärmmacher: larma. likerdzija. lovdzija Jäger: lov. navodadzija
Brautwerber. Jastr. 297. 305: navoditi; gleichbedeutend ist das
dunkle mesidzija 297. olajdzija. G. Popovi6: olaj. pijandzija,
pijanadzija Trunkenbold: pijan. pljackadzija Plünderer: plja-
ckati. plocadzija Schmarotzer: ploca. postuldzija, koji krpi po
stule. pratidzija Begleiter, pratilac: pratiti. prkozdzija der
trotzt: prkos. provodadzija, provodjadjija Freiwerber: provoditi;
vergl. navodadzija. Daher provodadzisati. prstendzija der der
1*
4
I. Abhandlung: Miklosich
Verlobten den Ring ansteckt: prsten. Jastr. 299. 305. siledzija,
silendzija gewaltthätiger Mensch: siliti. suvajdzija Müller (von
der Rossmühle): suvaja, suvaca Rossmühle. Salidzija Spass-
vogel: Sala, saliti se. iesirdiija. udordzija Angreifer: *udor,
udorac. varkadzija, varadzija, varalica Betrüger: aV je Marko
varkadzija stara. Petr. 3. 362: *varka. vesladzija, vesled&ija
Ruderer, voskovardzija der die Wachstrebern einkauft: *vosko-
var, voslcovarina.
rum. misardziul (slavisch mesan), mgcilariul Fleischer. Blaz.
podkapidziü Kappenmacher.
alb. boredzi ytoväc. Meyer 70. gastardzii vetrajo. R. katsa-
dzii bottajo. R. kjilartsi Kellermeister. H. konopdzii neben
conopcar cordajo. R. lokatandzi Gastwirth. peskadzi, piSkadzi
Fischer. H.
Vergl. Kazem-Beg 37. Die Fremdwörter: clzi, und Vergl.
Gramm. 2. 337. Meyer 70.
Wenn man meint, in ubijcija homicida sei das türkische
Suffix ci eingetreten, so ist dies ein Irrthum; vielmehr liegt
jenem Worte ubücb (ubijbCb) zu Grunde. Aus icb-ijz ist dann
ein scheinbar einheitliches Suffix entstanden, daher banbcija
balneator von banjiti usw. samicija oeconomus für samcija be
ruht auf einem türk. sanc§ von san. Vergl. Gramm. 2. 62.
3. Suffix cek, cik, dzek, d2ik.
Das türkische Suffix cgk, Sik bildet Deminutiva: atdzyk
Pferdchen: at Pferd, eldzik Händchen: el Hand.
bulg. Ruscuk Ortsname: Russe. Jir. 192.
wruss. kuchariuk Schmutzfink.
klruss. barluk Sohn eines Barin. ljpd.nari.uk: fern, bodnar-
iucka. cxjhani.uk Zigeunersohn, jariuk junges Schaf: baran jaryj.
Idyticuk Dobel (Fisch), kopyl'iuk Bastard. koraIc.uk Schmied
knecht, Sohn eines Schmiedes, lakejiuk. lysyiiuk junger Fuchs.
mareniuk Flussbarbe, medvediuk junger Bär. rniscuk kleiner
Sack, oiincuk Aster, samarcuk Nebenfluss der Samara: vergl.
Murica Mürz und Mura. sarancuk Heuschreckenkrebs. Todor-
cuk, Enkel des Todör, Theodor. Tomascuk ist serb. Tomasic,
Toma&evic. Polnische und armenische Personennamen: Saraj-
cuk, Loviuk, Vergl. russ, kabatcikz Schenkwirt!).
Über die Einwirkung des Türkischen etc.
5
Eine andere Bedeutung hat cgk, Sik in folgenden Fällen:
bulg. kapcak, kapcek Dachtraufe. Bog. zdenc.uk Gemüse,
nicht Küche. Vergl. tatarcuga Collect, russ. lemcugz Faulenzer.
ovcjugz Schäfer beruht auf ovoca, behcugz Weissfisch wohl auf
beheb. zemhup, zenhup, Perlen ist mit magy. gy'öngy zu ver
gleichen: das Eine und das Andere habe ich mit türk, indzi
zusammengestellt.
klruss. bazarcuk zum Bazar gehörig.
rum. jeftiSug Billigkeit, mestesug Handwerk. Vergl. Gramm.
2. 283.
Gleiche Bedeutung wie cuk hat das Suffix juk:
klruss. bolotuk. synuk Blaumeise, seriuik Rehbock, popa-
duk für popovyc. Romantik für Romanovyc.
4. Suffix li, le.
Das türkische Suffix Zf, li bildet Nomina von sehr ver
schiedener Bedeutung: atle, beritten, Reiter: at Pferd, benli
Flecken habend: ben Muttermal.
Das Suffix li, Zf findet sich im Bulgarischen und Serbi
schen. Es wird häufig durch a erweitert, wodurch das Wort
im Serbischen declinirbar wird.
bulg. catmali vezi. Milad. 451. dzamli pendzera. 99. zenihli
Unterhändler. Bog. reka cenierlija. Milad. 168. pandzurli neben
pandzitr kosulja. Milad. 98. 314. zorlen beruht auf türk, zorlu.
a tritt auch an türkische Worte an: puska bojlija dünne
(schlanke) Flinte. Volksl. perhici kurnasliji. Milad. 379. diredzi
mramorliji marmorne Mauern. 174. safralija gallicht.
serb. biserli mit Perlen verziert, bojali farbig, dugmali
mit Knöpfen, dugme, dugmeta, versehen, dzamajli von Glas:
pendzer. Jastr. gojajli gepflegt: odgojen. ibrisimli seiden, kadifli,
kadifeli sammten. kostretli aus Ziegenwolle gemacht. kumaSli
Atlas-, novajli cipela. pancirli kosulja. Juk. 217. Hör. 542. srcali
gläsern, strukali päs. suvak und hivaklija Linkler. Trävniklija.
zlatali golden : marama.
li wird durch a erweitert: bosanlija aus Bosnien: türk.
bosnal§. granajlija, granalija, pu&ka, po kojoj su grane izvezene.
mit gestickten grane, duga granajlija. Marjan. 107. dugajlija,
dugonja grosser, langer Mann, gojajlija gepflegt: odgojen. Jedren-
lija aus Adrianopel: Jedrene. kariklija, karikaca Art runde
6
I. Abhandlung: Mi k los ich.
Mütze: karika. kolalija ringförmig, toke kolalije: kolo. odrlija
homo pannosns. novajlija Neuling, sedeflija mit Perlmutter ver
zierte Flinte, runajlija ovca. tocajlija der Schenk, zlatajlija mit
Gold geschmückt. Vergl. Gramm. 2. 106. Fremdwörter: li.
106. Kazem-Beg 42.
a tritt auch an andere vocalisch auslautende türkische
Nomina an: cakija: cak§ Taschenmesser, civija: civi Nagel.
jazija: jaz§ Schrift, kapija: kap§, kapu Thor, Thür usw.
5. Suffix lik, lek.
Das türkische Suffix lik, luk (l§k) bildet Nomina abstracta:
zireklik Feinheit: zirek. ctklgk Weisse: ak. Das Suffix lautet
bulg. l§k, lak, lek, luk, lik, wohl alles aus l§k; serb. kennt nur
die Form luk, rum. lik, alb. hat meist lek.
Es rindet sich im Bulgarischen, Serbischen, Rumunischen
und Albanischen.
bulg. agal§k. brestalak Birkenwald, drvolak Hain. g§stalak,
-l§k dichter Wald, hrastalak, -lek Buschholz, kurvalak Hurerei.
Dan. 38. magjinluk Zauber, mocorlik, mocurlak Morast. okr^Uek
chic. Bog. rajaluk. risjanlak Christenheit. Jastr. robluk Scla-
verei. sirmaslak. Kac. 483. sumalok Dickicht, vrbalak Weiden
gehölz. vojevodlak. vonikluk.
serb. bestiluk Thorheit. bezobrazluk. bikarluk Metzgerei:
t. beccaro. djavoluk Teufelei, gcidluk, gadna stvar. gazdaluk,
gazdarluk. hriscanluk Christenheit, latinluk Lateinerquartier in
Sarajevo. Juk. 613. lopovluk. nitlcovluk. obesenjakluk. pasja-
luk hündische Bosheit, poganluk. pustailuk. Rimluk: takve eure
u Rimluku nema in der katholischen Christenheit, sipcaluk,
sipeiste. stremenluk. Hör. 2. 297. domazluk ist türk. tarn§zl§k.
rum. berhanlik Schwelgerei, murdarlik Schmutz.
alb. egr§silek Wildniss. H. konomlek Wirthschaft. H. pa-
beslek Unglaube. H. Untreue, nipilek it. nipotismo. R.
ngriech. xaTKiavXiVergl. Gramm. 2. 107. Kazem-Beg
40. 41.
Gleiche Bedeutung mit dem türk, lik, lek hat das
magy. Säg.
bulg. h§mesag. se.be,dSag Freiheit. Vinga.
rum. furtiSag Diebstahl.
Über die Einwirkung des Türkischen etc.
7
6. Suffix si.
Das Vorhandensein eines Suffixes si wird in Abrede ge
stellt, indem man veresi Übergabe, Credit durch ,sein Geben',
von vermelc geben, erklärt. Z. 936. 3; die Mongolen hätten ihr
Suffix si einem Missverständnisse zu danken. Kazem-Beg 18.
bulg. cudosija. gizdosija Kokette, ludosija. neftasija Mangel
an Zeit. Dunkel ist krstosija tausend Piaster.
serb. silesija bozija Bos. Vila 2. 131. Ungeheuer: sila.
vrlesija, frlesija ist dunkel. Das alb. si ist G. Meyer 72 ge
neigt auf grieck. c!« zurückzuführen: pargsi Aristokratie: parg
Erster. Vergl. ngriech. yioctct für yß')Z'.c.
7. Suffix tar.
Das Suffix tar, dar ist persisch: raftar , Gang;
murdar do>jo, Leichnam. J. Darmesteter, Etudes iraniennes.
I. 282. Persisch scheint von dar ausgegangen werden zu sollen.
tar entspricht dem aind. tr, tar, tar. Aus dem Persischen
drang das Suffix in das Türkische: türk, caktar Schafglocke:
San Glocke, wohl aus cakdar. ioliadar Kammerdiener, ilimdar
der Weise, kapt.ar Deckel von Bienenkörben: kapamak
schliessen.
Aus dem Türkischen in das Bulgarische: basnatarka Zau
berin. glavatar, glavatann Oberhaupt, glavatarlca. slugatar
Diener, ziljatarka neidisches Weib, pramatarce ist das Demi
nutiv von pramatar Kaufmann aus -payjjia, Tzpa.''[i.ixxi\jvr l c. Dunkel
ist hantfitar böser Dämon: d§ te izede, d§ te sami liantgtar.
serb. cuvadar Hüter, domadar, domodar Hausvater, sve-
znadar Alleswisser. Darmesteter 1. 182.
klruss. domatar neben domontar Hausherr, pluhatar Pflüger.
prosatar, Sco prosyf na praznyk. argatar Arbeitgeber beruht
auf argat, daher argat-ar.
alb. kortetar cortigiano von corte. mesetar Priester von
mes$. pislcQtar Fischer von pi.sk. Vergl. G. Meyer, Albanesische
Studien I. 59, der dafür hält, aus ar habe sich eine Form tar
herausgebildet.
Mit tar ursprünglich identisch ist lat. tor, das sich im
Rumänischen und Albanischen findet und, wohl meist aus der
ersteren Sprache, in das Slavische aufgenommen wurde, rum.
8
I. Abhandlung: Miklosich.
amgdzitor Verführer von amgd&i. arhondar Kellermeister, alb.
tradtur, lat. traditor. pun§tuar Arbeiter. Daneben deretar ostia-
rius. ulltar Reisender Ree. 56: bulg. ulatar Eilbote.
bulg. pgzgtor, pazitor Beschützer, pgzgtorcg Beschützerin,
nngr.-bulg. pizmator. prusaiur Hochzeitbitter. Vinga: serb. prosci.
vrazitor Zauberer.
rum. pazitoriü.
klruss. domator Hausvater, chvaletor. duz.-Sk. 1. 33. 6.
pluhator Pflüger: daneben pluhatar. sapator Hakenpflug: sapaty.
Überraschend ist nastigator Antreiber, wruss. domatur. pol.
domator Stubenhocker, prowodator.
Man merke noch Folgendes: Der griechische Ausgang os
erhält sich im Türkischen. Das zig. os stammt vielleicht doch
unmittelbar aus dem Griechischen. Vergl. Über die Mundarten
und die Wanderungen der Zigeuner Europas X. 4. Türk.
abanos Ebenholz, agostos August Zenker 69. 2. aforos Kirchen
bann. astalcos Meerkrebs Z. 73. 1. bachos Z. 158. 3. burgus
wip-p? Z. 190. 1. bajlos. balos Ball Z. 171. 3. caganos Krabbe
Z. 342. 1. cakalos Hind. 184. Z. 359. 2. ispinos cr-ivo; Finke
Z. 36. 3. istalcos äsTootZ. 36. 3. istavros Z. 37. 1. julios Z.
976. 2. junios. konsollos Re6. 54. kavanos Art grosse Krüge
Z. 711. 2. kolconos Stutzer, kondzolos, lcara kond&olos Art Ge
spenst. konsolos Z. 723. 1. konsol Hind. 319. kovanos. langoros.
Atxyyepoq Art Wein Z. 790. 1. lodos Südostwind: griech. vjto
magdanos paxeSoy^stov. marankoz it. mar an gone Z. 800. 1. mar-
toloz. okeanos Z. 126. 2. palatinos Z. 170. 1. piskopos, piskup.
B. Verbalauffixe.
Im Bulgarischen, Serbischen und Albanischen werden
zahlreiche Verba dadurch gebildet, dass an den in den meisten
Fällen türkischen Stamm das Suffix des türkischen Aorists
d§ und an die so entstandene Form das s des griechischen
Aorists antritt.
bulg. kondisam kehre ein besteht aus kon in Jconmak, dem
dg des Aorists kon-dg-m und dem an kon-dg antretenden s des
griechischen Aorists. Auf kondisam beruht das imperfective
kond.isuvam. temeled.isam befestige: temellemek, nun türkisch
ungebräuchlich.
Über die Einwirkung des Türkischen etc.
0
serb. bojadisati färben: bojamäk. Neben begendisati findet
sieb begenisati, das nicht auf das erstere zurückzuführen ist:
es ist vielmehr das Aorist-s an bejen unmittelbar angetreten.
zabundisan, zlovoljno zamisljen. Rijec konavoska.
rum. birakladisi aufziehen, befördern: bgraglamak, das bei
Z. fehlt, mrum. cghtisi staunen: Sasmak. celahtisi
sich beschäftigen. Boj. 211: die türkische Quelle vermag ich
nicht nachzuweisen.
alb. ogradis belästigen: ugramak. Vergl. Fremdwörter:
aresa und ausführlich Albanische Forschungen III. so wie
Vergl. Gramm. II. 476.
II. WortMldnngslelire.
Die türkische Pluralendung laf findet sich mit der slavi-
schen verbunden nur in türkischen Wörtern: bulg. agalari.
serb. agalari Hör. 342. 363. 470. alb. agalarg usw. Meyer 68.
III. Syntax.
Das Substantiv übernimmt in der Zusammensetzung,
richtig Zusammenrückung, die Function eines Adjectivs: taS-
ev steinernes Haus. altgn-zind&ir goldene Kette. Vergl. Gramm.
2. 350.
bulg. burundzu, burundze kosulja Hemd aus Gaze, catma
vezda zusammengewachsene Augenbrauen habend. Milad. 482.
cüvoop'jc. cimSir porti Thor aus Buchsbaumholz. 172. kemer kese
Gürtelbeutel. 199. kumaS pelena Windel aus einem gewissen
Stoffe. 309. leven odenje Stutzerkleidung. 61. mramor ploca.
228, daneben mramorna ploca. 93. pandzur kosulja. 314, neben
pandzurli koSulja. 98. samur kalpak. sgrma ltolan. 374, daneben
si izvade samura kalpaka. 159.
serb. arpa kaia Gerstenbrei, burundzuk kosulja Hemd aus
Gaze. Juk. 166. demir cardak eiserne Altane. 154. demir
pendzer eisernes Fenster. 133. 486. duvan cesa. ibriüim kanica,
tkanica seidene Schärpe. 70. Petr. 214. 623. mermer avlija.
Juk. 92. 454. mramor kamen. Petr. 275. samur kapa. sindzir
kalka. Juk. 406.
10
I. Abhandlung: Miklosich.
Die Congruenz im Numerus und Casus tritt bei den
türkischen Adjectiven nicht ein. Dass sie beim Genus fehlt,
ist selbstverständlich.
serb. kolikö se harurn ucinila. Petr. 411. halal tebi nasa
krvca bila! Juk. 398. pa se vojsha sacin ucinila. 392.
serb. al cohe rothes Tuch. Petr. 623. iz arzi ödaje, u arzi.
odaju. Juk. 498. 503. bojali cibuk, bojali cibuka, bojali kidi.
131. 344. 462. djuzel djeisiju. Petr. 135. Juk. 284. djuzli d.jei-
siju. Petr. 486. u Tialvat odaju. Juk. 231. bez itlak burjuntije.
491. kadifli cakSire. 166. kumasli jorganom, kumasli jorgana.
Petr. 260. 498. mavi plamen. Juk. 104: maven wird declinirt.
mor coha. 390. m.or caksire. Petr. 486. mukamed pojasa. 223.
pancirli kosulju. Juk. 217. s rakili safunom. 257. kad se sacin
ucinili bili. Petr. 35. sajali caksire. 214. samurli curkom. 504.
sedefli tamburu, 21, daneben sedlo sedefliju. 360. srcali durbina.
131. 169. 532. srcali pendzere. Petr. 219. srmajli jaglukom. 473.
Sajakli caksire. Juk. 431. semli Andji. 407. simsirli besiku.
Petr. 643. tokali jecermu. Juk. 214.
Den Nomina für Maass und Gewicht folgt türkisch das
Nomen für das Gemessene und Gewogene als Apposition: bir
teste taze su. bulg. edin krcag presna voda. on hapan bogdaj
zehn Metzen Weizen, bir findzan ca§ eine Schale Thee. bir liile
tütün eine Pfeife Tabak. Dasselbe findet sich bulgarisch.
bulg. lula tutun. Col. 149. sto oci uleg. devet kuli azno
neun Thürme Schätze. Milad. 122. tri toari azno. Vardar. tri
sejsani azno drei Saumlasten Schätze. 232. tri to’ari azno. 55.
edmo parce kniga. 157. jedna mera vino. trista meri vino. trojica
turci. trista cevgar bivoli. trista; lakti platno. cifte rogozini. tri
lahti platno. kutel psenica.
Eben so ngriech. gtx Xirpa \j.crXhl ein Pfund Wolle. Müller
51. [da T^avdXa zitpi Hahn 2. 211. tcsvis /ürAozq Ypoaia. Pap. 119.
p,k zpziq /uoAozc TO'jpzouc. Legr. 120. xayip.t i^otpopta une douzaine de
soucoupes.
Wenn ein aus dem Türkischen entlehntes Wort in der
Apposition die erste Stelle einnimmt, so steht es unverändert
in der Stammform.
serb. pehlivan djogata. Juk. 516. pehlivan djogatu. 169.
Seher Sarajevo. Petr. 630. Es ist jedoch zweifelhaft, ob diese
Tiber die Rinwirkung des Türkischen etc.
11
Erscheinung auf Rechnung des türkischen Einflusses zu setzen
ist. Vergl. Syntax 342.
Im türk, ati tgmar etmek ein Pferd pflegen, wörtlich equum
curam facere, wird tgmar etmelc als ein transitives Verbum an
gesehen und daher mit dem Accusativ verbunden, eine Con-
struction, die jedoch nicht nothwendig ist, indem der Accusativ
durch den Dativ ersetzt werden kann. Jene dem Türkischen
eigenthümliche Fügung findet sich serb.: Sarca ceS mi timar
uciniti du wirst meinen Schecken pflegen. Petr. 3. 126. sarina
mu timar ucinio. 3. 195. i mene su selam ucinile. bulg. tezka
me globa globihe. Milad. 443. Derselben Construction be
gegnen wir im Zigeunerischen: dinds e ralcles angali er um
armte den Knaben, wo angali dav dem t§mar etmelc entspricht.
Uber die Mundarten und die Wanderungen der Zigeuner
Europas XII. 29.
serb. tamir, popravka: valja m’ kulu tamir uciniti. ich muss
meinen Thurm ausbessern. Hör. 293. nek idaru cini heg svatove.
16. i dusmane kahar uciniti. 38. hoce tebe rezil uciniti. 479.
sehir eine Jankovic Stojana. Volks! kad ga care seir ucinio.
Hör. 83. sejir cini svoje zeteoce. 2. 248. Mujo kulu sejir ucinio.
Daneben sejiriti: sejiriti konje i junake. osejiriti dora. nelca
narod osejiri turlce. pa sam njega surgun ucinio. 460. pa ga
Mara suval ucinila. 2. 258. te je sanak tabir ucinio. 394. vezir
Bosnu talikik ucinio. 97. oni se takum ucinili. 417. konje tebdil
ucinise. 219. kada Vuce teslin dusu ucinio. Volks! Daneben
caru ucini temena. Hör. 468. Mit den angegebenen Fügungen
stimmt altit. por mente una cosa, io lo posi mente überein.
12
I. Abhandlung: Miklosich. Über die Einwirkung des Türkiselien etc.
Litteratur.
Blast. Th. BlaÄewicz, Theoretisch-praktische Grammatik der daco-
romanischen Sprache. Lemberg und Czernowitz 1844.
Bog. I. A. Bogorovt, Erensko-biJgarski i b'ilgarsko-frenski refinifct.
Yiena 1869.
Boj. M. G. Bojadschi, Bomanische oder macedonowlachische Sprach
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jevo. Von 1886 an.
Col. V. Colakovt, Bsblgarskyj narodemt sbornikt. Belgrads 1872.
Dan. AavtYjX o iv. Moo/otcoascoc, Eidr/Wf 1 **) oi3aG7.a/Ja. s. 1. 1802.
Darmesteter, J., Etudes Iraniennes. Paris 1883.
Hahn, G. v., Albanesische Studien. Wien 1853. Griechische und
albanesische Märchen. Leipzig 1864.
Hind. A. Hindoglu, llictionnairc abrege fran<;ais-tui'C. Vienne 1831.
Hör. K. llörmann, Marod ne pjesme Muhamedovaca u Bosni i Herce-
govini. Sarajevo. I. 1888.
Jastr. I. S. Jastrebov'R, Obydai i pesni tureekiclri. Serbov'n. S. Peter-
burgij 1886.
Jir. K. Jircock, Cesty po Bulharsku. V Praze 1888.
J u k. 1. E. J ukic, Marod ne piesmc bosanske i berccgovaöke. U
Osieku 1858.
Ju2.-Skaz. Marodnyja juünorusskija skazki. KioVL 1869.
Kaö. V. Kaöanovskij, Samjatniki bolgarskago narodnago tvoröestva.
SanktpeterburgT. 1882.
Ljub. P. Cv. Ljubenov, Baba Ega. Txrnovo 1887.
Marjan. Marjanovic, Hrvatskc narodne pjesme. U Zagrcbu 1864.
Milad. Bratija Miladinovci, Btlgarski narodni pesni. V r L Zagrebs 1861.
Petr. B. Petranovic, Srpske narodne pjesme. U Biogradu 1867. 1870.
Popovic, G. Turske i druge istoöanske reöi u nasem jeziku. U Bio
gradu 1884. Aus dem Glasnik.
B. Er. Bossi, Vocabolario della lingua opirotica-italiana. Boma 1875.
1156. Beönikx ot'i, cetiri jezika. Biogradl> 1873.
II. Abhandlung: Rn ich. Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
1
II.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
Ein Beitrag zur Geschichte der Kunstphilosophie
von
Dr. Emil Reich.
I.
Wäre der Mann, dessen Name an der Spitze dieser
Zeilen steht, ein Franzose oder ein Engländer gewesen, dann
wäre ihm vielleicht der gebührende Platz unter den Vorläufern
der modernen Aesthetik längst eingeräumt worden und die
deutsche Wissenschaft hätte nicht verfehlt, sich eingehend in
zahlreichen ausführlichen und gelehrten Schriften mit ihm zu
beschäftigen. Vincenzo Gravina war ein Italiener, und es ist
seiner bisher blos in einem einzigen Werke gedacht worden,
und zwar — wie zu zeigen sein wird — in unzulänglicher
Weise. Je weniger der italienischen Wissenschaft bisher Auf
merksamkeit geschenkt worden ist, um desto mehr scheint es
Zeit, das Versäumniss gutzumachen. Eine rühmenswerthe Aus
nahme bildet der Wiener Forscher Karl Werner, dessen treff
liches Werk über ,die italienischen Philosophen des 19. Jahr
hunderts' 1 klar beweist, welch’ reiche geistige Schätze noch
bei unseren südlichen Nachbarn zu heben sind und der
wiederholt in der Wiener Akademie der Wissenschaften über
italienisches Geistesleben berichtet hat. Mit der vorliegenden
Abhandlung wollen wir versuchen, in bescheidener Entfernung
seinen Spuren folgend, einen kleinen Beitrag zu der Sühnung
dieser Schuld zu leisten, bezüglich eines Schriftstellers, dem
ein ehrenvoller Platz in der Geschichte der Philosophie der
Kunst gebührt.
1 Fünf Bände. Wien, Faesy, 1880—1886.
Sitzungsber. d. phil.-hiet. CI. CXX. Bd. 2. Abh.
1
9
II. Abhandlung: Reich.
,Wer den Dichter will versteh’n — Muss in Dichters
Lande geh’n ; — aber auch wer den Kunstphilosophen recht
begreifen will, muss erwägen, wann, wo und unter welchen
Zeitströmungen dessen geistige Entwicklung sich vollzog. Am
18. Februar 1664 wurde zu Rogiano in Calabrien der Knabe
Gianvincenzo Gravina geboren. 1 Seine Eltern waren in dem
nahe der Stadt Cosenza gelegenen Orte angesehen und von
Einfluss. Dieselben vertrauten seine Erziehung ihrem Ver
wandten Gregorio Caloprese an, zu welchem der junge Gravina
nach Scalea gesandt wurde. Caloprese war 1650 zu Scalea
geboren, hatte die Universität zu Neapel besucht, sich aber
nach Vollendung seiner Studien wieder in seinen Geburtsort
zurückgezogen, wo er bis zu seinem Tode (1714) verblieb.
Er galt nach dem Zeugniss der Besten seiner Zeit für einen
sehr gelehrten, tiefsinnigen Philosophen der Cartesischen
Schule. Der Begründer der Geschichtsphilosophie, Gianbattista
Vico, nennt ihn rühmend und Pietro Metastasio bezeichnet ihn
in einem Briefe, welcher von Wien den 1. Juni 1772 datirt
und an Giuseppe Aurelio Morano gerichtet ist, als einen der
berühmtesten Philosophen seiner Zeit (,filosofo dei pia illustri
dell’etä suci‘). — In demselben Briefe erwähnt der genannte
Dichter auch, dass Caloprese’s schriftstellerischer Nachlass in
die Hände seines Schülers, des Fürsten von Scalea, überging,
dass er aber nicht wisse, welchen Gebrauch der Cavalier
davon gemacht habe. Es ist dies wohl derselbe Francesco
Maria Spinelli, Principe della Scalea, welchem Gravina seine
1712 erscheinenden Tragödien widmete. Caloprese war es,
welcher dem Knaben schon jene unbegrenzte Bewunderung
für die griechischen und lateinischen Schriftsteller einimpfte,
die der Mann sein Leben lang bewahrte. Als der Jüngling
im Jahre 1681 die Universität Neapel bezog, war er von
seinem Lehrer bereits mit der Philosophie nicht nur des
Cartesius, sondern auch des Bernardino Telesio und des
Pietro Gassendi vertraut gemacht worden. Caloprese hatte ihm
1 Das Taufdocument, durch welches der früher unrichtig angegebene Tag
sichergestellt wurde, bezeichnet als Eltern die Eheleute Gennaro Gravina
und Anna Lombarda und wurde zuerst veröftentlieht im ,Saggio sulla
vita e sulle opere di G. V. Gravina per il prof. Vincenzo Julia“ (Co
senza, Tipografia Migliaccio 1879), S. LXXXI.
Gian Vincenzo Gravina als Äesthetiker.
3
Empfehlungsbriefe an Serafino Biseardi mitgegeben, welcher
nunmehr die Leitung des vielversprechenden Landsmannes
(Biseardi stammte aus Cosenza) übernahm. Biseardi war ein
hervorragender Jurist, wie Fabroni 1 bezeugt, der geradezu
meint ,in neapolitano foro jureconsultorum princeps nv/merabatnr*,
aber er besass überdies das lebhafteste Interesse für die
,schönen Wissenschaften*. Dies war der rechte Mann, welchen
Gravina brauchte, der sich zwar dem Rechtsstudium widmen
sollte, aber mehr Neigung für die schönen Künste besass.
Ihm verdankte er es, dass er sich zunächst dem weiteren
Studium der griechischen und der lateinischen Literatur, sowie
der Redekunst zuwenden durfte, wobei es sich glücklich traf,
dass eben einer der tüchtigsten italienischen Philologen, Gregorio
Messeri, griechische Literatur vortrug. Ebenfalls Biseardi Wal
es zu danken, dass Gravina späterhin seinen anfänglichen
Widerwillen gegen das Rechtsstudium überwinden lernte,
nachdem ihm sein Meister gezeigt hatte, wie diese Wissenschaft
neben dem toclten Formelkram und öden Wust, in welchen
sie versunken war, auch eine lichte und herrliche Seite besitze
und mit dem Blick des Philosophen betrachtet sich wertli
zeige, dass die edelsten Geister ihr dienten. Mit demselben
glühenden Eifer betrieb er nun die Rechtswissenschaft, sowie
auch Theologie und canonisches Recht. Er hatte es nie zu
bedauern, den Jugendträumen von Dichterruhm, welche ihn
damals erfüllten, entsagt zu haben, denn während er als Jurist
zu den höchsten Triumphen gelangte und seinen Namen —
mindestens in Italien — unsterblich machte, bilden seine im
späteren Alter wieder aufgenommenen poetischen Versuche die
schwächste Seite seiner Leistungen und trugen ihm nur Spott
und Hohn ein. Hier jedoch haben wir es weder mit Gravina
dem Juristen, noch mit Gravina dem Poeten, sondern nur
mit Gravina dem philosophischen Kunstkritiker zu thun. Für
diesen war der Einfluss jener drei Männer (Caloprese, Biseardi,
Messeri) von so grosser, Richtung gebender Bedeutung, dass
ihrer, wenn auch kurz, Erwähnung geschehen musste. In
dieser Zeit lernte Gravina jene Fünfzahl am höchsten stellen,
1 Vitae italorum doctrina excellentium qui saeculo XVIII floruerant
auctore Angelo Fabronio, Romae 1769.
1*
4
II. Abhandlung: Reich.
welcher er immer treu geblieben ist: die Bibel, das Corpus
iuris civilis, Plato, Homer und Cicero. Mit Bezug hierauf
berichtet einer der ältesten der zahlreichen Biographen Gra-
vina’s, Serao, 1 dass über der Thür der Bibliothek desselben
nachstehende Verse (jedenfalls eigenes Product) standen:
,Divina quisquis et studet mortalia
Vel et loquela quisquis omnes vincere
Civile corpus Iuris, et sacros Libros,
Platona, Homerum, Tulliumque perpetuo
Evolvat; Ulis et frequenter additos
Doctos adibit ceteros per ocium
Der Abbate Gravina hatte eben nichts mit jenen französischen
Abbes gemein, an welchen das kirchliche Gewand das einzige
Geistliche war.
Im Jahre 1688 wandte sich Gravina nach Rom, wo er
ständig blieb. Der praktischen Ausübung seiner juridischen
Kenntnisse hatte er entsagt, und so band ihn nichts an Neapel,
zog ihn Alles nach Rom, das eben zu jener Zeit wieder der
literarische Brennpunkt Italiens war, grossentheils durch das
Verdienst der Königin Christine von Schweden, welche die
letzten zwanzig Jahre ihres Lebens dort verbrachte und eine
Gesellschaft ausgezeichneter Männer an sich fesselte, zu welchen
unter Anderen auch der Maler Pierre Poussin zählte. Gravina
fand zunächst gastliche Aufnahme im Hause eines vornehmen
Turiners, Paolo Coardi, wo er mit vielen geistig bedeutenden
und angesehenen Männern in Berührung kam. Seine poetischen
Bestrebungen führten ihn bald zu jenem Kreise, welchen der
Advocat Vincenzo Leonio aus Spoleto um sich versammelte
und aus welchem die Akademie der Arkadier hervorging. Es
war damals in Italien wie in Frankreich und Deutschland die
Zeit derartiger Vereinigungen, die sich in schäferliches Gewand
hüllten und mit erkünstelter Nachahmung angeblicher Formen
des Landlebens die Rückkehr zur Natur zu erreichen glaubten.
Auch die Mitglieder der Arcadia in Rom nahmen wie die
Pegnitzschäfer in Nürnberg Hirtennamen an; der Gravina’s
war Opico Erimanteo. Am 5. October 1690 hielt die neue
1 De vita et scriptis J. V. Gravinae Commentarium, Romae 1758, S. 8.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
5
Akademie ihre Gründungsversammlung in dem Garten der
Padri riformati zu S. Pietro in Montorio ab, auf jener Höhe
des alten Janiculus, wo der entzückte Blick nicht nur die
ewige Stadt zu seinen Füssen, sondern weiter schweifend auch
die Campagna und die schön geschwungenen Höhenzüge der
Sabiner- und Volskerberge mit ihren herüberblinkenden weiss
leuchtenden Ortschaften überschaut, während in blauer Ferne
der ernste Monte Soracte das herrliche Bild abschliesst.
Wahrlich ein Ort, der gut gewählt gewesen wäre, um zur
Rückkehr zur Natur und zum Preise ihrer Schönheit aufzu
fordern. Doch müssen wir bezweifeln, dass die arkadischen
Schäfer ein besonders lebhaftes Gefühl für Naturschönheiten
besassen; von Gravina zum Mindesten wissen wir, dass dies
bei ihm nicht zutraf. Selbst in Neapel hatte ihn die wunder
same Natur fast nie von seinen Büchern wegzulocken vermocht,
deren Studium er so eifrig oblag, dass er sich durch diese
ungesunde Lebensweise ein chronisches Unterleibsleiden zuzog,
welches ihn sein Leben lang quälte und schliesslich seinen
vorzeitigen Tod herbeiführte. Auch späterhin arbeitete er jeden
Tag durchschnittlich zwölf, mindestens aber zehn Stunden.
Die eigentlichen Gründer der Arcadia waren der schon
erwähnte Leonio und der Dichter Gian Mario Crescimbeni
(nebenbei auch Canonicus), welcher zum Vorsitzenden gewählt
wurde und bis zu seinem 1728 erfolgten Tode dieses Amt des
Custoden der Gesellschaft unter dem Namen Alfesibeo Cario
bekleidete. Zweck der Akademie war zunächst die Bekämpfung
und Zuriickdrängung jener poetischen Seuche, welche unter
dem Namen des Marinismus bekannt ist. Dieses Ziel hat sie
erreicht, aber es gelang ihr nicht, den andern wichtigeren
Theil ihrer Aufgabe zu lösen, nämlich eine neue, lebenskräftige,
originelle Richtung in der Literatur ins Leben zu rufen; um
nur ja die Fehler Marini’s, vor Allem den übertriebenen
Schwulst zu vermeiden, verfiel sie in die entgegengesetzten,
wie jeder Action eben eine Reaction folgt, die ungefähr ebenso
weit nach rechts von der richtigen Mitte abzuweichen pflegt,
als es die erstere nach links gethan. Weil sie nicht vermochte,
den Geistern neue Bahnen zu weisen, büsste sie ihr Ansehen
allmälig wieder ein. Als Goethe im Januar 1788 Aufnahme
in die Arcadia fand, war dieselbe längst von ihrer tonangebenden
6
II. Abhandlung: Reich.
Höhe zur Bedeutungslosigkeit herabgesunken. Mit ganz ver
änderten wissenschaftlichen Zielen besteht sie noch heute als
Academia dei Lincei fort. Anders aber war es damals zur
Zeit ihrer Gründung. Die muthigen fünfzehn Männer, welche
der ersten Versammlung beiwohnten, fanden bald Freunde
und Bundesgenossen. Am 27. Mai 1691 ward als neuer Ver
sammlungsort der sich am Janiculus hinaufziehende Garten
des Palazzo Corsini in der Via Lungara ausersehen. In diesem
Palaste war am 19. April 1689 Christine von Schweden ge
storben und in dankbarer Erinnerung ehrten die Arkadier
ihr Andenken, indem sie dieselbe unter dem Hamen Basilissa
in die Liste der Gesellschaft ein trugen; daher mag der in
einigen Literaturgeschichten auftretende Irrthum stammen,
welcher in der Königin die eigentliche Schöpferin und ein
thätiges Mitglied der Arcadia zu sehen glaubt, während doch
diese Vereinigung erst anderthalb Jahre nach ihrem Tode zu
stande kam. Zirm Schutzpatron erkor sich die Gesellschaft
das Jesuskind, wie es in S. Maria Araceli als Gesü Bambino
verehrt ward und wird. Zweigvereine entstanden in anderen
Städten und bald breiteten sich dieselben als dichtverzweigtes
Netz über ganz Italien aus, so dass die Arcadia die einfluss
reichste aller derartigen Gesellschaften wurde.
Gravina war gleich nach seinem Erscheinen in Rom für
die Nothwendigkeit einer Umkehr auf literarischem Gebiet
eingetreten. Noch bevor er seine erste, literarische Angelegen
heiten behandelnde Streitschrift in die Welt sandte, erschien
von ihm ein Werkchen, welches ihm viele Feinde schuf. Er
hatte dies vorausgesehen und deshalb seine ,Hydra mistica,
sive de corrupta morali doctrina - ' unter dem Pseudonym Priscus
Censorinus und mit falscher Angabe des Druckortes (Köln
statt Neapel) der Oeffentliclikeit übergeben (1691). In dieser
Schrift behauptete er, dass die Casuistik und Gorruption der
Kirche mehr geschadet hätten als die Häresie; ferner wendete
er sich besonders heftig gegen den aus diesen Streitigkeiten
entspringenden Probabilismus, welcher die Unabänderlichkeit
der Moral von Grund aus zerstöre. — Für unser Thema
wichtiger ist die Schrift, welche er abermals unter einem
Pseudonym, Bion Crateus, im Jahre 1692 zu Rom erscheinen
liess: ,Sopra l’Endimione di Erilio Cleoneo', unter welchem
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
7
Pseudonym sich Alessandro Guidi barg. Guidi war, wie
Gravina’s Schüler und unbedingter Lobredner Passeri in seiner
kurzen Biographie 1 seines Meisters berichtet, ,amico inseparabile
del Gravinah 2 Sein dramatisches Gedicht ,Endymion‘ entstand
auf Anregung der Königin Christine, zu deren Kreis er zählte.
Es mag sein, dass Gravina den dichterischen Werth dieses
Werkes bei Weitem überschätzte, aber die eigentliche Bedeutung
seiner Schrift liegt nicht in dem Lobe, welches er dem eiteln
Guidi spendet, der sich dem Pindar ebenbürtig wähnte, sondern
in dem Tadel, welchen er gegen die damals herrschenden
Literaturgrössen richtete (allerdings ohne ihre Namen zu
nennen), sowie in der positiven Forderung der Rückkehr zu
den Alten, die er mit Entschiedenheit aufstellte. In dieser
Schi’ift finden sich schon die wesentlichsten Grundzüge seines
ästhetisch-kritischen Hauptwerkes, der ,Ragion poetica', vor.
Man kann behaupten, dass Gravina’s Grundsätze in allen seinen
Schriften dieselben geblieben sind, so dass seine späteren Werke
nur eine systematische Durchbildung und Weiterführung dessen
enthalten, was er in der Schrift über den ,Endymion‘ andeutete.
Gravina hat nie zwischen verschiedenen Richtungen geschwankt,
klar und unbeirrt ist er stets auf dem Wege vorgeschritten,
welchen er zuerst unter Caloprese’s Leitung eingeschlagen hatte.
Die damalige Welt aber dachte anders als der junge
Autor. Die beiden Schriften, dei-en pseudonymer Verfasser
l’asch erkannt war, hatten so recht in ein Wespennest gestochen.
Die heiTschenden Meinungen waren von ihm angegriffen
worden, alte Bei'ühmtheiten fühlten sich seit dem Ei’scheinen
des kecken jungen Neuerers nicht mehr sicher; sein Werk
hatte Eindruck gemacht. Bedeutende Schriftsteller haben
G. B. Passeri nach dessen Angabe versichert, durch dieses
Werk vom schlechten zum guten Geschmack bekehrt worden
zu sein. 3 Dei’selbe Gewährsmann belichtet auch, dass die
1 Wieder abgedruckt iu der Edizione delle opere elassiclie italiane del
secolo XVIII als Einleitung zu den Opere scelte di Gianvincenzo Gra
vina giureconsulto (Milano, Dalla Societä Tipogratica de Classici Italiani,
1819), S. V—XIX.
2 Ebenda, S. VIII.
3 ,Sorjgetti che poi fecero gran progreaso in questa facoltä, mi hanno attestato,
che dalla via sgregolata di comporre si posero neUa huöna con la sola
8
II. Abhandlung: Reich.
,vecchi poeti‘ deshalb den Autor auf alle Weise bekämpften.
Ihren Sprecher fanden die zahlreichen Feinde Gravina’s, deren
Zahl dieser noch durch unliebenswürdige persönliche Eigen
schaften, wie Stolz und Eitelkeit, vermehrt haben soll, in
Ludovico Sergardi. Dieser war zu Siena am 27. März 1660
geboren, von edler Herkunft, deren er sich auch gegen den
bürgerlichen oder richtiger bäuerlichen Gravina rühmte, lebte
zu Rom und starb am 7. November 1726 zu Spoleto. Sein
eigenes Leben soll durchaus nicht tadelfrei gewesen sein.
Unter dem Namen Licone Trachio gehörte er der Akademie
der Arkadier an, wo er Verse vortrug, welche Anerkennung
fanden, aber von Gravina und seinen Freunden missbilligt
wurden. Sergardi machte seinem Hass durch lateinisch ab
gefasste, von einem gewissen poetischen Talent zeugende,
wahrhaft blutige Satiren Luft, welche unter dem Namen
Quintus Settanus erst heimlich in Umlauf gesetzt, später von
Paolo Maffei gesammelt und in zwei Bänden elegant aus
gestattet herausgegeben wurden, nachdem sie bereits in ganz
Italien verbreitet waren und dem Gravina viel Herzleid
verursacht, doch auch scharfe Erwiderungen von Emanuele
Martino, einem Spanier, und Pier Jacopo Martelli hervorge
rufen hatten. Sergardi war übrigens naiv genug, in einer der
Satiren den rein persönlichen Ursprung seiner Angriffe zu
enthüllen und dann hinzuzufügen:
,Hinc odü ccvusae; nam quis toleraret iniquum
Invisimique caput superis?‘
(Satira VII, V. 213—214.p
Dennoch hat Gravina sein Leben lang unter diesen Angriffen
schwer zu leiden gehabt.
lellura di quel trattatello, che li condusse allo Studio e imitazione de’ veri
originali, ponendo in disparte i cattivi‘ (1. c. S. VIII/IX).
1 Q. Sectani Satyrae, numero auctae, mendis purgatae, et singulae, locu-
pletiores ece. Editio novissima. Aecedunt argumenta ac modiees ecc.
concinante P. Antoniano, Amstelodami apud Elzevirios 1700. — Ludo-
viei Sergardii anteliac Q. Sectani Satyrae Lucae 1783, Typis Franc.
Bonsignori. — Ferner ins Italienische übertragen Zurigo (Zürich) 1760.
— Näheres über diesen Streit siehe besonders hoi Alfonso Bertoldi,
Studio su Gian Vincenzo Gravina oon prefäzione di Giosue Carduec
(Bologna, Nicola Zanichelli, 1885).
Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
9
Nichtsdestoweniger schritt er auf dem betretenen Pfade
rüstig fort und liess nach- wenigen Jahren seine Abhandlung
,Delle antiche favole' erscheinen, 1 welche wir nicht zu behandeln
brauchen, da er sie später in seine ,Ragion poetica' aufnahm.
Zugleich erschien auch die erste Sammlung seiner moral-philoso
phischen und juridischen kleinereu Schriften unter dem Namen
,Opuscula‘, 2 und am 7. Mai 1696 wurden die von ihm verfassten
lateinischen Gesetze der Akademie von den Akadiern, welche
damals ihre Zusammenkünfte auf dem Palatin in den Farnesi-
schen Gärten hielten, sanctionirt. Wir können uns in Bezug
auf seinen weiteren Lebenslauf mit Skizzirung der allgemein
sten Umrisse begnügen, da uns dieser hier doch nur insoweit
interessirt, als es zum Verständniss seiner Schriften erforder
lich ist. Im Jahre 1699 wurde Gravina zum Professor des
bürgerlichen Rechtes an der römischen Universität ernannt
und 1703 vertauschte er diese Lehrkanzel mit der des canoni-
schen Rechtes. Im Jahre 1708 erschien das Werk, mit welchem
wir uns in erster Linie zu beschäftigen haben werden: die
zwei Bücher ,Deila ragion poetica', 3 gewidmet Frau von Colbert,
eine Schrift von grösster Bedeutung, die in Italien lange Zeit
unbestrittene Geltung genoss und noch heute hochgeschätzt
wird. In demselben Jahre erschienen bei Gleditsch in Leipzig
der zweite und dritte Theil des Werkes ,De ortu et progressu
juris civilis', dessen erster Theil unter diesem Titel 1701 zu
Neapel und auch zu Leipzig herausgekommen war, unter der
1 Dell’ antiche favole (Roma, Ant. de Rossi, 1696, 12°, 141 S.); dem
Cardinal Boncompagni, Erzbischof von Bologna, gewidmet; 1706 von
Begnauld ins Französische übertragen.
2 Opuscula, quae sunt, Speeimen Juris prisci, De lingua latina, Dialogus,
De conversione doctrinarum, De contemptu mortis, De lucto minuendo,
Romae 1696.
3 Di Viucenzo Gravina Giurisconsulto Deila Ragion Poetica Libri Due,
In Roma, Presso Francesco Gonzaga MDCCVTU, Con licenza de’ Su-
periori, 4°, 215 S. — 1754 erschien hievon eine französische Ueber-
setzung von Requier zu Paris. — Eine zweite italienische Ausgabe
erschien 1716 zu Neapel bei Domen. Ant. Parrini (8°, 260 S.); ferner
Firenze, Luigi Bastianelli, 1771 (8°, 210 S.); Venezia, Alvisopoli, 1829
(16°, 239 S.); Bologna 1830; endlich in den Opere scelte: Milano 1819
und 1827, Firenze 1826 und 1857 (Edizione Barbera), Napoli 1756 bis
1758 und 1839 (Edizione Stefano).
10
II. Abhandlung: Reich.
Bezeichnung , Origin um juris civilis Libri tres‘. Inzwischen ge-
rieth Gravina in der Akademie mit dem Präsidenten Crescim-
beni in ärgerliche Streitigkeiten. Am 21. Juli 1711 fand die
entscheidende Sitzung statt, in welcher nur 31 Arkadier für
Gravina, hingegen 74 für Crescimbeni votirten. Die unter
legene Partei trat aus und bildete eine neue Akademie, wollte
aber den alten Namen weiterführen, da sie behaupteten, die
Gegner hätten durch ihre Beschlüsse die Gesetze der Ver
einigung verletzt, und sie, obgleich die Minderheit, seien die
wahre Arcadia. Von diesen Streitigkeiten handelt die Schrift
,Deila divisione d’Arcadia' vom September 1712, welche ebenso
wie die vom 1. Januar 1712 datirte kleine Schrift ,De disciplina
poetarum' an den Marchese Scipione Maffei, den späteren Ver
fasser der ,Merope', gerichtet ist. Die Partei Crescimbeni’s
brachte die Sache vor die Gerichte. Endlich intervenirte der
Papst, und am 1. Januar 1714 tauften die Gravinianer, nach
gebend, ihre Akademie in die dei Quirini um. In dieser neuen
Vereinigung konnte der Führer mehr als in der alten die grosse
Bedeutung, welche er dem Studium der Alten beilegte, zur
Geltung bringen. War er doch schon lange vorher mit dem
hohlen Treiben der Arkadier nicht einverstanden gewesen und
hatte in den lateinischen Versen, mit welchen er die Dichtungen
des Francesco Maria Lorenzini, des zweiten Vorsitzenden der
Arcadia, einleitete, darüber geklagt, dass oft auch unter Jenen,
welche dem Schwulst feind seien,
,Per cantilenas, perque corurn nenias
Vox vana sensu destituta circuitJ
Doch erging es der jungen Akademie, wie es häufig bei solchen
Secessionen vorzukommen pflegt, wenn die ältere Gesellschaft
die mächtigere bleibt und von der Gunst der öffentlichen Meinung
getragen ist: nach und nach kehrten die Ausgetretenen wieder in
den Mutterschooss der Arcadia zurück, und die Academia dei
Quirini endete schon nach wenigen Jahren ihr Dasein. Auch
Gravina’s Name wurde kurz nach seinem Tode, am 10. März
1718, wieder in das goldene Buch der Arcadia eingetragen.
Gravina hatte inzwischen, durch sein übergrosses Selbst
bewusstsein verleitet, einen Schritt gethan, der ihn dem Ge
lächter preisgab. Er beschloss, dem Verfall der italienischen
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
11
Tragödie gründlich abzuhelfen, indem er sich selbst an die
Arbeit machte. Nun hatte er zwar in seiner Jugend zwei
Trauerspiele, Christus und den heiligen Athanasius behandelnd,
begonnen, 1 welche niemals herausgegeben wurden, von denen
wir daher auch nicht wissen, ob sie Lob oder Tadel verdienten,
jedenfalls zeigte aber schon die Pause von 30 Jahren, welche
er seither hatte eintreten lassen, dass Gravina von der Natur
nicht zum tragischen Dichter bestimmt war. Er ging aber
rnuthig daran und brachte im Verlauf von drei Monaten 2 nicht
weniger als fünf Tragödien zustande, welche er auch sogleich
dem Druck übergab. 3 Sie heissen: ,11 Palamede“, ,L’Andromeda*,
,L’Appio Claudio*, ,11 Papiniano', ,11 Servio Tullio* und sind
nach dem übereinstimmenden Urtheile der damaligen wie der
heutigen Italiener höchst matte Arbeiten.
Gravina gab, um seine praktischen Versuche theoretisch
zu rechtfertigen, im Jahre 1715 die Abhandlung ,Deila tragedia
Libro iino* heraus 1 und so verdanken wir seinem Bestreben
seine — wie er glaubte — mit Unrecht abgelehnten Geistes
kinder zu retten, eine höchst interessante Arbeit, welche für
Deutschland und speciell für Wien auch dadurch von Interesse
ist, dass sie vom Verfasser dem ,serenissimo principe Eugenio
di Savoia* gewidmet wurde. Es ist dies übrigens durchaus
nicht die einzige Beziehung, in welcher Gravina zu Oesterreich
und Wien stand, wenn sie auch alle nur indirecte blieben.
Seine Schrift ,De contemptu mortis (ad Franciscum Pignatellum
Tarentinum Archiepiscopum)* ,gilt dem Preise der Stand
haftigkeit, welche Francesco Caraffa während einer schweren
Krankheit bewährte*; 5 dieser Francesco aber ist der 1692
gestorbene kaiserliche Feldmarschall Caraffa. Dies Werk trug
dem mit der Familie Caraffa befreundeten Verfasser nicht nur
1 Serao 1. c. S. 5.
2 Scipione Maffei, Discorso sul Teatro Italiano; in Opuscoli, Milano, Sil-
vestri, 1844, S. 64.
3 Di Vincenzo Gravina tragedie cinque, In Napoli, Nella Stamperia di
Felice Mosca, MDCCXII, con lieenza de’ Superiori. — Dies ist die
Originalausgabe, nicht die von Bertoldi fälschlich citirte In Napoli 1717,
presso Domenico Antonio e Nicola Parrino.
4 Deila Tragedia, Libro uno, Napoli, Naso, 1715.
5 Karl Werner, Gianbattista Vico als Philosoph und gelehrter Forscher
(Wien 1881), S. 34.
12
II. Abhandlung: Reich.
das Lob des Papstes Clemens XI. ein, sondern vermittelte
auch seine Bekanntschaft mit Gian Battista Vico, welcher ihn
1716 kennen lernte und durch seine juridischen Schriften, zu
welchen sich 1713 noch das in Neapel erscheinende Buch ,De
Komano Impcrio Liber singularis' gesellt hatte, lebhaft angeregt
wurde. Die beiden bedeutenden Männer blieben auch in
brieflichem Verkehre. Das dritte und wichtigste Band, welches
Gravina mit Wien verknüpft, ist sein Verhältniss zu Pietro
Metastasio, dem späteren Hofpoeten Kaiser Karls, der Kaiserin
Maria Theresia und auch noch Kaiser Josefs. Gravina adop-
tirte den begabten Knaben, den er von der Strasse in sein
Haus nahm, und erzog ihn. Metastasio verdankt ihm Alles,
sogar den Namen, denn ursprünglich hiess er Trapassi, welchen
Namen erst sein Pflegevater mit dem wohlklingenderen Meta
stasio vertauschte. Manche haben freilich behauptet, der zwölf
jährige Knabe, welcher 1710 in Gravina’s Haus kam, sei dessen
natürlicher Sohn gewesen, doch ist wohl bei der absoluten
Beweislosigkeit dieser Behauptung eher anzunehmen, dass dies
Gerücht von solchen Leuten herstammt, die gewohnt sind, ihre
eigenen niedrigen Motive den anderen Menschen unterzu
schieben. Jedenfalls wäre die Handlungsweise Gravina’s selbst
dann noch eine edle und rühmenswerthe, da ja der allgemeine
Brauch damals womöglich noch mehr als heute gewissenlosen
Vätern gestattete, ihre uneheliche Nachkommenschaft in Noth
und Elend verkommen zu lassen. Besass Gravina also selbst
nur eine sehr bescheidene künstlerische Begabung, so beweist
der Scharfblick, den er durch die Adoption des jungen Trapassi
zeigte, dass er wohl befähigt war als Kritiker über die Fähig
keiten Anderer ein begründetes Urtheil abzugeben. Selbst ein
unserem Aesthetiker so abgeneigter Schriftsteller wie Francesco
de Sanctis muss zugeben, dass die Erziehung, welche Meta
stasio erhielt, wenn sie auch nach seiner Meinung zu einseitig
auf das Classische gerichtet und besonders das Verbot, den
fl’asso zu lesen nicht begründet war, diesem nützte, indem sie
ihn an Natürlichkeit und Einfachheit gewöhnte und ihn mit
guten Mustern und gründlichem Wissen vertraut machte. 1
1 Quella prima educazione classica non gli tu inutile, perehe lo avezzo
alla naturalezza e alla semplicitä, e lo nutri di buoni eseinpii e di
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetikcr.
13
Uebrigens sandte Gravina den heranwachsenden Knaben später
hin zu jenem Manne, welchem er seine eigene Bildung zu
danken hatte, zu Gregorio Caloprese. In einem Brief an
Saverio Mattei, datirt Wien, den 1. April 1766, schildert der
Greis Metastasio mit Lebhaftigkeit die Jugendeindrücke, welche
er zu Scalea empfing, und spricht mit Liebe und Verehrung
von dem ,insigne filosofo Caloprese*, der ihn auch in die
Philosophie des Descartes einführte. Am 2. Mai 1714 starb
dieser schon durch seine Schüler merkwürdige Mann, nachdem
er zu seinem Erben seinen Vetter und Schüler Gravina ein
gesetzt hatte, den die Nachricht vom Ableben des alten
Lehrers tief erschütterte. Zwei Jahre verbrachte der Erbe,
hauptsächlich wohl zur Festigung seiner erschütterten Ge
sundheit, in Calabrien, dann kehrte er nach Rom zurück.
Mehrfache Berufungen an deutsche Universitäten lehnte er
eben wegen seines Gesundheitszustandes und auch weil er
sich zu sehr mit Rom verwachsen fühlte ab. Hingegen dachte
er den Einladungen des Herzogs Victor Amadeus von Savoyen,
der zu jener Zeit schon mit dem Titel eines Königs von
Sardinien geschmückt war, Folge zu leisten und nach Turin
zu gehen, um dort die ganze Universität nach seinen Ideen
neu einzurichten, als ihn sein heftiger auftretendes altes Unter
leibsleiden zwang, diesem Plane zu entsagen. Am 6. Januar
1718 erlag er diesem Uebel und starb in den Armen seines
Pflegesohnes Metastasio, noch nicht ganz 54 Jahre alt. In
seinem am 5. April 1715 abgefassten Testamente setzte er zur
Erbin seiner Güter in Calabrien seine noch lobende Mutter
Anna ein, sein gesammtes sonstiges Vermögen hinterliess er
dem Pietro Trapassi-Metastasio. Der einstige improvisirende
Strassendichter und Wunderknabe sah sich so im Alter von
20 Jahren im Besitze bedeutender Mittel, war aber bald wieder
ebenso arm wie vorher, da er das ererbte Gut rasch durch
brachte. Dem Andenken seines Pflegevaters widmete er pietät
volle Erinnerung und es ist vielleicht mehr als Zufall, wenn
die einzige spätere Ausgabe der Tragödien Gravina’s zusammen
mit seinem Tractat über die Tragödie gerade bei jenem Buch
soli da dottrina. De Sanctis, Storia della letteratura italiana II, 353 (Na
poli, Morano, 1873, II. Auf!.).
14
TT. Abhandlung: Roicli.
händler erschien, welcher auch der Verleger der ,Opere dram-
matiche* Metastasio’s war; 1 allerdings seinen Vorsatz, ein un
gedruckt [unterlassenes Werk ,De romano imperio germanorunk
zu veröffentlichen, welchen Metastasio kurz nach dem Tode
des Meisters in einem Briefe vom 3. April 1718 an d’Anguirre
äusserte, führte er aus welchen Gründen immer nicht aus.
Dieses Buch erschien nie, während die übrigen Schriften Gra-
vina’s wiederholt neu aufgelegt wurden; so wäre besonders die
Neuauflage seiner juridischen Schriften zu Leipzig 2 im Jahre
1737 hervorzuheben; 1756—1758 erschienen seine gesammelten
Werke zu Neapel, ferner wie schon angeführt, seine ästhetisch
kritischen Schriften 1819 zu Mailand, 1826 zu Florenz, 1827
zu Mailand, 1839 zu Neapel, 1857 zu Florenz. 3
Ehe wir uns nach diesem aus den zahlreichen italienischen
Quellen geschöpften kurzen Abriss des Lebens Gravina’s zur
Darstellung und Kritik seiner ästhetischen Theorien wenden,
denen als Abschluss eine Würdigung seiner Bedeutung mit
Heranziehung der Stimmen seiner italienischen Kritiker folgen
soll, müssen wir uns nothgedrungen mit der Richtigstellung
der Angaben jenes Schriftstellers beschäftigen, welcher bisher
allein Einiges über Gravina mittheilte. Es thut uns leid, uns
1 Di Vincenzo Gravina giureconsulto tragedie cinque, premesso il suo
libro della tragedia (Venezia, Giuseppe Bettinelli, 1740, 8°, XLIII und
263 S.).
2 Jani Vincentii Gravinae, J. cti, opera seu originum iuris civilis libri
tres, quibus accedunt de romano imperio über singularis eiusque ora-
tiones et opuscula latina recensuit et adnotationibus auxit Uottfridus
Masconius, reg. magn. britan. consil. aul. et in academia Goettin-
gensi iuris professor. Lipsiae apud Job. Frid. Gleditscli B. filium anno
MDCCXXXVII (702 S.).
3 Wir citiren im Folgenden mit Ausnahme der Ragione poetica, welche
uns in der Originalausgabe von 1708 vorliegt, stets nach der sogenannten
Edizione Barbera, deren voller Titel ist: Prose di Gianvincenzo Gravina
pubblicate per cura di Paolo Emiliani-Giudici (Della ragion poetica
— Della tragedia — Discorso sopra l’Endimione — Della divisione
d’Arcadia — Della istitutione dei poeti — Kegolamenti degli studi —
Della ragion civile) Firenze, Barbera, Bianchi e Comp., 1857 (LXI1I
und 398 S.). — Daselbst (S. XLIX) auch ein Verzeichniss aller Schriften
Gravina’s; ein anderes Verzeichniss bei Julia S. XCII —XCV. Die drei
Eklogen, welche in dieser Ausgabe fehlen, finden sich in der von
Mailand 1819.
Gian Yinccnzo Gravina als Aesthetiker.
15
gegen einen Gelehrten wenden zu müssen, dessen Verdienste
wir voll würdigen, und den ein früher Tod leider schon im
Alter von 30 Jahren der Wissenschaft geraubt hat. Doch
müssen im Interesse der wissenschaftlichen Wahrheit jene Irr-
thiimer berichtigt werden. Heinrich von Stein’s Werk ,Die
Entstehung der neueren Aesthetik' 1 versucht auf knapp drei
Seiten zum ersten Male, Gravina’s Lehren zu behandeln. Leider
war ihm von allen Schriften dieses Autors einzig dessen ,Ragion
poetica' bekannt, und auch diese lag ihm nur in der Ausgabe
von Neapel 1716 vor, welche er nun irrthümlich für die erste
hielt. Dadurch wurden seine Fehlgriffe veranlasst. Er meint:
„Gravina vermittelt den Zusammenhang zwischen Shaftesbury
und Winkelmann. Die ,Ragion poetica' erscheint 1716 zu Neapel.
1713 war Shaftesbury in Neapel gestorben, nachdem er in
dieser Stadt die letzten Jahre seines Lebens der Beschäftigung
mit den schönen Künsten und dem Verkehr mit den intellec-
tuellen Capacitäten des Landes gewidmet hatte. Dass Gravina
seine Schriften kannte, tritt hervor, wenn er die Poesie eine
Zauberin, aber eine heilbringende Zauberin, und einen Wahn
sinn, welcher die Narrheiten vertreibe, nennt. Dies erinnert
an Shaftesbury’s countre-necromancy, an die Stelle des Selbst
gespräches, wo der Dämon des Trübsinns von dem Genius der
Künste besiegt wird. — Andererseits zog Winkelmann die
,Ragion poetica' allen anderen ästhetischen Schriften vor“. 2 Aller
dings meint er selbst einige Zeilen darauf, dass ,die Aehnlich-
keit der beiderseitigen Aesthetik durch den wahrscheinlichen
Verkehr Gravina’s mit Shaftesbury nicht zureichend und voll
ständig erklärt' sei. Dieser ,wahrscheinliche Verkehr' gründet
sich einzig auf die kühne Hypothese, dass Gravina, weil sein
Buch in Neapel erschienen sei, auch dortselbst gelebt haben
müsse, ebenso wie die vermeintliche Abhängigkeit der ästheti
schen Ansichten Gravina’s von denen Shaftesbury’s auf den
Gebrauch des Wortes ,Zauberin' basirt zu sein scheint. Es
hätte wohl ebenso nahe gelegen, Gravina in Einzelheiten von
Scaliger, Menardierc, Le Bossu beeinflusst zu nennen, als
gerade von Shaftesbury, obwohl gar keine Anzeichen dafür
1 Stuttgart, Cotta, 1886.
2 S. 319—320.
Iß
TI Abhandlung: Reich.
vorhanden sind, dass er einen der Genannten (mit Ausnahme
des Scaliger) gelesen habe; immerhin war er wenigstens des
Französischen mächtig, während er sicherlich kein Englisch
konnte. 1 Von 1711—1718 lebte Shaftesbury in Neapel; während
dieser Jahre war Gravina ständig in Rom. H. von Stein freilich
meint mit grosser Bestimmtheit: 2 ,Gravina schreibt über Homer
an den Gestaden, welche als Schauplatz der Irrfahrten des
Odysseus Goethen zum ersten Male einen völlig lebensvollen
Begriff von der Odyssee gaben/ was bedeuten soll: am Golf
von Neapel, doch gründet sich diese Behauptung, wie die
ganze Beurtheilung Gravina’s bei Stein, auf nichts als auf die
irrige Meinung, dass die ihm vorliegende Ausgabe der ,Ragion
poetica' die erste sei, während sie die zweite war, wovon Stein
sich übrigens in jeder italienischen öffentlichen Bibliothek hätte
überzeugen können. In Wahrheit sind die ästhetischen Schriften
Gravina’s sämmtlich in Rom entstanden. Die Hypothese persön
licher Bekanntschaft fällt also gleichfalls weg. Vor Allem aber
ist die ,Ragion poetica' eben schon 1708 erschienen, während
Shaftesbury’s ,Letters concerning enthusiasm' im gleichen Jahre,
,The moral ist' 1709 und die Schrift, auf welche Stein das Haupt
gewicht legt, ,Characteristics of men, manners, opinions, times'
erst 1711 gedruckt wurden; wenn also schon Einer von ihnen
vom Andern beeinflusst sein soll, so könnte höchstens Shaftes
bury durch Gravina Anregungen empfangen haben, jedoch
nicht umgekehrt. Nun vollends datirt aber, wie wir sahen,
der ,Discorso sopra l’Endimione' von 1692, also aus einer Zeit,
zu welcher Shaftesbury erst 22 Jahre zählte, und in dieser
Abhandlung finden sich schon die Grundlagen der ,Ragion
poetica'; wir stehen mit dieser Ansicht nicht vereinzelt da,
sondern theilen sie mit den italienischen Gelehrten, welche sich
eingehender mit Gravina beschäftigt haben. So sagt Emiliani-
Giudici: 3 ,La prima scrittura critica cli’egli rese di jnibblica ra-
cfione fu il Discorso sopra VEndimione. In esso sono abbozzate
1 Dass Gravina den Hobbes kannte, den er in den Origines iuris civilis
öfters (z. 11. Buch II, Capitel X) erwähnt, beweist biegegen nichts, da
die meisten Werke des Hobbes bekanntlich lateinisch geschrieben sind.
2 Stein, S. 313.
3 In dem biographischen Aufsatz, welcher seiner Ausgabe (der Edizione
Barbera) der Prose Gravina’s vorausgeschickt ist, S. L.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
17
quelle dottrine, che poscia apparvero meglio disposte, esplicate e
lumeggiate nelle altre due sopradette opere‘ (nämlicli ,Ragione
poetica' und ,Deila tragedia'), und Bertoldi bekräftigt dies, indem
er meint: 1 ,11 Gravina vi pose in germe, quelle teorie, che poi
doveva esplicare, con piü larqhezza e con maggior felicitä nella
Ragion poetica/ Auch Julia bemerkt über die in Frage stehende
Schrift: ,Ivi abbozzo nuovi e solenni principii svolti poi magistral-
mente nella Ragione Poetica/ 2 Shaftesbury hat übrigens wohl
weder den .Discorso sopra l’Endimione' noch die ,Ragion poetica'
jemals in der Hand gehabt; eher wäre es denkbar, dass ihm
die 1706 erschienene französische Uebersetzung Regnauld’s der
Arbeit ,Delle antiche favole' bekannt gewesen sei. Wir unserer
seits nehmen keine Einwirkung Gravina’s auf Shaftesbury an,
wenn auch eine solche denkbar erscheint, doch führten wir
diese Thatsachen an, um für solche Forscher, die eine besonders
auffällige Aehnlichkeit zwischen den Schriften des italienischen
Professors und des englischen Lords bemerken sollten, ganz
klarzustellen, dass in diesem Falle Gravina der Gebende,
Shaftesbury der Empfangende gewesen sei, dass also höchstens
»Shaftesbury als Vermittler des Zusammenhanges zwischen Gra
vina und Winkelmann gedacht werden könnte. Wir hätten den
Irrthum Stein’s, der nebenbei bemerkt um so merkwürdiger
ist, als Gravina stets mit einem Stolze von Rom und allem
Römischen spricht, der bei einem Neapolitaner ganz unbegreif
lich sein würde, überhaupt nicht so ernst genommen, wenn
uns nicht ein gleich ärgerliches Versehen Max Schasler’s vor
geschwebt hätte, der in seiner Geschichte der Aesthetik gegen
Robert Zimmermann den Vorwurf erhebt, Hogarth an un
richtiger Stelle, weil vor Burke, zu behandeln, 3 während doch
Hogarth durch Burke’s 1757 (nach H. von Stein 1756) er
schienenes Werk ,A philosophical inquiry into tlie origin of
our ideas of the sublime and beautifuP beeinflusst sei. Nun
ist aber Hogarth’s Werk ,Analysis of beauty' schon 1753 er
schienen und von Lessing’s Vetter Mylius bereits 1754 ins
1 Bertoldi, Studio su G. V. Gravina, S. 16.
2 Julia, Saggio sulla vita e sulle opere del Gravina, S. XXIII.
3 Scliasler, Kritische Geschichte der Aesthetik (Berlin, Nicolai, 1872),
S. 1198.
Sitznngsl). d. pliil.-liist. CI. CXX. Bd. 2.Abh. 2
18
II. Abhandlung: Reich.
Deutsche übertragen worden. Schasler’s kühne Annahme be
ruht aber auf seiner irrigen Meinung, als sei die ,Analyses of
beauty' erst 1763 erschienen, 1 welche unrichtige Angabe durch
irgend einen Zufall sich in Zimmermann’s Buch vorfindet, und,
wie es scheint, von dort (sogar mit dem offenbaren Druck
fehler Analyses statt Analysis) in Schasler’s Werk überging.
Was aber bei Zimmermann ein leicht entschuldbares Versehen,
wahrscheinlich nur ein Druckfehler ist, wird bei Schasler zur
Grundlage einer vollständig haltlosen Annahme, wonach Ho-
garth von Burke beeinflusst gewesen wäre. Diese Irrtkümer
Schasler’s und Stein’s zeigen, wie nahe die Gefahr liegt, einen
Schriftsteller von einem seiner Vorgänger abhängig zu glauben,
blos weil dieser einige Jahre früher schrieb, und wie vorsichtig
man mit solchen oft völlig grundlosen Annahmen sein muss.
Nicht immer freilich ist es so klar wie in den Fällen Hogarth—
Burke und Gravina—Shaftesbury, dass keine Einwirkung statt
finden konnte, weil der vermeintliche Vorgänger in Wirklich
keit ein Nachgänger war, und wie oft mag es Vorkommen,
dass man einen Schriftsteller durch Bücher beeinflusst glaubt,
die er nie gelesen, ja, von deren Existenz er gar keine Ahnung
gehabt hat. Dies mag erklären, weshalb wir im Folgenden uns
hüten werden, nicht wegen irgend welcher übereinstimmenden
Ansichten bei Gravina und einem früheren Aestketiker Jenen
durch Diesen geleitet zu glauben, im Gegentheil, wir setzen
solchen rein subjectiven Ansichten ruhig unsere subjective An
sicht entgegen, dass der Professor des bürgerlichen und canoni-
schen Rechtes, der Verfasser so zahlreicher und umfangreicher
juridischer Werke, wenn er schon seine Mussestunden durch
poetische Ergüsse und durch kritische Betrachtungen über die
Poesie ausfüllte, kaum Zeit zum Lesen ästhetischer Versuche
Anderer übrig behalten habe; wir sind auf Grund seiner
Schriften eher berechtigt anzunehmen, dass er fast gar keine,
als dass er eine besonders eingehende Kenntniss der Schriften
seiner Vorgänger besessen habe.
1 Schasler, S. 308.
Gian Yincenzo Gravina als Aesthetiker.
19
II.
Es war eine Zeit des Niederganges auf allen Gebieten
der Kunst, in welche Gravina’s Mannesjahre fallen. Die Zeit
der grossen Meister der Renaissance war vorüber, die moderne
Zeit noch nicht angebrochen. Auch die bedeutenderen Ver
treter der Kunst des 17. Jahrhunderts in Dichtkunst und Malerei
waren ins Grab gesunken, ohne würdige Nachkommen und
Erben auf künstlerischem Gebiete zu hinterlassen. Es war in
Italien eine jener Kunstzeiten, in welchen man sich — ich
möchte fast sagen — schläfrig und begeisterungslos in den
verlebten Formen der Kunstsprache der vorangegangenen Gene
ration weiterbewegt und die Kunstübung nur so gewohnheits-
mässig weitergeht, bis dann ein erfrischender Windhauch sich
erhebt, der, bald zum Sturmwind anwachsend, die alten Formeln
hinwegweht und neue kühne Geister zur Geltung bringt, welche
es verstehen, den Lebensinhalt und die Weltanschauung einer
inzwischen herangereiften neuen Zeit in neuer und eigentküm-
licher Weise zum Ausdruck zu bringen. Diesen Männern der
That aber geben Männer des Gedankens voraus, welche die
alten Kunstanschauungen kritisch überwinden, und erst dann,
wenn ein solcher Zustand theoretisch als unhaltbar nach
gewiesen ist, können die praktischen Versuche, Neues, Besseres
an seine Stelle zu setzen, von Erfolg begleitet auftreten. Darin
besteht eine der Hauptaufgaben philosophischer Kunstbetrach
tung, die naturgemäss in solchen Zeiten sich in den Vorder
grund drängt, zu erforschen, welche Ursachen diesen Rückgang
der Kunst veranlasst haben und welche Bahnen betreten
werden müssen, um aus dem Zustande der Versumpfung
herauszukommen. Zweierlei Arten von Kunstrichtern treten
dann auf: die Einen begnügen sich mit dem zu allen Zeiten
beliebt gewesenen Schlagwort von den Epigonen, welche
nichts zu schaffen vermöchten, was nicht, schon in den bis
herigen Kunstleistungen erreicht, ja überboten sei, und lehnen
jeden Reformversuch entrüstet ab ; die Anderen horchen auf
die Stimmen der kommenden Zeit und suchen anfangs noch
unsicher tastend dem nachwachsenden Geschlecht neue Wege
zu weisen. Die Ersteren erschöpfen sich in unfruchtbarer
2*
20
II. Abhandlung: Reich.
Negation und wirken um so verderbliche] - , mit je mehr Geist
und Geschick sie als Todtenrichter fungiren, die Letzteren
ahnen den Geist der Zukunft und suchen jedes Talent, das
die neuen Wege beschreiten will, zu fördern und es vor Irr
wegen zu behüten. Sie verdienen schon um ihres Strebens
willen Anerkennung, auch wenn sie ihr Ziel nicht erreichen,
und sind auch dann hoch zu achten, wenn ihre Schreibweise
noch mit dem Worte ringt, wie ihr Geist mit dem Gedanken,
während die glänzendste Stilistik der Gegner auf die Dauer
nicht Uber ihre innere Hohlheit hinwegzutäuschen vermag. Zu
der zweiten Art gehört Vincenzo Gravina und aus diesem
Gesichtspunkte will sein Wirken beurtheilt sein.
Er kannte die ganze Schwierigkeit seines Unternehmens
und sagt deshalb in der Widmung seines Hauptwerkes an
Frau von Colbert, 1 Prinzessin von Carpegna, von der Poesie,
es sei in ihr gleich schwer vortrefflich zu urtheilen, wie voll
endet zu schaffen, und es sei leichter, ein mittelmässiger Schrift
steller, als ein gerechter Beurtheiler zu werden. (Nella quäle e
ugual difficoltä ottimamente giudicare, che perfettamente comporre,
e di cui e piu fcicile mediocre autore, che giusto estimator divenire. 1 ) 2
Wir überzeugen uns aber auch gleich in dieser Vorrede, dass
dieses Selbstgefühl des Kritikers nicht unbegründet war und
dass wir es mit einem Manne zu thun haben, dessen Führung
wir uns für eine Weile anvertrauen können. Es ist kein
Doctrinär, der eine bestimmte Weise der Kunstübung, weil sie
ihm als die beste erscheint und unter gewissen Umständen
und zu einer gewissen Zeit auch wirklich die beste war, nun
ohne jede Abänderung allen Zeiten und unter allen Umständen
aufdrängen will, er ist aber ebensowenig ein haltloser ,reiner
Empirist', der den Wald vor lauter Bäumen nicht sehend, stets
nur die abweichenden Einzelheiten erblickt, nicht aber das
gemeinsame Gesetz, das sie bei und trotz allen noch so grossen
Verschiedenheiten durchwaltet. Er erkennt und rügt die Ver-
derbniss des Stiles, welche von der ,stolida presunzione (dummer
1 In der Familie Colbert waren übrigen derartige Widmungen ästhetischer
Schriften nichts Neues, dem Minister Colbert hatte Andre Felibien sein
Werk ,Des principes de l’architecture, de la sculpture et de la peinture
et des autres arts, qui en dependent 1 (1686) gewidmet.
- Deila ragione poetica, Ausgabe von 1708, S. 3, Edizione Barbara S. 4.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
21
Eigendünkel, unverständige Anmassung) de i presenti maestri
wie er sie schier hohnvoll nennt, herrühre. Er findet das Heil
mittel dagegen in der Rückkehr zu der Einfachheit und Natür
lichkeit der Griechen und Römer, aber er weiss, dass die
übertriebene Befolgung der Regeln der Alten ebenso sehr von
Uebel ist als ihre gänzliche Vernachlässigung, denn der Versuch,
die erdichtete Darstellung der gegenwärtigen Dinge gänzlich
nach den Regeln, welche auf die seither veränderten Sitten
der Alten gegründet sind, anzuordnen, entferne sich fast ebenso
sehr von dem Natürlichen als die vollständige Vernachlässigung
derselben. 1 Natürlich zu bleiben ist aber die Hauptsache, und
eben deshalb bekämpft er ja die zu seiner Zeit massgebenden
Schriftsteller so heftig, weil ihre Schöpfungen sich als baare
Unnatur darstellen. Er will eine philosophische Grundlegung
für die Poesie, eine Wissenschaft der Poesie, welche dieser
dieselben Dienste erweisen könne wie die Geometrie der
Architektur, mit deren Hilfe einerseits die Bauten der alten
Aegypter, andererseits die der Griechen ausgeführt werden
konnten. 2 Er sucht das Bleibende in der Erscheinungen Flucht,
die ,idea e ragion comune‘, welche allen so verschiedenartigen
Kunstgebilden zu Grunde liegt. Diese ,scienza della poesia 1 soll
die Basis der ,regole della poetica‘ bilden, sie selbst ist un
veränderlich, die Regeln sind veränderlich und müssen den
wechselnden Zeiten und den verschiedenen Völkern angepasst
werden. Klingt dies Alles nicht ganz modern an? Und doch
sind schon zwei Jahrhunderte verflossen, seit diese Erkenntniss,
die allein uns geeignet scheint, die Grundlage einer wahren
Aesthetik zu bilden, in Gravina’s Geist aufdämmerte.
Die Vorrede schliesst ab mit der Einsicht, dass so wie
die Natur die Mutter der wahren Dinge, so die Idee die
Mutter der Erdichtungen sei; diese sei von dem menschlichen
Geiste von innen aus der Natur selbst gezogen, in der enthalten
sei, was jeder Geist mit dem Gedanken, sei es durch Ver
stehen, sei es durch Einbildungskraft, hervorbringe. (,Concio-
siache, siccome delle cose vere e madre la natura; cosi delle cose
finte e madre V ülea tratta dalla mente umana di dentro la natura
1 ßagion poetica (1708), S. 6.
2 1. c. S. 4. 5.
22
II. Abhandlung: Reich.
istessa, ove e contenuto quanto col pensiero ogni mente, o inten-
dendo, o immaginando scolpisce/) 1 Auch Heinrich von Stein,
sowie die italienischen Biographen, haben die Wichtigkeit
dieses Satzes gefühlt, mit welchem Gfravina ein ästhetisches
Programm aufgestellt hat. Wir finden hier eine Idee zuerst
ausgesprochen, welche noch nach mehr als hundert Jahren
die deutsche Aesthetik zu beherrschen bestimmt war. Auch
können wir uns nicht der Meinung Stein’s anschliessen, wonach
sich dieser Gedanke hei Gravina als eine vereinzelte An
deutung findet. 2 Schon die Stellung, welche der Verfasser
diesem Satze am Schlüsse der Vorrede gibt, scheint uns zu
zeigen, dass es sich hier um mehr als blos um eine vereinzelte
Andeutung handle, dass Gravina sich der weittragenden Be
deutung seiner Worte wohl bewusst war und ein Princip der
Aesthetik aufstellen wollte, das sich vollkommen mit seinen
sonstigen Anschauungen deckt. Dass dieser Gedanke noch aus
der Renaissancezeit herüberwirke, darin mag von Stein Recht
haben. Es ist ja das Eigenthtimliche der meisten Wahrheiten,
dass sie im Grunde genommen längst in anderen Zeiten bekannt
waren, im Laufe der Jahre aber wieder in Vergessenheit ge-
riethen, so dass, wer sie neu entdeckt zu haben vermeint,
eigentlich nur ein Wiederauffinder derselben ist. Es sind schon
alle Gedanken gedacht worden, es kommt nur darauf an, sie
in neuer Form wieder zu denken; die neue Form macht dann
den alten Gedanken einer alten Zeit für die neue Zeit lebens
fähig und passt ihn den geänderten Verhältnissen an, so dass
er sich wohl selbst wie etwas ganz Neues ausnimmt.
Um die ewige ,ragiön e idea‘ von ihrem natürlichen Princip
abzuleiten, meint unser Autor, müssen wir zunächst über das
Wahre und Falsche und über die menschliche Einbildungskraft
ins Klare kommen. Deshalb handelt er im ersten Capitel ,vom
Wahren und vom Falschen, vom Wirklichen und vom Er
dichteten*. Jedes Urtheil, sagt er, ist eigentlich ein bejahendes,
enthält eine ,afßrmazione‘. Der Unterschied zwischen den wahren
und falschen Urtheilen sei der, dass die ersteren die vollständige
Kenntniss der Sache, über die geurtheilt wird, besitzen, die
1 Ragion poetica, S. 6.
2 H. v. Stein, S. 319.
Gian Vincenzo Gravina als Aesfchetiker.
23
letzteren aber nur eine unvollständige. Als Beispiel wird an
geführt, dass ein viereckiger Thurm ans der Ferne rund er
scheinen könne. So entstehe der Irrthum aus dem Mangel
(,mancanza‘) der vollkommeneren Kenntniss. Daher halten wir
daseiende oder zukünftige Dinge für wahr, sobald das Bild,
welches wir von ihnen empfangen, mit unseren Vorstellungen
vom Wahren übereinstimmt. So entzünden die Leidenschaften
unsere Einbildungskraft genug, um uns erträumte Dinge für
wahr halten zu lassen; ganz besonders ist dies beim Ehrgeiz
und der Liebe der Fall. Daher kommt es, dass die Menschen
meist mit offenen Augen träumen (,Donde avviena che per lo piü
gli uomini sognano con gli occhi apertischliesst der Absatz,
und man fragt sich unwillkürlich, wie weit es von dieser An
sicht noch zu dem Ausspruch sei: Für Jeden ist die Welt so,
wie sie ihm erscheint.
Im zweiten Capitel, ,Von der Wirksamkeit der Poesie“,
werden aus diesen allgemeinen Betrachtungen die Schlüsse ge
zogen, auf welche Weise die Dichtkunst am kräftigsten wirke.
Sie thut dies, nach Gravina, indem sie unsere Phantasie ganz
und gar durch die lebhafte Darstellung, den Anschein der
Wahrheit und die wirksame Aehnlichkeit mit derselben umgibt
und alle Eindrücke abhält, welche geeignet wären, die Wirk
lichkeit dessen, was der Dichter ausdrückt, zu widerlegen. So
kommt es, dass wir dem Erdichteten gegenüber dann so ge
stimmt sind, wie wir es dem Wahren gegenüber zu sein pflegen.
Ueberliaupt entsprechen ja die Bewegungen (,moti‘) unserer Seele
nicht vollständig den Dingen und drücken nicht ihr inneres
Sein aus, sondern entsjurechen dem Eindruck, welcher sich von
den Dingen in der Phantasie bildet, und drücken die Spuren
aus, welche durch die äusseren Körper in die Phantasie ein
gezeichnet werden; man hört den philosophisch gebildeten
Schüler Caloprese’s. Daher können, wie es in den Träumen
geschieht, in uns dieselben Eindrücke wie durch die wirklichen
Dinge auch durch andere Mittel erweckt werden, wenn diese
unserer Phantasie nur wirkliche Dinge zu sein scheinen. Diese
Mittel sind nun für den Dichter die Bilder, “welche das Natür
liche ausdrücken, die lebhafte Darstellung, welche dem wirk-
1 Rag-ion poetica I, 1, S. 9.
24
II. Abhandlung: Reich.
liehen Dasein und der Natur der vorgespiegelten Dinge gleicht,
und vor Allem die Worte, welche sich als vorzügliches Hilfs
mittel darstellen; so bewegt er die Phantasie und durch diese
die Affecte ebenso wie durch Wahres, und unser Geist wird
die Erdichtung nicht gewahr. Auch die Seele nimmt die
Erfindungen als wahr an, weil die Phantasie ja von Bewe
gungen ergriffen ist, welche fühlbaren, wirklichen Eindrücken
gleichen.
Von der durch diese Betrachtungen gewonnenen Basis
aus operirt nun Gravina weiter, indem er zunächst, im dritten
Capitel ,Vom Wahrscheinlichen und Angemessenen', erwägt,
wie der Dichter verfahren müsse, um zu verhindern, dass der
durch seine Kunst sozusagen eingeschläferte Geist erwache
und das Netz von Erfindungen durchschaue. Er meint,
der Dichter erreiche sein Ziel durch Wahrscheinlichkeit alles
dessen, was er vorbringe, und durch natürliche und genaue
Ausdrucksweise; so erziele er, dass der Geist sich einer wunder
baren Bezauberung der Phantasie überlasse. Deshalb seien
in der Poesie alle Unmöglichkeiten, welche nicht durch die
Macht irgend einer Gottheit' gestützt würden, verwerflich. Hier
müssen wir den Einwand erheben, dass diese Ausnahme nur
in Bezug auf solche Gottheiten giltig sein kann, an welche der
Leser oder Hörer glaubt; freilich kann ein gebildeter Leser
durch die Kraft des dichterischen Genius bewogen werden, für
die Zeit, während welcher er sich mit der Dichtung beschäftigt,
die Macht beliebiger Gottheiten in derselben anzuerkennen.
Unbedingt beistimmen werden wir Gravina wieder, wenn er
es als groben Fehler rügt, unwahrscheinliche Affecte, Sitten
und Thaten Vorkommen zu lassen, oder solche, welche der
Person, die uns vorgeführt wird, oder dem Zeitalter nicht ent
sprechen. Solche Verletzungen der Natürlichkeit und Wahr
scheinlichkeit müssen* selbstverständlich zur Folge haben, dass
die dichterische Fiction sich selbst aufhebt; hingegen heisst es
denn doch, eine gar zu geringe Meinung von der Illusions
fähigkeit des Publicums besitzen, wenn Gravina uns glauben
machen will, die Griechen hätten keine Stücke haben wollen,
welche Monate oder Jahre lang dauerten, weil die wirkliche
Zeit der Bühnenaufführung nicht länger als zwölf Stunden ge
wesen sei, und die Dauer der auf der Bühne dargestellten
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
25
Ereignisse deshalb auch nicht diesen Zeitraum überschreiten solle,
um recht glaubwürdig zu bleiben. 1 Dieselbe Ansicht vertritt
er auch noch in der späteren Abhandlung über Tragödie, wo
er nur für den Nothfall die Ausdehnung der Zeit der Handlung
auf einen Sonnenumlauf gestatten will. Er sagt nämlich dort: 2
,E perche la rappresentazione dee alla vera operazione somigliare,
percib il fatto non dovrebbe trascorrere il tempo consumato dagli
spettatori nel teatro. Ma perche non sempre una gründe impresa
pub si poco spazio occupare; percib e permesso, quando altrimenti
non si possa, sceglier argomento che adempia un giro del sole. 1
Diese Kleinlichkeit der Zeitbestimmung aus solchem Grunde
lag den alten Tragikern gewiss fern. Man glaubt nicht, dass
solch ein Ausspruch von demselben Manne herrühren könne,
der doch in derselben Abhandlung so richtig meint: ,Jedes
Aehnliche, damit es ähnlich sei, muss noch von der Sache,
der es gleicht, verschieden sein, sonst wäre es nicht ähnlich,
sondern Dasselbe. Und deshalb muss die Nachahmung, welche
in Aehnlichkeit mit dem Wahren besteht, nicht in allen Theilen
Wahrheit enthalten, sonst wäre sie nicht mehr Nachahmung,
sondern Wirklichkeit und Natur/ (,Ogni simile, perclie sia simile,
dee ancora esser diverso dalla cosa cui rassomiglia: altrimenti
non simile sarebbe, ma Vistesso. E percib Vimitazione, la quäle
b somiglianza del vero, non dee per tutte le parti veritä contenere;
altrimenti non sarebbe piil iniitazione, ma realitä e natura. 1 ) 3 Was
wäre das für ein Dichter, der nicht die Fähigkeit besässe, uns
so weit für sein Werk zu interessiren, dass wir darüber den
Lauf der Zeit vergässen, was wären das für Zuschauer, die,
während vor ihnen die erschütterndsten Scenen sich entrollen,
wenn die gewaltige Nemesis mit ehernem Schritt über die
Bühne wandelt, den Schuldigen treffend und vernichtend, wenn
die Menschheit arm und nackt in ihrer ganzen Blosse sich
ihnen darstellt, wenn sie schaudernd sehen, wie selbst der
Beste und Edelste zum Sclaven der Leidenschaft wird, und
wie kein Fehl ungesühnt bleibt, was wären das für Zuschauer,
sagen wir, die kaltblütig mit der Uhr in der Hand berechnen
1 Ragion poetica I, 3, S. 9.
2 Deila Tragedia, Cap. 6, Prose S. 162.
3 1. c. Cap. 26, Prose S. 193.
26
IT. Abhandlung: Reich.
wollten, ob die abgelaufene Zeit des wirklichen Lebens, dem
sie ja entrückt und über das sie hinausgehoben werden sollen,
auch auf die Minute alles das zu thun gestatte, was auf den
weltbedeutenden Brettern vor sich geht! Manchmal schlägt so
unserem Autor der Stubengelehrte in den Nacken, und sein
Blick, der sonst oft weit und frei über dem Horizont seiner
Zeitgenossen hinausschweift, trübt sich und bleibt in den engen
Kreis einer einseitigen Kunstanschauung gebannt.
Es gibt eben ein Ding, welches nicht auszuklügeln und
nicht auszudeuten ist, einen incommensurabeln Factor in der
Rechnung, welche manche Kritiker aufstellen; man kann und
soll sich bemühen, es zu verstehen, aber es wird nie gelingen,
das Unsagbare in dürre Formeln zu fassen: es ist das Genie,
dessen Wirkungen die schönsten Regeln über den Haufen
werfen, das uns, wo sein heisser Athem uns anhaucht, mit der
unwiderstehlichen Macht einer elementaren Naturkraft besin
nungslos mit sich fortreisst, sei es zur Höhe, sei es zum Ab
grund. Im Grunde ist ja doch die ganze Aesthetik nur eine
Krücke für den Lahmen, mit deren Hilfe die Zuschauer, denen
unsere Wissenschaft das Verständniss des Kunstwerkes näher
rücken soll, und die schwächeren Künstler, die Talente, denen
sie zur Kenntniss der Gesetze ihrer Kunst und dadurch zur
Steigerung ihrer Fähigkeiten und Leistungen verhelfen soll,
mühsam auf jenen Bahnen nachhinken lernen, die das Genie
ihnen in seinem strahlenden Zuge vorgezeichnet hat. Durch
diese Erkenntniss wird der Werth unserer Wissenschaft durch
aus nicht herabgedrückt, denn das Genie thut nichts, was die
Aesthetik nicht billigen könnte, ja müsste; es handelt eben
nur ohne Rücksicht auf die Forderungen der Buchweisheit
und braucht die Gesetze der Kunst nicht erst zu lernen, die es
unbewusst in der Brust trägt. Das wahre Genie, das allerdings
weit seltener ist, als manche Kunst- und Literaturgeschichten
meinen, stösst nicht die (wenigen) Kunstgesetze, höchstens die
(eben geltenden) Kunstregeln um. Kunstgesetze sind selten
und gering an Zahl wie die Genies; Kunstregeln häufig und
zahlreich wie die Talente; jene ixmvandelbar und zu allen
Zeiten fruchtbar, wie die Werke des Genius, diese vorüber
gehend, für bestimmte Zeitepochen, Völker und Bildungsstadien
von Werth, wie die Werke des Talentes. Weil Talent und Regel
Gian Vincenzo Gravina als Acstlietiker.
27
dem Menschlichen gleichen, kann sie der Mensch ergründen
und in Worte fassen; weil Genie und Gesetz dem Göttlichen
gleichen, bleiben sie in ihren Tiefen unergründlich, kann man
sie fühlen und ahnen, aber nie in vollkommener Weise wieder
geben und klarlegen. Eines der Kennzeichen des Genius ist
es, dass seine Werke sich so darstellen wie Erzeugnisse der
Natur, die da sind, und hei denen es scheint, dass sie nicht
anders sein können, als sie sind. Schöpfungen des Genius
tragen kein Merkmal mühsamer Schaffensarbeit an sich, rund
und geschlossen, wie Pallas Athene aus dem Kopf des Zeus
entsprungen, stehen sie vor uns. Um wenigstens theilweise die
Wirkung zu erzielen, welche genialen Hervorbringungen von
Haus aus eignet, sucht das Talent den seinigen den Schein
der Natürlichkeit dadurch zu verleihen, dass es Mühe und Sorg
falt dem Auge des Beschauers nach Möglichkeit verbirgt.
Gravina rätli deshalb, den Versen den Stempel einer gewissen
Nachlässigkeit (,il carattere di negligenza‘) 1 zu geben, weil das
Hervortreten des Künstlichen nur geeignet sei, die Illusion
des Zuhörers oder Lesers zu stören. Unwillkürlich gedenkt
man dabei des Gegensatzes zwischen den scheinbar nach
lässigen, aber bekanntlich lange und sorgsam gefeilten Versen
Heine’s und den scheinbar schwer zu handhabenden, aber
leicht der Feder entflossenen Rhythmen Platen’s. Ein ähnlicher
Contrast Hesse sich vielleicht auch zwischen Wieland und
Klopstock aufstellen. Die beherzigenswerthe Forderung Gra-
vina’s beweist, dass es ihm an feinem Verständniss der poe
tischen Kunstform nicht mangelte.
Noch deutlicher tritt dies in seiner Beurtheilung Homer’s
hervor, zu welcher er sich im vierten Capitel wendet. Homer,
beginnt er, ist der mächtigste Wunderthäter und weiseste
Zauberer (,Omero e il mago piü potente, e l’incantatorepiü sagace/) 2
Die Gründe, auf welche Gravina seine ungemein hohe Schätzung
Homer’s aufbaute, waren für seine Zeitgenossen ebenso neu
und überraschend, als sie uns alt und selbstverständlich er-
1 Ragion poetica, S. 11.
2 Ragion poetica, S. 12. Der Gebrauch des Wortes mago an dieser Stelle
hätte H. von Stein zeigen können, dass Gravina dieser Ausdruck für
poetische Wirkungen geläufig war und er ihn nicht erst von Shaftes-
bury zu lernen brauchte.
28
II. Abhandlung: Reich.
scheinen. Gravina ist eben in seiner Beurtheilung 'der grossen
Dichter seiner Epoche weit voraus, er ist in dieser Beziehung
einer jener bahnbrechenden Geister, weiche neue Gesichts
punkte der Kritik aufstellen und denen die Anderen dann
nachfolgen. Hierin liegt ja ein Hauptwerth ästhetischer Be
trachtung, dass es ihr oft gelingt, missverstandene Werke
grosser Geister ins rechte Licht zu setzen, so dass sie nun
in der veränderten Beleuchtung einen ganz andern Charakter
zeigen als jenen, welchen sie früher zu haben schienen, dass
wichtige Seiten des Gesammtbildes, welche bisher im Schatten
blieben, nun klar und deutlich erkannt werden. So kann der
Kritiker gleichsam zum zweiten Schöpfer des Kunstwerkes
werden, indem er ihm erst zum vollen Leben verhilft oder
seine entschwundene Bedeutung wieder herstellt, und wenn
Grillparzer 1 einmal gemeint hat: ,Um den Aeschylus zu er
gänzen, müsste man erst selbst ein Aeschylus sein*, so muss
der Kunstphilosoph, welcher solchen Liebesdienst an einem
Künstler versieht, sicherlich seines Geistes einen Hauch ver
spürt haben, dem Künstler, wenn auch nur innerhalb gewisser,
enggesteckter Grenzen congenial gewesen sein, denn nur der
Gleiche kann den Gleichen ganz verstehen, nur der Aehnliche
mit dem Aehnlichen fühlen, zwischen ganz Ungleichartigem
aber gibt es weder Verständniss noch Theilnahme. Deshalb ist
auch dem Aesthetiker der Dichtkunst ein gewisser Grad poe
tischer Begabung, schöpferischen Vermögens unentbehrlich,
um ihn zu befähigen, dem Dichter nachzufühlen, sich — mit
Robert Vischer zu sprechen — in ihn einzufühlen, was ja so
hochwichtig ist.
Die Homer-Begeisterung Gravina’s war keine gemachte
und künstliche — wie so Viele anerkannten Autoritäten gegen
über, welchen sie nicht zu widersprechen wagen, Antheil und
Verständniss, ja Freude und Genuss an ihren Werken zu er
heucheln sich verpflichtet fühlen, um nicht des Mangels an
Geschmack geziehen zu werden — sondern eine echte und
ursprüngliche. Schon in seinem ersten Werke äusserte er sich
dahin, bei Homer sei die gesunde Idee der Poesie lebhaft
ausgedrückt, in seinen wunderbaren Gedichten erkenne man
Grillparzer’s säramtliche Werke (Stuttgart, Cotta, 1887, 4. AufiL.) XIV, 13.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetilcer.
29
alle Zustände, Abstufungen und Gewohnheiten der Menschen
abgebildet, nach dem wahren Beispiele der Natur. (,La sana
idea della poesia & stata vivamente espressa da Omero, ne’ di cui
maravigliosi poemi si ravvisano tutte le condizioni, tutti i gradi
e tutti i costumi degli uomini figurati al vero esempio della naturad) 1
Helden, Gute, Mittelmässige, Niedrige und Lasterhafte kommen
vor und jeder spricht sich so aus und zeigt sich derart, wie
es seiner Lage zukommt. Man lernt den wahren Charakter
der schwachen Menschheit kennen, die im Guten stets irgend
eine Ader des Lasterhaften verbirgt. Das wird an Agamemnon,
Ulysses, Achill und Nestor dargethan. So dachte Gravina also
schon als junger Mann über Homer. Der Verfasser der ,Ragion
poetica“ preist ihn womöglich noch mehr. Er nennt ihn einen
Proteus, der sich in alle Naturen umzuwandeln wisse, ja
einen Nebenbuhler der Natur. Von Homer’s Gegnern spricht
er sehr von oben herab und voll Verachtung. Man schöpfe
aus ihren Werken keine Kenntniss der menschlichen Begeben
heiten , da sie alle nach einer andern Welt gebildet seien,
welche zu uns in keinerlei Beziehung stehe; solche Beispiele
können nicht zum Gebrauch dienen und eröffnen uns nicht
den Weg, um die Gemüthsart der Menschen zu erforschen. 2
Noch deutlicher enthüllen sich Gravina’s Anschauungen
über die Aufgabe der Poesie in dem kurzen fünften Capitel
,Vom Ursprung der Fehler in der Poesie“, wo er, nachdem er
alles Unheil von der declamatorischen Schule hergeleitet hat,
meint, die Griechen und Lateiner hätten die Dinge in der
Wahrheit ähnlicher Weise nachgebildet, um die Veränderungen
des Glückes zu erforschen und um sich die Strasse zu eröffnen
zur Darlegung der Sitten und Gemüthsart der Menschen, sowie
des tiefen Geistes der Fürsten, (,Anno figurato le cose in sem-
bianza simile al vero, per discoprire le vicende della fortuna, e
per aprirsi la strada da palesare i costumi e genj degli uomini,
e la mente profonda de i prindpi. 1 ) 3
Zu dem für unsere Zwecke wichtigsten Abschnitt, welcher
aus dem 7.—11. Capitel besteht, leitet das sechste hinüber,
1 Diseorso sopra l’Edimione, Prose S. 255.
2 Kagion poetica, S. 16.
3 1. c. S. 15—16.
30
II. Abhandlung: Reich.
welches die Wahrheit der von Homer dargestellten Charaktere
und die Verschiedenheit der menschlichen Leidenschaften be
handelt. Homer wird belobt, weil er weder ganz Gute, noch
ganz Schlechte darstelle, noch auch seinen Gestalten stets die
selbe Sinnesart Ohne jede Unterbrechung belasse, ohne doch
die Consequenz des Charakters zu vernachlässigen. Es weiche
jede einzelne Sache einer grossem Gewalt, Homer aber wollte
den Menschen darstellen, wie er in Wahrheit sei, da es ohnehin
Allen bekannt sei, wie er sein sollte, und man keine wahre
Kenntniss und Wissenschaft aus der Nachbildung jener Dinge
schöpfe, welche mehr in der Meinung als in der Natur vor
handen sind. Diejenigen, welche ganz unveränderlich in Tugend
oder Laster beharrende Menschen darstellen, bezaubern die
Phantasie nicht, weil sie Charaktere vorführen, die anders
sind als diejenigen, welche Sinne und Erinnerung uns darbieten.
Homer’s Verfahren entspricht der menschlichen Natur, deren
Grundzug oft durch äusseren Einfluss (z. B. durch die Liebe
oder durch den Ehrgeiz) überwunden wird. Die Herrschaft
der Vernunft ist nicht immer so wach, um nicht von den
Leidenschaften überrumpelt zu werden, und die aufrührerischen
Leidenschaften sind nicht immer so stark, um die Kräfte der
Vernunft unterdrücken zu können. Nur durch göttliche Gnade
(,grazia divina 1 ) kann ja die Menschheit zur Vollkommenheit
gelangen, 1 und die menschliche Schwäche erhebt sich nicht
zur Vollendung, wenn sie nicht von einem Strahle dieser
göttlichen Gnade belebt ist, welcher sich nur auf Christen er-
giessen kann (,che sopra noi Christiani pub dißondersi 1 ) . 2 Nun
waren aber die alten Heroen keine Christen, konnten also
nicht vollkommen sein, und so erscheint Homer gerechtfertigt,
wenn er alle seine Heroen und Fürsten (unter deren Bild er,
nach Ansicht unseres Autors, die günstige Gelegenheit be
nutzend, die Fürsten seiner Zeit darstellen wollte, wie sie sich
ohne Krone, Purpur und Chlamys, welche den Augen des
Volkes ihre menschliche Schwachheit verhüllen, ausnähmen)
Handlungen des Geizes, der Grausamkeit, des Betruges, sowie
schmutzige Unwürdigkeiten begehen lässt. Hier drängt sich
1 Ragion poetica, S. 16.
2 1. c. S. 18.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
31
wohl die Frage auf, ob Gravina nicht andeuten wollte, dass
es auch unter ,noi Ghristiani‘ solche Fürsten gäbe, und darauf
rechnete, dass seine Leser verstehen würden, auch zwischen
den Zeilen zu lesen. Hingegen kann kein Zweifel an seiner
vollen Aufrichtigkeit obwalten, wenn er nochmals 1 hervorhebt,
die Dichter dürften nur dann fehlerlose Charaktere darstellen,
wenn diese durch besondere göttliche Gnade (,spezial grazici
divina‘) gebessert wären. Noch viel später kehrt zum vierten
Male die Versicherung wieder, die Vernunft könne die Leiden
schaften nur dann beherrschen, wenn sie durch göttliche Gnade
über die natürlichen Bedingungen erhaben sei. 2 Eine andere
Frage ist es, ob solche durch höhere Fügung allen mensch
lichen Leidenschaften Entrückte uns Modernen noch poetisch
venverthbar erscheinen können. — Ehe wir uns weiterwenden,
sei noch eines kühnen Auslegungsversuches Erwähnung gethan,
mit welchem Gravina entschieden Unrecht hat. Er meint
nämlich, es sei der Thetis nicht gelungen, in Achill den
Charakter der Menschheit ganz aufzuheben und ihn gänzlich
in die unsterbliche Natur einzutauchen (,immergerlo‘), weil die
griechischen Heroen stets menschlichen Leidenschaften unter
worfen blieben. 3 Hier ist offenbar die Eintauchung in den
Styx gemeint, und man denkt im ersten Augenblick, das sei
eben ein zwar wenig wahrscheinlicher, aber immerhin geist
reicher Erklärungsversuch. Ganz schief jedoch und völlig halt
los wird das hier Homer unterschobene Motiv, wenn man
sich erinnert, dass ja auch die Götter der Griechen durchaus
nicht als fehlerlos gedacht wurden und vollends schon nicht
bei Homer, wo sie eher sagen könnten, es sei ihnen nichts
Menschliches fremd geblieben, was Gravina recht gut wusste,
aber im Augenblick, wo ihm dieser geistvolle Einfall kam,
nicht weiter bedachte; ein Beispiel unüberlegter, weit herge
holter und dabei ganz unrichtiger Auslegungen, wie sie leider
öfters Vorkommen.
,La poesia e una magci, ma salutare, ecl un delirio, che
sgombra le pazzie 11 (die Poesie ist eine Zauberin, aber eine
1 Eagion poetica, S. 19.
2 1. c. II, 10, S. 161.
3 1. c. S. 18. 19.
4 1. c. S. 20.
32
II. Abhandlung: Reich.
heilsame, und ein Wahnwitz, der die Thorheiten vertreibt).
So beginnt Gravina sein siebentes Capitel ,Ueber die Nützlich
keit der Poesie'. Diese ziemlich unvollständige Definition bringt
er mit den Fabeln von Ampbion und Orpheus in Verbindung,
doch meint er die Wirkungen, welche hier fühlbar würden,
seien Zweigen eines Baumes gleich, nicht seinen Wurzeln; um
zu diesen zu gelangen, müsse man tiefer graben. Er findet
nun den tiefem Gehalt dieser Erzählungen darin, dass, weil
der Sinn der gewöhnlichen Menschen der Vernunft verschlossen,
der Phantasie allein zugänglich sei, Ampbion und Orpheus,
welche hier symbolisch für alle Dichter genannt werden, sich
der Einkleidung der Wahrheiten in das Gewand von Bildern
und Erfindungen bedienten, um auf diese Weise den rohen
Gemüthern beizukommen und ihnen die Früchte der Wissen
schaft mitzutheilen. ,So dass sie schwärmend die Menschen
von ihren Thorheiten heilten' (,sieche le genti, delirando, guari-
vano dalle pazzie‘)d Modern ausgedrückt würden wir sagen:
sie boten den Leuten, welche nicht fähig waren, das Abstracte
zu begreifen, statt dessen Concretes, in welches die abstracten
Begriffe gleichsam eingewickelt waren. So fasst Gravina also
die Poesie beinahe im Hegel’schen Sinne auf, nämlich als
sinnliche Erscheinung der Idee, während sie doch- vielmehr
umgekehrt ideale Erscheinung des Sinnlichen genannt zu werden
verdient. Ihr Nutzen besteht für ihn wie für Schopenhauer
darin, dass sie die Erkenntniss der Ideen erleichtert, nur fällt
ihr nach Gravina diese Aufgabe in noch weiterem Umfange
zu als nach Schopenhauer. Es ist gewiss von Interesse diese
Irrthümer der philosophischen Bewegung der ersten Hälfte des
19. Jahrhunderts schon viel früher vorgebildet zu finden; so
wiederholen sich eben die Irrthümer wie die Wahrheiten. ,Es
war schon Alles da,' meint Gutzkow’s Babbi Ben Akiba nicht
mit Unrecht. Gravina erklärt aus dieser Auffassung den Tan
talus im Hades für ein Symbol des Geizes, der stets unbefriedigt
bleibt, desto mehr begehrt, je mehr er besitzt; wieder eine
recht erzwungene Auslegung, da Tantalus ja gar nichts zur
Stillung seines Hungers und Durstes erlangen kann. Hätten
die Griechen das wirklich gewollt, was Gravina ihnen unter-
1 Ragion poetica, S. 21.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetikcr
33
schiebt, dann würden sie vielmehr einen Tantalus dargestellt
haben, der, immerfort essend und trinkend, dennoch nicht im
Stande ist, den nagenden Hunger und quälenden Durst zu be
friedigen ; aber die Griechen waren lebendige Menschen wie
wir und nicht blasse Buchschemen, deshalb muss man sieb
hüten, ihnen allzuviel Buchweisheit unterzuschieben und immer
aus jedem Zug eines Mythos eine tiefsymbolische Bedeutung
herauszudeuten, die man eigentlich nur hineindeutet, wie in
diesem Falle Gravina.
Freilich ist bei ihm dies Vorgehen leicht erklärlich, denn
er ging von der für ihn ganz feststehenden Ansicht aus, dass
Gelehrte die Göttermythen erfunden hätten, um dem rohen
Volke die Eigenschaften des nur ihnen bekannten einen Gottes
geläufig zu machen, worüber er sich im achten Capitel, ,Der
Ursprung des Götzendienstes', des Näheren verbreitet. Er
nimmt ferner eine Art Verschwörung der Weisen und der
Dichter zur Erreichung dieses lobenswerthen Zweckes an und
erwähnt wiederholt die Egypter, von denen die Griechen dies
Verfahren überkommen hätten. Dass es sich vielleicht um
gekehrt verhalte, dass zuerst die Volksmythen dagewesen seien,
und dann Symbole und Gleichnisse in dieses rohe Material
hineingelegt wurden, um sie bei fortgeschrittener Bildung den
noch festhalten zu können, kam ihm, während er dies nieder
schrieb, ebenso wenig in den Sinn, als dass die Poesie zwar
Weisheitssprtiche der Dichter enthalte, dieselbe aber nicht ge
radezu zu dem Zweck erfunden worden sei, um Weisheit zu
verbreiten. Er leitet vielmehr aus seinen Ansichten über die
planmässige Entstehung der Mythen das Recht ab, auch an
zunehmen, dass die Poesie, welche sich ja anfangs hauptsäch
lich mit der Darstellung dieser Mythen beschäftigt hat, eine
planmässige Erfindung sei. Er meint, es sei klar, dass die
Fabeln auf diese Weise nicht vom Falschen, sondern vom
Wahren herstammen, nicht der Willkür, sondern der durch die
Wissenschaften geregelten Erfindung entstammen und mit ihren
Bildern den physischen und moralischen Anlässen entsprechen
(,ne sorge dal Capriccio, ma da invenzione regolata dalle scienze,
e corrispondente coli’ immagini sue alle cagioni ßsiche, e morali‘). 1
1 Ragion poetica, S. 28.
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CXX. Rd. 2. Abb,
3
34
II. Abhandlung: Reich.
,Ueber die Natur der Fabel' handelt das neunte Capitel.
Es bebt gleich mit einer Definition an: ,La favola b l essev ilelle
cose, trcisformato in genj umani, ed ö la veritä travestita in sem-
bianzapopolare 11 (die Fabel ist das Sein der Dinge, umgewandelt
nach menschlichen Begriffen, und ist die Wahrheit, verkleidet in
volkstümliches Aussehen). Der Dichter gibt den Gedanken
einen Körper und verwandelt die durch die Philosophie wach
gerufenen Betrachtungen in sichtbare Bilder; so ist er Um
bilder und Hervorbringer, woher sein Name (roswjT/j;). Die
Religion jener Zeit war nach Gravina nur eine Erfindung, ein
Gebilde (,archit.ettura‘) der Dichter, was diesen den Ruf der
Göttlichkeit verschaffte. Diese' Schätzung der Dichter wuchs
mit der Macht der Wahrscheinlichkeit, welche alle ihre Er
findungen glaubwürdig machte. Damit nun die Erfindungen
noch glaublicher erscheinen sollten, wurden sie der Geschichte
angehängt und die Vorgänge mit bestimmten, allgemein be
kannten Ländern und Personen in Verbindung gebracht. Um
hiebei nicht der Unwahrheit überwiesen zu werden, floh man
stets die nahen Zeiten und griff zu Jahrhunderten, deren Ge-
dächtniss matt und nebelhaft war. So erkläre es sich, dass
alle Fabeln einerseits im letzten Grunde auf etwas Wahrem
fussen, andererseits zu entlegenen Ereignissen und Personen
ihre Zuflucht nehmen. Diese fabelhaften Orte und Persönlich
keiten dienten aber nur als Symbole, unter denen sich philo
sophische Belehrung verbarg; deshalb, meint er, konnten die
Alten sie beliebig abändern, wie dies gerade nach den Bedürf
nissen des Gefühles und des moralischen oder physischen oder
auch theologischen Unterrichts nöthig war. Es ist merkwürdig
zu sehen, mit wie viel scheinbar treffenden Argumenten Gra
vina hier die poetische Ferne zu begründen sucht, deren wahre
Ursachen doch vielmehr darin liegen, dass die Prosa der Gegen
wart der poetischen Verklärung widerstrebt, während die Ferne
und die Vergangenheit stets von einem gewissen Reiz umflossen
erscheint, der die dichterische Gestaltung wesentlich erleichtert,
wie wir dies schon an einem andern Orte angedeutet haben. 2
1 Ragion poetica, S. 28.
2 Reich, Schopenhauer als Philosoph der Tragödie (Wien, Konegen, 1888),
S. 122—123.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
35
Es muss übrigens zugestanden werden, dass Gravina auf dem
Standpunkt der Wissenschaft seinerzeit zu solchen Annahmen
und Schlüssen berechtigt war. Dass die Forderungen der Wahr
scheinlichkeit in entfernteren Ländern oder Zeiten leichter zu
erfüllen, weil schwieriger zu controliren sind, ist auch heute
noch richtig. Ebenso wenig wird man dagegen streiten wollen,
wenn Gravina uns (im zehnten Capitel ,Deila favola Omerica‘)
versichert, in der Iliade finde sich das ganze Wesen der Dinge
ausgedrückt, 1 und die Odyssee enthalte die Kenntniss aller
menschlichen Leidenschaften, sowie die Kunst und die Richt
schnur, um das Leben gut zu lenken (,1’arte e la nortna da ben
reggere la vita 1 ). 2 Doch so gern ihm dies zugestanden werden
mag, so entschieden wird man dagegen Stellung nehmen müssen,
dass dem Homer die Geschichte des trojanischen Krieges und
der Irrfahrten des Ulysses nur als ,maschera‘ gedient, das aber,
was er mit klarem Bewusstsein als sein hauptsächlichstes Ziel
betrachtet hätte, die Verbreitung jener Kenntnisse gewesen sei.
So handelt kein wahrer Dichter, und die ganze Auffassung der
Dichtkunst, welche Gravina in diesem Abschnitt an den Tag
legt, beweist, dass er kein Dichter war.
Wir gelangen nunmehr zu jenem Capitel, welches uns
die — wie wir gleich vorausschicken wollen — durchaus nicht
zu billigende Ansicht Gravina’s von der Bedeutung und dem
Ziel der Poesie am deutlichsten enthüllt; es ist dies das elfte,
welches von der ,utilitä della favola‘ handelt. Ihr Nutzen
besteht darin, dass sie unter sinnlichen Bildern Keime der
Weisheit aussäet, die Gesetze der Natur und die Gottes lehrt
und zur Religion, sowie zur Ehrenhaftigkeit anspornt. Dieser
Zweck wird um so besser erreicht, je naturgemässer und je
mehr aus dem Leben gegriffen die Erfindungen sind. Hiegegen,
sagt ■ Gravina, könnte eingewendet werden, dass man die
Kenntniss der Gewohnheiten und Leidenschaften der Menschen
leichter aus dem Wahren und Wirklichen schöpfen könnte als
aus dem Gleichniss; doch ist dem nicht so, denn man lernt
mehr durch Dinge, welche von der Erdichtung ins rechte
Licht gesetzt sind, als durch die realen Objecte. Denn je ver-
1 Ebenso schon im Discorso sopra l’Edimione, Prose, S. 256 und 257.
2 Ragion poetica, S. 31.
3*
36
II. Abhandlung: Roich.
trauter uns die Dinge sind, desto weniger achten wir auf sie,
da der Geist stets sein Augenmerk auf das Ungewohnte,
Seltene richtet, welches von den anderen Dingen durch irgend
eine hervorstechende Eigenschaft unterschieden ist, eine unbe
streitbare richtige Bemerkung, aus <jer unser Autor nebenbei
auch folgert, dass wir eben deswegen grössere Kenntniss vom
Geisteszustände Anderer als von unserem eigenen besitzen.
Auch verhindert die Menge der Gegenstände, welche unter
einander wie an einer Kette Zusammenhängen, unsere Ein
bildungskraft, sich ganz auf einen Punkt zu richten, auf diesen
alle Kräfte zu vereinigen und genaue Beobachtungen über ihn
anzustellen, woraus die Wissenschaft entspringen kann, denn
alle Dinge, welche uns umgeben, ,tragen die Gelegenheit des
Wissens auf der Stirne', 1 können Anlass zur Erweiterung unseres
Wissens werden. Es ist nun nöthig, um diese Uebelstände zu
beseitigen, uns einerseits die Dinge durch einen Anstrich von
Neuheit interessant zu machen, andererseits sie uns so aus
geschieden aus der Reihe der Anderen vorzuführen, dass wir
unsere Aufmerksamkeit auf sie concentriren können: beide
Forderungen werden durch die Poesie erfüllt. Was von Natur
gewohnt und werthlos ist, wird durch die Kunst neu und un
erwartet (,quel, che per natura e covmeto, e vile, per arte diventa
nuovo ed inaspettato 1 ). 2 Auch muss schon das grosse Bewun
derung erregen, die Gegenstände der Natur mit anderen Mitteln
als mit denen der Natur hervorgebracht zu sehen; so er
scheinen die gewohnten Dinge den Sinnen als etwas Neues,
wenn sie durch die Poesie mit verschiedenen Hilfsmitteln aus
der Natur in das Erdichtete verpflanzt wurden. Dies reizt den
Geist viel lebhafter zum Nachdenken über die Dinge an und
so kommt es, dass die Gewohnheiten und Bräuche der Menschen
mehr auf den Theatern als auf den öffentlichen Plätzen, also
im wirklichen Leben bemerkt und erkannt werden. Der Geist
vergleicht das Bild, welches die Worte in ihm hervorrufen
mit jenem, das schon durch die Eindrücke der wirklichen
Dinge seiner Phantasie eingeprägt ist, und dies durch die Er
innerung hervorgerufene Vergleichen wird ihm zu einer neuen
Quelle des Vergnügens, ähnlich demjenigen, welches durch die
1 Ragion poetlca, S. 33.
2 1. c. S. 34.
Gian Vincenzo Gravina als Aesfchefciker.
37
Wissenschaften in uns erregt wird. Durch die Worte werden
dieselben Affecte in uns hervorgerufen wie durch die Dinge
selbst, weil die Erregungen der Phantasie wirklichen Erregungen
ähnlich sind, und so können durch die Poesie die Affecte in
ähnlicher Weise erregt werden wie durch die Wahrheit. Die
Erregung von Affecten aber, auch von schmerzlichen, ist inner
halb gewisser Grenzen stets mit Vergnügen verbunden. Die
Aehnlichkeit allein ist die grösste Quelle des Vergnügens und
Nutzens, schliesst das Capitel und mit ihm derjenige Theil der
,Ragion poetica', in welchem Gravina seine ästhetischen An
sichten in zusammenhängender Weise als Grundlage seiner
späteren Urtheile ausspricht.
Zu den hier ausgesprochenen Meinungen finden sich schon
im ,Discorso sopra 1’ Endimione' zahlreiche Parallelstellen, von
denen wir einige der wichtigsten herausheben wollen. So wird
die Kunst als Tochter und Zweig der Wissenschaft bezeichnet
(,essendo V arte figliuola e rampollo della scienza 1 ); 1 es wird auch
dort schon als Aufgabe der Dichtkunst genannt, ,il vero essere
delle cose‘ (das wahre Sein der Dinge) mittelst der Worte der
Phantasie einzuprägen. 2 Gleichfalls findet sich bereits die An
sicht ausgesprochen, dass es klar sei, wie die Menschen sein
sollten, schwierig und dunkel aber zu erkennen, wie sie in
Wirklichkeit seien (,il difficile ed oscuro e il conoscere, quali e
come essi veramento sieno‘), 3 welche Kenntniss grossen Nutzen
für das bürgerliche Leben bringe und aus den griechischen
Dichtern geschöpft werden könne. Auch hier schon erscheint
die Belehrung als Hauptzweck der Poesie und wird von ihr
gesagt, sie habe als letztes Ziel das Wohl des Verstandes (,ha
per ultimo suo segno il bene del intelletto 1 ),* wobei ihr die Phantasie
als Gefäss diene, mittelst dessen sie in den Verstand die weisen
Kenntnisse übertrage, welche sie unter sichtbaren Bildern ver
berge. Dasselbe wird bald darauf wiederholt und hinzugefügt,
dass die Philosophie dem Volke gegenüber als Poesie ,ma-
scherata‘ erschienen sei, um den Missbrauch der Kenntnisse
zu verhüten, welche so nur demjenigen zugänglich waren, der
sie richtig zu schätzen wusste. 5 Das grösste, sogar das einzige
2 1. c. S. 253.
<■ 1. c. S. 257.
1 Prose, S. 252.
3 1. c. S. 255.
3 1. c. S. 258.
38
II. Abhandlung: Reich.
Unternehmen des Dichters sei es, das Wahre unter dem Schein
des Erfundenen auszudrücken (,essundo la maggiore, anzi la
sola impresa del poeta V espressione del vero sotto V ombra del
ftnto 1 ). 1 Guidi wird wegen seiner häufigen, neuen, glänzenden,
gewichtigen und auserlesenen Sentenzen, 2 sowie wegen seiner
Kenntniss der menschlichen Leidenschaften gelobt. 3
In der Abhandlung ,Deila tragedia' findet sich wenigstens
das Zugeständniss, dass die Poesie anfangs nur zur Erregung
der Volkslust gedient habe (,fu bene in sul prindpio eccitamento
del popolar piacere 1 ) 4 und dann erst von den Philosophen
zum gemeinsamen Nutzen Aller verwendet worden sei. Sonst
wiederholen sich nur die früheren Forderungen, so dass der
Unterricht und die Erkenntniss der Wahrheit überall hervor
treten müssten 5 u. s. w.
Wenn wir uns auch die eigentliche Würdigung der
Lehren Gravina’s für später aufsparen wollen, so können wir
doch nicht weitergehen, ohne einen Blick auf den bereits
zurückgelegten Weg zu werfen. Da nun Gravina selbst mit
dem elften Capitel die Grundlegung seines Hauptwerkes für
abgeschlossen hielt und sich im Folgenden vom Allgemeinen
zum Speciellen wendet, wobei dann seine Ausführungen oft
weit mehr literargeschichtlichen als ästhetischen Inhaltes sind,
scheint uns hier der passende Ort, um unsere Stellungnahme
für oder gegen die bisher ausgesprochenen Lehren Gravina’s
zu kennzeichnen. Nach den ersten Capiteln der Schrift hätte
man glauben können, es hier mit einem Manne zu thun zu
haben, welcher gewillt sei, die Phantasie als treibende Kraft
in der Aesthetik, als Schöpferin aller Kunst anzusehen, später
hin aber erkennt man mit Erstaunen, dass vielmehr die Vernunft
unbedingte Herrschaft auf ästhetischem Gebiet haben solle,
dass die anfänglich so grosse und freie Anschauung Gravina’s
immer kleinlicher und enger wird, bis er schliesslich zu jener
Stufe herabsinkt, wo er sich nur noch hie und da erinnert,
dass der eigentliche Zweck der Kunst das Vergnügen sei und
in ihr nur mehr einen Büttel der Vernunft sieht, freilich einen
Büttel, der sich aus Zweckmässigkeitsgründen in ein lockendes,
1 Prose, S. 260. 2 1. c. S. 264. 3 ]. e . s. 268.
4 1. c. S. 154. 5 i. c g. 162—163.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
39
schimmerndes Gewand geworfen hat und statt der strengen
Amtsmiene ein freundliches Lächeln zeigt, aber eben doch
nur einen Büttel. Denn nach seiner Ansicht entbehrt ja die
Poesie des eigenen Werthes und der selbstständigen Bedeutung;
Werth und Bedeutung besitzt sie nur insoweit, als sie sich in
den Dienst der Vernunft stellt, als sie dazu dient, die Wissen
schaft zu popularisiren, ihr den Zugang zu den harten Köpfen
des-gewöhnlichen Volkes zu erleichtern, Das eigentlich Poetische
der Poesie ist gänzlich Nebensache, ist nur ein Blendwerk,
um das dumme Volk anzulocken, dem so unversehens und so
zusagen hinterrücks Lebensweisheit, Wissenschaft und Gottes
furcht eingeflösst werden soll. Diese Verwendung der Poesie
als süsse Hülle um den bittern Kern der Vernunftlehren, auf
den es dabei doch eigentlich allein ankommt, erinnert lebhaft
an gewisse Medicamente, welche für den Kranken dadurch
angenehmer gemacht werden, dass man ihnen wohlschmeckende
und sonst unschädliche Substanzen beimi'scht, welche den
bittern Geschmack der eigentlichen Medicin auf heben; werden
solche Heilmittel vollends an Kinder verabfolgt, denen sie
als Bonbons gegeben und als solche willig verzehrt werden,
während es sich doch nur um den zu erwartenden Heilerfolg,
der mit der Süssigkeit des Mittels gar nichts gemein hat,
handelt, so scheint uns die Aehnlichkeit eine vollkommene zu
sein. In diesem Bilde sehen wir, welche Rolle der Poesie nach
dem systematischen Theil der ,Ragion poetica* zufällt. Wir
haben schon einmal auf die Annäherung der Aussprüche Gra-
vina’s an die Schopenhauer’s, der ihn übrigens gewiss nicht
kannte, hingewiesen und finden dies nochmals bestätigt. Wie
bei diesem, so soll auch bei jenem die Dichtung, fast möchte
man sagen als ,agent provocateur 1 dienen, der sich unter
harmloser Miene unter das nichts Böses ahnende Volk schleicht,
um diesem, wenn er erst als unverdächtig recht warm geworden
ist, Lehren zu ertheilen, gegen die dasselbe, wenn er sich
gleich in seiner wahren Gestalt zeigen würde, verstockt bliebe,
die es nun aber löffelweise fast unmerklich hinunterschlucken ,
lernt; freilich trennen sich nun die Wege, denn bei Schopen
hauer läuft es auf die Abkehr vom Dasein hinaus, bei Gravina
aber wird der Poesie die Aufgabe zu Theil, die Verstandes
kräfte zuerst zu wecken und dann zu ihrem Gebrauch anzu-
40
II. Abhandlung: Reich.
spornen. Gravina scheint hienacli ganz mit dem Pater le Bossu
übereinzustimmen, der sagte: ,La premier but du poete est d in-
struire.' 1 Kurzum, es ist eine recht unwürdige Rolle, welche
der Kunst und speciell der Dichtkunst hier zufällt.
Wie aber kam Gravina, dessen Anschauungen sonst so
viel Richtiges enthalten, zu dieser entschieden abzuweisenden
Ansicht in der Hauptfrage? Man wird sich nicht begnügen
dürfen, zur Antwort darauf hinzuweisen, dass der rationalistische
Zug das 17. und 18. Jahrhundert überall beherrschte, und dass
unser Autor eben auch ein Kind seiner Zeit und als solches
deren Einflüssen unterworfen war, das ist gewiss richtig, aber
ebenso gewiss keine zufriedenstellende, völlig genügende Er
klärung. Wir möchten eine andere versuchen. Wir finden
bei Gravina neben platt rationalistischen Aeusserungen auch so
viele, welche die Bedeutung der Phantasie zu schätzen wissen;
wir sehen ihn sein Leben lang im Kampfe gegen falsche und
verderbliche Literaturrichtungen für das Grosse, Echte und
Würdige eintreten; wie sollen wir es uns erklären, dass die
richtigen praktischen Urtheile des Kritikers auf einer un
richtigen theoretischen Grundlage ruhten? Eben aus diesem
Kampfe, lautet unsere Antwort. Gravina streitet gegen den
Marinismus, dessen Fehler aber waren gerade die einer zügel
losen Phantasiewillkiir. Was ist daher natürlicher, als dass
Gravina an den künstlerischen Hervorbringungen der Phantasie
irre wird. Er fühlt selbst in sich eine Neigung, die Phantasie
als Herrscherin im Kunstgebiet zu proclamiren, aber diese
Regung muss eine irrige sein, da ihr die Resultate so sehr
widersprechen. In der Hitze des Gefechtes geht auch der Be
sonnenste zu weit. Statt der richtigen Schlussfolgerung, dass
die Phantasie durch Vernunft gezügelt, zieht unser Autor die
unrichtige, dass sie dureh die Vernunft geradezu unterjocht
werden müsse; statt die schrankenlose Freiheit der Phantasie
blos einzudämmen, macht er sie zur Sclavin der Vernunft.
Weil Pegasus gar zu übermüthig um sich schlug, werden ihm
nun die Flügel so kurz geschnitten, dass er von einem Karren
gaul kaum mehr zu unterscheiden ist. Andererseits aber be-
sass Gravina viel zu viel künstlerisches Gefühl, um nicht zu
1 Le Bossu, Traite du poeme epique, 1675
Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
41
finden, dass aus den Dichtungen der grossen Meister der Hauch
einer bedeutenden Lebensauffassung und Weltanschauung wehe;
er erkannte mit Recht, dass sie neben dem Vergnügen, das
sie Jedem gewährten, für den tiefer Blickenden zu einer Schule
der Weltweisheit werden könnten; er erkannte aber nicht den
tiefgreifenden Unterschied, welcher in der Art, wie die Kunst
und wie die Wissenschaft Weisheit lehren, liegt, und welchen
wir am besten mit den Worten eines leider auch noch viel zu
wenig bekannten und darum auch viel zu wenig gewürdigten
Aufsatzes Hermann Hettner’s 1 wiedergeben. Dieser sagt, die
Kunst sei jene Därstellungsweise, in der das sinnlich indivi
duelle Wesen nicht verflüchtigt ist; denn der Mensch ,denkt
nicht blos in der gestaltlosen abgezogenen Sprache, sondern
als ganzer, d. h. sinnlich geistiger Mensch mit seinem ganzen
Wesen, mit seinem Herzen und seinen Sinnen, und drückt nun
auch umgekehrt diese Gedanken, Anschauungen und Gefühle
auf eine Weise aus, in der nicht, wie in der Sprache, das
sinnlich frische Wesen des Individuellen verflüchtigt wird,
sondern in seiner ganzen Fülle vor Augen tritt. Diese Denk-
und Darstellungsweise ist die Kunst. Weil sie geistige Thätig-
keit, weil sie Denken ist, hat sie von Haus aus das Element
der Allgemeinheit in sich; sie ist, wie die Wissenschaft, Er-
kenntniss des Allgemeinen, Ewigen, wenn man will, der Idee,
aber nicht abstract, färb- und gestaltlos, sondern erfüllt und
verdichtet in individueller Lebensfrische. Erst Wissenschaft
und Kunst zusammengenommen sind der ganze und volle Aus
druck des theoretischen Geistes.' 2 Gravina übersah diese Kluft,
welche die Art, wie ein Dichtergeist sich offenbart, von der
eines Philosophen trennt, aber er sah ein, dass die Schöpfungen
grosser Dichter doch noch mehr seien als blos ein Spiel mit
schönen Worten und eine Darstellung der menschlichen Leiden
schaften; so erklärte er kurz entschlossen die Poesie nur für
eine Maske, welche erleuchtete Köpfe vorgenommen hätten,
um so das Volk leichter zu belehren. Seine Auffassung hat
einen wahren Kern: Der Dichter, der Künstler überhaupt, hat
1 ,Gegen die speculative Aesthetik“ in Wiegaud’s Vierteljalirgselirift 1845,
wieder abgedruckt in ,Kleine Schriften 1 (Braunschweig, Vieweg, 1884)
S. 164—211.
2 S. 183—184.
42
II. Abhandlung: Reich.
ebenso wie der Philosoph und der Religionsstifter etwas zu
sagen, er will sich den Mitmenschen mittheilen; dass sie dies
aber gerade als Dichter und nicht als Philosophen sagen, ist
kein Zufall, noch weniger planmässige Absicht, wie Gravina
meint, sondern ergibt sich aus ihrer innersten Naturanlage.
Sie sprechen sich eben in jener Weise ans, welche die ihnen
angemessenste ist. Es ist wieder, wie Plettner sagt: 1 ,Man
muss der Kunst ansehen, dass das, was sie sagt, in einer andern
Form zu sagen nicht möglich ist/ Gravina hat also insofern
Recht, als er einsah, dass die grossen Meister der Kunst eine
bedeutsame Weltanschauung in ihren Werken ausgeprägt haben,
eine Einsicht, von der ja manche Aesthetiker heute wieder
himmelweit entfernt sind; er hat Unrecht, weil er glaubte, dass
dies planmässig, absichtlich, mit vollem Bewusstsein geschehen
sei, dass es den Meistern als eigentliches Ziel vorgeschwebt
habe, neben dem ihnen das specitisch Künstlerische, das eben
den Unterschied zwischen ihnen und dem Manne der Wissen
schaft ausmacht, sogar als mehr oder weniger gleichgültige Neben
sache, blos als Mittel zum -Zweck gedient habe. Der Künstler
schafft das Kunstwerk nicht, um eine Weltanschauung aus
zudrücken, aber er drückt eine Weltanschauung aus, indem
er das Kunstwerk schafft. Die ursprünglich richtige und grosse
Auffassung geht Gravina schliesslich so sehr verloren, dass er
nicht nur den Ausdruck einer grossen Weltanschauung, eine
Beantwortung der grossen, die Menschheit bewegenden Fragen,
in den Dichtungen sucht, sondern geradezu die Verbreitung
nützlicher Kenntnisse, was ihn consequenter Weise dahin hätte
führen müssen, das Lehrgedicht als höchste Dichtungsart zu
preisen. So weit geht er zwar nicht mit klaren Worten, aber
will es etwas Anderes heissen, wenn er die ,Sifillide‘ des Fra-
castoro, ein die Lustseuche in lateinischen Versen behandelndes
Buch, das allerdings auch nach dem Zeugniss Anderer poetische
Wirkungen hervorzubringen fähig sein soll, nicht genug zu
loben weiss, sie mit dem besten Werk des Virgil in eine Linie
stellt und als dieses die ,Georgica‘ nennt? 2
Doch dies gehört schon jenem Theile des Werkes an, wo
Gravina über einzelne Dichter sein Urtheil abgibt. Indem wir
1 Hettner, Kleine Schriften, S. 187.
2 Kagion poetica I, 36, S. 111.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
43
uns zu diesem wenden, welcher in besonderen Ausführungen
meist nur das schon im allgemeinen Theile Gesagte wiederholt
und ergänzt, ändern wir die Methode des Vorgehens. Wir
werden uns künftig nicht so strenge an die Capiteleinrichtung
halten, wie dies bisher geschah und bisher auch nöthig war,
um das allmälige Fortschreiten der Gedankenarbeit Gravina’s
zu zeigen, sondern, uns freier bewegend, Zusammengehöriges
aus verschiedenen Abschnitten auch zusammen behandeln, zu
mal wir andererseits viele Capitel, so z. B. jene über die neu
lateinischen Dichter, welche nur von literarhistorischem, nicht
von ästhetischem Interesse sind, ganz unberücksichtigt lassen
dürfen.
,Von der epischen und dramatischen Poesie und der rö
mischen Art' ist das zwölfte Capitel überschrieben, mit welchem
zugleich auch das für uns Erwähnenswerthe aus dem Tractat
,Deila Tragedia' erledigt werden möge. Als Ziel des Epikers
wird es bezeichnet, das innere Wesen der Dinge und der
Menschen zu enthüllen, indem er den Schleier von der wahren
Beschaffenheit der Welt wegziehe, welche uns oft durch blossen
Schein verhüllt ist. 1 Er kann lange dauernde und verwickelte
Ereignisse schildern und nicht nur Menschen von hoher Lebens
stellung und Gemüthsart, sondern auch Mittelmässige, Kleine
und Unbedeutende; denn auch die Kleinen sind selbst im
heroischen Epos von Nöthen, weil sie in Folge ihrer Unschein
bark eit Vieles vollbringen können, was den Grossen, wegen
der Aufmerksamkeit, welche jedem ihrer Schritte folgt, nicht
möglich ist. ,L’ejnca poesia porta dentro le visceru la dramatica 12
(die epische Poesie trägt die dramatische in den Eingeweiden),
meint Gravina. Beide können Pe^onen aus allen Ständen
schildern: ,o den buoni, per accender all’imitazione, o sien cattivi
per incitar alla fuga 1 (Gute, um zur Nacheiferung zu ent
flammen, Schlechte, um dazu anzutreiben, sie zu fliehen).
Bei Beiden geschieht Alles ,per insegnamento degli ascoltanti‘
1 Kagion poetica, S. 38. 2 1. c. S. 38.
3 Diese Auffassung (leckt sich ganz mit (1er Scaliger’s (Poetik 832):
/locet affectus poeta per actiones nt bonos amplectamur*. Heinrich von
Stein’s Behauptung: ,Wenn Gravina vom Nutzen einer solchen Er
dichtung oder Fabel spricht, so fällt es ihm nicht ein, hiebei zu mora-
lisiren* (S. 318), trifft demnach zuin Mindesten nicht immer zu.
44
II. Abhandlung: Reich.
(zur Unterweisung der Zuhörer); der Unterrichtszweck ist und
bleibt die Hauptsache! Der Unterschied zwischen Tragödie
und Komödie wird dahin erklärt, dass die erstere politische
Geschäfte und hohe Personen darstelle, die letztere Ereignisse
des Privat- und Familienlebens. 1 Das Drama zeigt die Wurzeln
und Quellen der Handlungen, Entschlüsse und Affecte, von
denen sonst nur die Spitzen, den Boden überragend, sichtbar
werden, so dass ihr Ursprung manchmal selbst demjenigen, in
dessen Innern sie Vorgehen, verhüllt bleibt. Hieraus folgt, dass
der Handelnde sich schon, was seine eigenen Motive, noch
mehr aber, was die Anderer betrifft, irren kann, weshalb
Handlungen oft zu ganz anderen als den beabsichtigten Resul
taten führen. Aus den Widersprüchen zwischen den Meinungen,
Absichten und der Gemüthsart der Handelnden entstehen Con-
flicte, welche sich durch die Hitze der Streitenden immer mehr
verschärfen, bis es zum Aeussersten kommt.
In der Tragödie tritt der Dichter ganz hinter die han
delnden Personen zurück. Sie ist die erhabenste Dichtungsart.
Die Nachahmung ist in ihr am lebhaftesten und natürlichsten,
ja ihr Verlauf erscheint wie etwas Wirkliches und Gegen
wärtiges, woraus auch jene schon oben erwähnte kindische
Forderung abgeleitet wird, dass die Tragödie nur Ereignisse
darstellen dürfe, welche sich während der Spielzeit wirklich
hätten abwickeln können. Sie ist dem Epos um so viel über
legen, wie der Zweck dem Mittel (,E tanto dell’ epopeja la tra-
gedia e piü degna, quanto il fine e piü degno del mezzo‘). 2 Höchst
absonderlich sind Gravina’s Ansichten über die Reinigung der
Leidenschaften. Auch er hat die damals übliche falsche Ueber-
setzung der Worte des Aristoteles mit ,compassione e spavento
(Mitleid und Schrecken) acceptirt, was er aber als ,purgazion
degli affetti per la tragedia‘ (Reinigung der Leidenschaften durch
die Tragödie) im dritten und vierten Capitel der Abhandlung
über die Tragödie angibt; das gehört unstreitig zu jenen Partien
seiner Schriften, welche ganz veraltet sind und welche die
Mühe einer Wiederbelebung nicht lohnen würden. Muss es
1 ßagion poetica, S. 39.
2 Deila Tragedia, Cap. 9, Prose, S. 156.
3 ßagion poetica S. 41; Prose, S. 157, 158 etc.
Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
45
schon sonderbar berühren, wenn er das Vergnügen am Tragi
schen unter Anderem auch daraus zu erklären sucht, dass wir
leicht erregt würden, ohne doch durch Aussicht auf einen
Schaden oder Verlust in Bestürzung zu gerathen, sowie be
sonders daraus, weil wir uns selber gerecht und ehrenhaft er
scheinen, weil wir das Unglück Anderer beklagen, und diese
Erkenntniss unserer Tugend uns mit einem geistigen Vergnügen
erfülle, welches jedes andere besiege, 1 so wird diese philister
hafte Anschauung noch übertrumpft durch die Erklärung,
welche Folgen die Tragödie haben solle. Die Reinigung der
Leidenschaften wird nämlich darin gesucht, dass die Zuhörer
sich allmälig an solche Zustände des Mitleids und des Schreckens
gewöhnen lernen, um sie dann im wirklichen Leben besser, ja
mit einer gewissen Gleichgiltigkeit ertragen zu können. Wir
geben den italienischen Text der beiden markantesten Stellen,
da die Sache sonst zu unglaublich scheinen könnte: ,Onde il
popolo con la consuetudine della compassione e dello spcivento,
che raccoglie dal finto, si dispone a tollerar le disgrazie nel vero,
acquistando con l’ uso una tal quäle indifferenza 12 und ,in modo,
che poi, quando nella vita civile incontra oggetti, e casi veri e
compässionevoli o spaventevoli sopra la proprio, o V altrui persona,
si trova esercitato sul finto, e preparato doll’uso alla tolleranza
del vero. 13 Des Weiteren wird dies noch mit der Vorbildung
der Soldaten für den Krieg durch Scheingefechte verglichen.
Also Abstumpfung von Mitleid und Schrecken gegen die Un
glücksfälle des wirklichen Lebens: das ist der Zweck der
Tragödie. Jede weitere Bemerkung erscheint da überflüssig!
Eine viel interessantere, zwar auch unrichtige, aber doch
geistvolle Ansicht über die Wirkung der Tragödie findet sich
jedoch, welche auch wiederum theilweise an Schopenhauer
anklingt und wegen ihrer Wichtigkeit ebenfalls wörtlich mit-
getheilt werden möge: ,Sieche il popolo scorgendo nette scene
V umana miseria e V incostanza e vicenda irreparabüe delle rnortali
cose, le quali vede da altezza in precipizio e da precipizio ad
altezza pervenire; e scoprendo le firodi, gli affanni e i timori
ascosi sotto le grandezze da lui ammirate, perde, senza accorger-
1 Ragion poetica, S. 36—37.
2 Prose, S. 157. 3 1. c. S. 158.
46
II. Abhandlung: Reich.
sp,ne, l’ amore e la stima dell’umana felicitä incerta e volubile;
e si rivolge cilla divina invariabile ed immortale, che dalla nostra
santa religione e preposta ed, ai Gentili era negata: onde nella
scena trovavano V aspetto della lov miseria senza la consolazione
di speranza migliore. 11 Hier soll also die Tragödie wie bei
Schopenhauer dazu dienen, Lebensüberdruss zu erzeugen, doch
soll die Wirkung eine andere sein, an die Stelle der V er-
neinung des Willens zum Leben, um ins Nichts hinüberzufliessen,
tritt hier die Flucht aus dem irdischen Leben zum himmlischen,
im Grunde nur zwei verschiedene Bezeichnungen für dieselbe
Sache. Ueberhaupt tritt in Gravina’s Werken oft ein stark
pessimistischer Zug hervor, der aus der Zeit, in welcher er
lebte, nur zu leicht erklärlich ist, wie ihn auch seine Weiber
feindschaft als würdigen Vorläufer des Philosophen von Frank
furt erscheinen lässt. Dieser pessimistische Zug äussert sich,
wenn er den ,Oedipus Tyrannos* für das vollendetste Werk
des Sophokles erklärt und sagt, der Verlauf dieser Fabel ent
spreche so sehr dem Zusammenhang der menschlichen Er
eignisse, dass es wie mit der Mechanik der Natur selbst ver
fasst erscheine. 2 Freilich verwahrt er sich späterhin gegen
eine allzuhohe Schätzung des ,Oedipus rex‘, als ob dieser das
einzige nachahmenswerthe Muster sei, und meint sehr mit
Recht, man dürfe nicht das poetische Vermögen auf eine
einzige Tragödie zurückführen, auch werde, was im ,Oedipus‘
gut und richtig sei, bei neueren Dichtern durch Uebertreibung
wunderlich, ja monströs. 3 Jene Auffassung von der Tragödie
aber, welche wir ihn im Widerspruche mit den vorher citirten
Stellen zuletzt aussprechen sahen, könnte er doch wohl nur
auf den ,Oedipus rex‘ gründen. Gewiss kann die Tragödie
solche Wirkungen, wie die von Gravina zuletzt angeführte,
erreichen, ebenso gewiss aber will sie dies nicht, d. h. ist es
nicht das Ziel, auf welches sie hinarbeitet. Auf diese wie auf
viele andere Bemerkungen Gravina’s näher einzugehen, müssen
wir uns leider versagen, um nicht den Umfang dieser Studie,
welche ja erst Interesse für den Verschollenen erwecken soll,
unbillig zu erweitern. Ebenso ergeht es uns mit seinen Ur-
1 Della tragedia, Cap. 9, Prose, S. 164—165.
- Ragion poetica I, 18, S. 76—77.
3 Della tragedia, Cap. 5, Prose, S. 159.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
47
theilen über die griechischen Tragiker, obwohl die beredte
und scharfsinnige Hervorhebung ihrer Vorzüge einen der
Ruhmestitel der ,Ragion poctica' bildet. Wir müssen es daran
genug sein lassen, hervorzuheben, dass er dem Aristophanes
Recht gibt, wenn dieser den Aiscliylos als den grössten des
tragischen Dreigestirnes bezeichnet, dass auch er den Sophokles,
welchem er eigentlich das höchste Lob spendet, als zweiten
aufführt, dass er sieh aber in Beurtheilung des Euripides von
dem berühmten Komiker trennt, indem er diesen, der ihm
besonders wegen seines Frauenhasses werth ist, zwar als
dritten, aber docli den beiden Vorgängern fast ebenbürtig
nennt. 1 Der gefesselte Prometheus, meint er, auch hier Pes
simist, zeige das Loos, welches die Undankbarkeit neuer
Herrscher den Rathgebern, durch deren Weisheit sie Erfolge
erzielten, bereite. Euripides verstehe ganz besonders Mitleid
zu erregen, doch wird seine Art der Exposition getadelt.
Beachtenswerth und sehr zu billigen ist es, wenn Gravina, der
bis zum Ueberdruss immer und immer wieder die Belehrung
des Volkes als Hauptziel der Poesie und speciell der Tragödie
nennt, den Sophokles auch deshalb Uber Euripides stellt, weil
jener die Sentenzen seltener anwendet und besser in die
Tragödien hinein verwebt als dieser.
Ganz besonders bemerkenswerth ist die Stellungnahme
Gravina’s gegenüber der Poetik des Aristoteles. Wenn man
bedenkt, in welchem ungemein grossen Ansehen dieses Buch
noch heute steht, in wie viel höherem Ansehen es vollends
damals stand, so muss man die Kühnheit des Schriftstellers
bewundern, der es wagte, in einem Tractat über die Tragödie
gleich anfangs die Worte zu gebrauchen, er werde ,senza pre-
venzione alcuna d’ autoritä 11 vorgehen, und im Verlauf der Arbeit
zu immer neuen und immer heftigeren Angriffen gegen den
unfehlbaren Papst der Poetik fortschritt, bis er von diesem
schliesslich sagt, er habe alle gleichmässig an Undankbarkeit
wie an Bosheit überragt (,Aristotele, che superb tutti ugualmente
d’ ingratitudine che di rnalignitajAllerdings so heftig wird
unser Autor nur einmal, immer aber hört man den mühsam
1 Ragion poetica I, 17—19, S. 74—79.
2 Deila tragedia, Cap. 2, Prose, S. 156.
3 1. c. Cap. 40, Prose, S. 235.
48
II. Abhandlung: Reich.
verhaltenen Ingrimm gegen Aristoteles heraus, auch wenn blos
die ,sermli interpreti‘ angegriffen werden, welche den grossen
Philosophen missverstanden hätten und dieses unvollendete
Werk für einen unüberschreitbaren, unabänderlichen Canon
der Gesetze des Dramas ausgeben wollten. Mit diesen (theil-
weise freilich höchst ungerechten) Angriffen auf Aristoteles
hat Gravina sich doch das Recht erworben, zu jenen damals
äusserst spärlich vorkommenden Männern gezählt zu werden,
welche erkannten, dass die Regeln des alten Griechen, der
selbst zu einer Zeit der sinkenden Kunst schrieb, in gänzlich
veränderten Zeiten nicht länger Geltung besitzen könnten,
dass sie für den modernen Geist zu unerträglichen Fesseln
würden, die er sprengen müsse. Es ist dies einer jener Punkte,
in welchen Gravina seiner Zeit weit überlegen war, wo er
nicht dem Banne des allgemeinen Vorurtheiles erlag, wie dies
leider in Bezug auf die Lehrabsicht der Poesie geschah,
sondern eigene Bahnen einschlug und zum vorahnenden Ver
künder einer fernen Zukunft wurde. Ist doch der leidige
Kampf um den Aristoteles noch heute nicht ausgekämpft, noch
heute herrscht vielfach der Aberglaube von der Uniibertreff-
lichkeit der Poetik, um so höher ist es anzuschlagen, wenn
schon vor zweihundert Jahren ein Mann sich fand, der das
Recht der Kritik auch diesem Werke gegenüber, so Werth'voll
es auch zu seiner Zeit gewesen sein mag, wahrte. Dies that
unser Autor schon in seiner Jugendschrift ,Sopra l’Endimione',
wo er sich zuerst dagegen verwahrt, dass jedes Werk, welches
nicht der unrichtigen Auslegung der Lehre des Aristoteles
entspreche, deshalb für ewig verdammt sein solle, 1 und dann
kühner in Betreff der Abweichungen von der historischen
Wahrheit, welche er mit Recht für gestattet erklärt, sagt, er
wolle nicht entscheiden, welcher Meinung Aristoteles gewesen
sei, darauf komme es auch gar nicht an (,cio nulla rileva 1 ),
es sei nicht nöthig, dass eine gut begründete Ansicht auf
irgend eine Autorität gestützt sei. 2 Erleichtert wurde ihm diese
muthige Rebellion dadurch, dass er auch in den übrigen philo
sophischen Disciplinen als Schüler Descartes’ und Plato’s, den
1 Sopra l’Endimione, Prose, S. 260—-261.
2 Prose, S. 262.
Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
49
er unter Messeri studirt hatte, dem Aristoteles feindlich gegen
überstand, 1 ihn also nie blind verehrt hatte, wenn er auch
zu klug war, um die Vorzüge des Gegners zu verkennen oder
zu leugnen.
Gravina hat nach unserem Dafürhalten Unrecht, wenn
er, vielleicht an sein Jugenddrama denkend, auch vollkommene
Personen wie Christus für geeignet hält, im Mittelpunkt einer
Tragödie zu stehen und diejenigen, welche daran festhalten,
dass der Held nicht fehlerlos sein dürfe, knechtische Anhänger
(jServili seguaci‘) des Aristoteles schilt; 2 wir stimmen ihm aber
zu, wenn er sagt, dass die Kunst des Dichters, der mit einer
einfachen Fabel dieselben Wirkungen erzielt wie ein Anderer
mit einer verwickelten, bewundernswerther sei, und dem Ari
stoteles, der die verwickelte vorziehe, nicht die Autorität zu
komme, deshalb die einfache auszuschliessen. 3 Freilich kommt
gleich wieder - das Grundübel der Aesthetik Gravina’s mit der
Erklärung zum Vorschein, es sei nur nöthig, dass die eine
Ax-t ebenso geeignet wie die andex-e sei — zur Belehi’ung.
Unser Autor versäumt natürlich nicht, aus der unrichtigen
Stellung des (seither als Einschiebsel erkannten) zwölften Ca-
pitels eine Waffe gegen Ai-istoteles oder vielmehr gegen dessen
unbedingte Anhänger zu schmieden.' 1 Das gewichtigste Ar
gument gegen Ai-istoteles macht er geltend, wenn er darauf
hinweist, dass die Dichter, welchen es unmöglich sei, alle
kindischen Vorschriften, die maxx dem Ax-istoteles zuschi-eibe,
zu ei’füllen, nun jede Vorschi-ift vei-achteten und zu vollstän
diger Willkür und Zügellosigkeit flüchteten. 5 Hingegen hätten
wir gewünscht, dass er sich mit mehr Entschiedenheit gegen
die Lösung durch den Deus ex machina ausspreche, die er
nicht l-echt anzutasten wagt. 6 Gi’avina steht wieder höher als
seine Zeit, wenn er gegen die Ansicht polemisirt, als ob in
jeder Ti-agödie Todesfälle voi'kommen müssten, und ii-onisch
1 Am schärfsten spricht er sich für Plato und gegen Aristoteles in der für
Papst Clemens XI. bestimmten Schrift ,De instauratione studiorum 1 aus.
2 Deila tragedia, Cap. 9, S. 165.
3 1. c. Cap. 10, S. 166.
4 1. c. Cap. 11, S. 166.
5 1. c. Cap. 11, S. 167.
6 1. c. Cap. 12, S. 167.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 2. Abh.
4
50
II. Abhandlung: Reich.
meint, die Anhänger dieser Ansicht fürchteten, dass ihnen die
Tragödie aus den Händen fliehe, wenn es keine Todten darin
gäbe. Die Todesfälle seien nicht Selbstzweck, sondern nur
Folgen, welche sich aus dem Zweck ergäben, welcher sei,
unter einer vorgeschützten Handlung politische Belehrung und
Kenntniss der Art, wie sich die Gemüther der Grossen äussern,
zu erlangen. 1 Dem entsprechend lobt er den Aischylos, dass
dieser grausame und schreckenerregende Vorfälle hinter die
Scene verlegt habe. 2 Gravina verlangt, dass in der Tragödie
nichts Unerwartetes eintrete, dieses lasse kalt; wir müssten
stets auf das Kommende vorbereitet sein. 3 Wie berechtigt
diese Forderung ist, geht schon daraus hervor, dass ein ge
wiegter Theatermann wie Heinrich Laube sie stets vom rein
empirischen Standpunkt nach seinen praktischen Erfahrungen
verfocht. Hatte es nach manchen Aeusserungen den Anschein,
als ob Gravina die Forderung der poetischen Gerechtigkeit
verwerfe, so wird dies dadurch widerlegt, dass er ausdrücklich
darauf hinweist, man müsse stets die Lasterhaften durch innere
Qualen bestraft sehen, die härter zu erdulden seien als der
Tod, welchen sie über Unschuldige verhängten; 4 er besass
also vielmehr eine sehr würdige Auffassung vom Walten der
selben. Wir können die vielen interessanten Einzelheiten der
Schrift über die Tragödie leider nicht weiter verfolgen, nur
das Eine sei noch hervorgehoben, dass Gravina, obwohl er den
Shakespeare nicht gekannt zu haben scheint, eine gründliche
Verachtung gegen die berühmten französischen Tragiker hegte
und mit Vergnügen die Urtheile des Pater Rapin und Dacier’s
über dieselben wiedergab, 5 welche das Urtheil der Hofdamen
verbessern und die romantischen Erfindungen, die falschen
Gewohnheiten und die declamatorische Ausdrucksweise ihrer
Tragiker verdammen. ß Abschliessend wendet er sich nochmals
heftig gegen Aristoteles und seine unsinnigen Ausleger, welche
z. B. eine Regel aufstellen wollten, dass keine Person mehr
1 Ragion poetica I, 12, S. 41 (Prose, S. 29).
2 Deila tragedia, Cap. 13, S. 168.
3 1. e. Cap. 15. 16, S. 170. 171.
4 1. c. Cap. 20, S. 181—182
5 Deila tragedia, Cap. 41, S. 236—242.
6 1. c. Cap. 22, S. 187.
Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
51
tils fünfmal die Scene betreten dürfe. Dem gegenüber sagt
er mit Recht, 1 die Alten hätten keine anderen Regeln befolgt
als die der Wahrscheinlichkeit, der Volksgewohnheiten und
der Y ernunft, zu diesem Zustande müsse man zurückkehren,
während jetzt ein Netz pedantischer und kindischer Vor
schriften, die sich blos auf Autorität gründeten, die Poesie
beenge. Melancholisch schliesst er, indem er die menschliche
Dummheit beklagt, die ihm, der die Poesie befreien wolle (,clie,
cerekiamo la poesia in liberta vendicare‘), ebenso viel Gegner,
als Aristoteles, der jede Wissenschaft seiner Autorität unter
werfen wollte, Begünstiger erwecke. 2 Jedenfalls muss ihm die
Anerkennung gezollt werden, dass seine Schriften wirklich
viel dazu beitrugen, die Tragödie aus ihrem Verfall zu er
wecken und ihr bei aller Bewunderung der Alten einen neuen,
selbstständigen Geist einzuflössen.
Ungleich weniger Aufmerksamkeit wendete Gravina der
Komödie zu. Ihre Absicht ist, Lachen zu erregen; 3 ridendo
castigat mores. Sehr ungerecht ist er gegen den Charakter des
Aristophanes, dessen grosse Fähigkeiten er zwar anerkennt
und dessen .Plutos* er lobt, den er aber mit Beschimpfungen
überhäuft, weil hauptsächlich seine ,Wolken* die Verurtheilung
des Sokrates herbeigeführt hätten. 1
Im Allgemeinen, meint Gravina, eignen sich für die Tra
gödie wie Komödie nur von heftigen Leidenschaften erregte
Völker, wie etwa die Griechen, nicht aber die Römer, die allein,
so weit die Welt sich ausdehnt, jene edle Harmonie von Natur
aus besitzen, w'elche die Anderen kaum durch Bildung und
Kunst erreichen (,che portan dalla natura, quel, che. gli altri
appena impetrano dalla coltura e, doll’arte 1 ). 5 Auf Rom ist ja
Gravina stets ungemein stolz; so "weiss er auch der ,Aeneis* des
Virgil kein höheres Lob zu spenden, als dass der Stil dieses
Gedichtes der Majestät des römischen Reiches entspreche. 1 ’
Ueber die Lyrik spricht Gravina im dreizehnten Capitel
seines Hauptwerkes recht verständig, manchmal nur zu ver-
1 Ragion poetica, Cap. 40, S. 234. 2 1. c. S. 235.
3 1. c. S. 42.
4 1. c. I, 20, S. 79—82.
5 1. c. S. 43.
8 1. c. I, 28, S. 98; ähnlich äussert er sich I, 38, S. 114—115
4*
52
II. Abhandlung: Reich.
ständig. Er führt aus, dass die Selbsterkenntnis der Mittel
punkt alles Wissens sein müsse, dass es aber sehr schwer sei,
zu dieser zu gelangen. Als eines der Mittel hiezu diene die
Lyrik, in welcher der Weise die einzelnen Leidenschaften
u, s. w. in Versen darstelle und uns so mit denselben bekannt
mache. ,1 componimenti lirici sono ritratti di particolari affetti,
costumi, virtit, vizj, genj, e fatti: ovvero sono specchj, da c.ui
per vari riflessi traluce Vumana natura 11 (,Die lyrischen Werke
sind Abbildungen einzelner Leidenschaften, Gewohnheiten, Tu
genden, Laster, Gemüthsanlagen und Thaten: oder sie sind
Spiegel, aus welchen die menschliche Natur durch verschiedene
Reflexe wiederscheint/) Die Lyrik dient zur Austilgung der
Fehler, welche in uns durch unsere Unkenntniss der Affecte
genährt werden. Die ausgezeichneten Dichter flössen in jedem
Verse eine zur Anordnung der privaten und öffentlichen An
gelegenheiten nützliche Lehre ein und zeigen die wunderbar
sten Geistesblitze: aber sie verleihen der Tiefe ihrer Gedanken
volkstümlichen Anstrich und poetische Art, indem sie die
Sprüche in Fabeln verwandeln und das Allgemeine durch die
einzelnen Personen ausdrücken. 2 In allen diesen Aussprüchen
kommt Gravina der Wahrheit so nahe, dass nämlich die grossen
Dichter auf ihre Weise einen tiefen Blick in den Zusammen
hang der Dinge thun und das Geschaute wieder auf ihre Weise,
also in Dichtungen, mitzutheilen suchen; aber immer wieder
lenkt er ab, durch die vorgefasste Meinung verblendet, als ob
die Dichter eigentlich Philosophen wären, die nur, um dem
Volke verständlicher zu sein, die Hilfsmittel der Dichtkunst in
Anspruch nähmen. Wird diese Ansicht consequent durchgeführt,
dann müsste, sobald die allgemeine Volksbildung eine hin
reichend hohe Stufe erreicht hätte, alle Poesie als nun nicht
mehr nöthiges pädagogisches Mittel einfach aufhören, eine Con-
sequenz, die Gravina bei seinem unleugbar hohen künstleri
schen Verständniss und seiner Kunstliehe gewiss nicht hätte
ziehen wollen.
Gravina verbreitet sich über die verschiedenen Formen
der Lyrik, wobei er sagt, dass er andere weniger vornehme
1 Ragion poetica, S. 46.
2 1. c. S. 48.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetifeer.
53
Arten derselben nicht erwähne; unter diesen befindet sich das
Sonett, über welches er sich in dem Briefe über die Spaltung
der Akademie der Arkadier 1 an Scipione Maffei höchst ab
fällig äussert. Die von ihm gestiftete neue Akademie werde
das ,sonettuccio‘, wie er es spöttelnd nennt, nicht pflegen. Ei
vergleicht cs mit dem Bett des Procrustes und meint, auch
Petrarca habe seine Schwierigkeiten nicht ganz überwinden
können. Wir glauben nicht fehlzugehen, wenn wir diese Ab
neigung darauf zurückführen, dass die Alten diese Dichtungs
art nicht kannten, und ihr Beispiel ist für Gravina der un
verrückbare Leitstern.
Eine richtigere Auffassung der Lyrik spricht sich im
Schlusssatz des Capitels aus, wo unser Autor sagt, dass alle
Verse auf den Nutzen und das Vergnügen des Volkes ab
zielten, welchem die Dichter ebenso wie die Weisen zu ge
fallen bestrebt waren. 2 Hier weist also Gravina, seinen früheren
Ausführungen zum Trotz, dem Vergnügen den ebenbürtigen
Platz neben dem Nutzen an. Dieser Satz dient ihm als Ueber-
leitung zum Capitel ,Ueber das Volksurtheifl, welches jedoch
mehr für die sonstigen philosophischen Ansichten des Ver
fassers, mit denen wir es nicht zu thun haben, als gerade für
die ästhetischen von Belang ist. Er meint, man dürfe das
Volksurtheil weder über- noch unterschätzen, in jedem Men
schen sei eine Anlage zum richtigen Urtheil vorhanden, wenn
dieselbe auch oft von Irrthümern überwuchert werde. Wenn das
Volk etwas hartnäckig zurückweise, dann irre es nicht gänzlich.
Wieder werden die Alten gerühmt, die nie das Wahre und
die Natur aus den Augen verloren, bei denen die Gedanken,
der Rhythmus und die Worte stets den Dingen angemessen
waren, und bei welchen alle freien Künste immer durch eine
entsprechende Harmonie geregelt wurden. 3 Auch hier also
stellt Gravina Forderungen an die Neuen, welchen er ja die
Alten zur Nachahmung empfiehlt, welche wir durchaus billigen
müssen. Ueberhaupt dringt er stets auf eine dem Inhalt an
gemessene Form, auf Einfachheit und Natürlichkeit der Dar-
1 Deila divisione d’Arcadia, Prose S. 285.
2 Ragion poetica, S. 50.
3 1. c. I, 14, S. 55.
54
II. Abhandlung: Reich.
stellungsart und eifert gegen Geschraubtheit, allzu blumenreiche
Ausdrucksweise und die sonstigen Fehler seiner dichtenden
Zeitgenossen.
Nachdem so die allgemeinen Bemerkungen über die
Dichtung und ihre Arten erledigt sind, wendet unser Autor
sich zur Beurtheilung der einzelnen Dichter. Dieser Theil
seines Werkes, obwohl räumlich umfangreicher und für die
nutzbringende Wirkung seines Buches zu seiner Zeit der ent
scheidende, kann von uns weit weniger eingehend behandelt
werden, da wir das Literarhistorische darin fast gänzlich über
gehen dürfen. Zunächst gibt Gravina eine knappe Uebersieht der
Entwicklung der Poesie im Alterthum, aus der wir als inter
essant die Bemerkung hervorheben, dass die Naturvölker hohe
Achtung vor Rhythmus und Harmonie gehabt, deshalb auch
die Gottheiten nur in Versen angerufen hätten.' Seit der
Kaiserzeit habe der Verfall begonnen, das Natürliche sei gegen
Spitzfindigkeiten, der Verstand gegen die Gelehrsamkeit, die
Treue und Wahrheit der Gefühle gegen gezierte und er
künstelte Worte zurückgetreten, 2 eine Schilderung, die auf
jede Zeit des Rückganges angewendet werden kann.
Homer steht natürlich an der Spitze der Einzelbetrach
tungen. In der ,Ilias* schildert er das politische, in der ,Odyssee*
das private Leben. Er will in der ,Ilias* lehren, wie verderblich
Uneinigkeit sei, und dadurch zur Vereinigung der Griechen
seiner Zeit aufmuntern. Es ist interessant, wie auch hier der
Pessimismus Gravina’s sich äussert, so wenn er meint, der
Zwist Achills und Agamemnons solle zeigen, dass der Tüchtige
nur in der Stunde der Gefahr gesucht werde, 3 und von Pene
lope sagt, so keusch und treu sie sei, lasse sie sich dennoch
die Freier (z. B. Antilochos) in Reserve für den Fall, als
Odysseus doch todt sein sollte, woran er eine Philippica gegen
die Weiber anknüpft. 4 Seiner früher erörterten Ansicht getreu
nimmt er an, dass Homer nicht an die Götter, die er dar
stellte, glaubte, sondern an den einen Gott; deshalb lasse er
1 Ragion poetica I, 15, S. 57.
2 1. c. I, 15, S. 63.
3 1. c. I, 16, S. 66, ebenso II, 11, S. 162—163.
1 1. c. S. 72.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
55
seine Götter oft lasterhaft sein. 1 Docli wird gesagt, dass das
Alterthum aus Homer und Hesiod die Grundlagen und Bräuche
seiner Religion zog. 2
Gravina s Ansichten über die griechischen Dramatiker
kennen wir bereits. — Pindar erhält volles Lob, dem Anakrco/i
wird jedoch vorgeworfen, dass sein Ruhm noch grösser sein
könnte, wenn er das Vergnügen ebenso zu verachten gelehrt
hätte wie den Ehrgeiz. Hier findet sich wieder eine jener
Bemerkungen, welche unsern Autor bei allen Schwächen und
Mängeln als Aesthetiker von Bedeutung zeigen. Er sagte von
Anakreon: , Quanto egli dice, par non potersi, ne doversi in altra
maniera dire‘ 3 (was er sagt, scheint auf keine andere Art ge
sagt werden zu können, noch zu dürfen), und nennt so das
Kennzeichen, an welchem man den echten Dichter erkennt,
bei welchem Stoff und Form eben so unlösbar verschmolzen
erscheinen, dass es uns nicht denkbar dünkt, die Sache an
ders treffender ausgedrückt zu sehen.
Was über Theokrit, Plautus, Tercnz, von welchen er den
Ersteren höher stellt, Lucrez, dessen mangelnde Frömmigkeit
bedauerlich sei, Catull gesagt wird, bietet vom Standpunkt der
Aesthetik nichts Neues. Bei Catull gilt es als höchstes Zeug-
niss seines Verdienstes, dass Josef Scaliger ihn lobte. Virgil
stellt die Vollendung der lateinischen Poesie dar. Er ist immer
gross und majestätisch, deshalb hält er sich lieber an das All
gemeine als an die Einzelnheiten, die Homer mit Recht weit
mehr berücksichtigt. Julius Cäsar Scaliger that dem Homer
grosses Unrecht, indem er ihn deshalb niedrig und gewöhnlich
nannte und ihm nicht nur Virgil, sondern sogar Orpheus und
Musaeus vorzog, ein Irrthum, den sein eigener Sohn, Josef
Scaliger, einsah. 1 Horaz wird höher gestellt als Persius und
Juvenal. Persius hat zu kühne Ausdrücke und gelehrte (,dotti‘)
Gefühle, er ist eben nach dem Gebrauch seiner Zeit declama-
torisch. Juvenal tadelt seltene und nicht die wichtigsten Laster;
er verhält sich zu Horaz wie ein bissiger Ankläger zu einem
1 Ragion poetica I, 16, S. 67.
2 1. c. S. 70.
3 1. o. I, 22, S. 85.
4 1. c. I, 28, S. 97—98.
56
II. Abhandlung: Reich.
ernsten Philosophen. 1 Tibull und Properz werden gelobt, Er-
sterer zeigt mehr Natürlichkeit. Ovid ist in den ,h asti ganz
vollendet, sonst lässt er sich manchmal durch die Fülle seinei
Begabung fortreissen. Das Lehrgedicht des Manilius über die
Astronomie wird rühmend genannt.
Nunmehr geht Gravina zu einer Gruppe von Dichtern
über, welche heute fast bis auf den Namen vergessen sind,
für welche er aber viel Zuneigung bezeigt, zu den Neulateinern
des 15. und 16. Jahrhunderts. Diese lehren wie Empedokles,
Lucrez, Virgil (im 6. Buch der ,Aeneis‘), Ovid (in der 15. Meta
morphose) direct, nicht indirect, wie Homer, Hesiod und die
meisten Griechen. Sie tragen die Wissenschaften mit poeti
scher Begeisterung, Färbung und Harmonie vor, aber ohne den
Deckmantel poetischer Erfindungen und Symbole. 2 Er nennt
sie frei von den Fehlern ihrer Zeit, von der provenfalischen
Romantik, wie von den scholastischen Abstractionen. Im
Uebrigen bietet Gravina hier mehr philosophische als ästhe
tische Erwägungen. Er preist den Vorzug der Naturerkenntniss
durch Vernunft und Geist vor der durch die Sinne, letztere
kommt nie zu sicheren Ergebnissen. Ueberhaupt sind nicht die
endlichen Dinge das wahre Object der Erkenntniss, sondern
dies ist, wie schon Socrates erkannte, die göttliche Unend
lichkeit. 3 Die Ansichten der neulateinischen Dichter waren
durch kein Einzelsystem beschränkt und umschrieben, sondern
der Verschiedenheit und Fülle der Wahrnehmungen und Ideen
angemessen. Die Einzelurtheile Gravina’s sind hier nicht von
besonderem Interesse. Es genüge zu erwähnen, dass er die
Lehrgedichte des Palingenio, den er gegen den altern Scaliger
vertheidigt, Capicio (über den Ursprung der Dinge), Aonio
Verulano (über die Unsterblichkeit der Seelen) lobt, den Pon-
tano mit Catull vergleicht, die religiösen Dichtungen Sanna-
zaro’s (,De partu virginis') und Vida’s (,Cristeide‘) preist, bei
1 Kagion poetica I, 29, S. 100.
2 1. c. I, 32, S. 108.
3 lieber die philosophischen Ansichten Gravina’s, welche hier darzustellen
nicht unsere Aufgabe ist, handelt ausführlich Ferdinando Balsano:
Delle dottrine ülosotiche e civili di G. V. Gravina (Cosenza 1880, Tipo-
gratia Migliaccio, 110 S.), der aber selbst zugibt, dass Gravina auf diesem
Gebiete kein schöpferischer Geist gewesen sei (S. 158).
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
57
Poliziano die Entfernung von der goldenen Latinität rügt.
Bei Besprechung Pietro Bembo’s fügt er die treffende Bemer
kung ein, dass übertriebene Sorgfalt schon während der Her
vorbringung des Gedichtes den Flug der Phantasie und die
Begeisterung schädigt, während dieselbe nach der Vollendung
des ersten Entwurfes am Platze sei. 1 Selbst die scherzhafte,
sogenannte ,poesia maccheronica 4 des Merlin Coccajo, wie sich
Theophil Folengo als Dichter nannte, findet in dem ernsten
Gravina einen milden Richter. Er meint, Coccajo habe lieber
der Erste in der komischen als der Zweite in der ernsten Poesie
sein wollen, für letztere habe ihm nicht die Kraft, sondern der
Wille gefehlt. 2 Des ganz besonderen Lobes, welches Fracastoro
für seine ,Syphilis sive de morbo gallico 4 erhält, ist bereits ge
dacht worden. Wie wir sahen, hält Gravina das Lehrgedicht
für den übrigen Gattungen der Poesie vollkommen gleich-
werthig, was bei seinen Anschauungen ganz natürlich ist, denn
ihm ist ja wie Menardiere die Poesie ,proprement cette Science
agreable, qui mele la gravite des preceptes avec la douceur du
langage 1 . 3
Im ersten Buch der ,Ragion poetica 4 sind die Dichter,
welche sich der griechischen und lateinischen Sprache be
dienten, behandelt worden, das zweite ist den italienischen
Dichtern gewidmet. Die Beschränkung auf diese eine Nation
erklärt sich diesmal nicht durch den Eigendünkel, mit welchem
in der ganzen Neuzeit jede Nationalität nur die Werke ihrer
eigenen Dichter für die erwähnenswerthen Thaten auf dem
Felde der Poesie hielt. In der auch dieses Buch eröffnenden
Vorrede an Frau von Colbert bezeichnet Gravina es als seine
Absicht, durch dieses Werk den Fremden (und wohl auch den
Landesgenossen) zu zeigen, dass diejenigen italienischen Poeten,
welche ihnen von einer unwissenden Schaar als die besten
dargestellt worden, vielmehr schlechte seien, während es andere
gäbe, welche, wenn sie schon die besseren Griechen und die
besten Lateiner nicht überragen, doch auch selbst von dem
besten lateinischen Dichter nicht überragt werden. 1 Er zielt
1 Ragion poetica I, 40, S. 116—117. 2 1- c. I, 44, S. 119.
3 Menardiere, Poetique (1640) Vorrede.
4 Ragion poetica, S. 122,
58
II. Abhandlung: Reich.
hiemit vornehmlich auf Dante, welchem aufs Neue die ge
bührende erste Stelle in der National-Literatur verschafft zu
haben, vielleicht das grösste Verdienst des Kritikers Gravina
ausmacht. Homer und Dante: diese beiden Namen bilden das
Leitmotiv des Hauptwerkes unseres Autors und bezeichnen
zugleich sein Hauptverdienst.
In dieser zweiten Vorrede finden sich, wie in der ersten,
werthvolle ästhetische Lehren. Gravina bezeichnet stets die
Belehrung als Zweck der Kunst, aber er bewahrt sich ebenso
immer künstlerischen Sinn genug, um nicht direct durch mög
lichst dick aufgetragene Sentenzen auf dieses Ziel losgesteuert
sehen zu wollen. Hier verurtheilt er ein derartiges Vorgehen
entschieden und erklärt ganz richtig, diese Art der Belehrung
sei nicht die dem Dichter eigenthümliche, sondern dem Philo
sophen, Historiker und Redner angehörend, während Fabel und
Erfindung die Mittel seien, durch welche der Dichter wirke. 1
Schon das Motto, welches er dem Gesammtwerke voraus
schickte, hatte diesen Standpunkt dargelegt, wobei es für seine
Richtung höchst bezeichnend ist, dass er es wagte, einer Poetik
einen Satz Platon’s und nicht einen von Aristoteles voran
zustellen. Es lautet: ,Tcv towjtJjv oeoi, Pbrep p.äXXot stv«t,
xoiefv (jwjOous, akV oü Xo-foui;. Conviene ehe ’l Poeta, se poeta ä
da essere, favole componga, e non discorsi. Platone nel Fedone.‘
Zugleich dürfte mit diesem Motto ein Hieb gegen das leere
Wortgeklingel der Marinisten beabsichtigt sein. Auch hier
wird darauf hingewiesen, dass diese neuen Richtungen daran
Schuld sind, dass die Poesie im Ansehen gesunken sei; denn
keine Kunst (,mestiero l ) könne dasselbe bewahren, wenn sie
sich von der gesellschaftlichen Nützlichkeit und Nothwendig-
keit loslöst und sich allein auf das Vergnügen der Ohren be
schränkt. Dies sei aber gegenwärtig in Italien, sowohl bezüglich
der Musik 2 als der Poesie, der Fall, welche letztere bei den
Alten auf die gemeinsame Nützlichkeit gegründet und eine
1 Ragion poetica, S. 123.
2 Auch in der Abhandlung über die Tragödie beklagt Gravina mehrmals
den Verfall der Musik, so Deila tragedia, Cap. 33, Prose S. 207, Cap. 36,
S. 212, wo er, ein Vorläufer Wagner’s, das Recitativ vertheidigt, die
Arie verdammt.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
59
Schule war, in welcher man lernte, richtig zu leben und zu
herrschen. 1 Es spricht sich hier die nur zu billigende Er
kenntnis aus, dass die Kunst mehr sein müsse als blos ein
Zerstreuungsmittel für müssige Stunden, welche Ansicht gegen
wärtig wieder viele Anhänger hat, der gegenüber jedoch Gi•/-
vina s Kunstanschauung eine weit würdigere und höher stehende
genannt werden muss, wenn er diese Vorrede damit schliesst,'
es sei die Poesie nach ihrer Herkunft ,die Wissenschaft der
menschlichen und göttlichen Dinge, umgewandelt in ein phan
tastisches und harmonisches Bild'. 2
Dieses Abbild findet unser Autor mehr als in jeder
andern italienischen Dichtung in dem göttlichen Werke Dante’s,
welchem er nicht weniger als dreizehn Capitel widmet, aus
denen wir natürlich nur das für unsere Zwecke Wichtigste
herausheben können. Dante übertrifft Alle auch in der Rede
weise, welche ja ein Abbild des Verstandes ist, aus dem die
Sprache Kraft und Wärme schöpft. 3 Auch hier linden sich
Bemerkungen rein philosophischen Inhaltes. Bei Besprechung
der Versform, welche Dante wählte, steuert Gravina ganz
nebenher einige sehr wichtige Sätze zur Aesthetik bei. Er
unterscheidet nämlich eine doppelte Barbarei in der Kunst: eine
natürliche und eine künstliche. Die erste trifft man stets in
der Kindheit der Künste an, doch weicht sie leicht der fort
schreitenden Cultur, da sic nur aus unfreiwilliger Unwissenheit
entsprungen ist; die zweite entsteht erst, wenn schon eine
Blüthezeit der Kunst vorangegangen ist, nicht aus Mangel an
Kenntniss, sondern aus verkehrtem Urtheil. Sie ist weit ge
fährlicher als die erste, weil sie sich gegen die Vernunft em
pört. Sie überschreitet das richtige Mass ohne eine Hoffnung
auf Besserung und erzeugt Ungeheuerlichkeiten, ,denn die
Schönheit der Kunst liegt nächst der Grenze der Natur'; J diese
Richtung aber will die Natur beherrschen und überschreitet
die Grenzen allzu weit. So bedeutsam und treffend diese Aus
führungen sind, so unrichtig ist es, wenn Gravina dieselben,
statt blos gegen die Ausschreitungen des Marinismus, gegen den
1 Kagion poetiea S. 125.
2 1. c. S. 125—126.
3 1. c. S. 126.
4 1. c. II, 2, S. 129.
60
II. Abhandlung: Reich.
Reim kehrt, den er, ein italienischer Klopstock, auts liefste
verabscheut. Dante habe den Reim seinen tölpelhaften Zeit
genossen zuliebe an wenden müssen, doch sei er von ihm
durch die Erfindung der Terzinen erträglich gemacht worden.
Der Vers der Alten stehe dem Natürlichen sehr nahe, der Reim
sei zu weit davon entfernt.
In dem Abschnitt über die Volkssprache Italiens findet
sich, zunächst auf die Sprache angewandt, jene Ansicht, der
später Hegel zur grössten Verbreitung verhalf, dass alle Dinge
bis zu einem gewissen Höhepunkt der Entwicklung wachsen
und zunehmen, dann aber naturnothwendig Abnahme und
Verfall beginnen. 1 Von dem, was Gravina sonst über die
Sprache vorbringt, interessirt uns nur die Bemerkung, dass
die Verderbniss der Sprache mit dem Abschleifen der End
silben beginne, 2 und das schliessliche Zugeständnis, dass doch
Toscana der Hauptantheil an der Bildung der italienischen
Schriftsprache gebühre. 3 Dante’s Ausdrucksweise sei derjenigen
der Alten, besonders aber der Hebräer und Propheten nach
gebildet; sein erhabener und bilderreicher Stil hindere ihn
ebenso wenig wie die Propheten, die Worte den Dingen unter
zuordnen. Darin aber ist er dem Homer nicht gleichwerthig,
dass er oft dunkel ist, während dieser stets gemeinver
ständlich bleibt. 4
Die Bezeichnung ,commedia 1 , welche Dante seinem Werke
gab, sucht Gravina dadurch zu rechtfertigen, dass er sagt, es
zeige nicht nur bei Grossen, sondern auch bei unbedeutenden
Personen, wie die Fehler des Menschen oft mit seinen Tugenden
vermengt seien; dadurch erscheine es den Werken des Aristo-
phanes und anderer Alten ähnlich; es diene auch wie diese
zur Verbesserung der Fehler. Ueberdies enthalte es mehr
Dramatisches als Episches. 5
Nachdem unser Autor die politische Tendenz Dante’s
behandelt hat, wonach dieser in der ,Divina Commedia 1 Italien
zur Einigkeit ermahnen und die Unhaltbarkeit der Freiheit
1 Kagion poetica II, 3, S. 134—135.
2 1. c. II, 5, S. 141.
3 1. c. II, 7, S. 153—154.
4 1. c. II. 9, S. 160.
5 1. c. II, 10, S. 162.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
61
der einzelnen Städte, wenn sie ohne gemeinsames Haupt
blieben, zeigen wollte, 1 wendet er sich zur ,Moral und Theo
logie Dante’s'. Nach Gravina sollen die drei theologischen
Stadien des jenseitigen Lebens den Zustand der Sünde, der'
Busse und der Tugendhaftigkeit darstellen. Denn Jeder, dür
geboren wird, tritt zuerst in die Finsternisse des Lasters, sei
es durch die ursprüngliche Sündhaftigkeit eines Jeden, die
durch die Taufe erst abgewaschen wird, sei es durch die
Ueberbleibsel der sinnlichen Begierde, welche nach der Taufe
bleiben und alle möglichen Laster erzeugen, durch welche die
Erde in eine irdische Hölle verwandelt wird. Jeder Lasterhafte
trägt jedoch in seiner eigenen Natur seine Strafe, denn das
Elend der Seele ist die unausweichliche Begleiterin jeder
Leidenschaft. Dies lässt uns Dante in der Hölle sehen und
erregt so Furcht und Schrecken, wodurch der Geist dazu ge
stimmt wird, seine Fehler zu fliehen und sich zu reinigen und
zu bessern. Die Strafen im Fegefeuer deuten die Heilmittel
gegen die Uebel an. Der Gewöhnung an die Tugend folgt die
Gemüthsruhe, wenn sie mit der Erkenntniss Gottes verbunden
ist, was Dante im Paradies darstellt, denn indem wir uns zur
Betrachtung der göttlichen Unendlichkeit erheben, befreien
wir den Geist von den Sinnen und dadurch auch von den
einzelnen und endlichen Ideen, die, weil sie ihr Dasein nur
unserer Phantasie verdanken, die Ursache aller Irrthümer und
die Wurzeln der Leidenschaften sind, mit welchen stets mehr
Unangenehmes als Vergnügen verbunden ist. 2 Diese Hin
wendung zu der Idee des Göttlichen, vor welcher alle end
lichen Dinge wie Schatten verschwinden, befreit unsern Willen
von seinem unsichern Umherirren. Jede menschliche Kraft
hat als ihr eigenes Object ein Gut, getrennt von den anderen,
mit welchem sie sich beschäftigt. Dasjenige des vom Körper
losgelösten Geistes, d. h. der Intelligenz, ist die Erkenntniss
und Wissenschaft, welche, da das Sein des Menschen im Geiste
begründet erscheint, das seiner Natur entsprechendste, ihm
eigenthümlichste Object ist. Dieses Gut geniesst der Geist am
meisten, wenn die Betrachtung sich von den Sinnen losgelöst
1 Ragion poetica II, 12, S. 167.
2 1. c. II, 13, S. 169—172.
62
II. Abhandlung: Reich.
hat; die Seligkeit des Weisen, bei dem dies der hall ist, hat
Dante im Paradies schildern wollen. Zu diesem Genuss gelangt
man nur, wenn die Seele sich unter der Herrschaft der V ernunft
gereinigt hat, was das Fegefeuer darstellt; dahin kommt es
aber aus Furcht vor der Hölle, d. h. vor den schrecklichen
und für uns peinlichen Lastern. Durch das ganze Gedicht
verstreut sind die Darstellungen jeder Handlungsweise der
Leidenschaft, wie der Vernunft. Dies gibt ein viel lebhafteres
Bild der Laster und der Tugend und mehr Anlass, jene zu
fliehen und dieser zu folgen, als ,die Definitionen und Hegeln
der Philosophen, welchen die Dichter gleich sind durch die
Menge der Sentenzen, die geeignet erscheinen, den Verstand
zu besiegen, aber überlegen durch die Wirksamkeit der Aus
drucksweise, des Rhythmus und der poetischen Bilder, welche
es vermögen, die Phantasie zu erregen und den Lauf der
Handlungen zu ändern*. 1 Bei Dante stimmen die offenbarte
Theologie der Christen und die natürliche der Philosophen
überein. Er lehrt, wie der Apostel, für jeden, der zu lesen
versteht, deutlich, dass die christliche Liebe (,caritä‘) der Mittel
punkt aller Vorschriften und Tugenden ist. Die moralische
Lehre und die Aussaat von Tugenden, welche sich in den
heidnischen Fabeln finden, behalten ihren Werth, wenn auch
die heidnischen Götter Götzen sind, meint Dante und Gravina
stimmt dem zu. Wie die Griechen aus Homer Weisheit und
Beredsamkeit schöpften, wollte Dante für seine Zeit dasselbe
leisten. Er ist gleich gross als Tragiker, Komiker, Satyriker,
Lyriker und Elegiker und vereint alle diese Eigenschaften
in der ,Divina Commedia*.
Man wird darüber streiten können, ob diese Auslegung
des grössten Florentiners in allen Punkten richtig sei, un
streitig ist sie aber keine kleinliche, sondern eine grosse und
würdige. Gravina erscheint überhaupt in diesem zweiten Tlieile
seines Werkes sehr zu seinem Vortheil verändert. Die Be
lehrung als einziger Zweck der Poesie muss der Gleichstellung
von Belehrung und Vergnügen weichen, ja letzteres wird sogar
vorausgestellt: ,dilettare ed insegnare*, 2 was wohl kein blosser
1 Ragion poetica II, 13, S. 174.
2 1. c. II, 14, S. 178.
Gian Vincenzo Gravina als Aestlictiker.
63
Zufall ist. Es geschieht dies, wo unser Autor sich wieder
einmal gegen eine wirkliche oder vermeintliche Vorschrift des
Aristoteles wendend erklärt, ein Epiker sei nicht nur, wer
wenige einheitlich verknüpfte, sondern auch wer viele gleich
wichtige Dinge erzähle. Auch wenn Gravina von Bojardo sagt, 1
dieser stelle durch seine Personen die ganze Moralphilosophie
dar, so meint er dies nur in dem Sinne, in welchem es ja
zutrifft, dass man nämlich aus derartigen Werken eine Moral
philosophie ableiten könne, nicht aber als oh die Dichtung
nur um der Moral willen da sei. Noch mehr wird Ariost
gelobt, der alle Leidenschaften und Alles, was sonst noch den
Menschengeist bewegt, hervortreten zu lassen verstand. 2 Es
werden jedoch seine Schwächen nicht verschwiegen. Dass er
hie und da auch niedrige Personen gebrauche und dann dem
entsprechend den Stil ändere, habe er mit Homer wie mit
jedem grossen Epiker gemein. Er wird entschuldigt, weil er
in Octaven statt Terzinen, wie er ursprünglich beabsichtigt
haben soll, dichtete.
In seine alten Fehler verfällt Gravina wieder bei Beur-
theilung des Trissino. Er seihst gibt zu, dass dessen ,Italia
liberata dai Gotk so wenig in Ansehen steht, dass er allgemein
bedauert werden wird, in einem solchen Irrthum, nämlich
den Verfasser für einen bedeutenden Dichter zu halten, zu
leben. 3 In der That hat Gravina’s Lob seinem Schützling
nichts genützt, ihm selber aber geschadet. Das Capitel über
Trissino blieb bis heute ein Lieblingscitat der Gegner unseres
Autors. Was ihn zu der Ueberschätzung dieses Dichters ver
anlasst haben mag, wird wohl dessen stetes Bestreben, die
Alten und auch Dante nachzuahmen, gewesen sein. Doch gilt
in der Poesie nur das Können, und so lobenswerth Trissino’s
Streben war, durfte doch das Lob nicht auf seine Leistungen
ausgedehnt werden. Gravina Hess sich ferner durch Trissino’s
Abneigung gegen den Reim bestechen.' 1 Dass Trissino’s Buch
auch einen kurzen Abriss der römischen und griechischen
1 Eagion poetica II, 15, S. 182.
2 1. c. II, 16, S. 183.
3 1. c. II, 17, S. 192.
4 1. c. S. 189.
64
II. Abhandlung: Reich.
Geschichte enthalte, konnte unserm Autor doch nur in seinen
unglücklichsten Momenten als ein Vorzug erscheinen. Das
gleich darauf folgende herbe Urtheil über lasso wirkt nach
diesem ungerechtfertigten Lobe recht unangenehm. Gravina
spricht vom Dichter der ,Gerusalemme liberata' in ironischem
Ton. Er ist der beliebteste Poet, doch wäre es besser, er
hätte sich mehr an die Einzelheiten als an das Allgemeine ge
halten, mehr in der Natur als in den Büchern gelebt und aus
dieser seine Beispiele der menschlichen Affecte und Sitten
genommen, weniger die Regeln der Rhetorik und die Dogmen
der Philosophie sichtbar werden lassen und mehr durch die
Erzählung als durch ausdrückliche Vorschriften gelehrt. 1 Alle
diese Forderungen sind ja durchaus zu billigen, doch muss
man zweifeln, ob Tasso sie wirklich so durchgängig verletzt
bähe, wie Gravina annimmt, mit dessen Ideal, den Alten, der
Todte von San Onofrio freilich wenig Aehnlichkeit besass.
Luigi Pulci wird gelobt, weil er Wankelmuth und Eitel
keit der Frauen, Habsucht und Ehrgeiz der Männer, sowie
die Fehler der Fürsten geisselt und die romantischen Erfin
dungen lächerlich macht; unverzeihlich ist es dagegen, dass
sein Spott auch vor dem christlichen Glauben und der heiligen
Schrift nicht Halt macht. 2 An den italienischen Tragödien
rühmt Gravina, dass sie die Griechen nachahmend einfach im
Stil, gewichtig in den Sentenzen und geeignet sind, die Affecte
des Mitleids und Schreckens zu erwecken. 3 Unter den besten
nennt er die ,Sophonisbe‘ Trissino’s, Martelli’s ,Tullia‘ und Tasso’s
,Torismondo‘. Doch sei die italienische Sprache für die Tragödie
weit weniger geeignet als die griechische. Sie ist zu maje
stätisch, weshalb man sich in ihr, wenn man erhaben werden
will, zu leicht von der Natur entfernt. In der Komödie sei
Ariost der Beste. Seither, sagt Gravina mit bemerkenswerthem
Freimuth, hat der servile Geist der Höfe, welcher die fremden
Einflüsse anbetet, zur knechtischen Nachahmung jener Völker
verleitet, welche das erste Licht der Menschlichkeit von Italien
empfingen. Deshalb findet man auf dem Theater nur solche
1 Ragion poetica II, 18, S. 193—194.
2 1. c. II, 19, S. 195—196.
3 1. c. II, 20, S. 197.
Gian Vincenzo Gravina als AestLetiker.
65
Kunstproducte, die wenig Aehnlichkeit mit der Natur haben. 1
Sannazaro’s Eklogen sind zu loben, Tasso’s ,Aminta‘ aber über
schritt durch die scenische Gestalt schon die von den Alten
gesteckte Grenze, das volle Verderben brach mit Guar in ik
,Pastor fido‘ herein. Dessen Schäfer haben die Leidenschaften
und Gewohnheiten der Vorsäle, er hat geradezu Hofleute aus
ihnen gemacht; seine Plirten geben Vorschriften, wie die poli
tische Welt zu leiten sei, und seine verliebten Nymphen haben
so gesuchte Gedanken, dass sie aus der Schule der jetzigen
Declamatoren und Epigrammatiker zu stammen scheinen; zur
theilweisen Entschuldigung Guarini’s dienten die mythischen
Zeiten, in welche er uns versetzt. 2
Ariost ist auch als Satiriker der Erste. Er verbreitet
durch seine Satiren Moral, Verachtung der Fehler und durch
ihre lachenerregende Nachahmung Besserung; sein Stil ist so
schön und natürlich, dass kein anderer sich mit ihm messen
kann. Hiebei werden diejenigen getadelt, welche sich durch
den falschen Glanz der Modernen und Fremden blindlings aus
dem Nest der Grazien vertreiben Hessen. 11 Berni’s natürliche,
burleske Poesie findet Anerkennung; 1 Fidenzio hat eine neue
Art des Komischen geschaffen. 5
In der Lyrik sind zwei Richtungen zu unterscheiden: die
antikisirende des Petrarca und eine neue, deren Erfinder den
Alten so ähnlich sind wie der Affe dem Menschen, sich aber
nach Pindar und Anakreon nennen. 11 Diese dem Vergessen
der Weisen und dem Beifall der Dummen überlassend, wendet
sich Gravina zur Würdigung Petrarca’s, den er den Vater und
das Haupt der italienischen Lyrik nennt. Er unterscheidet
sich von den Alten nur dadurch, und zwar zu seinem Vortheile,
dass er nicht wie jene die unreine Liebe darstellt, sondern die
platonische, welcher unser Autor nun ein eigenes Capitel
widmet. Wir beschränken uns auf Wiedergabe des Wichtig
sten. Petrarca hat nur den Beifall der Gebildeten und Philo-
1 Ragion poetica II, 21, S. 199.
2 1. c. II, 22, S. 201.
3 1. c. II, 23, S. 202.
4 1. c. II, 24, S. 203.
5 1. c. II, 25, S. 203.
6 1. c. II, 26, S.. 204.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 2. Abk.
5
66
II. Abhandlung: Reich.
sophen errungen, da den Anderen die Darstellung diesei Ge
fühle, weil sie selbst sie nicht besitzen, unnatürlich erscheint.
Besonders gelte dies von den Physikern und demokritischen
Philosophen, welche die Thätigkeiten des Körpers so genau
erforschen, dass sie darüber jene der Seele vergessen, 1 ein Voi-
wuvf, der heute ebenso berechtigt wäre wie damals. Die Schön
heit ist eine Tugend des Körpers wie die Tugend eine Schön
heit des Geistes; daher wird der edle Geist von der Schönheit
wie von seinem äusseren Bilde angezogen.'
Nach Erwähnung einiger unbedeutender Dichter schreitet
Gravina zum Schlusscapitel ,Ueber den Gebrauch dieses
Werkest Er meint nun schliessen zu können, da er genügend
Licht über die wahre Idee der Poesie und über den Urgrund,
aus welchem die Regeln der Poesie und die Werke der besten
Autoren stammen, verbreitet habe. Noch einmal gibt er an,
was der Leser aus den Poeten schöpfen könne: Kenntniss der
göttlichen und allgemeinen Dinge, der Sitten und Affecte,
sowie der Ursachen, aus welchen die menschlichen Handlungen
entspringen. 3 Des Vergnügens, welches die Poesie gewährt,
wird hier gar nicht gedacht; dagegen wird uns, sozusagen als
Schlusseffect, angepriesen, dass man durch fleissiges Lesen der
Dichter beredt werden könne, und der Nutzen der Beredsam
keit für Laien und Geistliche gerühmt. Für die Priester sei
eine von poetischem Hauch durchwehte Rednergabe sogar noch
wichtiger als für jeden Andern; deswegen habe Julian Apo-
stata den Christen das Studium der alten Dichter untersagt,
um ihnen diese Fähigkeit zu rauben, welche unter allen mensch
lichen die wirksamste sei. 4 Mit diesen Worten schliesst die
,Ragion poeticah
Sollen wir nun annehmen, ein Mann, der sich uns als
ein vornehmer, hochstehender Geist gezeigt hat, bei dem wir
eine seltene kritische Fähigkeit mit gründlicher Bildung vereint
fanden, der, wenn auch nicht immer richtige, doch fast immer
würdige Ansichten über das Wesen und den Zweck der Poesie
äusserte, habe wirklich ihr Endziel in einer Verallgemeinerung
1 Ragion poetica II, 28, S. 208.
2 1. c. S. 209.
3 1. c. II, 33, S. 214.
4 1. c. II, 33, S. 215.
Gian Vinconzo Gravi na als Aostlietiker.
67
und Stärkung der Rednergabe unter den Menschen und spe-
ciell unter den Priestern gesucht? Das können wir gewiss
nicht. Wenn aber dies nicht seine Meinung war, weswegen
spracli er diese Ansicht gerade an einer so bedeutsamen Stelle,
am Schluss des Werkes aus? Uns scheinen die Gründe hiefüf
naheliegend genug. Gravina schrieb in Rom, der Residenz des
Kirchenstaates; er war Lehrer an einer päpstlichen Hochsdiule,
die gewiss nicht milde geistliche Censur hatte darüber zu ent
scheiden, ob sein Buch zur Veröffentlichung zugelassen werden
solle. In diesem Buche aber hatte er, selbst ein Geistlicher,
die alten heidnischen Dichter als unerreichte Muster aufgestellt.
Musste er nicht den Versuch machen, zu zeigen, dass dieses
Preisen der Alten wohl vereinbar sei mit den Ueberzeugungen
eines streng katholischen Christen und Priesters? Freilich, in
den lebensfrohen Zeiten der Renaissance wäre ein solcher Hin
weis ganz überflüssig, gewesen, aber jene weitherzige Periode
war vorüber und Gravina, dessen ,Hydra mistica' zu ihrer Zeit
so unangenehmes Aufsehen gemacht und ihm so viele Ver
folgungen zugezogen hatte, vorsichtig geworden. Papst Cle
mens XI. war allerdings sein Gönner, aber in der Epoche und
in dem Lande, in welchem er lebte, war es ein Gebot der
Klugheit, weder am kirchlichen Dogma zu rütteln, noch allzu
vorlaut für die alten Heiden einzutreten. Nicht blos die Schluss
wendung der ,Ragion poetica', sondern auch manche andere
Stellen des Werkes sind als captatio benevolentiae der geist
lichen Censur gegenüber zu betrachten und zu erklären. Dass
dieser Zweck erreicht wurde, ist aus den der Ausgabe von
1708 vorgedruckten Voten der vier geistlichen Censoren zu
ersehen. Von dem Verdachte, die Poesie als Mittel zur rhe
torischen Ausbildung angesehen zu haben, erscheint Gravina
hiemit als losgesprochen; hingegen ist nicht zu leugnen, dass
er in diesem Schlusscapitel wieder aut den einseitigen btand-
punkt zurückfalle, dem der Inhalt der Dichtung das allein
Wesentliche, die Art und Weise, wie dieser ausgedrückt werde,
die doch das speciflsch Aesthetische ausmacht, ein neben
sächliches Moment ist, auf den Standpunkt der extremsten
Gehaltsästhetik.
Wenn nun zum Schlüsse ein endgiltiges Urtheil über
Gravina abgegeben werden soll, möge weder nach dem geur-
5*
68
II. Abhandlung: Reich.
theilt sein, was im letzten Capitel, noch nach dem, was im
systematischen Theil des ersten Buches der ,Ragion poetica'
steht. Denn wo Gravina mit Bewusstsein als Gesetzgehei in
ästhetischen Dingen auftritt, da fühlt er sich verpflichtet, in
einseitiger "Weise Belehrung und Erkenntniss des Wesens dei
Dinge von der Poesie zu fordern, um nur ja seinen Gegensatz
gegen die herrschenden Literaturrichtungen, welche blos dem
Vergnügen, und zwar zumeist dem Vergnügen in seinen nieder
sten Formen huldigen, recht scharf und schroff hervorzukehren.
Neben dieser sozusagen officiellen Anschauungsweise, welche
entschieden zu verurtheilen ist, läuft fast heimlich eine andere
nebenher, welche — man möchte sagen — in unbewachten
Momenten zum Durchbruch kommt, dem Vergnügen sein Recht
lässt und überhaupt eine höhere und würdigere Ansicht von
der Dichtung zum Ausdruck bringt. Freilich dahin, den
Zweck der Belehrung ganz zu streichen, kommt er nie. Seine
eigenen massgebenden Anschauungen aber scheinen eben diese
verstreut ausgesprochenen, nicht die systematisch zusammen
gestellten zu sein. Sollen seine wirklichen ästhetischen An
sichten mit seinen eigenen Worten wiedergegeben werden, so
wird dies weit besser durch je ein Citat aus der ersten, als
aus der letzten ästhetischen Schrift Gravina’s geschehen. Im
,Discorso sopra l’Endimione'' rühmt er es, dass die poetischen
Erfindungen den Geist über sich selbst erheben, ihn von den
Fesseln befreiend, mit welchen unsere körperliche Natur den
Flug zur Betrachtung des Reinen und Ewigen hemmt, und
nennt dies ,eine der Nützlichkeiten, auf welche die Poesie,
ausser dem seltenen und vornehmen Vergnügen, welches aus
ihr entspringt, gerichtet ist* (.essendo questa una delle utilitä alle
quali e indinzzata la poesia, oltre il raro e nobil diletto che da
lei piove‘). 1 Hier wird das Vergnügen dem Nutzen, welcher aus
der Poesie entspringen soll, mindestens gleichwerthig an die
Seite gestellt und selbst einen Theil dieses Nutzens soll nicht
die Belehrung, sondern, wie früher citirte Stellen schon zeigten,
die Erhebung über das Erdendasein, die Abstreifung der Bande,
welche uns an das Irdische fesseln, sein. So kommt Gravina
oft Ansichten nahe, welche die Poesie der Unzufriedenheit der
1 Prose, S. 253.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
69
Menschen mit der Welt, wie sie ist, entsprungen glauben, in
dem man sich abgestossen von der harten Realität der Dinge
dem schönen Traum einer nach menschlichen Begriffen ver
besserten Welt, wie sie sein sollte, überliess. Dem widerspricht
auch das zweite Citat nicht, welches der Schrift ,Regolamento
degli studi di nobile e valorosa donna' 1 entnommen ist. yDie
Fabeln sind einzig erdacht (gewebt), um mit der Lockung des
Metrums und mit dem Vergnügen, welches die Neuheit sowohl
der Erfindung als des Stils hervorbringt, die Wahrheit der
Dinge auszusprechen' (,le favole sono unicamente fessute per
esprimere coli allettamento del metro e col diletto della novitä,
tanto della invenzione quanto dello Stile, la verita delle cose‘). 2
Denn, was Gravina unter der Wahrheit der Dinge versteht,
das ist, wie er wiederholt sagt, das innere Wesen derselben;
seine Wahrheit ist nicht zu verwechseln mit Wirklichkeit, so
verlangt er stets mit Recht Naturwahrheit, nicht aber Natur
wirklichkeit, er ist weit entfernt von den Anschauungen, welche
heute gewöhnlich Naturalismus genannt werden. Schon in der
Vorrede zum ersten Buch seines Hauptwerkes fordert er als
oberstes Gesetz eigenthlimliche naturgemässe und schickliche
Nachahmung des Wahren im Erdichteten, nicht blinde Nach
bildung der Natur. Dort sagt er auch, dass er den Nutzen,
den Zweck und das Vergnügen erklären will, welche aus
dieser Nachahmung entspringen. 3
Von Gravina kann man, wie auch seine einsichtigen ita
lienischen Beurtheiler zugestehen, sagen, dass zwei Seelen in
seiner Brust wohnen. Sein ästhetisches Denken ist gespalten:
bald sieht er in den Dichtern Weltweise, welche blos um der
dumpfen Menge leichter beikommen zu können, sich der
Mittel der Poesie bedienen, bald neigt er sich der richtigeren
Anschauung zu, dass die Poeten zwar auch Weltweise seien,
aber ihre Weltanschauung nicht willkürlich ebenso gut in
philosophischen Werken wie in dichterischen Ergüssen hätten
darlegen können, sondern dem Zwange ihrer innersten Natur
gehorchend in Versen kündeten, was sie den Menschen zu
1 Erschien zuerst in der ,Raccolta di opuscoli per cura di A. Sergio 4 , Na
poli 1741.
1 Regolamento degli studi, Cap. XXI, Prose, S. 344.
3 Ragion poetica, S. 6.
70
II. Abhandlung: Reich.
sagen hatten. Dementsprechend setzt er als Ziel der Poesie
bald Belehrung, bald Vergnügen und Belehrung an. In einer
Zeit, in welcher zwei geistig gleich hohle, nur auf die Form
gerichtete Strömungen sich bekämpften, war es kein Fehler,
vielmehr ein wirkliches Verdienst, nachdrücklich den Stand
punkt zu vertreten, dass die Poesie nicht blos durch Wohl
klang vergnügen, sondern auch etwas bedeuten solle, ebenso
wie es umgekehrt vor mehreren Jahrzehnten verdienstlich war,
zu betonen, dass die Poesie nicht blos in einem geistig be
deutenden Inhalt, sondern zunächst in der Form, in welche
sich dieser Inhalt kleide, zu suchen sei. Wenn Gravina auch
öfters den Zweck der Belehrung zu schroff betont, so erklärt
er doch stets denjenigen Dichter für den grossem, bei welchem
die Belehrung nicht vordringlich in den Vordergrund gestellt,
sondern unvermerkt in das Ganze der dichterischen Erfindung
hineinverwebt werde. Wenn er des Vergnügens, welches die
Kunst bereite, weniger oft erwähnt, so folgt daraus nicht, dass
er es unter seinem Werth angeschlagen habe. Er hielt es für
nothwendig, seinen Zeitgenossen, welche in der Dichtkunst
wie in der Musik nur den Ohrenkitzel suchten, einzuschärfen,
das Vergnügen sei nicht der einzige Zweck der Poesie. Er
erkannte, wie in jedem grossen Dichter das Herz der ganzen
Menschheit schlägt, wie ihn die höchsten Probleme der Er
kenntnis, der Moral, des Staates und des Rechtes bewegen
und ihn zu ihrer .dichterischen Gestaltung drängen, so dass
alle grossen Dichtungen zwar nicht Tendenz-, wohl aber
Problemdichtungen sind. Gravina fühlte, wie sich in allen
wahren Poeten ein geheimnisvolles Etwas verkünde, dessen
Wirkung weit über diejenige hinausgehe, welche eigentlich
von dem jeweiligen Stoff in der jeweiligen Form zu erwarten
sei, jenes grosse Unbekannte, das Heinrich von Stein die Un-
ermesslichkeit des Geistigen nennt. Diese Eigenschaften be
fähigten ihn, seiner entarteten Zeit jene beiden Dichter zu
bezeichnen, welche bei ihr in Achtung gesunken und doch
allein geeignet waren, sie auf den rechten Weg zurückzuführen:
Homer und Dante. Italienische Schriftsteller sind es, die meinen,
dass in ihrer Nationalliteratur die Zeiten des Verfalls diejenigen
gewesen seien, in denen Petrarca, die des Aufschwunges, in
denen Dante als oberster Stern erglänzte. Gravina, der Dante
Ginn Vinconzo Gravina als Aesthctitcr.
71
auf den Schild hob, ist nach dem Urtheil seiner Landesgenossen
der Urheber der modernen italienischen Literatur geworden;
dass er dabei auch Petrarca’s Bedeutung zu würdigen wusste,
erhöht sein Verdienst. Freilich steht er schwankend an de/
Grenze den Blick noch öfter rückwärts als vorwärts gewendet;
er selbst ist noch kein Moderner, aber durch seine kritische
Thätigkeit hat er den Modernen die Bahn eröffnet.
Die besten und grössten Geister Italiens haben Gravina
hochgehalten. Der Verfasser der Briefe des Jacopo Ortis, der
unglückliche Ugo Foscolo, schreibt in einem Briefe an die
Gräfin Isabella Teotocchi - Albrizzi, datirt Pavia, den 3. Mai
1809: jLeggete il libro della Ragione poetica del Gravina; opera
egregia . . . e forse (e senza forse) la piii bella arte poetica che
abbia il mondo. n Der Philosoph Gioberti, der unsern Autor
sehr hoch stellte, äussert sich so: ,La Ragion poetica e il lavoro
piü perfetto di questo genere, che abbia l’ltalia 1 . 2 Carlo Cantoni,
durch dessen grosses Werk über Kant dieser den Italienern
erst mundgerecht gemacht wurde, nennt Gravina’s Werke mit
Achtung, in erster Linie die juridischen, welche ,ihn rasch in
ganz Europa bekannt* machten, doch auch besonders die ,Ra
gione poetica, dove se non possiamo animirare per i nostri tempi
una grande peregrinitä di dottrine, vi si trovano pure molte
giuste considerazioni, ed e d’ ultra parte un vero modello di stile
scientifico elegante senza fioriture/ 3 Emiliani Giudici sagt:
,La Ragione Poetica e uni di quei libri nei quali nulla e super-
fluo, e perb non si possono in nessun modo conipendiare; ma
spesso ne’ concetti e nello stile e cosi breve e serato che nel leggerlo
ti senti niettere in moto le facolta intellettive: e’ti forsa, e, ove
non cifossi assuefatto, ti avvezza a meditare‘ und rühmt ihm nach,
dass man bei ihm Dinge finde ,che l’estetica moderna pretende
avere novellamente trovate‘. 1 De Sanctis 0 freilich urtheilt ganz
1 Memorie e documenti per la storia dell’ universitä di Pavia e degli
uomini piü illustri che v’ insegnarono III, 127.
2 Pensieri e giudizi di V. Gioberti raccolti e ordinati da Filippo Ugolini
(Firenze, Barbera, 1856), S. 345.
3 Carlo Cantoni, G. B. Vico. Studii critici e comparativi (Torino, Stabil-
mento Civelli, 1867), S. 84.
4 Emiliani-Giudici, Prose, S. LIII.
5 De Sanctis, Storia della letteratura italiana II, 341 342.
72
II. Abhandlung: Reich.
anders: ,Dommatico e assoluto, sentenzia 6 poco discute in istile
monotono e plembeo. E ancora il pedante italiano, sepolto sotto
il peso della sua dottrina, senza ispirazione, ne originalitä, e cosi
moto di sentimento come d’imaginazioneDass er dies ebenso
ungerechte als harte Urtheil wieder abschwächt, hat de Sänctis
wenig genützt; er musste sich wiederholt sagen lassen, dass
so nur Jemand urtheilen könne, der Gravina’s Werke gar
nicht oder nur sehr flüchtig gelesen habe. A. C. Casetti meint:
,Lascio un libro, che ancora non si potrebbe dire invecchiato e
che, se piii si fosse letto e meglio inteso, non pocche novitä po
steriori sarebbero parse antiche. 11 —• ,Nel libro della Ragion
poetica v’e alcune pagine ancor tutte nuove e fresche tanto, che
al paragone d’ alcune moderne teoriche std’arte non ismortiscono/ 2
— ,Non foss’altro basterebbe il merito d’ aver primo esortato
gl’Italiani agli stndii danteschi.' 3 — ,11 Gravina avanza il sao
tempo in parecchie opinioni.“ 4 — ,Da critico, da giurista, da
moralista il Gravina combatte sempre le störte opinioni e i fiacchi
istinti del tempo suo . . . le ingiurie e le calumnie dei contem-
poranei non han potuto appanargli il merito appo i posteri.‘ h
Balsano, dessen Werk unvollendet blieb, weil er ermordet
wurde, überschüttet unsern Autor mit Lobsprüchen, und das
selbe thut Julia, der Balsano’s Werk kerausgab, wenn er die
,Ragion poetica' ein ,Libro immortale‘ f ' nennt und sagt: ,11
giudizio sulla Divina Commedia rimarrä nella storia del pensiero
italiano, come monumento immortale di critica nuova, seria, co-
scienziosa ed, indipendente. 17 Gf. B. Niccolini nennt Gravina ,uno
dei piii nobili intelletti, che onorino la Filosofia e la Giurispru-
denza‘. s Bertoldi meint: ,Fu retore e giureconsulto insigne; e
come letterato compose un libro, che parve ed e un miracolo cri
tico pel tempo in cui fu scritto 19 . . . ,ebbe tanto d’ ingegno e di
1 Casetti (Nuova Antologia, Band 25, Februar bis April 1874). La vita e
le opere di G. V. Gravina, S. 339.
J 1. c. S. 850. 3 i. c . s. 851.
1 1. c. S. 852.
5 1. c. S. 867.
6 Julia, S. XLII.
7 1. c. S. XLVIII.
8 Niccolini Opere (Firenze, Le Monnier, 1858) III, 377.
9 Bertoldi, S. 1.
Gian Vincenzo Gravina als Aesthetiker.
73
foi za nativa da vedere assai piil in Id de suoi contemporanei, e
da porre spesse volte piü che il germe di future conquiste cri-
tiche. 1 Auch Giosue Carducci, nicht blos Professor der italieni
schen Literatur an der Universität Bologna, sondern auch der
gefeiertste Dichter des heutigen Italien, rühmt 2 die ,singolai/tä
e profondita dell’ingegno e dell’opera del Gravina 1 . So ist, be
sonders in den letzten fünfzehn Jahren, Gravina auch als
Aesthetiker unter seinen Landsleuten, denen seine ,Ragion
poetica* lange als höchste Autorität galt, wieder zu Ansehen
gekommen.
Ihm denselben Dienst für Deutschland zu erweisen, ist
der Zweck dieser Zeilen. Wir sahen in ihm einen Mann, der
in manchen Punkten der Vorläufer Hegel’s, Schopenhauer’s und
Richard Wagner’s genannt zu werden verdient, und der an-
erkanntermassen der Vorläufer Vico’s war, einen Mann, dessen
seltene Vielseitigkeit als Jurist, Philosoph, Kritiker und Dichter
ihn als einen Nachkommen der Männer der Renaissance er
scheinen lässt, während er zugleich einer der Bahnbrecher der
neuen Zeit ist. Dem verdorbenen Geschmack seiner Zeit
genossen stellt er das Princip der Natürlichkeit, ihrer geist
losen Freude am Hochtönenden, das für den Einsichtigen viel
mehr hohltönend war, die Forderung der geisterfüllten Form
gegenüber. Sein Muster ist die Antike, ohne deshalb die be
rechtigten Ansprüche der Moderne zu verkennen. Er sieht
das ewige Gesetz in den Einzelerscheinungen walten, aber er
sieht auch den gleich ewigen Fluss der Dinge, der keine un
veränderlichen Regeln duldet, und dem gegenüber das Starre
bald zum Todten wird. Er sucht die Phantasie in ihre Rechte
einzusetzen, ohne der leitenden Vernunft die ihren zu nehmen.
Er gibt eine Fülle geistreicher Anregungen, in denen er sich
weit über seine Zeit erhebt, und theilt scharfe Hiebe gegen
überlebte Autoritäten aus; er stürzt Götzenbilder und erhebt
Götterbilder. Wenn er auch kein eigentliches System der
Aesthetik aufstellt, so ist er doch ein bemerkenswerther Vor
gänger dieser jüngsten und zugleich ältesten Wissenschaft. Er
beweist seinen Scharfblick für poetische Bedeutung theoretisch
1 Bertoldi, S. 110.
2 Vorrede zu Bertoldi, S. I—IX.
74 II. Abhandlung: Reich. Gian Vincenzo Gravina als Aestlietiker.
in seinen Schriften, praktisch, indem er den in einem Bettel-
jungen schlummernd eil Funken des Dichtergenius entdeckt.
Zu Wien steht der Nährvater und Ahne Metastasio’s in mehr
fachen, wenn auch nur indirecten Beziehungen, und so möge
denn von Wien aus der Versuch gemacht werden, einen der
bedeutendsten Gelehrten, welche an der Wende des 17. und
18. Jahrhunderts lebten, auch als Aesthetiker in seine Rechte
einzusetzen.
III. Abhandlung: v. Krem er. Studien zur vergleichenden Culturgeschichte. 1
III.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte,
vorzüglich nach arabischen Quellen
von
Alfred Freiherrn v. Kremer,
wirkl. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
I. und II.
I.
Brot und Salz.
Wem wäre nicht die Volkssitte bekannt, Brotstückchen,
welche auf der Strasse liegen, aufzuheben, sorgfältig bei Seite
zu legen auf ein Mauergesimse, in eine Fensternische oder
auf einen Stein, damit nicht ein Vorübergehender sie in den
Staub träte.
Man kann diesen alten, ehrwürdigen Brauch überall in
Oesterreich, besonders auf dem Lande und in den Gebirgs
gegenden beobachten; aber auch in Wien selbst und in der
Umgebung hat er sich erhalten und widerstand bis jetzt dem
alte Sitten und volksthümliche Gewohnheiten so gründlich ver
wischenden Einflüsse der neuen Zeit.
In alten, bürgerlichen Häusern ist es noch immer strenge
Regel, dass die Brotkrumen, welche während des Mahles liegen
blieben oder unter den Tisch fielen, nicht weggeworfen, sondern
verbrannt werden. Dieselbe Gewohnheit herrscht in Böhmen:
auch da dürfen die Brotreste nicht zugleich mit dem Kehricht
entfernt werden, sondern sie gehören ins Feuer, sie sollen
verbrannt werden. Auch ist es strenge untersagt auf Brosamen
zu treten. 1
Grohmann: Aberglauben aus Böhmen. Prag 1864. S. 41, 103; Tylor: Die
Anfiinge der Cultur. Deutsche Ausgabe. Leipzig 1873. II, 286.
Sitzungsber. d. phil -hist. CI. CXX. Bd. 3. Abh. 1
2
III. Abhandlung: v. Krem er.
Nun könnte man allerdings bei flüchtiger Beurtheilung
meinen, diese Sitte trage offenbar christlichen Stempel und
stehe in Zusammenhang mit dem ältesten, einfachsten und
besten christlichen Gebete: dem Vaterunser, sowie mit der
darin enthaltenen Bitte um das tägliche Brot. Hiedurch sei,
so könnte man vermutken, das Brot als kostbare Gottesgabe
bezeichnet worden, welche man ehren müsse und nicht miss
achten dürfe. Es wegwerfen oder in den Staub treten sei
deshalb ein arger Frevel. Hierin läge auch scheinbar die Er
klärung für manche volksthümliehe Redensart, wie z. B. ,unser
liebes Brot; man soll kein Krümchen Brot umkommen lassen;
man soll das Brot nicht verkehrt auflegen' u. s. w. 1
Allein hiemit lässt sich kaum die Thatsache in Einklang
bringen, dass das Brot im deutschen Volksbrauche offenbar
auch zu gewissen, zweifellos aus heidnischer Zeit stammenden
Opfern gebraucht wird. In Franken pflegte das Volk bei dem
Betreten eines Waldes Spenden an Früchten und Brot auf einen
Stein niederzulegen, um die Angriffe des Waldgeistes, des ,Heidel-
beermannes' abzuwenden; die Bäcker pflegten Weissbrod ins
Feuer zu werfen und dabei zu sagen: ,hier Teufel, das sind deine/ 2
In der Gegend von Haida in Deutschböhmen glaubt man,
dass ein Mädchen, welches am Fieber erkrankt ist, um zu
genesen, dreimal um einen Teich herumzulaufen habe; dabei
solle sie zum ersten Mal ein Stück Brot, dann eine Spindel
und zum Schlüsse ein Stückchen Flachs ins Wasser werfen.
Da bleibe nun das Fieber im Teiche. 3
Wenn schon diese Thatsaclien gegen den christlichen
Ursprung der Verehrung des Brotes sprechen, so stellen sich
noch weit schwerere Bedenken entgegen, sobald man einen
Schritt weiter thut und die vergleichende culturgescliichtliche
Methode zur Anwendung bringt.
Es zeigt sich hiebei sofort, dass die Verehrung des Brotes
nicht blos bei den christlichen Völkern sich findet, sondern
auch bei ganz verschiedenen, der christlichen Welt fern
stehenden Rassen.
1 Grimm: Deutsches Wörterbuch.
2 Wuttke: Deutscher Volksaberglauben der Gegenwart. Hamburg, 1800.
S. 86; Tylor a. a. O. II, 409.
3 Grohmann: Aberglauben und Gebräuche aus Böhmen. Prag 1864. S. 163.
Studien zur vergleichenden Cultnrgeschichte.
3
Ich greife zuerst auf eine Saho-Sage, die uns durch Pro
fessor Leo Reinisch erhalten worden ist: 1 ,Die Leute der Ur
zeit waren Heilige und als solche tliat ihnen der Schöpfer, wie
sie nur wünschten. Verlangten sie eine Regierung, so bekamen
sie eine solche; wünschten sie sich Reichthum, so erhielten sjb
solchen; Sand ward ihnen zu Korn; Stein zu Brot und Wasser
zu Butter; das Meer zu Milch; Baumblätter wurden zu Kleidern
und das Wild ward ihr Hausvieh. Hierauf beleidigte ein Weib
den Schöpfer und darnach wurde ihnen das Brot zu Steinen,
die Butter zu Wasser, die Milch zu Seewasser, die Kleider
wurden zu Baumblättern und die Hausthiere wurden Wildthiere.'
Es kommt nun auch die Erklärung wie und womit das
Weib den Schöpfer beleidigte: es hatte mit Brot den Körper
ihres Söhnleins von Beschmutzung gereinigt. Das war eine Ent
weihung der Gottesgabe, welcher die Strafe auf dem Fusse folgte.
Man könnte nun das Zeugniss der Saho-Legende aus
dem Grunde für unzureichend erklären, weil das Sako-Volk in
nahen Beziehungen zum christlichen Abessynien steht und also
vielleicht von dort die Geschichte vom Sündenfall und dem
goldenen Zeitalter entlehnt haben könnte. Aber solche Zweifel
sind trotzdem nicht berechtigt.
Der Gedanke, dass die Gottesgaben nicht missbraucht
werden dürfen, ist uralt und findet sich bei den verschiedensten
Völkern.
So erzählt Pausanias, dass sich auf dem Vorgebirge
Tainaron in Lakonien (Cap Matapan) eine Quelle befände,
die in alter Zeit die Eigenschaft besessen habe, dem Hinein
blickenden das Meer, die beiden Schilfshafen und die Schilfe
zu zeigen. Aber die Quelle habe diese Eigenschaft verloren
durch den Frevel eines Weibes, das schmutzige Wäsche in dem
reinen, göttlichen Wasser wusch und hiedurch es entweihte. 2
Ganz demselben Gedankengange entspricht es, wenn von
dem arabischen Propheten berichtet wird, er habe verboten
1 Die Saho-Spraclie von L. Reiniscli, I. Bd., S. 1. Wien 1889. Die Be
deutung der Arbeiten dieses Gelehrten über die von ihm, sozusagen,
entdeckten Sprachen der Völker Nordost-Afrikas, ist nicht blos lingui
stisch, sondern auch culturgeschichtlich gleich gross.
2 Pausan., Beschreibung von Griechenland III, 25, 4, 8. Vgl. ibidem VII,
21, 13 das über die Quelle Cyaneae in Lycien Gesagte.
1*
4
III. Abhandlung: v. Krem er.
mit einem Dattelkern eine Laus zu zerquetschen. Die arabischen
Commentatoren geben hiezu die folgende Erklärung: Der Dattel
kern dient in Zeiten der Notli zur Nahrung. (Er dxu’fte also
nicht beschmutzt werden.) Desslialb heisst es in einer anderen
Tradition vom Propheten, dass er gesagt habe: ,Ehret die
Palme, denn sie ist eure Muhme/ 1
Auch folgender mohammedanischen Legende liegt der
selbe Gedanke zu Grunde: Als Gott Adam auf die Erde ver
setzte (aus dem Paradies), brachte der Erzengel Michael etwas
Weizenkörner und sprach zu ihm: ,Das ist deine Kost und
die deiner Nachkommen; auf denn! pflüge den Boden und säe
den Samen!' Diese Weizenkörner aber hatten die Grösse eines
Strausseneies durch die ganze Zeit bis auf (den Propheten)
Idrys (Henoch). Nun wurden die Menschen gottlos und da
ward der Samen immer kleiner, zuerst wie ein Hühnerei, dann
wie ein Taubenei, endlich wie eine Haselnuss und in der Zeit
Josefs hatte er nur mehr die Grösse einer Kichererbse. 2
Immer sind es also die Sünden der Menschen, welche
die Strafe Gottes nach sich ziehen und vor Allem ist es ein
an der Gottesgabe begangener Frevel, der sofort geahndet
wird. Diese Vorstellung ist so festgewurzelt in dem Geiste
des Volkes, dass sie sogar noch in der Gegenwart im Gewände
von Sagen und Volksmythen fortlebt. So lautet eine in der
Sinaigegend bei den dortigen Beduinenstämmen verbreitete
Sage, dass der Panther ursprünglich Mensch gewesen und nur
wegen eines begangenen Frevels seiner Menschengestalt ver
lustig geworden sei. Ein Mann habe nämlich einst in frechem
Uebermuthe mit Milch sich gewaschen und hiedurch diese
Gottesgabe entweiht, worauf er zur Strafe in einen Panther
verwandelt ward. 3
Aus denselben Ideen entwickelte sich die Verehrung des
Brotes bei ganz verschiedenen Völkern und zwar in ganz
gleicher Weise. Einer der neuesten Erforscher von Südarabien,
R. Manzoni, berichtet wie folgt: 1 Der Kabili (der Ackerbauer)
1 Damyry: Hajat alhaiwän, voce: kam].
2 Damyry voce : na'äm.
3 Robertson Smith, Kinsliip and Marriage in early Arabia, S. 204 (nach
Palmer’s Aufzeichnungen).
4 R. Manzoni: El-Yemen, Tre anni nelT Arabia felice. Roma 1884, S. 82.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
O
hat eine grosse Verehrung für das Brot (chobz): es hängt in
seiner Idee so innig mit dem Dasein des Menschen zusammen,
dass er es sogar 'aish d. i. Leben nennt. Er hütet sich, dass
auch nicht das kleinste Stückchen davon verloren geht, und
wenn er je durch Zufall ein solches auf der Strasse findet, s6
hebt er es sorgfältig auf, küsst es dreimal, preist Gott und
legt es bei Seite, dass niemand darauf trete, sondern es ver
zehrt werden kann, und wäre es auch nur von einem Hunde.
Bei einem arabischen im Gebiete von Damascus geborenen
Schriftsteller, der um 1220 Ch. schrieb, 1 finde ich zwei Stellen,
wo vom Brote die Rede ist und beidemal die Bemerkung bei
gefügt wird: ,Wahrlich dem Brote gebührt Ehrerbietung —
’inna-lchobza laho hormah/ 2 Ja bei einem viel älteren Autor 3
wird folgende merkwürdige Geschichte erzählt: ,Der Grosswezyr
Ibn alforät war auf einen Beamten sehr erzürnt und versuchte
mehrmals ihn in seine Gewalt zu bekommen und sein Vermögen
mit Beschlag zu belegen. Aber all’ seine Bemühungen blieben
vergeblich. Das machte einen solchen Eindruck auf das Gemüth
des Grosswezyrs, dass er sogar davon träumte und da schien
es ihm, als ob der Mann gegen alle Angriffe mit einem Brot
als Schild sich vertheidigte, an dem alle Pfeile abprallten. Er
liess ihn nun kommen und frug ihn selbst aus. Da erzählte
jener, seine Mutter, die eine sehr fromme Frau gewesen sei,
habe die Gewohnheit gehabt, von seiner Geburt an ihm, wenn
er zu Bette ging, ein Brot unter das Kopfkissen zu legen und
am nächsten Morgen es an die Armen zu vertheilen. Diesem
Brauche sei auch er nach ihrem Tode treu geblieben/
Es wird also hier dem Brote, oder doch der Verehrung
desselben eine besondere, heilbringende Wirkung zugeschrieben.
Nun ist ein ganz ähnlicher abergläubischer Brauch bis
zur Stunde in Mekka allgemein üblich: ist ein Kind unwohl,
so pflegt die Mutter sieben Brote ihm unter das Kopfkissen
zu legen und am nächsten Morgen den Hunden als Futter
vorzuwerfen. 4 Hievon erwartet sie die Genesung ihres Kindes.
1 Gaubary, Kasf olasrär.
2 MS. der Hofbibliothek fol. 60“ und 87“.
3 Hiläl alsäby: Kitäb olVjftn walamätil fol. 46 1 >, MS. der herzoglichen
Bibliothek in Gotha.
4 Snouck Hurgronje: Mekka II, S. 121,
6
III. Abhandlung: v. Krem er.
Wie man sieht, ist diese Sitte nicht blos noch jetzt in
Kraft, sondern hat auch eine grosse Verbreitung, denn der
Schauplatz der oben erzählten Geschichte ist Bagdad und sie
fällt ins X. Jahrhundert unserer Zeitrechnung. Die Verehrung
des Brotes, der Glauben an deren Wirksamkeit, sind also für
Mekka, ebenso wie für Bagdad und Syrien nachgewiesen.
Ein neuarabisches Sprichwort lautet: ,Ohne Brot würde
man Gott keine Verehrung zollen' (laulä-lchobzo lama 'obid-
alläh). 1
Derselbe Gedanke der Verehrung des Brotes als einer
der kostbarsten Gottesgaben, zeigt sich also bei ganz ver
schiedenen, in gar keinem Zusammenhänge oder Gedanken
austausch stehenden Völkern. Und so eigenthtimlich und über
raschend ist diese Thatsache, dass wir am besten thun die
Geschichte des Brotes zu verfolgen, um auf diesem Wege die
sichere Lösung des Räthsels zu finden.
Das älteste Culturvolk, die Aegypter, zeigen sich von
ihrem ersten Erscheinen in der Geschichte als emsige Acker
bauer. Der heilige Nil überflutet alljährlich das Ackerland
und befruchtet es mit seinem Schlamme, so dass der Boden
stets in ungeschwächter Kraft und nur mit geringer Nachhilfe
durch eine reiche Fülle von Erntesegen die Arbeit und den
Schweiss des Landmannes belohnt. Hier finden wir auch schon
im fernsten Alterthum das Brot als allgemeines und wichtigstes
Nahrungsmittel. In den ältesten Gräbern schon nimmt es bei
der Aufzählung der dargebrachten Opfer und Todtenspenden
die erste Stelle ein. Auf den Opfertischen der Götter darf es
nie fehlen. Schon damals kannte man das Weizenbrot als
Nahrung der Reichen, während die Armen solches aus Durra
(sorghum) hatten. 2
Bei den alten Semiten ist es zweifelhaft, ob sie einen
gemeinsamen Namen dafür hatten, denn das „hebräische und
aramäische ,lehem‘ bedeutet eigentlich allgemein: Speise, Kost,
Weizenkorn, und erhielt wohl erst später die ausschliessliche
Bedeutung: Brot. Aber Hebräer, Phönicier und Babylonier
kannten gewiss schon im frühen Alterthum die Brotbäckerei
1 Proverb. Arab. Maidäny ed. Freytag; III, S, 127.
* Wilkiuson: The aneient Egyptians,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
7
so gut wie die Aegypter. Im heiligen Gemache der Stiftshütte
mussten auf einem Opfertische stets zwölf ungesäuerte Brote
liegen, als Symbol der vom Volke der Gottheit geweihten
täglichen Speise und diese Schaubrote mussten an jedem
Sabbath erneuert werden.
Bei den Griechen ist Demeter die Spenderin der,göttlichen
Körner' wie Hesiod das Getreide nennt; sie ist die Götti g des
Ackerbaues, welche die Getreidefrucht dem Menschen ver
liehen und ihn deren Cultur gelehrt hat; sie nimmt desshalb
auch gern Theil an den ländlichen Arbeiten und Festen; dess
halb brachte man ihr die Erstlinge von frischgebackenem Brote
dar; nicht minder spendete man an gewissen Festen (den
Thargelien) dem Apollo und der Artemis theils Erstlinge der
Feldfrüchte, theils frische Brote. 1
Die griechische Sage erzählt, dass nächst den Sikelioten
die Athener die ersten waren, welche von Demeter die Frucht
des Weizens erhielten. Von diesen gelangte sie zu vielen
anderen und hiemit verbreitete sich auch die Cultur und Ge
sittung. 2 Desshalb gab man der Göttin Demeter auch den
ehrenden Beinamen: Thesmophoros (Gesetzesträgerin). 3 Und
die Phrygier ehrten in ihrer Art den Ackerbau, indem sie
den Pflugstier hoch hielten und den, welcher ihn tödtete,
mit dem Leben es biissen Hessen. 4
Auch die alten Perser kannten gewiss in sehr früher
Zeit das Brot. Bei den grossen, religiösen Festen der Parsis
dürfen die geweihten Brote (daran, drön) nicht fehlen. Es
sind kleine flache, runde Kuchen von ungesäuertem Teig;
ungefähr so gross wie die innere Handfläche. Sie werden je
zu vier auf den Opfertisch gelegt in bestimmter genau vor
geschriebener Anordnung, darüber ein Granatzweig, dann ein
Ei zwischen die Brote; dazu auch ein Bündel heiliger Zweige
(barsom). Dann werden die drön vom Priester geweiht, welcher
Stücke davon abbricht und den Anwesenden zu essen gibt,
wodurch sie gewissermassen geheiligt werden. 0
1 Preller: Griechische Mythologie. Berlin, I, 474, 477; Schoemann: Grie
chische Alterthümer, Berlin II, 201.
2 Diodor, Sic. V, 4; Pausan. I, 38, 6.
3 Diod. V, 68, 69. 4 Aelian, Hist. anim. XII, 34.
5 Hang: The book of Arda-Viraf. London 1872. S. 147, 153,
8
III. Abhandlung: v. Krem er.
Auch die Meder kannten das Brot, denn Strabo erzählt,
dass sie Brot aus gerösteten Mandeln bucken: wohl nur eine
Leckerei statt des gewöhnlichen Brotes. 1
Bei den Macedoniern war es eine alte Sitte, bei Abschluss
eines Ehebundes ein Brot mit dem Schwerte zu theilen und
es von den Brautleuten verzehren zu lassen. Es galt dies als
das heiligste Pfand der ehelichen Vereinigung und Alexander
der Grosse schloss auf diese Art den Ehebund mit der schönen
Eoxane: . . . jussit afferri patrio more panem. Hoc erat apud
Macedones sanctissimum coeuntium pignus.' 2
In der griechischen Literatur wird das Brot (ap-o?) zuerst
genannt in der Odyssee, dann in der Batrachomyomachie, aber
auffallender Weise nicht in der Ilias.
Den Römern ward es erst ziemlich spät bekannt: ,pulte
autem, non pane, vixisse longo tempore Romanos manifestum'
sagt Plinius. 3 Also man ass in alter Zeit nur Mehlbrei, Polenta
oder Klösse und der alte Dichter Ennius, indem er die
Schrecken der Hungersnoth in der belagerten Stadt schildert,
sagt: die Väter hätten die Mehlklösse den Händen der
weinenden Kinder entrissen, um sich selbst zu sättigen: ,et
Ennius, antiquissimus vates obsidionis famem exprimens, offam
eripuisse plorantibus liberis patres commemorat.“ 1
Doch auch in der alten, brotlosen Zeit fehlen die Spenden
von Feldfrüchten und Mehl nicht auf den Altären der Götter.
Man pflegte auch noch später das Fleisch der Opferthiere mit
Mehl zu bestreuen, 3 und zwar mit Gerstenmehl, das weit früher
bekannt war als Weizenmehl. Auch bei der Mahlzeit ward
das Fleisch mit Mehl bestreut:
Frauen bestreuten
Mit weissschimmerndem Mehle das Fleisch, um die Schnitter zu
laben. 1 '
1 Strabo XI, 13, 11 (526); Spiegel, Branische Alterthumskunde III, 674.
Die Jlossynoeken in Kleinasien bucken gewöhnliches Brot und auch
solches aus Kastanienmehl. Xenophon, Anab. V, 4, 27. Die Kastanien
waren damals den Griechen nicht bekannt und Xenophon gebraucht an
dieser Stelle den Ausdruck: Nüsse ohne Spalt.
2 Curtius Rufus VIII, 16. 3 Hist. Nat. XVIII, 83.
4 Plin. 1. 1. 84. 5 Odyssee XIV, 429.
6 Ilias XVIII, 560; vgl. Odyss. XIV, 77.
Studien zur vergleichenden .Culturgeschichte.
9
Das älteste Gebäck war ein hartes, geschmackloses Gersten-
brot, das man in späterer Zeit kaum zum Thierfutter gut
genug fand: ,panem ex hordeo antiquis usitatum vita damnavit,
quadripedumque fere cibus est.‘ 1 Gerstenbrot war die erste'
Nahrung wie die Legende berichtet, welche die Menschen von
den Göttern erhielten. 2 Lange dauerte es gewiss bis man die
Brotbäckerei verfeinerte und Athenaeus ist der Erste, der von
den oo'jpvcbusi; apToc spricht. 3 /
Später, im Christenthume, erlangte das Brechen, die Ver-
theilung und der gemeinsame Genuss des Brotes eine sehr hohe
Bedeutung, indem hieraus das christliche Abendmahl hervorging,
das Zeichen der christlichen Gemeinsamkeit und des neuen
Bundes. Und diese religiöse Handlung, die eine auffallende
Aehnlichkeit mit der Drön-Ceremonie der Perser zeigt, nahm all-
mählig so sehr an Wichtigkeit zu, dass im Mittelalter ein mysti
scher Cultus des geweihten Brotes, der Hostie, daraus hervorging.
So sehen wir denn, wie der Ackerbau und die hiedurch
bedingte sesshafte Lebensweise einen Dienst der den Landbau
und die Saaten schützenden Gottheiten ins Leben rufen; zuerst
werden Feldfrüchte und Mehl, dann später Brote als Opfer
dargebracht und allmählig führte bei ganz verschiedenen
Völkern dieselbe Ideenverkettung zu einer Verehrung des
Brotes, als einer kostbaren Gabe höherer Mächte an das arme,
hilfsbedürftige Geschlecht der Sterblichen.
Wenden wir uns nun den Arabern zu, diesen Stiefkindern
der alten, orientalischen Welt. Ich nenne sie so, weil sie theils
durch die geographische Lage, theils durch ihre nomadische
Lebensweise, ihren wilden Charakter und regen Unabhängig-
keitssinn geschützt, von den grossen Culturströmungen des
alten Orients verhältnissmässig wenig berührt wurden. Sie
lebten Jahrtausende lang in ihrem von Wüsten umgebenen und
durchfurchten Lande in dem primitiven Zustande der ältesten
Menschheit. Allerdings hatte sich in Südarabien, sowie in
einigen Küstenstrichen und in den Grenzbezirken des Nordens
eine gewisse Gesittung verbreitet, die deutlich griechische
1 Plin. Hist. Hat. XVIII, 74.
2 Artemidoros, Oneirocritica I, 69: 7tpwTJ)7 y*P «vfl'piijiois xrjv Tpoyijv
~otpi OstSv Xo'-yo? £-/si SoOiJvai.
3 Athen. Deipnos. III, 113.
10
III. Abhandlung: v. Krem er.
Einflüsse erkennen lässt. Die Trümmer von Tempeln und
Grabmälern in den von Nabatäern bewohnten Gebieten im
Norden Arabiens zeigen zweifellose Spuren griechischer Bau
kunst, wenn auch mit barbarischem Zusatze. Im Süden aber, im
sogenannten ,glücklichen Arabien', dem Sitze einer sehr alten
und hochentwickelten Cultur, zeigt sich in den Bauwerken wie in
den Münzen die Einwirkung des lebhaften Handelsverkehres
mit Phüniciern, Griechen und wohl auch anderen seefahrenden
und Handel treibenden Völkern des klassischen Alterthums.
Jedoch der eigentliche Kern Arabiens, das ganze centrale
Binnenland mit seiner nomadischen Bevölkerung blieb von all’
dem nahezu ganz unberührt und unbeeinflusst und lebte in
alter Sitte fort, unverändert wie in der jenseits aller geschicht
lichen Erinnerung liegenden Urzeit.
Ganz zutreffend sagt Diodor von Arabien: ,Das Land hat
einen solchen Reichthum an allerlei Heerdenvieh, dass viele
Stämme, die ein Hirtenleben führen, von den Erzeugnissen
ihrer Heerden sich reichlich ernähren können, ohne des Ge
treides zu bedürfen.“
Den Ackerbau kannte man gar nicht, ebenso wenig wie
die wichtigsten Körnerfrüchte.
Dies zeigt sich sofort, sobald wir die Namen derselben
prüfen. Ich beginne mit dem Weizen. Die Bezeichnung des
selben ist den semitischen Sprachen gemeinsam und bei ober
flächlicher Betrachtung müsste man versucht sein zu glauben,
das Wort gehöre der semitischen Ursprache an, und die Semiten
hätten also den Weizen schon vor ihrer Zersplitterung in ein
zelne Völkerstämme gekannt. Aber das ist nicht der Fall.
Das arabische Wort für Weizen lautet: hintah und in den
anderen Dialecten, hebräisch und ai’amäisch: hittah (letztere
Form ist die jüngere, zusammengezogene).
Aber das Wort ist gar nicht semitischen Ursprungs,
sondern es ist ägyptisch; denn schon auf ägyptischen Denk
mälern, die zwei Jahrtausende vor unsere Zeitrechnung zurück
reichen, finden wir das Wort hnt für Weizen gebraucht. 2
1 Diod. Sic. II, 50.
2 Hieroglyphisch aaSaa nach einer freundlichen Mittheilung von Pro-
O O
fessor Leo Reinisch.
Studion zur vergleichenden Culturgeschiclite.
11
Da nun kein Zweifel darüber auf kommen kann, dass
der Ackerbau weit früher in Aegypten betrieben ward als in
Arabien, so gebt daraus hervor, dass die Semiten vom Niltlulle
her das Wort und die Sache selbst mitsammen entlehnten. Eine
andere arabische Bezeichnung des Weizens ist: borr, das dem
hebräischen bär entspricht; auch das Wort kamh wird mit
Weizen erklärt und später wirklich gleichbedeutend mit hintah
gebraucht. Aber es ist wahrscheinlich, dass diese Benennungen
ursprünglich nicht ausschliesslich Weizen, sondern eine oder
mehrere Arten von wildwachsenden Körnerfrüchten bezeich-
neten. Und solche finden sich in Arabien.
Um ein Beispiel zu geben, nenne ich das bisher leider
noch nicht wissenschaftlich bestimmte samh. Diese Pflanze
trägt im Juli einen Samen, der röthliche Körner hat, und Alt
wie Jung zieht um diese Zeit in die Wüste hinaus, um sie
einzusammeln. Zerrieben wird daraus eine Art Mehl bereitet,
das, wenn auch nicht so gut wie Weizenmehl, doch das Gersten
mehl übertrifft. Diese Pflanze wächst wild in der Wüste und
wurde besonders auf dem Wege von Ma'än nach Gauf im
Wädy Sirhän beobachtet. 1
Solcher wilder Getreidearten gab und gibt es vielleicht
noch andere. Wenigstens finde ich in Nachtigal’s Reise in
der Sahara und im Sudan den Namen einer anderen Pflanze,
akresh genannt, deren kleinkörniger Samen mühsam gesammelt
und zwischen zwei Steinen zu Mehl zerrieben, dazu dient, den
Mehlbrei, den die Beduinen der Sahara 'aisli nennen, zu be
reiten, und der bei ihnen die Stelle des Brotes vertritt. Eine
ähnliche wild wachsende Getreideart bezeichnet wohl auch das
altarabische solt.
1 Palgrave: Travels in Ai-abia I, 29, 30; Lady Anna Blunt: Voyage en
Arabie. Paris 1882. S. 115 (Chap. V); Doughty: Travels in Arabia
Deserta I, 312, 313, 553. Nach einer freundlichen Mittheilung von de
Goeje ist das Samh eine und dieselbe Pflanze mit dem von den arabi
schen Lexikographen angeführten fatt, und hiefür spricht auch eine
Vergleichung der von de Goeje hervorgehobenen Stellen Mokaddasy,
S. 252, Z. 9; Jäkut III, 474, Z. 1 ff., wo von der Pflanze fatt die Rede
ist, mit dem von Wallin, Palgrave, Lady Anna Blunt und Doughty
über die Pflanze samh Gesagten. — Immerhin ist es aber auffallend,
dass der alte Name ganz in Vergessenheit gerathen sein soll.
12
III. Abhandlung: v. Krem er.
Solche Körnerfrucht tragende Pflanzen mögen in alter Zeit
auch durch die Wörter kamb und borr bezeichnet worden sein.
Der Sprachgebrauch scheint ursprünglich recht schwankend
und unbestimmt gewesen zu sein, denn, als die Araber Baby
lonien eroberten, bezeichneten sie den Weizen mit dem Worte
ta'am, das die ganz allgemeine Bedeutung von ,Speise oder
LebensmitteP hat. 1 Die arabischen Eroberer waren so un
wissend, dass sie auch vom Reis nichts wussten und erst in Baby
lonien ihn kennen lernten. 2 Da in ihrer Sprache das Wort
hiefür fehlte, so entlehnten sie die griechische Benennung spui^a,
die sich im arabischen Munde in orozz oder arozz umgestaltete.
Die Gerste mögen sie als wildwachsende Körnerfrucht früher
kennen und daraus durch Zerstossen oder Zerreiben zwischen
zwei flachen Steinen (mit der Handmühle: rahan) einen Brei
bereiten gelernt haben. 3 Die Gerste hat in allen semitischen
Dialecten denselben Namen (arab. sa'yr, hebr. se'orah, syr.
se'arta, mischn. sa'orah), und es ist diese Benennung von der
haarigen Aehre genommen, denn sa'yr u. s. w. heisst haarig
oder behaart.
So gross war die Unwissenheit der Araber noch zur Zeit
Mohammeds, dass sie selbst die Hohlmaasse für Getreide nicht
kannten, und das lateinische Wort modius, wohl durch Ver
mittlung nabatäischer Kaufleute, einfach in ihre Sprache auf-
nahmen, in der Form modj, woraus später die zusammen
gezogene Form modd entstand. In Babylonien lernten sie das
alte dort übliche Gctreidemaass -/.arJJir, kennen 1 und nahmen es
1 Das Wort kommt für Weizen schon in der Tradition bei Bochäry vor
(Kitäb olmagäzy: hadyt ka'b ihn mälik); so auch im Mowatta’ (Kitäb
olhagg: Cap. fidjato man asäba sai’an min algarädi waliwa mohrim),
dann auch: Kitäb olboju' Cap: gämi'o bai' ilta'äm.
2 Ibn alfakyli ed. de Goeje S. 187, 188.
3 Aber auch die rohe Handmühle ist eine spätere Erfindung. In der
ältesten Zeit zerschlug man die Körner zwischen zwei Steinen, daher
der alte Name des Meliles dakyk, d. i. contusum, contritum. Das Wort
tahyn für Mehl ist viel später üblich geworden und stammt aus einer
Zeit, wo man die Mühle tähunah, das Wort ist aramäisch, schon kennen
gelernt hatte. Das Verbum thn findet sich übrigens schon bei Bochäry.
Vgl. Schräder: Sprachvergleichung und Urgeschichte S. 373, wo bemerkt
wird, dass das Getreide in der ältesten Zeit zerstampft wurde und dass
man solche Mehl- und Brotreste in den Schweizer-Pfahlbauten auffand.
4 Xenophon, Anab. I, 5, 6.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
13
in der Form kafyz gleichfalls in ihre Sprache auf. Ein anderes
Hohlmaass sä' ist gleichfalls ein Fremdwort.
Auch das Brotbacken lernten die Araber von den Fremden,
wahrscheinlich von den Nabatäern, wie das Wort fiir Backofeit
zeigt, welches gleichfalls entlehnt ist aus dem lateinischen
furnus, arabisch forn. Allerdings findet sich noch ein anderes
Wort dafür, nämlich: tannur, das schon im Koran vorkommt;
aber dies ist auch eine Entlehnung, und zwar von den Nord
semiten oder Persern; denn es erscheint schon im Zend in der
Form tanüra. 1
So viel geht aus dem Gesagten hervor, dass die Araber
die Kunst Getreide zu mahlen und daraus Brot zu backen,
von den Fremden erlernten und zweifellos später als alle
anderen alten Völker, wahrscheinlich erst nach Ausbreitung
der Herrschaft Roms über Syrien und Aegypten.
Nordarabien bezog seinen Bedarf an Getreide, der aller
dings nicht sehr gross gewesen sein kann, schon damals, wie
noch jetzt, zur See von Aegypten und, wenn auch in geringerem
Maasse, von Jemen; gewiss noch unbedeutender mag die Zu
fuhr aus Jamämah (Centralarabien) gewesen sein. 2
Aber auch in Arabien ging das Gerstenbrot dem Gebäck
aus Weizenmehl voran. Zur Zeit des Auftretens Mohammeds
ist das Gerstenbrot schon wohl bekannt, aber vom Weizen ist
keine Rede. Die Weiber müssen selbst die Gerste auf der
Handmühle mahlen, dann den Teig kneten und das Brot
1 Avesta, Vend. VIII, 254ff. Nach Schräder: Sprachvergleichung und Ur
geschichte, Jena 1885, wäre es altsemitisch. Eingehend ist dieses Wort
erörtert worden von Dr. Dvorak in seiner Schrift: Ein Beitrag zur
Frage über die Fremdwörter im Koran. Inauguraldissertation. München
1884. Aber in der assyrisch-babylonischen Inschrift, die er anführt,
S. 5, kann das Wort nicht Backofen bedeuten. Ich vermuthe, dass es
mit ,Brustharniscli‘ zu übersetzen sei, welches dem persischen tünureh,
Panzer, Harnisch, entsprechen dürfte, das bei Tabary in der arabischen
Form tannur mit derselben Bedeutung öfters vorkommt und dem ira-
kanischen Dialecte anzugehören scheint. Tabary III, 233, Z. 10; III,
S. 1777, Z. 10; III, 1854, Z. 10.
2 Ueber den Getreideexport aus Jamämah vgl. Bochäry (Kitfib olmagäzy
Cap. wafdo bany tamym). Man findet hier auch das Wort hintah für
Weizen gebraucht, während etwas später (Cap. hadyt ka b ihn mälik)
in demselben Sinne (a'äm vorkommt.
14
III. Abhandlung: v. Krem er.
backen. 1 Gerste und Datteln waren das Hauptnahrungsmittel. 2
Auf Kriegszügen nährte man sich von Milch und Mehlbrei
(sawyk). 3 Desshalb nahm man immer, wenn man für längere
Zeit zu Feld zog, Milchkameele mit. 4 Nur ganz arme Leute
lebten von Datteln schlechter Sorte (fagan); daher ist der
Ausdruck ,Sohn einer Dattelfresserin' ein Schimpfwort.-’
Bei dem Hochzeitsschmause aus Anlass des Beilagers des
Propheten mit der schönen Jüdin Safijjah gab es weder Fleisch
noch Brot, sondern nur Datteln, Topfen (’akit) und Butter. 1 '
Dort aber, wo bei einem Festmahle Brot nicht fehlte, war es
gewiss nur hartes, derbes Gerstenbrot. 7
So war es in den Städten und grösseren Ansiedlungen,
aber die Nomaden und Wüstenbewohner hielten- sich nach
altem Pierkommen an Milch und Lamm-, Ziegen- oder Kameel-
fleisch. Brot wird bei ihnen nur in geringem Maasse Eingang
gefunden haben. Zwar kommt im Koran das übliche Wort für
Brot einmal (12, 36) vor, aber in der alten vorislamischen
Poesie ist es sehr selten 8 und erst mit den grossen Eroberungen
im Beginne des Islams dürfte es allgemeiner bekannt ge
worden sein.
Als die Araber Babylonien eroberten, Hessen sie dort von
eingebornen, nabatäischen Weibern Brot für sich bereiten und
betrachteten Brot mit Datteln als eine schwelgerische Kost.
So sagt ein alter Beduinendichter, aus der Zeit der grossen
Eroberungen, zu seinem Sohne, der ihn verlassen hatte, um
nabatäische Kost, Brot und Datteln, statt Kameelmilch zu
suchen:
Und nicht das Paradies zu suchen, schnürst du deinen Sattel;
Das Brot nur hat dich wegg-clockt, so denk’ ich, und die Dattel,
Von einer Kabatäerin im Ofenloch gebacken,
Ein Laiblein, und so wohl gedörrt, dass dran die Rinden knacken. 9
1 Ibn Hisäm S. 672, 734.
2 Ibid. S. 672, 676, 774, 775, 796. 3 1. 1. 666.
4 Vgl. Ibn Hisäm S. 741, 744. 5 Ibid. S. 667.
6 Bochäry: Kitäb olmagäzy, Cap. bäbo gazäti chaibar.
7 Mowatta’: Kitäb olnikäh Cap. bäbo mä gä'a fylwalymah.
8 Die älteste Stelle, die ich notirt habe, ist 'Ikd alfaryd III, 297, in einem
angeblichen Gedicht des Hätim Tä’y.
9 Ilamäsah von Fr. Riickert, Nr. 813; Freytag I, S. 792.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
15
Doch eine allgemeine Verbreitung gewann das Brot nicht sofort:
Milch und, bei festlicher Gelegenheit, Fleisch blieb die Haupt
nahrung des nomadischen Wüstenbewohners und noch jetzt
gilt es bei jedem echten Beduinen als eine Sünde, Milch, das
kostbarste Nahrungsmittel, zu vergiessen; jeder Beduine geräth,
wenn er es sieht, in den grössten Unmuth. 1
Es ist dies ein äusserst lehrreiches Seitenstück zu der
früher besprochenen, auch bei unserem Volke bestehenden
Scheu vor der Entweihung des Brotes. Das Volk hat eben
seine eigene Logik — und sie ist nicht schlecht.
Uebrigens berichtet Edrysy von den Bewohnern der Land
schaft Mahrah - an der Südküste Arabiens, dass das Brot dort
ganz unbekannt geblieben ist, wie dies auch bis in die ersten
christlichen Jahrhunderte bei den Bewohnern der Hebriden
(Ebudes insulae) der Fall war, die sich nur von Milch und
Fischen nährten. 3
Wenn ein alter arabischer Philologe uns erzählt, der
Stamm Hanyfah hätte einen Götzen aus Brotteig verehrt, später
aber in einer Hungersnoth verzehrt, so sieht man der Ge
schichte es an, dass sie einfach ein Scherz sein soll, was
bei diesen alten, arabischen Gelehrten, trotz ihrer pedantischen
Manier und griesgrämigen Aussenseite, gar nicht so ungewöhn
lich ist.
Erst mit der Entstehung des städtischen Lebens gewann
das Brot als allgemeines Nahrungsmittel grössere Verbreitung.
Nun kam auch das Weizenbrot auf, nicht als die einzige, aber
als die beste und beliebteste Art. Desshalb nennt ein alter
Schriftsteller (Ta'aliby, f 430 H. = 1038—1039 Ch.) das
Weizenbrot mit besonderem Lobe: Weizenbrot und Karneel-
fleisch, mit Wein als Getränk bezeichnet er als die zuträg
lichste und gesündeste Kost. 4
Auch aus anderen Körnerfrüchten lernte man bald Brot
bereiten. Das Reisbrot ist offenbar ein Vermächtniss altasiati-
1 Boughty: Arabia II, 236.
2 Ritter: Arabien I, 265.
3 Nach Solinus, Collectanea ed. Momrasen 1864, S. 234; Schleiden: Das
Salz, S. 57.
4 Bard ol’akbad, S. 119, 140. Constantinopel, 1301, Gawäiib-Bruckerei.
16
III. Abhandlung: v. Krem er.
scher Cultur. Das schlechteste aller aber war das Gerstenbrot,
und ein altes Sprichwort sagt: ,Gerstenbrot isst man zwar,
aber man schimpft darauf/ 1 Gerste war ja das Futter der
Reitthiere, wie dies noch jetzt im Oriente der Fall ist; der
Weizen aber ward zu Mehl verarbeitet; letzterer stand daher
auch im Preise immer viel höher als Gerste. 2
Ob die noch jetzt bestehende Sitte, bei Leichenbegäng
nissen Brot an die Armen zu vertheilen, 3 als ein Rest alter
Todtenopfer oder einfach als eine durch den Islam hervor
gerufene Handlung der Wohlthätigkeit aufzufassen sei, lasse
ich unentschieden. Doch bin ich geneigt, letzteres zu ver-
muthen, denn ich sah in Kairo bei Leichenbegängnissen an
gesehener Leute ausser Brot und Apfelsinen auch noch Zwie
back (lca'k) unter das Volk vertheilen.*
Jedenfalls genügt das bisher Gesagte, um mit voller
Klarheit zu zeigen, welch grossen Platz das Brot in der Cultur-
geschichte einnimmt. Es kennzeichnet den Uebergang vom halb
wilden Nomadenleben zum Ackerbau, zur sesshaften Lebens
weise und zu milderen Sitten.
Die Verehrung des Brotes, als einer himmlischen Gabe,
als eines kostbaren Geschenkes der Götter, wie im klassischen
Alterthum, blieb zwar den Arabern bei ihrem nüchternen und
für Mythenbildung nicht besonders empfänglichen Sinn fremd,
aber sie übernahmen von den höher gebildeten Nachbarvölkern
zugleich mit dem Brote auch das Verständniss für den hohen
Werth dieses Nahrungsmittels, und der Islam brachte hiezu die
Anschauung, dass, wie alles, so auch das Brot eine Gnaden-
1 Maidäny ed. Freytag I, GGG. Augustus bestrafte die CJohorten, die vor
dem Feinde gewichen waren, damit, dass er sie decimiren und statt
Weizen ihnen Gerste anweisen liess. Sueton. Augustus XXIV.
2 Der Preis des Weizens war fast doppelt so hoch wie der der Gerste; so war
es schon zur Chalifenzeit, wie wir aus Kodämah wissen. Auch im Alter
thum bestand ein gleiches Verhältniss. Nach Polybius II, 15 kostete in
Oberitalien der Medimnus Weizen 4 Obolen, Gerste aber nur die Hälfte.
3 Lane, Manners and cnstoms u. s. w. II, 294.
4 Ueber die mit der fortschreitenden Verfeinerung der Sitten später in
Gebrauch gekommenen verschiedenen Zubereitungsarten des Brotes gibt
Ibn al'awwam sehr ausführliche Mittheilungen. Vgl. Le livre de l’agri-
culture d’Ibn al'awäm, traduit par J. F. Clement-Mullet, Paris 1864
bis 1866, H, p. 348 ff.
Studien zur vergleichenden Culturgeschiehte.
17
gäbe des Allerhöchsten sei, der ja überhaupt der Vertheiler
aller Güter (käsim olarzäk) ist.
So lebten die Ideen der grossen Culturvölker des Alter
thums auch bei den Arabern fort, in Volkssitte und häuslichem
Brauche, wie dies in der Sprache des Volkes und in seinen
Sprichwörtern deutlich zum Ausdrucke gelangt. So ist das
Wort 'aish, mit welchem in Aegypten und Jemen das Brot
bezeichnet wird, gleichbedeutend mit ,Leben'. Ein Sprichwort
lautet: ,Brot ist die Nahrung desjenigen, der nicht stirbt' (al-
chobzo kut man lä jamut), 1 was so zu verstehen ist, dass wer
immer Brot zu essen habe, nicht besorgen müsse zu sterben.
Im innigsten Zusammenhänge mit dem Brote steht das
Salz, als kostbares, bei höherer Cultur unentbehrliches und
durch nichts Anderes ersetzbares Genussmittel.
Wie schon vom Brote gezeigt wurde, reichen auch hier
gewisse abergläubische Vorstellungen aus der Kindeszeit des
Menschengeschlechtes bis auf unsere Tage und bestehen noch
immer fort im häuslichen Kreise. So ist es ein bekanntes Vor-
urtheil, wenigstens bei uns in den österreichischen Landen,
dass es Verdruss bedeute, wenn Jemand bei Tische Salz ver
schüttet oder gar das Salzfässchen umstürzt. Ganz in dem
selben Gedanken sagt ein ägyptischer Schriftsteller, der einige
abergläubische Ideen seiner Zeitgenossen zusammenstellt: ,Man
darf nicht (bei Tisch) Salz verstreuen, denn das bedeutet Un
glück' (wa lä jobaddad ilmilh fajaka'a sharr.) 2
Es zeigt sich hier ganz dieselbe Ideenverkettung wie bei
dem Brote. Das Salz ist wie Brot oder Milch etwas Kostbares,
das nicht leichtfertig vergeudet werden darf.
An eine wechselseitige Entlehnung ist hier natürlich nicht
zu denken.
Das Hauptbedürfniss zum Leben des Menschen
Tst Wasser und Feuer und Eisen und Salz,
Und Weizenmehl und Honig und Milch,
Traubenblut und Oel und Kleidung.
(Sirach, 39, 31.)
1 Freytag: Prov. Arab. III, p. 127.
2 Kaljuby: Nawädir ed. Nassau Lees, Calcutta 1856, S. 186. Der Verfasser
starb im Monate Shavvwäl des Jahres 1069 H.
Sitznngsber. d. phil.-liist. CI. CXX. Bd. 3. Abh.
2
18
ITT. Abhandlung: v. Krem er.
So spricht noch gegen Ende des alten Hebräerthums der weise
Sänger; aber weit früher, lange bevor die Verfeinerung der
Sitten und die Gewohnheit des Wohllebens eine solche Höhe
erreicht hatte, war das Salz unentbehrlich geworden. Man
brauchte es für eine Menge ritueller Verrichtungen: für alle
Opfer aus dem Pflanzenreiche, für alle Speisenopfer; 1 auch die
Thieropfer wurden mit Salz bestreut; 2 man genoss es bei
Bündnissabschluss, um dessen Unvergänglichkeit zu bezeichnen.
Ein solcher Bund, dem eine besondere Heiligkeit zukam, hiess
demnach Salzbund. 3 Hach späterer jüdischer Sitte pflegte man
die Stufen des Altars mit Salz zu bestreuen, angeblich, damit
der Priester bei dem Hinaufsteigen nicht ausgleite,' 1 in Wirk
lichkeit aber wohl, um böse Geister und schädliche Einflüsse
fernzuhalten.
Jedoch die Hebräer sind ein junges Volk im Vergleich
zu ihren Lehrmeistern, den Aegyptern. Diese hatten lang vor
den Nachbarvölkern die friedlichen Künste des Landbaues
mit Eifer gepflegt und von ihnen lernten die Nachbarvölker,
namentlich Phönieier und Hebräer, nicht blos den Weizen und
wahrscheinlich andere Nähr- und Nutzpflanzen kennen, sondern
auch das Salz. In ägyptischen Denkmälern, welche bis ins
zweite Jahrtausend vor unserer Zeitrechnung zurückreichen,
finden wir schon das Salz genannt mit dem ägyptischen
Worte mrh oder mlh, das sogar in übertragener Bedeutung
für geistreiche, gewürzte Kede in der ägyptischen Schrift
sprache zur Anwendung kommt. 5
Schon die allgemeine Sitte des Einbalsamirens der Todten
zeigt, dass der Gebrauch des Salzes und dessen die Fäulniss
beseitigende Eigenschaft seit ältester Zeit bekannt gewesen
sein muss. Auch fehlte es in Aegypten nicht an Bezugsquellen
für das so unentbehrliche Mineral. Die Lagunen des Nildelta,
wo das Meerwasser unter der Sonnenglut verdunstet, der
salzige Boden der Wüste, aber ganz besonders die grossen
Lager von reinem Natursalz auf der Ammonsoase, ungefähr
zehn Tagreisen von Theben, lieferten genug um den Bedarf
1 Levit. 2, 13. 2 Joseph. Antiquit. III, 9.
3 II Chron. 13, 5.
4 Mishna Erubm 10, 14. Ich citire nach Wiener: Bibi. Real Wörterbuch.
5 Nach gütiger Mittheilung meines werthen Freundes Prof. Leo Reinisch.
Studien zur vergleichenden Cnlturgeschichte.
19
zu befriedigen. Auch bei den Opfern kam das Salz zur An
wendung, jedoch gab man dem reinen ammonischen den Vor
zug vor dem unreinen Seesalz. 1
Trotzdem finden wir Anhaltspunkte für den Beweis, dass
in einer noch weit früheren Vorzeit die Aegypter das Salz
nicht gekannt haben.
Wir erfahren nämlich durch Plutarch, dass die ägyp
tischen Priester, wenn sie im Zustande der heiligen Reinheit
sich befanden, gänzlich den Salzgenuss vermieden und auch
ihr Brot ohne Salz genossen.-
Die Erklärung hiefür ist folgende: Zur Zeit, aus welcher
die ältesten religiösen Bräuche der Aegypter stammen, kannte
man offenbar das Salz noch nicht; erst später kam es in
Gebrauch; aber die Priester hielten bei gewissen, besonders
heiligen Verrichtungen an der alten Sitte fest und wiesen die
Neuerung ab. Desshalb enthielten sie sich des Salzes bei
gewissen Anlässen.
Es liegt also hierin ein culturgeschichtlicher Atavismus
der merkwürdigsten Art vor.
Für die andern alten Völker wird die salzlose Zeit wohl
erst viel später geendet haben. Gewiss ist es, dass die ersten,
die nach den Aegyptern das Salz kennen lernten, die Phönicier
waren, welche auch ihre Schiffe damit beluden, wenn sie, um
Zinn zu holen, nach den Zinninseln segelten. 3
Die Griechen folgten später, und dass unter ihnen die
Epiroten das Salz ziemlich spät kennen lernten, bezeugt Pau-
sanias, 4 der sich auf einen Vers der Odyssee bezieht, wo von
Menschen die Rede ist, die das Meer nicht
,Kennen und nimmer mit Salz gewürzte Speisen gemessen 1 .
(Odyss. XI, 122—123; vgl. XXIII, 268—270).
1 Herodot. IV, 181; Eratosthenes bei Strabo I, 3, 4; Arrian Anab. III, 4.
Vgl. V. Hehn: Das Salz. Nach Herodot floss das Wasser des Rothen
Meeres durch Seen und Sanddünen in das Mittelmeer und ein Theil
davon gelangte von dort in die pelusischen Marschländereien, wo Gruben
zum Zwecke der Salzbereitung angelegt sind. Vgl. Sharpe: Geschichte
Aegyptens, bearbeitet von Jolowicz, revidirt und berichtigt von A. v.
Gutschmid. Leipzig 1862, I, S. 86.
2 Plutarch. Symp. 5, 10; vgl. de Iside et Osir. 5.
3 Strabo III, 5, 11 (175).
4 Paus. I, 12.
2*
20
III. Abhandlung: v. Kvemer.
Das neue Genussmittel verbreitete sich allmälig; aber nach
dem die Griechen einmal sich daran gewöhnt hatten, hielten
sie es in hohen Ehren als reinigendes, heiligendes Element.
Desshalb musste Salz dem geweihten Wasser beigemischt sein. 1
Desshalb brauchte man es auch bei Beschwörungen. Die
Hetäre Melitta, die einen ungetreuen Liebhaber wieder an
sich ziehen will, erkundigt sich was es koste und was die
Zauberin dazu brauche. Da sagt man ihr: Sie nimmt nicht so
viel, Melitta, nur eine Drachme (baar) und ein Brot; auf
dem müssen noch sieben Obolen liegen; dann Salz, Schwefel
und eine Fackel, einen Krug mit Wein und zuletzt braucht
sie etwas, was der Mann getragen hat: ein Kleidungsstück,
einen Pantoffel oder Haare von ihm. 2 Man schwört bei dem
Salze und dem Tische des Wirthes. 3 Das Salz brechen ist bei
den Griechen dasselbe wie die Treue brechen, ,du hast den
grossen Schwur nicht geachtet, das Salz und den Tisch 4 . 4
Demosthenes sagt: ,Wer von beiden also hat das Salz über
treten und den Vertrag? 45 Auch Aristoteles meint, zum
Freundschaftsbunde^ bedarf es der Zeit und des sprichwörtlichen
Scheffel Salzes/'
Hierauf anspielend sagt Goethe in Hermann und Dorothea:
,Eh’ du die Schüssel Salz mit dem neuen Bekannten
verzehret,
Darfst du nicht leichtlich ihm trau’n, dich mache die
Zeit nur gewisser,
Wie du es habest mit ihm, und wie die Freundschaft
bestehet! 4
Und die Römer hielten nicht weniger auf das Salz; sie reden
sogar von vielen Scheffeln Salz, die man zur Freundschaft
brauche. 7 Bei ihnen gelten Salz und Brot als Inbegriff des
zum Leben Erforderlichen und Unentbehrlichsten. Von dem
1 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 327.
2 Lucian, Hetärengespriiche LXYII, 4.
3 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 238.
4 Hehn: Das Salz, S. 9. Eine Anzahl wichtigerer Citate aus den Classikern
ist daselbst zusammengestellt.
5 De falsa lege 191.
6 Eth. Nicom. 8, 3, 7.
7 Cicero: Laelius XIX.
Studien zur vergleichenden Gulturgeschichtc.
21
alten Varro sagt Plinius: Varro etiam pulmentari vice usos
veteres sale auctor est, et salem cum pane esitasse eos pro-
verbio adparet. 1
Horaz singt im selben Sinne: ..
cum sale panis
Latrantem stomachum bene leniet. 2
Das Salz galt als heilig und an dieser Eigenschaft nahm im
Volksglauben sogar das Salznäpfchen theil, das salinum, das
sich von Vater auf Sohn vererbte, den Haustisch zierte und
heiligte, gleich der patella deorum, aus der den Laren und
Penaten, sowie der Vesta ihre Opfer gereicht wurden. 3
Vivitur parvo bene, cui paternum
Splendet in mensa tenui salinum.' 1
Von dieser besonderen Ehrerbietung für das seit langen Gene
rationen in derselben Familie als Erbstück hochgehaltene Salz
fass mag zunächst der oben erwähnte Aberglauben unserer
Hausfrauen stammen, dass es Verdruss oder Unglück bedeute,
wenn das Salz verschüttet wird. Denn von den Römern haben
wir mehr solcher Sitten und Bräuche übernommen, als man
vermuthet.
Zunächst ging der Glauben an die heiligende Natur des
Salzes in das Christenthum über, wo das Salz bei der Taufe
zur Verwendung kommt, offenbar in dem Sinne, dass durch
das Salz der Bund des Täuflings mit der christlichen Gemeinde
unlösbar und unvergänglich gemacht, gleichzeitig aber durch
die reinigende Kraft des Salzes dämonische Einflüsse hintan
gehalten werden sollten. Desshalb gilt in der christlichen
Volkssage das Salz als Schutzmittel gegen allerlei Unglück:
in Böhmen glaubt eine Mutter ihre Tochter gegen den bösen
Blick zu feien, indem sie ihr ein Stückchen Brot und Salz ins
Kleid steckt (Jungbunzlau); wenn man eine neue Behausung
bezieht, so soll man zuerst Brot und Salz hineintragen; damit
man dort nie Mangel leide; wenn ein junges Mädchen ausgeht,
' 1 Flin'. Hist: Nat! XXXI, 89.
2 'Sät. 11, 2, 17.
3 Hehn, 1. 1. S. 11 ff.
4 Horaz: Carm. II, 16, 13: Persius 3, 25 nach Hehn 1. 1.
22
111. Abhaudlung: v. Kremer.
so streut die Mutter Salz hinter ihr her, damit sie aut dem
Wege sich nicht verliehe (Jungbunzlau); so oft eine Haus-
wirthin Milch an ein fremdes Hauswesen überlässt, soll sie
eine Prise Salz in die Milch hineinwerfen, damit die Hexen
ihr die Kühe nicht krank machen können. 1
So sehen wir die Fortwirkung uralter Bräuche, Sitten
und Vorstellungen bis in unsere Tage herab sich erstrecken.
Wie ein Epheustamm an uraltem Gemäuer rankt sich die alte
Sage fort und fort und findet noch bei späten Geschlechtern
liebevolle Aufnahme.
Bei den Arabern, so ferne sie auch dem Culturleben der
alten Welt geblieben sein mögen, können wir trotzdem ähnliche
Beobachtungen machen. Auch bei ihnen ward dem Salz eine
heiligende, weihende Kraft zugeschrieben. Eine volksthümliche
Redensart lautet: ,Zwischen ihnen besteht Salzgemeinschaft'
(bainahom momälahah). 2 Jene also, die zusammen Salz ge
nossen haben, sind verbrüdert und sie stehen in einem wechsel
seitigen Schutzverhältniss. Ein alter Schwur lautet: ,Bei dem
Salze, der Asche und dem Feuer' oder noch vollständiger:
,Bei dem Salze, der Asche, dem Feuer und (den beiden
Göttinnen) Al'ozzä und Allät.' 3
Es ist dies vermuthlich derselbe Schwur, der, wie ein
anderer alter Berichterstatter erzählt, in folgender Weise ge
leistet ward. Ich lasse die Worte des Textes unverändert
folgen: ,Abu 'Obaidah erzählt: In der Zeit des Heidenthums
hatte jeder Stamm ein Feuer, das seine eigenen Wärter
(sadanah) hatte. Brach nun zwischen zwei Leuten ein Streit
aus, so kamen sie zu dem Feuer und schworen daselbst; die
Wärter aber warfen im Geheimen Salz hinein (so dass es
knisterte) und verursachten auf diese Art Schrecken davor.
Desshalb sagt ’Aus (ein alter Dichter): ,Gleichwie zurück
geschreckt wird ein Schwörender vom Feuer des Schrecken-
1 Grohmann: Aberglauben aus Böhmen und Mähren.
2 Mofaüdal al-dabby: Ghäjat ol’irabi fy ’amtäl il 'arab. S. 238. Constan-
tinopel 1301, Gawaib-Druckerei. Das Wort momälahah bedeutete in
der ältesten Zeit: Milchverwandtschaft, später, als man das Salz kennen
gelernt hatte, verstand man darunter: Salzgemeinschaft.
3 1. 1.
Studien zur vergleichenden Culturgescbichto.
23
erregers.' Kama sodda 'an när ilmohawwili hälifo. Dieses Feuer
führte deshalb den Namen: Sehreckensfeuer (när olhulah)/ 1
Diese alte Sitte lebt zum Theil in etwas veränderter
Form, die vielleicht die ältere und echtere ist, noch jetzt in
dem bei den Wanderstämmen Centralarabiens üblichen soge
nannten Schwerteide fort. Es werden mit dem Schwerte
gewisse Linien in die Asche (des Herdfeuers) gezogen, gleich
zeitig nimmt der Schwörende eine Handvoll Asche und so
leistet er den Schwur, der für so heilig gilt, dass hiemit der
Streitfall unwiderruflich entschieden ist.' 2
Gegen den alten Schwur fehlt hier das Salz; vielleicht
ist es jetzt durch die Asche ersetzt. Es mag das Salz früher
den Beduinen zugänglicher gewesen sein als jetzt. 3
Nach den Lexicographen hat das Wort milh, Salz, im
übertragenen Sinn die Bedeutung Schutz- und Bundcsverhält-
niss, sogar Milchverwandtschaft (ridä').' 1 Daher kommt eine
sprichwörtliche Redensart: ,er hat sein Salz auf den Knieen/ 5
d. h. er ass es nicht, sondern liess es (nicht ohne schlimmen
Hintergedanken) auf die Kniee fallen. So wird von Einem ge
sagt, dem man nichts Gutes zutraut.
Diese Vorstellung von der Heiligkeit des Salzes ist jeden
falls bei den Arabern das Vermächtniss einer weit älteren
Schichte semitischer Cultur als ihrer eigenen. Sie haben nur
ein Verdienst dabei, nämlich das, diese uralten Sitten und
Bräuche mit grosser Treue festgehalten und aufbewahrt zu
haben. Zahllos sind die Erzählungen über Heilighaltung des
Salzes. Ja'kub Ibn Lait, der Stifter der Dynastie der Saffäriden,
1 Sah ah von Gauhary, voce hwl.
2 Ch. Douglity: Arabia 1888, I, 267.
3 An Salz fehlt es in Arabien nicht. Die Salzlager von Ma’rib in Jemen
waren schon zu des Propheten Zeit in Ausbeutung begriffen. In Taimä
finden sich reiche Steinsalzlager, welche nicht blos die ganze Umgegend
versorgen, sondern auch für eine starke Ausfuhr genügen; ebenso findet
sich Salz in der Harrah (dem vulkanischen Gebiete) von Chaibar und
an vielen anderen Orten. Vgl. Hamdäny ed. D. H. Müller, Leiden
1884. I, S. 155; Doughty: Travels in Arabia Deserta I, 76, 296, 470,
471, 473, 474,
4 Tag oTarus voce mlh; ebenso Gauhary im Sahäh. Ueber diese Begriffs
entwicklung folgt später eine Erörterung.
5 Dabby, S. 238.
24
III. Abhandlung: v. Krem er.
begann seine politische Laufbahn, wie dies noch jetzt in
manchen Ländern üblich ist, mit dem Handwerk eines Banden
führers. Einst schlich er sich nachts in einen fürstlichen Palast
ein und war im Begriffe, mit reicher Beute unbemerkt seinen
Rückzug anzutreten, als er über einen Stein stolperte. Ver
wundert, in dem Fürstenpalaste einen Stein auf dem Wege zu
finden, hob er ihn auf, und da es zu dunkel war, um zu sehen,
kostete er daran. Es war Salz. Sofort Hess er alle Habselig
keiten zurück, denn der Herr des Hauses, dessen Salz er ge
kostet hatte, war sein Verbündeter, sein Schutzgenosse, sein
Salzbruder geworden. 1
Eine ganz ähnliche Geschichte erzählt ein neuerer ägypti
scher Schriftsteller. 2
Also gemeinsamer Salzgenuss, ob beabsichtigt oder nicht,
stellt eine Verbrüderung, ein Bundesverhältniss her. Davon
das Sprichwort: ,zwei in Salzgemeinschaft Stehende, die gegen
einander die Klingen schärfen. 13 Es wird diese Redensart ge
braucht, um ein ganz unerhörtes, gottvergessenes Benehmen
zu bezeichnen.
Das Salz wurde also für heilbringend, segensvoll und glück-
verheissend angesehen. Daher das Sprichwort: ,Salz auf die
Wunde' 4 so viel bedeutet als: abgethan,nichts weiter davon! Ganz
in demselben Sinne sagt 'Izzet Mollä, der türkische Dichter:
Auf die Wunden unsrer Herzen
lass der Heilung Salz uns thun!
Zum Geschicke sprachen beide
wir sodann: was weiter nun! 5
Ein Schöngeist, der-unter des Chalifen Harun Rashyd Re
gierung zu Bagdad lebte, wollte zum Beschneidungsfeste eines
Sohnes des ersten Ministers Jab ja Ibn Chälid, des Barmakiden,
demselben, wie üblich, ein Festgeschenk machen, um in die
Reihe Jener aufgenommen zu werden, die mit Gegengeschenken
beglückt werden sollten. Der arme Literat hatte wenig Geld
1 Herbelot: Bibliotheque Orientale.
2 Sa'räny: Madärig olsälikyn S. 11.
3 Freytag: llaidäny II, 696, Nr. 358. 1 1. 1. II, 737.
6 Mihneti-Kesän, S. 149, Z. 14 (Ausgabe von Constantinopel, vom Jahre
1269. Der Text lautet: bäsub järahmizek zehir u nemek dedik görelim
neh eiler felek,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
25
und viel Witz. So half er sich auf folgende Weise: er über
sandte als Festgeschenk zwei Säckchen, das eine gefüllt mit
parfümirtem Salze (milh motajjab), das andere mit der wohl
riechenden Pflanze so'd (cyperus capitatus), die zur Räucherung
dient, und schrieb dazu: ,Wenn mir die Dinge nach Wunsch
gingen und der Brauch es zuliesse, und das Geschick mir ge
holfen hätte, Reichthümer zu erringen, — so hätte ich gewiss
es Allen zuvorgethan, die dir zu dienen erkennen als heilige
Schuld, — und ich hätte überholt alle Jene, die wetteifern um
deine Huld —- aber mir fehlt das Vermögen, es gleichzuthun
den Geldprotzen — und meine Lage hindert mich, den Reichen
zu trotzen. — So musste ich besorgen, dass das Blatt der Gnaden
gaben werde zusammengefaltet — bevor noch mein Name dort
ward eingeschaltet. — Da erlaube ich mir nun, Dir zu über
senden Salz, mit dessen Heil und Segen man sich zum Fest
mahl setzt — und so'd, 1 dessen Duft und Wohlgeruch nach
der Tafel kommt zuletzt/
Der Minister liess ihm die beiden Beutelchen, das eine
mit Gold, das andere mit Silber füllen. 2
Noch jetzt ist es in Kairo üblich, bei Beschneidungsfesten
händevoll grobkörniges Salz über die Zuschauermenge auszu
streuen: es soll dies Glück und Segen bedeuten. Am siebenten
Tage nach der Geburt eines Kindes ist Empfang bei der
Wöchnerin und grosse Festlichkeit, wobei die Woknräume mit
Salz bestreut werden, als Schutzmittel für Mutter und Kind. 3
Ebenso wird bei Hochzeiten der Braut, um sie gegen den
bösen Blick zu feien, Salz gestreut. 4 Ebenso ist es ägyptischer
Volksbrauch, ein Kind, das, wie man meint, in Folge der Be
hexung durch einen Dämon (ginny) erkrankt ist, Salz lecken
zu lassen, und es damit zu beräuchern. So ist es auch volks
tümliche Sitte, wenn eine Frau durch einen Dämon mit Un
fruchtbarkeit geschlagen ward, ihr einen Talisman schreiben
zu lassen und Salz unter ihrer Thiirsch welle einzugraben. 5
1 So'd ist auch ein Wortspiel mit Sa'd: Glück.
2 Gorar olchasäi's etc. Kairo 1284. S. 448, Cap. XV, Abschnitt 2.
3 Lane: Manners and customs etc. II, Cap. XIV, S. 277.
4 Kremer: Aegypten I, S. 59.
5 Kitäb olharf lilhakym Hamas, Lithographirte Ausgabe von Kairo,
S. 11, 17.
26
III. Abhandlung: v. Krem er.
In alter Zeit muss aber das Salz in vielen Ländern als
kostbarer, t-b eurer Stoff gegolten haben, den nur der Reiche
sich verschaffen konnte. Professor Reinisch fand auf seinen
Reisen in Nordostafrika, dass man in Barka es als kostbare
Leckerei betrachtete. In Abessynien vertreten Salzstücke in
Form von Schleifsteinen das baare Geld, und der Werth steigt,
je weiter man sich von der Seeküste entfernt. 1 Bei dem Saho-
volke kann nur der Reiche den Salzgenuss sich gestatten.' 2
Ein bezeichnendes Saho-Sprichwort lautet: ,Das schönste Holz
ist die Flinte, der schönste Stein das Salz, die schönste Sprache
der Koran/ 3 In Barka bereitete der dortige Dorfscheich für
Professor Reinisch und Gattin Kaffee mit Salz, obgleich er
Zucker hatte, und er meinte, hiemit den Gästen etwas be
sonders Köstliches vorzusetzen.
Aus demselben Grunde vergleicht der Araber edle, hoch
geehrte Personen mit dem Salze: die Häschimiden, als Ver
wandte des Propheten, werden schon in alter Zeit ,das Salz
der Erde, die Sahne des Adels, der Panzer des Religions
gesetzes' genannt. 1 Das will sagen: sie sind das Beste der
Erde, die oberste Schichte der adeligen Geschlechter und die
berufenen Beschützer des religiösen Gesetzes.
Ein ziemlich neuer ägyptischer Schriftsteller (Sha'rany,
y 973 H. — 1565—1566 Ch.) nennt die Theologen ,das Salz
der Erde', setzt aber boshafter Weise hinzu, nichts tauge das
Salz, wenn es taub geworden sei. 5
Wir haben schon früher gelesen, wie der gemeinsame Ge
nuss des Brotes unter der ersten christlichen Gemeinde die Ver
brüderung Aller bedeutete, wie dies im Morgenlande wohl schon
seit den ältesten Zeiten volksthümliche Sitte war. Salz und Brot
mit einander essen hatte also seine eigene Bedeutung: zwischen
solchen, die es zusammen verzehrt, war, wenigstens für ge
raume Zeit, jede feindselige Handlung ausgeschlossen; desshalb
1 Auch Marco Polo berichtet von einer Provinz China’s, wo man ein Ge
wicht Gold in kleine Münze in Form des Salzes umwechselte. Hehn:
Das Salz, S. 71.
2 Reinisch: Die Saho-Spraehe I. Wien 1889, I, S. 302.
3 1. 1. 289.
4 Ta'äliby: Al’ygäz wal’i'gaz, S. 30; Constant. 1301, Gawäib-Druckerei.
5 Kremer: Geschichte der herrschenden Ideen des Islams. S. 439, Note.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
27
schwor man, wenn jedes Misstrauen beseitigt werden sollte,
,bei Brot und Salz'. 1 Oder der Eine fordert den Andern auf,
gemeinsam Brot und Salz zu verzehren; denn Gott sucht den
heim, der am Salze zum Verräther wird. 2
Nach Beduinensitte tritt Jener, der mit dem Hausherrn
zusammen speist, und wäre es auch nur ein Stückchen Brot,
zu seinem Gastfreund in das Schutzverhältniss. So heisst es
im 'Antar-Roman: 3 er und seine Leute vermengten sich mit
dem (fremden) Volke und zehrten von ihrer Speise; so ent
stand zwischen ihnen das Schutzverhältniss (wachtalata howa
wa ’ashäboho bilkaumi wa ’akalü-lta'äma wahtakama bainahom
aldimäm).
Derselbe Gedanke kommt zum Ausdruck in der russischen
Volkssitte, dem Zaren, wenn er eine Stadt betritt, Brot und
Salz darzubieten.
Auch Brot allein zusammen verzehrt zu haben genügte,
um jede feindliche Handlung der Tischgenossen aüszuschliessen.
Bei den Saho ist die sprichwörtliche Redensart, um die Fehde
zu erklären: Ich und du werden kein Brot mehr zusammen
essen; bist du nicht mein Feind?! 4 Geradeso war es ein all
gemein üblicher Gedanke im griechischen Alterthum: Wie sollte
der unser Freund sein, der nie bei uns gegessen noch ge
trunken hat? 5
Bis in unsere Tage hat diese uralte Sitte ihre Kraft nicht
verloren: ,Wir haben Salz zusammen gegessen (nahno mälihyn)'
bedeutet so viel als: wir haben Freundschaft geschlossen, oder,
um uns einer deutschen Redensart zu bedienen, ,Wir haben
Bruderschaft getrunken.“
Nicht leicht gibt es bei den Arabern einen böseren
Schimpf, als Einem zu sagen: Du bist ein Salzmissbraucher! 6
Mag die Wichtigkeit des Salzes im arabischen Volksleben
noch so gross sein, dennoch würde man fehl gehen, wenn man
1 1001 Nacht, Habicht, V, 274.
2 1. 1. S. 273.
3 'Antar, Ausgabe von Beirut, I, 56.
4 Reinisch: Saho-Sprache I, 279.
5 Lucian: Parasita, XLVIII, 22.
6 R. Burton: Pilgrimage to El-Medinah and Mekkah. III, 84. 115. Vgl.
Doughty: Arabia Des. I. 228, 254, 276, 522, 569; II, 336, 364, 498, 513.
III. Abhandlung: v. Krem er.
28
daraus sckliessen wollte, dass die Araber es seit unvordenk
lichen Zeiten gekannt hätten. Es scheint im Gegentheil, dass
sie es erst ziemlich spät, gewiss viel später als die anderen
asiatischen Culturvölker, kennen gelernt haben. Die Vermittler
hiebei waren die mit Arabien in Verkehr stehenden Nachbar
völker.
Aber gewiss bedeutet für die Araber die Einführung des
Salzes und die Gewöhnung an den Gebrauch desselben den
Eintritt in eine neue, höhere Periode der Cultur. Dass die
Epoche der Unkenntniss des Salzes, die allerdings weit zurück
liegen mag, für den Araber nicht so entfernt ist wie für andere
Völker, das zeigt sich aus der Thatsache, dass manche Beduinen
stämme noch bis in unsere Zeiten vom Salz nichts wissen. 1
Es ist dies durchaus nicht so überraschend. Auch die
Arier der ältesten Zeit scheinen das Salz noch nicht gekannt
zu haben; denn es wird im ßigveda nirgends genannt; es
kommt erst im Atharvaveda (7, 76) vor (lavana). 2
Schon früher haben wir die Stelle der Odyssee angeführt,
wo von Menschen die Rede ist, die das Salz nicht kennen. Aber
noch wichtiger ist das Zeugniss des phönicischen Geschicht
schreibers Sanclmniathon, das bei Eusebius erhalten ist. Der
gelehrte Phönicier zählt in seiner Kosmogonie eine Reihenfolge
von Entwicklungsstufen des Menschengeschlechtes auf, welches
von Generation zu Generation zu immer höherer Cultur sich
emporschwingt und jeder Fortschritt wird an die Namen
mythischer Heroen geknüpft; so lehrten Amynos und Magos
die Menschen Dörfer bewohnen und Heerden halten; von
diesen wurden gezeugt Misor und Sydyk, und diese entdeckten
den Gebrauch des Salzes. Von Misor aber stammte Taautos,
welcher die schriftliche Bezeichnung der Sprachlaute (die
Schrift) erfand. 3
1 A. v. Wrede: Heise in Hadhramaut etc., herausgegeben von Maltzan.
Braunschweig 1873, S. 94.
2 Zimmer, Altindisches Leben. Berlin 1879, S. 54.
3 Eusebii Praeparatio evang. ed. Th. Gaisford. Oxford 1843, vol. I, S. 79
(p. 36). Dass dieser Taautos des gelehrten Phöniciers identisch mit dem
ägyptischen Toth, dem Hermes Trismegistos ist, verstellt sich von selbst,
ebenso wie, dass es sich um die ägyptische Hieroglyphenschrift handelt,
aus welcher die Phönicier ihr Alphabet ableiteten. Vgl. G. Maspero,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
29
Also unmittelbar auf die Ansiedlung in festen Wohnsitzen
lässt er die Entdeckung des Gebrauchs des Salzes und auf
diese die Erfindung der Schrift folgen.
Hirten und Jägerstämme nähren sich von Milch und
Fleisch und haben kein besonderes Bedürfniss nach Salz, denn
ihre gewöhnliche Nahrung führt ihnen Alkalien in genügender
Menge zu; anders verhält es sich mit dem Ackerbauer und
Landmann, bei dem die Pflanzenkost vorwiegt, welche dem
Körper nicht die zu seinem Wohlergehen erforderliche Salz
menge liefert. 1 Mit dem Uebergange vom unstäten, nomadischen
Leben zum sesshaften, zur Beschäftigung mit dem Ackerbau,
musste demnach das Salzbedürfniss von selbst sich fühlbar
machen. Man kann also mit vollem Recht das Auftreten des
Salzes als bezeichnend für einen wichtigen Culturfortschritt
der Menschen betrachten.
Nun war aber der grösste Theil der arabischen Halb
insel vorwiegend von Nomaden und Viehzüchtern bewohnt
und der Ackerbau konnte wegen Wassermangel nie recht in
diesem Lande gedeihen. Lange musste demnach das Salz
daselbst entbehrlich bleiben.
Ganz anders war es in den nördlichen Grenzländern, in
Syrien und Babylonien, wo von den frühesten Zeiten her der
Ackerbau die vorzüglichste, fast ausschliessliche Beschäftigung
des grössten Theiles der Bevölkerung war. Dort musste bald
das Salz den Menschen geradezu unentbehrlich werden. Denn
bei fortschreitender Cultur kann man ohne dasselbe nicht
leben. Schon Plinius sagt treffend: Ergo, Hercules, vita
humanior sine sale non quit degere, adeoque necessarium ele-
mentum est ut transierit intellectus ad voluptates animi quoque,
nimirum a sale appellantur. 2 An Gelegenheit sich diesen so
wichtigen Stoff zu verschaffen, fehlte es nicht.
Palästina enthält unerschöpfliche Mengen davon im
Todten Meere und an der Seeküste, sowie in der Wüste; in
Babylonien hat es nie daran gemangelt: die uralten Salzlagunen
Geschichte der morgenländ. Völker im Alterthum; deutsche Ausgabe
von Dr. R. Pietschmann. Leipzig 1877, S. 592.
1 M. J. Schleiden: Das Salz. Leipzig 1875, S. 7.
- Plin. Hist. Nat, XXXI, 88.
30
III. Abhandlung: v. Krem er.
bei Hyt reichen noch jetzt für alle Bedürfnisse aus; Bagdad
und Bassora werden von da aus mit ihrem Salzbedarfe ver
sorgt. ’
Diese Ackerhauländer waren also zugleich auch Salz
länder. Dass man in diesem Gebiete seit uralter Zeit die
Salzgewinnung betrieb und den Zwecken des Ackerbaues, der
Industrie und des häuslichen Lebens dienstbar machte, ist
nicht zu bezweifeln. Aber die Entdeckung des Salzes scheint
kein Verdienst der Semiten, sondern der Aegypter zu sein.
Ich will kein Gewicht darauf legen, dass der Name des
einen der beiden von Sanchuniathon genannten Entdecker des
Salzes, nämlich Misor (Mtaoip) an den alten hebräischen Landes
namen von Aegypten anklingt, aber wichtiger schon scheint
es mir, dass der ägyptische Name für Salz (mrh oder mlh) in
alle semitischen Sprachen übergegangen ist. Dies hätte nicht
geschehen können, wenn nicht die Sache selbst von dort wäre
entlehnt worden. Zwischen den Aegyptern und den Semiten
machten zweifellos schon in vorgeschichtlicher Zeit die Phönicier
die Vermittler. Sie waren die grossen Handels- und Cultur-
mäkler der alten Welt.
Das ägyptische Wort mrh oder mlh 2 im hebräisch-ara
mäischen melah erlitt bei der Uebernahme ins Arabische den
Lautgesetzen gemäss die Umgestaltung in milh. 3
Sobald dieses Wort als ein, wenn auch der Form nach,
ganz arabisches, aber ursprünglich aus fremdem Sprachschätze
entlehntes erkannt ist, erklären sich auch von selbst gewisse
anscheinende Widersprüche in den Bedeutungen, welche die
Lexicographen der Stammwurzel mlh und den davon abge
leiteten Wörtern beilegen.
Es lassen sich nämlich zwei ganz verschiedene Be
deutungen für das Wort milh nach weisen und zwar:
1. milh (echtarabisch) = lac.
II. milh (Lehnwort aus ägyptisch mlh) = sal.
1 Ritter: Erdkunde XI. West-Asien, S. 750.
2 Im Koptischen haben sich die Formen jaoAo , avcoAo salzen, salire,
salsugo u. s. w. erhalten. Hieher gehört auch die Form A\.ßpe<£i,
nitrum, bitumen, auf die mich Prof. Reinisch aufmerksam macht.
3 Olshausen: Lehrbuch der hebräischen Sprache. Braunschweig’ 1861, §. 86.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
31
Für die I. Bedeutung haben wir sehr gute Belege aus
altarabischen Quellen. Mobarrad gibt ausdrücklich hiefür die
Bedeutung: Milch (laban) oder auch im übertragenen Sinne:
Milch Verwandtschaft (ridä'); 1 hieran schliesst sich eine Anzahl
von abgeleiteten Wörtern, die hiemit begrifflich Zusammen
hängen, wie: malaha, Milch zu trinken geben; milh, Fett, wie
die jungen Thiere es ansetzen, die viel Milch trinken oder die
noch gesäugt werden; momallih, heisst ein solches fettes, junges
Kameel (gazur). Als Beweisstelle für die Bedeutung führt
Gauhary einen Vers des alten Dichters 'Onvah Ibn alward an,
der auch in der von Th. Nöldeke herausgegebenen Sammlung
der Gedichte desselben sich findet; 2 endlich ist noch anzuführen:
momälih, collactaneus und momälahah, Milchverwandtschaft.
Wir kommen zur Bedeutung II: milh (Fremdwort, entlehnt
aus dem Aegyptischen) = sal, Salz.
Hieraus entwickelte sich eine Reihe von begrifflich mit
dem Stammworte zusammenhängender Wortbildungen: malaha,
salzen, ebenso mallaha und ’amlaha, maloha, salzig sein, momä
lih, durch gemeinsamen Genuss von Salz verbündet, davon
momälahah u. s. w.
Von einer Anzahl von derselben Wurzel abgeleiteter
Wörter ist es schwer zu sagen, ob sie vom Stamme I oder II
gebildet worden sind. Ich führe nur beispielsweise einige hier
an: malyh, schön, malähah, Schönheit, ’amlah, weissgrau,
malha', das mittlere Rückenstück des Kameeles u. s. w. Näher
hierauf einzugehen wäre überflüssig und zwecklos.
Immerhin genügt die obige Zusammenstellung, um zu
beweisen, dass die älteste Bedeutung des arabischen Wortes
nicht Salz, sondern Milch ist; dass aber später, als das Fremd
wort milh = sal in Gebrauch gekommen war, man die Be
deutungen verwechselte, so dass man schliesslich nicht mehr
sicher war, ob momälaha Milch Verwandtschaft oder Salzver
brüderung bedeute. Für uns kann aber nach dem Gesagten
kein Zweifel bestehen, dass das erstere der Fall war. Hiefür
1 Kämil of El-Mubarrad ed. W. Wright. S. 284, Z. 6 ff.
2 Th. Nöldeke: Die Gedichte des 'Urwah ihn alward: Abhandlungen der
k. Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen, Bd. XI vom Jahre
32
TU. Abhandlung: v. Krem er.
sprechen auch die gesetzlichen Bestimmungen über die Milch
verwandtschaft , 1 die noch zu Beginn des Islams ihre volle
Kraft besassen. Aber ein und dasselbe Wort in ganz ver
schiedenen Bedeutungen fortzuführen, war selbst für die Araber
zu viel und so kam es, dass, je mehr das Salz bekannt ward,
man desto lieber das Wort milh ausschliesslich in diesem
Sinne gebrauchte und für Milch eine andere, unzweideutige
Bezeichnung, nämlich laban oder halyb wählte.
Den Zeitpunkt auch nur annähernd bestimmen zu wollen,
wann das Salz den Arabern bekannt geworden ist, wäre ein
vergebliches Bemühen. Zweifellos gab es eine lange andauernde
Zeit des Salzgenusses, jedoch nur in der Art, dass man salz
haltiges Wasser benützte. So befriedigte man das Bedürfnis»
nach Alkalien im höchsten Alterthume. Ein gutes Beispiel gibt
Diodor. 2 Er berichtet von den Heuschrecken fressenden Völkern
der afrikanischen Küste des Rothen Meeres, dass sie aus den
reichlichen Salzwasserlachen ihres Landes die Wanderheu
schrecken, die oft in dichten Haufen den Boden bedeckten,
begössen, so dass die ganze Masse davon durchtränkt werde.
Hiedurch werde nicht nur der Vorrath wohlschmeckender,
sondern auch vor Fäulniss geschützt und könne so durch
längere Zeit aufbewahrt werden. Ganz ebenso machen es
noch heutzutage die Stämme an der Bucht von Zula, wie
mir Professor Reinisch aus eigener Anschauung mittheilt.
Das Salz durch Verdunstung des Seewassers gewinnen
lernte man gewiss erst viel später, sowie auch die Benützung
des Steinsalzes.
In den Städten Nordarabiens war zur Zeit Mohammeds
das Salz natürlich schon längst bekannt. Ein Dichter vergleicht
sein Schwert mit dem Salze, so blank und glänzend ist es;
der Prophet wendet schon Salz mit Wasser zur Entfernung
von Unreinigkeit an. 3
In den festen An Siedlungen fand es wie begreiflich mehr
Eingang als bei den wandernden Stämmen der Wüste. Aber
1 Vgl. Kremer: Geschichte der herrschenden Ideen des Islams, S. 350.
Mowatta’: Kiiab olrhjä'.
2 Diod. Sic. III, 29; Strabo XVI, 4, 12 (772).
3 Ihn Hisäm, S. 554, 768. Ob an der zuerst angeführten Stelle nicht
etwa Milch statt Salz zu übersetzen sei, ist nicht sicher.
Studien zm vergleichenden Culturgeschichte.
33
nicht unwahrscheinlich ist es, dass Salz und Brot zwischen
denen ein gewisser, innerer Zusammenhang besteht, in nicht
zu weit von einander entfernten Zeiträumen nach Arabien
gekommen seien, als Begleiter einer neuen Epoche, nämlich
der des Ackerbaues und des sesshaften Lebens.
Dass dem wirklich so sei, zeigt die vergleichende Cultur
geschichte. Die Zeit vor dem Salz ist überall die des unstäten
Hirtenlebens.
Ein gutes Beispiel hieftir bietet Indien, wo im höchsten
Alterthum, in der Zeit des Rigveda, die Viehzucht, welche
zum Theile sogar auf nomadische Lebensweise deutet, ent
schieden hervortritt gegen den Ackerbau. Hauptnahrungsmittel
für Jung und Alt war damals Milch. 1 Das ist zugleich die
Zeit, wo auch dort wahrscheinlich das Salz unbekannt war.
Desshalb durfte auch bei den Opfern kein Salz gebraucht
werden. 2
Auch das griechische Alterthum bietet hiezu eine über
raschende Parallele. Homer, der nur selten anderer Opfer als
solcher von Thieren Erwähnung thut, nennt dabei nie das Salz,
und es scheint demnach, dass Athenaeus gut unterrichtet war,
wenn er, die Worte eines alten Gewährsmannes anführend,
erzählt, dass man, im Andenken an die Vorzeit, das Ein
geweide der Opferthiere verbrenne, ohne Salz beizufügen,
da dieses zu solchem Gebrauche noch nicht erfunden war: als
aber später das Salz den Menschen zu ihrer Speise gefiel, da
blieben sie doch in der Art des Opferns bei der (alten) väter
lichen Sitte. 3
Es ist dies ein weiterer Fall von Atavismus; denn die
Nichtbenutzung des Salzes bei dem Verbrennen der Eingeweide
der Opferthiere zeigt, dass man dabei den alten, von den Vor
fahren überkommenen Brauch festhielt, der aus der Zeit vor
Entdeckung des Salzes stammte.
Wenn nun aber schon bei den Griechen die Erinnerung
an die Zeit vor dem Salze so frisch sich erhalten hatte, und
1 Zimmer: AHindisches Leben, S. 268 ff.
2 Äpastamba-Dharma Sütra II, 15, 15. The Sacred Books of the East
ed. M. Müller II, p. 137, nach freundlicher Mittheilung meines ver
ehrten akademischen Collegen, Hofratlies Prof. G. Buhler.
3 Athenaeus: Deipnosopli. XIV, (23) 661.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. OXS. Bd. 3. Abh. 3
?> 4
T1T. Abhandlung: v. Krem er.
demnach nicht gar so weit vor die Anfänge der griechischen
Geschichte zurückverlegt werden darf, so wird sie wohl bei
den Arabern, die docli in Allem den civilisirten Nachbarvölkern
erst so spät nachfolgten, keineswegs in eine allzuferne Vorzeit
gesetzt werden dürfen. Das höher in der Cultur vorgeschrittene
Südarabien wird auch gewiss durch den Handelsverkehr mit
den Fremden weit früher in die feineren Genüsse des Lebens
eingeführt worden sein, als das Binnenland mit seinen norna-
disirenden Hirtenstämmen, von denen manche zur Zeit des
arabischen Propheten von Brot und Salz wenig gewusst
haben dürften, und manche auch heutigen Tages noch nichts
wissen.
Bedenkt man noch, dass bei den Alten nicht Salz und
Fleisch, wohl aber Mehl und Salz, Brot und Salz seit den
ältesten Zeiten, wo überhaupt letzteres bekannt ist, mit einander
genannt zu werden pflegen, ja sogar bei den Schriftstellern,
Dichtern und Prosaikern geradezu als geflügeltes Wort ge
braucht werden, so wird man kaum daran zweifeln können,
dass beide zusammen als die bezeichnenden Merkmale des Be
ginnes einer wichtigen Epoche in der Geschichte der mensch
lichen Cultur und der fortschreitenden Gesittung angesehen
werden müssen.
Dass für die Araber diese neue Zeit später anbrach als für
die anderen Völker des Alterthums, ergibt sich aus der vorher
gehenden Untersuchung. Sie erscheinen als das letzte semi
tische Volk des alten Orientes; sie treten in die Geschichte
ein, als die anderen schon im Abstei'ben begi-iffen waren, sie
en-eichen ihre höchste Blüte, als die anderen längst ver
schwunden sind, und sie leben nun, seitdem ihre grosse, ge
schichtliche Rolle zu Ende ist, wie vor Jahrtausenden, ab
geschlossen in ihren Wüsten, wo das patriarchalische Leben
der biblischen Zeiten unverändert bis auf den heutigen Tag in
ursprünglicher Reinheit sich erhalten hat; allerdings zugleich
axxch die alte Wildheit und Zügellosigkeit des voi'geschicht-
lichen Menschen.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
35
IT.
Blut und Seele.
Wenn schon nacli uraltem Brauche der gemeinsame Ge
nuss von Salz und Brot eine Verbrüderung zur Folge hatte,
wodurch zwischen den Theilnehmern die Sicherheit des Lebens
verbürgt ward, so kennen die Semiten und mit ihnen die alten
Araber, sowie noch viele Völker der verschiedensten Rassen
eine andere heilige und bindende, aber auch ältere und rohere
Art der Verbrüderung: es ist dies der Blutbund.
So soll nach alten Sagen ein Schutz- und Trutzbündniss
zwischen mehreren Stämmen Nordarabiens ('Abd aldär, Mach-
zum, 'Ady, Sahm, Gomah) in folgender Weise abgeschlossen
worden sein. Sie schlachteten alle zusammen, und vermuthlich
an heiliger Stätte, ein Kameel, tauchten zusammen ihre Hände
in das warme Blut und leckten es ab. Daher erhielten sie
den Beinamen: Blutlecker (la'akat oldam). 1 Diese Sitte scheint
allgemein gegolten zu haben; denn die in alter Zeit übliche
Redensart für den Abschluss eines Bündnisses oder für Leistung
eines bindenden Eides war: .Einen Eid eintauchend 2 Dass
dieser Eid für besonders heilig galt, dass er mit dem Cultus
der Götter in Zusammenhang stand, geht daraus hervor, dass
Mohammed diese Form der Eidesleistung auf das Strengste
seinen Anhängern verbot und als grosse Sünde bezeichnete,
indem er sagte: ,Die schweren Sünden sind folgende: die Viel
götterei, Verabsäumung der Pflichten gegen die Eltern, Mord
und der Bluteid (aljamyn olghamus)/ 3
Ein gutes Beispiel bietet die Sage von der Rache des
Higris:
Zwischen den Stämmen Bakr und Taghlib herrschte eine
lange, hartnäckige Fehde; der letzte Mann, der fiel, war Gassäs,
welcher von Kolaib meuchlings getödtet ward, obgleich er sein
Schwager war; denn seine Schwester war des Erstefen Gattin.
1 Ibn HisAm ed. Wüstenfeld, p. 125. Kämus sub voce la/k.
2 Gamasa halifan. Bochäry: Kitäbo ’ahädyt il’anbijä’, Cap. higrat olnabijji.
Vgl. Lexica, die natürlich das Wort falsch erklären, da sie von der
Bedeutung dieses Eides keine Vorstellung hatten.
3 Bochäry: Kitäb orajmäni walnoduri: Cap. bäb oljamyn ilgamus.
3*
36
III. Abhandlung: v. Krem er.
Endlich gelangte die Fehde zum Abschluss durch ein Ueber-
einkommen zwischen den beiden Stämmen, nachdem sie gegen
seitig nahezu sich aufgerieben hatten. Die Witwe des Gassas,
die eines Söhnleins genas, lebte bei ihrem Bruder Kolaib, der
den Sohn seiner Schwester, Higris, wie sein eigenes Kind hielt,
und, als er herangewachsen war, ihm seine Tochter zur Frau
gab. Durch Zufall erfährt Higris, wie sein Vater Gassas durch
die Hand seines Oheims Kolaib gefallen war. Das machte
solchen Eindruck auf ihn, dass sich sein ganzes Verhalten
änderte. Seine Frau merkte dies und setzte Kolaib, ihren
Vater, in Ivenntniss. Dieser besorgte sofort, dass Higris, sein
Schwiegersohn auf Blutrache sinne. Er liess ihn rufen und
sprach zu ihm: ,Du bist fürwahr mein Kind, und du weisst,
wie sehr ich dich liebe; meine Tochter habe ich dir zum Weibe
gegeben, und so lebst du nun mit uns als einer der Unsrigen;
die Blutfehde um deinen Vater hat lange genug gedauert, so dass
wir uns gegenseitig fast ausgerottet hatten; endlich schlossen
wir Frieden. Ich halte nun dafür, dass du ebenso wie alle an
deren Stammesangehörigen den Frieden anerkennst, und dir
bereitwillig dieselben Pflichten auferlegen lassest, wie wir sie
für unser Volk übernommen haben/ Higris erklärte sich bereit
und verlangte nur, dass er standesgemäss vor dem versammelten
Volke erscheinen dürfe, vollständig gewappnet, im Panzer und
zu Rosse. Kolaib willigte ein, liess das Pferd vorführen und gab
ihm Panzer, Schwert und Lanze. Dann gingen sie in die Volks
versammlung, wo Higris den Eid leisten sollte. Schon brachte
man in einem Gefässe das Blut (um zum Schwur die Hände
einzutauchen), da fasste Higris die Lanze und durchbohrte
Kolaib, seinen Oheim und Schwiegervater, und rächte so an
ihm seinen Vater. 1
Man sieht, dass auch hier das Blut dazu dienen soll den
Schwur zu besiegeln und demselben eine höhere Weihe zu
ertheilen. Dieses Blut war das eines Opferthieres, das man
den Göttern schlachtete, die somit gewissermassen eingeladen
wurden als Zeugen dem Abschlüsse des Bündnisses anzu
wohnen.
1 Agfiny IV, 151. Caussin de Perceval: Essai sur l’histoire des Arabes
avant rislamisme II 7 p. 276. 277.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
37
Diese Sitte ist uralt bei den Arabern, denn tausend Jahre
ungefähr vor der Zeit, aus der die obige Erzählung stammt,
berichtet Herodot von dem blutigen Verfahren der Araber bei
ihren Bündnissen, wie folgt: ,Wenn zwei Leute ein Bündniss
eingehen wollen, so ist es ihr Brauch, dass ein Mann (wohl
der Priester), der zwischen den beiden steht, mit einem
scharfen Stein die innere Handfläche eines jeden der beiden
Betheiligten am Daumen aufritzt; dann reisst er aus dem
Kleide eines jeden ein Flöckchen (Wolle) heraus, beschmiert
hiemit und mit dem Blute sieben in der Mitte liegende Steine
und ruft dabei Bacchus und Urania an. Ist dies geschehen, so
empfiehlt der Vertragschliesser seinen Freunden jenen Gast
freund oder jenen Bürger, wenn er mit einem solchen den
Bund geschlossen hat und die Freunde halten sich nun auch
verpflichtet die (eingegangenen) Versprechungen einzulösen. 1
Es braucht nicht besonders hervorgehoben zu werden,
dass die alte Sitte roher als die spätere war, indem wirkliches
Menschenblut zum Vertragsabschlüsse gefordert ward. Später
begnügte man sich mit dem Blut des Opferthieres.
Nach dem Gesagten wird man es ganz gut verstehen,
wesshalb der arabische Prophet, dem einer seiner Anhänger
das Blut aus der Wunde gesaugt hatte, zu diesem spricht:
Wahrlich, wer mein Blut mit dem seinen vermischt hat, der
bleibt unberührt vom Feuer der Hölle!' 2
Das Blut des Propheten hatte jenen geheiligt, sie waren
Blutsverwandte geworden, einer hatte für den andern einzu-
stehen und der Prophet wollte desshalb auch eintreten für ihn
am Tage des Gerichtes.
Auch bei andern Völkern des Alterthums rindet sich
Aehnliches. So soll schon Catilina durch gemeinsamen Genuss
von Menschenblut die Mitverschworenen unlösbar an sich zu
fesseln versucht haben. 3
Bei den griechischen Vertragseiden kam es vor, dass die
Schwörenden ihre Hände und Waffen in das Blut der Opfer-
thiere tauchten. 4 Auf dem Rückzuge der Zehntausend schwören
1 Herodot III, 8.
2 Ibn HiSäm ed. Wüstenfeld, S. 572.
3 Sallust: Catilina XXII. Erwiesen ist die Thatsache nicht.
4 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 220.
38
III. Abhandlung: v. Krem er.
die Griechen und die Barbaren (Perser) sich 1 reue und es
werden zu diesem Zwecke ein Eber, ein Stier, ein Wolf und
ein Widder als Opfer über einem Schilde geschlachtet, (das
Blut aufgefangen) und die Griechen tauchen ihre Schwerter,
die Barbaren ihre Lanzen ein. 1
Bei den Armeniern und kleinasiatischen Iberern fand der
Blutbund ganz wie bei den Arabern durch Aufritzen der
Daumen, dann aber durch gegenseitiges Auflecken des Blutes
statt, 2 und in ganz ähnlicher Weise bei den Medern, Lydiern
und Scythen. 3 Bei allen bestand das Wesentliche in dem Blut
austausche. Ganz ähnliche Beobachtungen machen wir bei den
turko-tartarischen Völkern. Als religiöse Betheuerung oder Be
kräftigung irgend eines Gelübdes, eines gegebenen Wortes oder
eines feierlichen Uebereinkommens konnte der regelrechte
Schwur nur zugleich mit einem Opfer vollzogen werden,
wobei die Schwörenden durch einen Trunk Blutes von dem
geschlachteten Opferthier auf feierliche Art sich verbanden:
oder die Schwörenden öffneten sich eine Ader, Hessen das
Blut in ein Gefäss fliessen und tranken davon. Schwören
heisst daher im Türkischen ,and itschmelri Segen trinken oder
richtiger ,Opfer trinken'. Auch im Neupersischen sagt man für
schwören ,sökend clmrden 1 : einen Schwur essen (trinken).
Derselbe Brauch hat sich bei den Magyaren lange erhalten
und die alten, ungarischen Chroniken berichten von der Sitte
des Oeffnens der Armader und des gemeinsamen Bluttrunkes. 4
Auch im Innern von Afrika kommt derselbe Brauch vor.
So erzählt Stanley von einem Bündnisse: ,after making marks
in each others arms and exchanging blood, there was a treaty
of peace as firm, I thought, as any treaty of peace made in
t 5
In Ost- und Centralafrika ist dies allgemein üblich. Bei
einzelnen Stämmen ist auch der Namensaustausch hiemit ver
bunden. Selbst auf Madagascar ist diese Sitte des Blut-
1 Xenophon: Anabasis II, 2, 0.
2 Tacitus: Annal. XII, 47.
3 Herodot I, 74; IV, 70. Lucian, Toxaris 37. Valerius Max. IX, 11, extr. 3.
4 H. Vamb^ry: Die primitive Cultur des turko-tatarischen Volkes. Leipzig
1879. S. 252.
5 Proceedjngs of the R, Geogr, Sqc, vol, XXII, S. 151,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
39
bundes in voller Uebung, obgleich die Bevölkerung anderen
Stammes ist, als die Bewohner des Festlandes. Aber auch bei
den germanischen Völkern sind Spuren davon zu erkennen;
bei den alten Hibernern ist der Blutaustausch bei Bündnissen
gleichfalls geschichtlich verbürgt. 1
An eine Entlehnung ist bei einer Sitte, die bei so ver
schiedenen Völkern herrscht, welche gar keine Berührung mit
einander haben konnten, gewiss nicht zu denken. Es muss
also eine logische Gedankenverkettung sein, die hiezu den
Anstoss gab. Sie muss aus den gleichen Eindrücken, den
gleichen Sinneswahrnehmungen des Naturlebens der wilden
Völker im Zustande der ältesten, menschlichen Gesellschaft
von selbst sich ergeben haben.
Auch dem rohen Wilden konnte es nicht entgehen, dass
das Blut der eigentliche Lebenssaft ist, dass mit dem Blut
auch das Leben aus der Wunde strömt. Sein Blut musste
ihm desshalb als das kostbarste Besitzthum erscheinen, es
war ihm ein Schatz, den er eifersüchtig hütete und nicht
leichthin verschenkte.
Auf einen solchen Gedankengang deutet es zweifellos,
wenn wir bei einem alten, arabischen Schriftsteller lesen:
,es floss seine Seele (aus der Wunde) 1 statt: er starb. 2 Und
diese Auffassung ist uralt. Schon bei Aristoteles finden wir
die Ansicht eines alten Denkers (Kritias) erwähnt, der da
lehrte: ,Die Seele ist im Blute/ 3 ,Denn des Fleisches Leben
ist im Blute/ heisst es im Leviticus 17, 11.
Auch sonst gilt bei Griechen und Römern die Ansicht:
Das Blut ist der Sitz des Lebens. 1
1 Diese Daten gebe icli nach der Zusammenstellung bei J. Lippert, Der
Seeloneult. Berlin 1881, S. 61 ff. Hinsichtlich der Germanen, für die
Lippert keine Quelle anführt, kann ich nur auf den altnordischen Zieh
bruderbund verweisen, der auch mit dem Aufritzen der Hände und dem
Vermischen des Blutes vollzogen ward. Vgl. W.einhold: Altnordisches
Leben. Berlin 1856, S. 287.
2 Ibn Wädih ed. Houtsma TI, S. 212, Z. 2. Auch im Kämus und Sahäh
wird diese Redensart ausdrücklich angeführt, woraus man sieht, dass
sie sehr gebräuchlich war. Man sagte auch statt: salat nafsoho, fädat
n. oder auch fäzat n. Letzteres ist eine Verderbniss.
3 Aristoteles: De anima I, 2, 19.
4 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 218. Serv. ad Vergib Aeu. IX, 348.
40
III. Abhandlung: v. Krem er.
Lucanus sagt von dem schwerverwundeten Krieger:
Tum volnere multo
Effugientem animam lassos eollegit in artus. 1
Der Tod des Lacedämonier-Königs Agis in der Schlacht
gegen die Macedonier wird folgendermassen beschrieben: ....
donec lancea nudo pectori infixa est: qua ex vulnere evidsa,
inclinatum ac deficiens caput clypeo paulisper excepit, deinde,
linquente spiritu pariter ac sanguine, moribundus in arma
procubuit. 2
Also Blut, Seele, Leben sind Begriffe, die in frühester
Zeit sich decken. Und für diese Logik der Thatsachen bei
den Naturvölkern mag noch der Beweis hier beigebracht
werden, dass in der Sprache des von der Cultur ganz un
berührt gebliebenen Kunama-Volks in Nordostafrika, dasselbe
Wort sükä: Puls, Pulsschlag und Seele bedeutet. 3
Das ist also in der Tbat die allgemeine, auf der Natur
beobachtung beruhende Anschauung wilder Völker; eine Vor
stellung, die bis auf unsere Tage ihre Kraft nicht eingebüsst bat.
Es unterliegt nach dem Gesagten keinem Zweifel, dass
der Austausch von Blut der kräftigste Ausdruck unlösbarer
Verbindung sein musste, denn Jeder gibt mit seinem Blute
dem Andern einen Theil seines Selbst bin, beide treten in
Blutsgemeinschaft und werden biemit Brüder. Später trat an
die Stelle dieser ältesten Form, welche dem wilden Urzustände
angehört, eine mildere, nämlich das Menschenblut ward ersetzt
durch das des Opferthieres, in welches man die Hände tauchte,
das man aufleckte, oder womit man den Altar und die Theil-
nehmer an der Opferhandlung besprengte.
Diesen Verlauf der Dinge sehen wir sehr deutlich, wenn
wir den oben gegebenen Bericht Herodot’s über die Bundes
schliessung der alten Araber vergleichen mit den um ungefähr
tausend Jahre jüngeren Gebräuchen, wie sie von dem arabi
schen Schriftsteller geschildert werden. Bei dem alten Bundes-
schlusse fliesst Menschenblut; bei dem zweiten ist schon das
1 Pharsalia III, 622, 623. Vgl. Tacitus, Annal. XV, 40.
2 Q. Curtius Rufus VI, 2. lieber andere Beispiele wo cupa = anima,
Spiritus gebraucht wird, sehe man Henr. Stephanus: Thesaurus sub voce.
3 Jlach gütiger Mittheilung meines Freundes Prof, L. Reiniscb,
Studien zur vergleichenden Culturgeschicbte.
41
Blut des Opferthieres an dessen Stelle getreten. Wenn nun
aber solche Bräuche nach der Denkart und den Empfindungen
der wilden Menschen ihre volle Berechtigung hatten, sobald
es sich darum handelte, ein möglichst festes und dauerndes
Bündniss mit seinesgleichen abzuschliessen, um wie viel mehr
musste dies wohl begründet erscheinen, wenn es darauf ankam,
mit den Geistern der Abgeschiedenen oder gar mit den Göttern
selbst einen Bund einzugehen, zu dem Zwecke ihr Wohlwollen
oder ihren Schutz zu gewinnen und zu erhalten, oder sich
gegen ihren Zorn und ihre Rache zu sichern. 1
Desshalb finden wir die Menschenopfer bei den in der
Gesittung am meisten zurückgebliebenen Völkern sehr ver
breitet: man brachte menschliches Blut und Leben den Geistern
oder Göttern dar, als das Kostbarste, das man hatte. Erst
später tritt das Thieropfer auf und verdrängt erstere nur lang
sam. Auf einer noch höheren Stufe der Gesittung kommt das
Pflanzenopfer in Gebrauch.
Diese drei Perioden: 1. des Menschenopfers, 2. der Thier
opfer und 3. der vegetabilischen Opfer, bezeichnen ebenso
viele Stufen der Cultur: des ältesten, wilden Lebens der Ur
zeit, des Fortschrittes zum Hirtenleben und zur Viehzucht,
endlich des Ackerbaues und der festen Niederlassungen.
Jedoch dadurch, dass in Folge der Macht der Gewohn
heit manche Gebräuche der ältesten, rohesten Zeit bis in spätere
Epochen einer ziemlich hohen Cultur im Gebrauche sich be
haupteten, ist eine strenge Scheidung zwischen den einzelnen
Perioden nicht zu ziehen; so dass selbst in Zeiten, wo an die
Stelle der alten Wildheit schon längst der Ackerbau, das sess
hafte Leben und sogar die Entstehung der grossen Gemeinwesen
getreten war, noch immer gewisse Bräuche, Anschauungen und
Ceremonien, und besonders rituelle Verrichtungen von ganz
alter Barbarei lebendig sich erhielten oder doch in geschwächter,
gemilderter Form fortlebten.
Das merkwürdigste Beispiel solcher Atavismen finden wir,
um von Anderem vorläufig abzusehen, bei den Menschenopfern.
1 Als Alexander die illyrische Stadt Pelium angriff, opferten die Ein
wohner, um des Schutzes der Götter sich zu versichern, drei Knaben
und ebenso viele Mädchen, und noch dazu drei schwarze Widder. Arrian :
Anabasis I, 5.
42
III. Abhandlung: v. Krem er.
Man begegnet denselben bei einer grossen Anzahl von Völkern
theils bei Leichenbestattungen, theils bei dem Götterdienste.
Im alten Indien gibt es nach dem Opferritual fünf Opfer-
thierc, unter denen der Mensch an erster Stelle genannt wird.
Denn ganz im Sinne der wilden Völker wird der Mensch
keineswegs als ein von den Thieren verschiedenes Wesen an
gesehen. 1
Dass in der Urzeit Menschenopfer auch den semitischen
Völkern nicht fremd waren, ist zweifellos und liefern hiefür
die heiligen Schriften den Beweis. 2 Man erinnere sich des
phönicischen Molochdienstes, der auch auf Rhodus und Kreta
bestand und durch die Karthager nach Afrika kam; dann des
Baalcultus, der desshalb besonders merkwürdig ist, da die
Priester hiebei in eigenthümlicher Bewegung den Altar um
kreisten und, um der Gottheit die Erhörung der Bitten abzu
zwingen, hiebei mit Schwertern und Spiessen sich verwundeten.'*
Denn Menschenblut musste Hiessen, wenn die Götter günstig ge
stimmt werden sollten.
Bei den Griechen und Römern erhielten sich die Menschen
opfer bis in die Zeiten des Augustus und selbst noch etwas
später/ 1
Allerdings zeigte sich schon weit früher die Neigung zu
einer milderen Uebung. So lässt schon Euripides in seiner
Tragödie ,Iphigenia auf Tauris' die Athene hinsichtlich des alt
üblichen Menschenopfers anordnen, dass künftighin, wenn das
Volk zum Feste erscheint, ein Mann sich nur den Hals blutig
ritzen solle:
,Damit der Göttin hehrer Brauch in Ehren bleibt.“
5G'.ac, vaxtt Oiä 0’ 5mo; TijJiis syr,. 5
Und Lykurg verordnete, dass, um den Altar nach altem Brauch
mit Menschenblut zu besprengen, statt des Menschenopfers die
Epheben gegeisselt werden sollten, bis Blut fliesse. 6
1 Zimmer: Altindisches Leben. Berlin 1872, S. 72.
2 Genes. 22; Richter 11, 35.
3 Könige I, 18, 25.
4 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 222, 449.
5 Eurip. Iphig. auf Tauris v. 1440 ff.
6 Pausan. III, 16, 10.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
43
Bei Germanen und Galliern erhielten sieh die Menschen
opfer bis in die römische Kaiserzeit. 1
In Aegypten schaffte sie zu Anfang der XVIII. Dynastie
Amasis zu Heliopolis ab.- Auf königlichen Befehl blieben sic
verboten, obwohl sie nach Anderen noch länger fortbestanden, 3
Wenden wir uns nun wieder den Arabern zu. Sie hatten
gleichfalls diesen grausamen Brauch. In der ersten Hälfte des
5. christlichen Jahrhunderts brachen, wie ein syrischer Schrift
steller erzählt, 1 die Araber in das damals zum persischen Reiche
gehörige Euphratgebiet ein, wobei sie in Bcth-Hür der Göttin
Belti (Venus) oder Kaukabtä, welche die Araber Al'ozza nennen,
zahlreiche Knaben und Mädchen opferten. 5
Mondir, der Sohn des Imra’alkais, König von Hyrah,
opferte einen Sohn des Ghassanidenfürsten Härit der Aphro
dite (al'ozza); so berichtet wenigstens Procopius. 6 Derselbe
Fürst opferte dieser Göttin einmal vierhundert gefangene
Nonnen."
Auf Menschenopfer in Ilyrah deutet auch die Geschichte
des Königs Mondir Ibn mä’ilsama, der an seinem bösen Tage
einmal im Jahre den Nächstbesten, dem er begegnete, vor den
beiden Grabmonumenten, die unter dem Namen ,gharijjäni‘,
d. i. die beiden blutbeschmierten bekannt sind, tödten liess. 8
Nach dem Zeugnisse des Theodulus, des Sohnes des Nilus,
der um 400 Ch. gelebt haben soll, opferten die Araber des
Sinaigebietes das Beste der Beute dem Morgensterne, am lieb-
1 Tacitus, Germ. 39; Lucan. Pharsalia III, v. 403 ff.; Caesar: De bello
Gallieo VI, 16.
2 Nach Manetho: Porphyr, de abstin. II, 55.
3 Diod. I, 88; Plut. de Iside et Osir., Cap. 73.
4 Isaacus Antiochenus ed. Bickell. Giessen 1873, I, S. 220.
5 Prof. Th. Nöldeke, dein ich diese Mittheilung 1 verdanke, meint Betli-
Hür dürfte mit Teil Kür, bei Mokaddasy, S. 150, Z. 2 zu identificiren
sein, das zwei Tagreisen von Amid, entfernt ist.
6 Proc. de hello pers. II, 28, 4, dann auch Nöldeke, Geschichte der
Araber und Perser, S. 171.
7 Land: Anecd. III, 247; Nöldeke: Tabart: Geschichte der Araber und
Perser, S. 171 Note.
5 Agäny XIX, S. 88; Caussin de Perceval, Essai sur l’histoire des Arabes
avant lTslainisme. Paris 1847. II, 104.
44
III. Abhandlung: v. Krem er.
sten schöne Knaben, die sie auf zusammengeschichteten Stein
haufen hinschlachteten. 1
Aber sogar bis ins 6. Jahrhundert, ja bis in die Zeiten des
arabischen Propheten erhielten sich diese Reste alter Wildheit,
und Spuren davon lassen sich noch in der ersten Zeit des
Islams nachweisen. So linden wir in der ältesten Traditions
sammlung folgende Erzählung: Zu dem gelehrten 'Abdallah Ibn
'Abbäs kam einst ein Weib und theilte ihm mit, sie habe ein
Gelübde gethan, ihren Sohn als Opfer zu schlachten. Da ent
schied Jener wie folgt: ,Schlachte deinen Sohn nicht, sondern
leiste Busse für den Bruch deines Gelübdes.“ 2
Also ein Kindesopfer ganz im Sinne der alten Patriarchen
zeit. Mit Sicherheit geht daraus hervor, dass die Vorstellungen
des Heidenthums noch immer nicht ganz in Vergessenheit ge-
rathen waren. Auch in anderer Beziehung können solche
Nachwirkungen der alten Gewohnheiten noch deutlich erkannt
werden.
Die blutigen Opfer der heidnischen Zeit waren so sehr
zur Gewohnheit geworden; man konnte so wenig sich einen
Gottesdienst vorstellen, bei dem kein Blut flösse, dass man all-
mälig dieses als das Wesentliche, als die Hauptsache der
heiligen Handlung anzusehen sich gewöhnt hatte; dass man end
lich soweit ging, dem Blute eine heilige, weihende, sündentilgende,
reinigende Kraft zuzuschreiben. Die Griechen hatten ihre
blutigen Reinigungsopfer, und auch bei den Hebräern fehlten
sie nicht. 3
Die Araber schrieben dem Blute des Opferthieres eine
feiende, gegen Unheil schützende Wirkung zu. So war es vor
dem Auftreten des Islams Brauch, für einen Knaben, wenn
das erste Haupthaar geschoren ward, ein Lamm zu schlachten;
1 Wellhausen: Reste des arabischen Heidenthums. Berlin 1887, S. 37.
Vom Verbrennen des Opfers ist keine Rede, der Mangel an Brennstoff
macht es ohnehin höchst unwahrscheinlich. Man häufte wohl über dem
Leichnam Steine auf.
- Mowatta’: Kitäb olnoduri wal’ajmän.
3 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 327. Ueber die in der späteren
römischen Kaiserzeit üblich gewordenen Taurobolien, wo man mit Stier
blut von den Sünden sich rein zu waschen vermeinte, vgl. Boissier:
La religion romaine. Paris 1874. I, 412. Der orientalische Ursprung
der Taurobolien ist kaum zu bezweifeln.
Studien zur vergleichenden Culturgescliichte.
45
dieses Opfer hies 'akykah und mit dem Blute desselben ward
das Haupt des Kindes bestrichen. 1
Der Islam änderte nur wenig an diesem durchaus heid
nischen Gebrauche: man schlachtete das Lamm, wie früher,
schor das Haupt des Kindes und statt des Blutes bestrich
man es mit Saffran oder der rothen Chaluksalbe. 2 Mohammed
hatte nämlich im Gegensätze zum Heidenthum das Blut für
unrein erklärt. Gleichzeitig mit der Haarschur wurden auch
Almosen vertheilt und Fäjjmah, des Propheten Tochter, liess,
als sie für ihre Kinder das 'Akykah-Opfer darbrachte.Und ihre
Haare geschnitten wurden, diese abwägen und ihr Gewicht in
Silber als Almosen vertheilen. 3
Dieser Glaube an die wundervolle Kraft des Opferblutes
ist uralt. Nach der biblischen Sage besprengten die Hebräer
in Aegypten die Thürpfosten und Schwellen ihrer Wohnhäuser
mit dem Blute des Opferlammes, damit der Würgengel des
Herrn daran vorüberschreite. 1 Also auch hier schützt und
schirmt das Opferblut vor Unheil. 5
1 Es scheint, dass dieses Blut nicht abgewaschen, sondern als Zeichen
der erhaltenen Opferweihe und als Schutzmittel gegen schädliche Ein
flüsse unangetastet gelassen ward. Desshalb heisst es in einem alten
Gedichte:
O Hind! heirate nicht eine Vogelscheuche,
Einen, der vom 'Akykah-Opfer die Blutspur trägt, einen
Rothhaarigen!
^ JsJjb b\
' c s
L_._.
Vgl. Damyry: Hajät olhaiwän I, S. 183; sub voce |ü^j; dann Dywun
des Imra’ alkais ed. Ahlwardt, S. 115, III, v. 1; Ausgabe von Kairo
mit dem Commentar des Batlajusy, vom Jahre 1282, S. 162. Das Wort
'Akykah bezeichnet die erste Haarschur des Kindes. Robertson Smith
(Ivinship and Marriage in early Arabia, p. 154) geht zu weit, wenn er
in der 'Akykali-Ceremonie ,a renunciation of the original mother kinship 1
sehen will.
2 Sarh olmowatta’, Kairo II, 365; Cap. al'amal fyl'akykah.
3 1. 1. II, 263 Cap. mä ga’a fyl'akykah.
4 Exodus 12, 5 ff.
5 Auf einem Missverständnisse beruht es, wenn Prof. Robertson Smith
(Kinship and Marriage in early Arabia S. 153) von dem Besprengen der
Zelte des Heeres der Koraishiten mit Blut spricht und sich hiebei auf
ITT. Abhandlung: v. Kr cm er.
46
In Aegypten herrscht noch jetzt die Sitte, auf die Thore
und Aussenwände der Wohnhäuser in Henna (Lawsonia inermis)
eingetauchte Hände abzudrücken. Das Opferblut wird hier
durch die rothe Farbe der Hennapflanze ersetzt.
Von Musk Ihn Nosair, dem Statthalter Westafrika’s, dem
Besieger der Berberen und Begründer der arabischen Ober
herrschaft erzählt man, dass, als er mit seinem Heere auszog,
ein Vogel ihm zuflog; er fasste ihn, schlachtete ihn und be
schmierte sich mit seinem Blute, riss ihm die Federn aus und
warf ihn endlich rücklings Uber den Kopf, indem er ausrief:
Das ist der zweifellose Sieg. 1
Alle diese alten, abergläubischen Volksgewohnheiten sind
Vermächtnisse einer fernen Vorzeit, und selbst der Islam mit
all’ seiner Strenge vermochte es nicht, den Glauben daran zu
erschüttern. Bis auf unsere Tage bestehen sie in ungeschwächter
Kraft fort. Das 'Akykah-Opfer wird noch jetzt in Mekka
ebenso gefeiert wie vor anderthalb Jahrtausenden. 2 Noch immer
ist es Sitte in Higäz bei einem Neubau die Ecken des Gebäudes
mit dem Blute eines Opferthieres zu besprengen, angeblich
um die Erdgeister 3 (’ahl al’ard) zu versöhnen und zu ver
hindern, dass bei den Arbeiten ein Unglück geschehe.
Wäkidy S. 28 meiner Ausgabe, und Prof. Wellliausen’s Uebersetzung
(Mohammed in Medina, S. 42) bezieht. WelIhausen hat die Stelle miss
verstanden und schlecht übersetzt.: ,ein Karneol, dessen Blut lebendig
war 4 . Es ist von einem schlecht geschlachteten Kameel die Rede, das
noch so viel Lebenskraft hatte, dass es trotz des strömenden Blutes sich
losriss, im Lager herumrannte und die Zelte mit Blut beschmutzte.
Dem Vorfall wird eine unglückliche Bedeutung zugemessen. Auch bei
den Römern und Griechen galt es als unglückliches Omen, wenn das
Opferthier entfloh oder sich sträubte. Vgl. Sueton, Caesar 59; Galba 18.
Auch bei Pausanias finden sich diesbezügliche Stellen, die ich aber zu
notiren verabsäumte. Vgl. Schoemann, Griechische Altertliiimer 11,212.
— Ich lasse hier die oben citirte Stelle folgen (Wäkidy, Magäzy ed.
Krem er, S. 28, Z. 7): 33}^- .VjiKAJ ^1
1 Ihn 'Adäry, ed. Dozy I, S. 26.
2 Snouck-Hurgronje: Mekka II, S. 137, 329.
3 Es sind dies die genii loci der Griechen und Körner, denen gleichfalls
Opfer dargebracht wurden.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
47
Dasselbe pflegt man aus demselben Grande bei dem Graben
eines Brunnens zu tbun. 1
Eben weil man das Blut als das Kostbarste ansah, weil
man ihm eine weihende, heiligende Kraft zuschrieb, waren
alle Opfer des arabischen Heidenthums blutige und sind es
auch im Islam geblieben. In Arabien selbst haben die Sitten
und Vorstellungen des alten Heidenthums trotz des oberfläch
lichen mohammedanischen Firnisses fast ganz unverändert sich
erhalten und sind derlei Opfer so überaus häufig, dass die
Nomaden selten anderes Fleisch essen als solches von Opfer-
thieren.
Wird ein Knabe geboren, so opfert man ein Lamm;
kehren die Männer von einem glücklichen Beutezug zurück,
so empfangen die Frauen sie mit Gesang und Tanz, dann
wird ein Opferthier geschlachtet und die Beute, um sie zu
weihen, mit Blut beschmiert. Um die Gesundheit eines kranken
Kameeles zu erflehen, opfert man eine Ziege; als Dank für
die eigene Genesung opfert ein Anderer eine Gais; 2 ein reicher
Städter einen Stier. 3 Ein Beduine, der sich die Gesundheit seiner
Kameele sichern will, schlachtet ein Lamm, indem er ihm mit
dem Schwert die Kehle durchschneidet, fängt das strömende
Blut in einer Schale auf, geht damit zu jedem einzelnen Thier
seiner Heerde und bestreicht ihm Hals und Flanken mit Blut,
um es gegen Siechthum zu feien. 1 Aus demselben Glauben
an die heilvolle Wirkung des Blutes erklärt sich die noch jetzt
bestehende Gewohnheit, wenn man auf Wiistenreisen einen
Hammel schlachtet, dies am Eingang des Zeltes zu tliun und
die Kameele mit dem Blute zu bestreichen. 5 Befindet man
sich in Gefahr, so pflegt man für den Fall der Rettung das
Gelübde zu thun ein Opferthier zu schlachten. f > Das Fleisch
wird immer verzehrt. 7 Selbst um die Unfruchtbarkeit des
Bodens zu brechen, pflegen die Landleute ein Thier zu
1 Doughty: Travels in Arab. Des. I, 136, 452; II, 100, 198.
2 Douglity I, 452.
3 1. 1. II, 143. * 1. 1. I, 499.
ß Lady Anna Blunt: Voyage en Arabie. Paris, Haehette 1882. Chap. IX,
S. 213.
6 1. 1. Chap. V, S. 114; Chap. III, S. 62, 63.
7 Doughty, I, 452.
48
III. Abhandlung: v. Krem er.
schlachten und die Erde mit dem Blute zu besprengen, indem
man vermeint auf diese Art die Erdgeister (’ahl al’ard) zu
versöhnen. 1
Alles das ist unverkennbar heidnisch. Der Prophet ver
bot es ausdrücklich, den Geistern Opfer darzubringen und
Thiere zu schlachten, wie dies bei einem Neubau oder bei dem
Graben eines Brunnens üblich war, aber sein Verbot blieb
gänzlich wirkungslos. 2 Auch im klassischen Alterthum lassen
sich Spuren ähnlicher Ideen nachweisen. Wenn Hagel drohte,
opferte der Eine ein Lamm, der Andere ein junges Huhn, oder
wer zu arm war, ritzte sich den Finger auf und brachte mit
dem Blute eine Libation dar, worauf die Felder vom Unwetter
verschont blieben. 3
Vielleicht hängt mit diesem Glauben an die Wirksamkeit
des Blutes auch das ziemlich moderne arabische Sprichwort
zusammen: ,Von Blut ein Tropf lein roth vertreibt Sorge und
Noth. <4
Aber auch bei dem ostafrikanischen Bogosvolke findet
man den Glauben an die Macht und Wirksamkeit des Blutes,
und, um dies zu beweisen, gebe ich hier, nach einer Mittheilung
meines werthen Freundes, Prof. L. Reinisch, eine Schilderung
der Heiratsceremonie, die bei diesem christlichen Volke ohne
jede priesterliche Mitwirkung stattfindet.
Es wird eine ganz neue Hütte erbaut oder ein Zelt er
richtet und vor dem Eingänge eine Grube von ungefähr einem
bis zwei Fuss Tiefe ausgegraben. Kommt nun die Braut, so
1 Douglity I, 136.
2 Ich lasse hier eine merkwürdige Stelle aus einer Schrift des besten
Kenners des arabischen Alterthums, des Abu 'Obaidali (f um 200 H.)
folgen: ^ ^ "y J'yVlM SJ-yy* ^yy
^b3 o* y-Loy A-pji a.)J\
IfJ 3 Ly \ t • ,1
yJ ^X33 131 ^yjyjb AlbfcU-l \y3By A=rri3
.•. viXi 3 yX*oy JKiU ^ ie angeführte Stelle findet
sich bei Damyry, Hajät olhaiwän I, 241 sub roee: ginn, gegen Ende
dieses sehr langen Artikels.
3 Seneca: Quest. nat. IV, 6; Clemens Alex., Stromata VI, 31 ed. Dindorf,
Oxford 1860.
4 Noktat dam tofarrig ham. Freytag, Arab. Prov. III, S. 517, Nr. 3103.
Studien zur vergleichenden Culturgoscliichte.
49
wird sie über diese Grube ins Zelt getragen und quer vor dem
Eingang auf den Boden gelegt. Der Bräutigam aber tritt mit
einem Beitritte über sie in das Zelt. In demselben Augen
blicke, wo er dies thut, wird ein junger Stier geschlachtet,
indem mit einer breiten Lanzenspitze ihm die Halsschlagader
durchstochen und die Kehle geöffnet wird. Das Blut lässt man
in die Grube vor dem Eingang des Zeltes fliessen, gleichzeitig
jedoch wird mit grosser Schnelligkeit und Gewandtheit das
Hinterbein sammt der Keule abgetrennt und mit dem daraus
hervorspritzenden Blute gegen die Versammelten, sowie gegen
die Brautleute geschwungen, so dass sie alle mit dem Blute
besprengt werden.
Das ist der blutige Segen und die Weihe der Bogos, die
allen Betheiligten, den Gästen wie dem Brautpaare, zum Glück
und Heil gereichen soll. 1
Im europäischen Volksaberglauben des Mittelalters ver
langt der Teufel immer von Jenen, die sich ihm verschreiben,
die eigenhändige Unterschrift, aber nicht etwa mit Tinte,
sondern mit dem eigenen Blute: denn nur so hielt er die Ur
kunde für unanfechtbar. Also auch hier zeigt sich wieder der Ge
danke von der besonderen Bedeutung dieses kostbaren Saftes.
So spielen uralte Vorstellungen bis auf unsere Tage fort:
allerdings nur im Gebiete der Sage und der Volksmythe.
Doch sogar im christlichen Abendmahle ist dieselbe Idee zum
Ausdrucke gekommen; indem der Erlöser den Wein für sein
Blut erklärte und mit seinen Aposteln aus demselben Kelche
trinkt, geht er hiemit einen unlösbaren Blutbund mit ihnen ein,
ganz im Sinne der ältesten semitischen Volks Vorstellungen; nur
in einer dem damaligen höheren Stande der Gesittung ent
sprechenden, gemilderten Form, indem das Blut der Traube 2
das Blut des Menschen- oder Thieropfers ersetzt.
1 Auch die Araber schlachteten, so wie die Bogos, die Opferthiere mit
einer breiten Lanzenspitze, indem sie die Halsschlagader und die Kehle
durchstachen, damit das Blut reichlich herausströme. Dieses Oeffnen
der Kehle war auch bei den Griechen der allgemein herrschende Opfer
brauch. Pausan. Graec. descrip. VIII, 37, 8: Wellhausen in dem Buche:
Mohammed in Medina, S. 258, übersetzt irrthümlich das Wort: harbali
Lanze, mit ,Messer 4 und verwischt hiedurch das Charakteristische des
Vorganges.
2 Der Ausdruck ist echt semitisch.
Sitzungsber. d. phil.-Hist. CI. CXX. Bd. 3. Abh.
4
50
Ili. Abhandlung: v. Krem öl*.
Noch einen Umstand muss icli liier her Vorlieben, bevor
ich diese Gedankenreihe verlasse. Es ist dies die auffallende
Aehnliclikeit der Opferhandlung bei den verschiedenen alten
Völkern: eine Uebereinstimmung, die sich nur aus der allen
gemeinsamen Idee von der heiligenden Kraft des Blutes ge
nügend erklären lässt.
Bei den griechischen Opfern wurde das Blut um den
Altar herum ausgegossen; 1 offenbar als Spende für die Götter;
bei den Hebräern ward anlässlich des in feierlicher Weise
zwischen dem Volke und Jahve geschlossenen Bundes das Blut
der Opferthiere theils gegen den Altar hin, theils über das
Volk gesprengt; 2 bei ihren Opferfeierlichkeiten ward das Blut
gegen die Bundeslade gesprengt oder um die Hörner des Rauch
altares gestrichen und dann das Uebrige am Fusse des Brand
opferaltares ausgeschüttet.
Bei den alten Arabern ward es auf den Opferstein oder
auf das Idol gegossen; so heisst es in einem alten Gedichte
aus heidnischer Zeit:
Ich schwöre bei den Blutlachen (die) um (das Idol) 'Aud (stellen)
Und den Opfersteinon, die zurückgelassen wurden bei (dem Idol)
So'air. 3
Ein anderer alter Dichter schwört mit folgenden Worten:
Wohlan, bei den Blutströmen, welche du für 'andam hältst, 4
Auf dem Scheitel der (Göttin) Al'ozzä oder bei (dem Idol) Nasr. 0
Dass die Götter am Blute der Opfer Vergnügen haben,
ist eine uralte Vorstellung: bei den Griechen galt es für aus
gemacht, dass die Götter an dem Fettdampf der Opfer, der
mit dem Rauch zu ihnen aufsteigt, sich besonders ergötzen. 0
Der Gedanke, dass mit dem Blute, als dem eigentlichen Lebens
säfte, die Seele verbunden sei, führte unter vielen wilden
Völkern zu ganz ähnlichen Glaubensvorstellungen. 7
1 Schoemann: Griechische Alterthümer II, 213.
2 Exodus 24, 8.
3 Gauhary: Sahali, voce mwr.
4 *Andam ist eine roth färbende Pflanze: Drachenblut.
5 Gauhary: 8 ah äh, voce nsr.
6 Lucian: Icaromenippus XLVI.
7 Tylor: Die Anfänge der Cultur II, 383.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
51
Aber noch weit mehr als die Götter sind die Schatten
der Abgeschiedenen des Blutes bedürftig; denn, indem sie es
einschlürfen, erlangen sie wieder Lebenskraft und werden
wieder, wenn auch nur für kurze Zeit, des Genusses der
Lebenswonne theilhaftig. Desshalb sind sie so begierig darnach
und sehnen sich einen, wenn auch nur flüchtigen, Trunk zu
thun aus des Lebens schäumendem Becher. Dieser Gedanke
tritt mit vollster antiker Klarheit in der Odyssee hervor bei
der Schilderung von des Odysseus Höllenfahrt. Er gräbt, so
bald er den Hades betreten hat, eine Grube, in die er das
Blut der geschlachteten schwarzen Schafe und Widder fliessen
lässt, worauf sofort die Scharen der bleichen Schatten sich
herandrängen, begierig davon zu trinken. Aber er legt sein
blankes Schwert darüber und wehrt sie ab; denn er wartet
auf die Schattengestalt des Sehers Tiresias, den er um die Zu
kunft befragen will. Selbst den Schatten der eigenen Mutter
weist er zurück. Endlich erscheint Jener und verspricht Bede
und Antwort ihm zu geben, wenn er ihn trinken lasse. Da,
so erzählt Odysseus:
da wich ich zurück und das Schwort mit den silbernen
Buckeln
fuhr in die Scheide hinab; er trank von dem dunkelen Blute.
Nun erst, nachdem Tiresias ihm die Zukunft enthüllt hat,
lässt Odysseus das Schattenbild der eigenen Mutter von dem
Blute trinken, und diese erkennt auch nun erst ihren Sohn,
nachdem sie mit dem Trünke neue Lebenskraft in sich auf
genommen hat. 1
Dass man mit diesem so unersetzlichen Safte die Geister
und Götter gewinnen, ihre Gunst, ihr Wohlwollen, ihren Schutz
sich erwerben könne, ist eine weitverbreitete Idee. In Borneo
besteht bis in unsere Zeit die Sitte, wenn ein grosser Häupt
ling ein neues Haus bezieht, es mit Menschenblut einzuweihen,
indem man hiemit die Mauern und Pfeiler besprengt. Der
Zweck ist ganz derselbe wie bei den früher besprochenen
arabischen Thieropfern für die Erdgeister, nämlich die Absicht,
die Genien des Ortes zu besänftigen und zu gewinnen.
1 Odyssee XI, 25—153.
4*
52
III. Abhandlung: v. Krem er.
Der Glaube, dass man durch das Opfer eines Menschen
lebens den Bauwerken ewige Dauer verleihen könne, findet
sich über weite Länder verbreitet, und ganz verschiedene
Völker stimmen hierin überein. Er beruht ganz und gar auf
den oben gegebenen alten Vorstellungen.
So liess der Statthalter von Bassora, 'Obaidallah Ibn
Zijäd, 1 als er den unter dem Namen ,Das weisse Schloss* be
kannten Regierungspalast baute, einen Menschen unter einem
der Hauptpfeiler lebendig einmauern, eine Tliat, die nach
mohammedanischen Begriffen um so frevelhafter war, als das
Opfer selbst ein Mohammedaner und nicht einmal ein Sclave,
sondern ein freier Mann war. 2
Solche abergläubische Bräuche herrschten auch selbst
noch im christlichen Europa und der gelehrte Schriftsteller,
der diesen Thatsachen eine besondere Aufmerksamkeit gewidmet
hat, 3 versichert sogar, dass noch im Jahre 1843, als bei Halle
eine neue Brücke gebaut ward, sich im Volke die Ansicht
geltend machte, es müsse ein Kind in den Grundfesten ein
gemauert werden.
Leider gibt uns der geistreiche Culturhistoriker in diesem
Falle nicht die Quelle an, aus der er seine Nachricht geschöpft hat. 4
Immerhin genügt aber das eben Angeführte um deutlich
zu zeigen, welchen gewaltigen Einfluss auf die Menschen solche
aus Zeiten der tiefsten Wildheit stammende Vorstellungen über
die Natur des Blutes und der Seele, sowie der Geister, aus-
gelibt und zum Theile sogar bis in die Gegenwart noch
nicht verloren haben. Es müssen sehr lange Zeiträume des
wilden Lebens vorübergeflossen sein, bis sich solche Ueber-
zeugungen, von einem Geschlechte zum andern übertragen, so
unverwischbar dem Volksgeiste einprägen konnten, dass noch
immer Spuren des alten Aberglaubens sich zeigen.
Im Alterthume, bevor noch der Islam mit seinen meisten-
theils aus der altpersischen Glaubenslehre geschöpften Ideen
über ein künftiges Leben nach dem Tode, den Arabern neue
und ihnen unbekannte Aussichten eröffnet hatte, befassten sie
1 Starb 686 Ch.
2 Ibn alfakth ed. de Goeje, S. 156.
3 Tylor: Anfänge der Cultur I, 104; vgl, J. Lippert, Seelencnlt, S. 27.
4 Tylor, 1. 1. I, 104.
Studien aur vergleichenden Culturgescliichte.
53
sieh gar nicht mit Grübeleien über metaphysische Fragen: sie
lebten ganz in der Gegenwart und bekümmerten sich wenig
oder gar nicht um das Zukünftige. Die alten Dichter wie Labyd
geben getreu diese Geistesrichtung wieder; die Seligkeit nach
dem Tode ist ihnen ganz gleichgiltig: sie begnügten sich mit
dem grösseren oder kleineren Theil davon, den sie auf Erden
geniessen konnten. Von der Vergangenheit besitzen sie nur ein
Erbstück, nämlich ihre alten Sagen, ihre Volks- und Stammes
überlieferungen und ihre alten, abergläubischen, von den Vätern
ererbten Vorstellungen und Gebräuche. Zu diesen gehörte es
auch, dass man glaubte die Seelen oder Schatten der Ver
storbenen müssten, wenigstens einige Zeit nach ihrem Tode,
besonders so lange der an ihnen begangene Mord noch un-
gerächt sei, eine Art von unruhigem Schattenleben führen.
Das Blut mochte immerhin als Sitz der Seele und des Lebens
angesehen werden, aber trotzdem bestand nach dem Glauben
der alten Semiten, auch wenn das Blut längst schon vergossen
und vergangen war, das geistige Element im Blute: die Seele
auch fernerhin. Das Wort nafs = anima hängt zusammen mit
nafas = Spiritus, anhelitus = hebräisch nefesh, Athem.
Es zeigt dies, dass man wohl den aus frisch vergossenem, noch
heissem Blute aufsteigenden Dampf, als den Hauch des Lebens
betrachtete, der nicht zugleich mit dem Körper zu Grunde gehe. 1
Diese Beobachtung des rauchenden Blutes mag zuerst
bei den Urmenschen den Gedanken wach gerufen haben, dass
im Menschen, wenn auch der Körper vergeht, doch noch
etwas enthalten sei, welches nach dem Tode fortbestehe und
in die Lüfte emporsteige. Auf diese Art wird wohl die erste
Vorstellung von der körperlosen Seele, von Geistern und Göttern
entstanden sein, eine Idee, welche bei allen wilden Völkern
sehr verbreitet ist.
1 Nachdem ich Obiges schon geschrieben hatte, finde ich, dass der aus
gezeichnete Culturhistoriker J. Lippert auf Grund seiner eigenen For
schungen, zu demselben Schlüsse gekommen ist, dass der Begriff der
Seele zuerst aus der Beobachtung des rauchenden Blutes sich ent
wickelt habe (J. Lippert, Der Seelencult. Berlin 1881, S. 60). Dieses
Zusammentreffen zweier von einander ganz unabhängiger Forscher er
höht nicht wenig die Wahrscheinlichkeit für die Richtigkeit der Vor
aussetzung.
54
III. Abhandlung: v. Krem er.
Da die hierauf bezüglichen Anschauungen der Naturvölker
schon in umfassender Weise zusammengestellt und besprochen
worden sind, 1 so kann ich es durchaus nicht als meine Airf-
gabe betrachten, das schon Gesagte und Erwiesene nochmals
vorzubringen. Aber ich halte es für meine Aufgabe, jene
hieher Bezug nehmenden Thatsachen zu verzeichnen, die sich
aus der eingehenden Erforschung der arabischen Quellen für
die allgemeine Culturgeschichte mit Sicherheit feststellen lassen.
Vor Allem ist es ein alter Volksglaube, der hier unter
sucht werden muss. Es ist dies die im arabischen Alterthum
geltende Ansicht, dass die Seele eines Getödteten in ein
Käuzchen sich verwandle.
Dieser Todtenvogel wird sadan oder hämah (Eule) genannt;
er soll aus dem Schädel des Todten, wenn er verwest, her
vorfliegen und so lange klagen bis der Mord gerächt ist.' 2
Bei den Dichtern ist nicht selten die Rede davon, nur
ist es nicht immer sicher, ob sadan oder hamah wirklich das
Käuzchen bedeuten, oder ob sie im gewöhnlichen Sinne auf
zufassen seien, indem sadan Echo und hamah Schädel bedeutet.
So sagt Labyd: 3
Nichts ist die Menschheit, seit du starbst, mir werth,
Und sie sind (mir) nichts als sadan und hämah.
Und an anderer Stelle:
Auch eine nackte Wüste durchzog ich,
Wo sadan ächzt zum Klagrufe der hämah. 4
Ein heidnischer Dichter sagt: 5
Der Prophet erzählt uns, dass wir (ewig) leben werden,
Aber welches Loben ist das der Echoklänge und Schädel! 6
1 Vorzüglich von Tylor: Anfänge der Cultur; dann bei Lubbock: Origines
de la civilisation.
2 Gähiz: Albajän waltibjän, S. 188, Ausgabe von 1301. Constantinopel,
Gawäib-Druckerei, in der Sammlung: Chamso rasäil.
3 Labyd ed. Chalidy. Wien 1880, S. 135. 4 S. 88.
5 Bochäry, Cap. Bäbo higrat olnabijji ilalmadynah (21). Gegen Ende des
Kitäbo ’ahädyt ol’anbijä’.
6 Der Text lautet mit den vorhergehenden Versen:
Studien zuf vergleichenden Culturgeschickte.
55
Bekannt ist die Geschickte der durch die standhafte Liebe
ihres Verehrers berühmt gewordenen Lailh. Sie kam einst an
seinem Grabhügel vorbei und erinnerte sich eines Gedichtes,
worin er ihr gesagt hatte: selbst wenn er unter den Stein
platten läge und sie grüsse ihn, so würde er ihren Gruss er
widern oder als Käuzchen zu ihr kreischen. Da ritt sie hin
und sprach die Grussformel aus, aber in demselben Augenblick
flog laut kreischend hinter dem Grab eine Eule hervor, das
lvameel scheute sich, warf Lailh ab und sie blieb sofort todt. 1
Die Seele ward als Vogel gedacht; so sagt ein Mann,
welcher geträumt hatte, dass ein Vogel aus seinem Munde flog:
,Dieser Vogel ist meine Seele/ 2
Auch Avicenna in seinem Gedichte über die Seele ver
gleicht sie mit einer Taube. 3
Schon in der ältesten Sammlung der Aussprüche des
Propheten findet sich eine Ueberlieferung, laut welcher er
gesagt haben soll: Fürwahr, die Seele der Gläubigen wird zu
einem grünen Vogel, der auf den Bäumen des Paradieses
seinen Aufenthalt hat, bis zu dem Zeitpunkte, wo Gott sie
(die Seele) in ihren Körper zurückkehren lässt, an dem Tage,
wo derselbe wieder auferweckt wird. 4 Eine ganz überein
stimmende Tradition findet sich auch bei Ihn Hiskäm in Betreff
der Seelen der in der Schlacht von ’Ohod als Märtyrer ge
fallenen Gläubigen. 5 Spätere haben dann die Legende weiter
ausgeführt. 6 Alles das geht auf sehr alte, vorgeschichtliche
Volksdichtung und Mythen zurück. So wird schon von Serni-
t j io j.\ fLc'lbvA l ! >—'
ÜU.Ä. <—^b J^^Jl LbAsA,
1 Agäuy X, 84; Mas'udy III, 312, Geschichte der herrschenden Ideen,
S. 167.
2 Ihn Hisäm, S. 254.
3 Ihn Cliallikän: Ihn Syuä; Damyry sub voce warkfi’.
4 Sarlj alinowatta' Cap. Gämi 'olgauäTz Ausgabe von Kairo, vom Jahre
1286, II, S. 32.
5 Ibn His. ed. Wüstenfeld,. S. 604.
6 Nach Ghazäly: Ihja’ IV, 215 werden die Seelen der Frommen im Para
diese in dem Kropfe grüner Vögel aufbewahrt, die unter dem Throne
Gottes sieh aufhalten. Auch im Mowatta’ findet man Aehnliches. Cap.
mä gä’ fylinotahäbbyna fyllfih.
5G
III. Abhandlung: v. Krem er.
ramis erzählt, dass sie sich in eine Taube verwandelte. 1 Das
bedeutet, dass ihre Seele als Taube fortflog. Der auf dem
Portal der nabatäischen Felsengräber in Higr in Stein ausge
hauene Vogel, der wie eine Eule aussieht, ist nichts anderes
als der Seelenvogel des alten, arabischen Volksglaubens. 2 Auch
die christliche Symbolik kennt, wie ich glaube, die Taube als
Symbol der Seele und bei der Taufe Jesu im Jordan steigt
der heilige Geist in Gestalt einer Taube auf ihn hernieder.
Auf solche alte Bilder und Gleichnisse geht der arabische
Volksglaube zurück und ganz ähnliche Vorstellungen finden
sich in den Sagen vieler anderen Völker.
Im Kindesalter der Cultur fassten Alle die Seele als etwas
Flüchtiges, Unfassbares auf. In der Odyssee XI, 220 heisst es:
,Während die Seel’ im Fluge davonsehwebt, ähnlich dem
Traumbild.'
iluyj) o ovetpos diroTtrapivY) tctoiyjtoci.
In den Sagen des Sahovolkes erscheint derselbe Ge
danke: ,Die Mutter, die verstorben war, verwandelt sich in
einen Vogel/ 3
Auch in der europäischen Sagenwelt zeigt sich dasselbe.
In einem alten bretonischen Liede heisst es: ,In Kerloan, auf
dem Schlachtfelde, steht eine Eiche, die ihre Zweige über das
Gestade ausbreitet; es steht eine Eiche auf dem Platze, wo die
Sachsen vor Evan dem Grossen die Flucht ergriffen. Auf
dieser Eiche halten bei nächtlichem Mondesglanze Vögel eine
Zusammenkunft: Vögel mit weissem und schwarzem Gefieder
und einem kleinen Blutfleck am Kopfe.' 4
Das sind die Seelen der in der Schlacht Gefallenen. Aber
auch bei anderen Völkern ist dieses Gleichniss sehr häufig: bei
dem nordwestamerikanischen Stamme der Powhatan-Indianer
herrscht der Glaube, dass die Seelen ihrer Verstorbenen in
einer Art von Waldvögeln wohnen, denen desshalb Niemand
1 Lucian: De Dea Syria.
2 Doughty I, 1G8, 169.
3 Reinisch: Die Saho-Sprache, S. 176.
4 Ich citire nach de Gubernatis , Die Thiere in der indogermanischen
Mythologie, deutsch von M. Hartmann, S. 547. Leider gibt der Ver
fasser, wie Öfters, seine Quelle nicht an.
Studien zur vergleichenden Cnltnrgeschichto.
57
etwas zu Leide thun darf; bei den Huronen meint man, dass
die Seelen in Turteltauben übergehen. 1
Bei anderen Völkern herrscht die Ansicht, dass die Seelen
der Verstorbenen in die Leiber verschiedener Thiere sich ver
körpern. Die Malayen meinen, dass die Tiger die Seelen der
Verstorbenen in sich aufnehmen. 2 Und diese Vorstellung ist
vom Standpunkte der wilden Naturmenschen ganz begreiflich:
der Tiger, welcher den Menschen aufzehrt, frisst ihn zugleich
mit seiner Seele, und nimmt sie also in sich auf. In Südafrika
herrscht der Glaube, dass in den Schlangen Menschenseelen
wohnen. 3 Ja, es kommt sogar die Ansicht vor, dass die Seele
des noch lebenden Menschen getrennt von ihm aufbewahrt
werden kann. Ein Riesendämon der tatarischen Sage hat
seine Seele nicht in seinem Leibe mit sich, sondern er verwahrt
sie in einer zwölfköpfigen Schlange, die er in einer ledernen
Tasche auf dem Rücken seines Rosses mit sich führt. 4 Der
Held der Sage entdeckt dieses Geheimniss und tödtet die
Schlange, worauf der Riese selbst sofort todt niederstürzt.
Ganz ähnliche Sagen leben in den arabischen und harniti-
schen Stämmen von Nordostafrika fort. In Sennar glaubt man,
dass die Seelen der Verstorbenen in Hyänen übergehen, und
desshalb ist es dort strenge untersagt, diese Thiere zu tödten.
Als Dr. Reitz, der österreichische Consul für Chartum, im
Jahre 1853 auf der Rückreise von einer amtlichen Entsendung
nach Abessynien erkrankte und endlich starb, schrieben die
Eingeborenen seinen Tod dem Umstande zu, dass er, obgleich
früher gewarnt, Hyänen geschossen hatte. 5 Im Bogoslande um
Keren ist, wie mir Professor Reinisch mittheilt, dasselbe Vor-
urtheil allgemein im Volke verbreitet, weder Hyänen noch die
dort in grosser Menge hausenden Paviane dürfen getödtet
werden. Für das erstgenannte Thier mag sich die Sage daraus
erklären, dass es bei Nacht und besonders bei dem Frasse
von Zeit zu Zeit einen Laut von sich gibt, der täuschend einem
menschlichen Hohngelächter gleicht. 0 Die Paviane aber haben
1 Tylor, II, 6. 2 1. 1. II, 233.
3 1. 1. II, 233, 234. 1 I. 1. n, 153.
5 Dr. Reitz starb an der Dyssenterie zu Dokia ira Sennar, am 26. Mai 1853,
6 Schon Diodor Sic. III, 35 erzählt, dass die Hyänen die Stimme der
Menschen nachahmen.
58
III. Abhandlung: v. Krem er.
in ihren Bewegungen und in ihrem geselligen Leben so viel
Aehnlichkeit mit dem Menschen, dass man sie für ein Geschöpf
menschlicher Herkunft halten konnte.
In den Erzählungen der 1001 Nacht finden wir eine merk
würdige Stelle, wo von einem Dämon die Rede ist, der seine
Seele im Kropfe eines Vogels verborgen hat; dieser ist in eine
Büchse eingeschlossen, diese wieder in sieben Schachteln, die
in einem Marmorsarkophag verwahrt sind, und der Sarkophag
ist vergraben am Gestade des Weltmeeres. Sein Liebchen ent
lockt dem Dämon dieses Geheimniss, verräth es an den Prinzen
Saif almoluk, und der tödtet den Seelenvogel, worauf der
Dämon sofort zu einem Häuflein schwarzer Asche verbrennt. 1
Ganz übereinstimmend hiemit findet man in den von
Dr. W. Spitta in Kairo gesammelten Volksmärchen 2 eine
beachtenswerthe Erzählung: der Held derselben dringt in das
fliegende Schloss ein, das auf dem Gebirge Käf sich befindet.
Er schmeichelt sich ein bei der Zofe der Prinzessin, die über
das Schloss gebietet; die Zofe nimmt ihn in ihr Kämmerlein
mit; dort sieht er eine Glasphiole an der Decke hangen und
erfährt, darin sei der Lebensgeist (die Seele) der Prinzessin;
dann sieht er einen Käfer kriechen und will ihn zertreten, aber
das Mädchen hält ihn zurück und sagt ihm, ihr Lebensgeist
sei in dem Käfer.
Spitta will in dieser seltsamen Vorführung des Käfers
(scarabaeus) als Behüters und Trägers des Lebensgeistes einen
letzten Nachklang des uralten ägyptischen Volksglaubens er
kennen, der den heiligen Scarabaeus als das Symbol des Lebens
und der Schöpferkraft betrachtete.
Ich möchte so bestimmt mich nicht aussprechen: denn ich
sehe darin nur eine unbewusste, moderne Abart der primitiven
Vorstellung der Naturvölker von der Uebertragbarkeit der Seele
in beliebige belebte oder unbelebte Gegenstände. In der altägyp
tischen Erzählung von den beiden Brüdern findet dieser Gedanke
den deutlichsten Ausdruck. Ich will nur gleich hier bemerken,
dass der Verfasser derselben, Annana mit Namen, ungefähr ein
Zeitgenosse Moses’ war. Der Inhalt ist in Kürze wie folgt:
1 1001 Nacht ed. Habicht IV, 261 ff.
2 Spitta: Contes arabes modernes. Leide 1883. n. 27. 28.
Studien zur vergleichenden Culturgescliichte.
59
,Es waren zwei Brüder; der jüngere trennt sich von seiner
Seele und legt sie in die Spitze der Blüthe einer Ceder, um
sie zu verwahren. Er aber lebt getrennt von der Seele fort.
Aber später wird er getödtet und der Cederbaum gefällt; der
ältere Bruder sucht des jüngeren Seele in der Cederblüthe,
legt diese in Wasser, damit sie sich voll trinke und lässt dann
das Wasser in den Mund des Todten fliessen. Da vereinigt sich
die Seele wieder mit dem Leichnam und er wacht auf zum
neuen Leben. Er besteht noch andere Verwandlungen: er wird
ein Stier; derselbe wird geschlachtet, aber zwei Blutstropfen
fällen zur Erde und daraus sprossen zwei Perseabäume empor,
in deren einem seine Seele enthalten ist. Die beiden Bäume
werden gefällt, aber ein Splitter trifft ein Weib, und in diese
geht die Seele über, die von ihr zu neuem Leben wieder ge
boren wird/
So der altägyptische Schriftsteller, dessen Werk auf uns
gekommen ist in dem Papyrus d’Orbiney. 1 Ganz ähnliche
Ideen tragen die alten griechischen Denker vor: nach Thaies
hat der Stein, wie das Eisen eine Seele (Au/ij), 2 nach Empe-
dokles sind auch die Pflanzen beseelt; 3 ja mit Vernunft und
Erkenntniss begabt; 4 dasselbe lehrt Anaxagoras 5 und zwar
ist dieses geistige Wesen der Dinge völlig gleichartig mit der
Seele des Menschen oder vielmehr identisch mit ihr, indem
sie selbst bald als Mensch, bald als Thier, bald als Pflanze
zur Erscheinung kommt. So erzählt Empedokles von sich
selbst, dass er als Knabe, dann als Mädchen, dann als Pflanze,
hierauf als Vogel und schliesslich als Fisch ins Leben getreten sei. 11
Es genügt hier nur auf den engen Zusammenhang dieser
Ideen mit der indischen Lehre von der Seelenwanderung, sowie
mit der Metempsychose der Pythagoräer aufmerksam zu machen.
So sehen wir denn eine bis in das Kindesalter des
Menschengeschlechtes zurückreichende Begriffsentwicklung bei
Völkern von ganz verschiedener Sprache und Gesittung.
1 Nach H. Brugsch: Aus dem Orient. Berlin 1864. II, S. 1 ff.
2 Aristoteles: De anima I, 2, 14.
3 Plutarch: De placitis philosoph. V, 26, 1.
4 Aristoteles: De plant. I, 1, 10 (Bekker 815 b ). 5 Aristot. 1. 1.
6 Diogenes Laert. VIII, 77. Hiemit vergleiche inan auch die Stelle bei
Aelian: Hist. anim. XII, 7.
(50 III. Abhandlung: v. Krem er. Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
Blut und Seele werden ursprünglich als eines und das
selbe gedacht, als das Element des Lebens. Der wilde Mensch
der vorgeschichtlichen Zeit hielt sich an die durch die Sinnes
wahrnehmung festgestellte Thatsache, dass mit dem Blute das
Leben entrinnt. Dann kam eine weitere Beobachtung hinzu,
indem das rauchende Blut, welches aus der frischen Wunde
quillt, die Vermuthung erweckte: es sei eine feine, geheimniss-
volle Substanz im Blute, die von demselben sich lostrennt und
zum Himmel emporsteigt. Dieser schnell verschwindende, nach
oben strebende Hauch, dieser Athem ward nun als der
eigentliche Lebensgeist, als die Seele aufgefasst und führte
allmälig zum Vergleiche des Lebensodems, der Seele mit
einem Vogel.
Sobald aber dieser Gedanke eines von der Körperhülle
befreiten Geistes Wurzel gefasst hatte, konnte auch die aber
malige Verbindung dieses Geistes, dieser Seele mit einer
neuen Hülle vorausgesetzt werden. Auf diesem Grunde ent
standen nun von selbst die verschiedensten, wie wir sagen
würden, abergläubischen, aber an sich betrachtet ganz natür
lichen Vorstellungen: die Geister, die Seelen konnten in Thieren,
in Steinen, in Pflanzen oder anderen Dingen ihren Sitz nehmen,
oder auch wieder in Menschenformen eingehen.
Die niedrigsten Religionen, die Verehrung gewisser Thiere,
Pflanzen oder Steine, selbst der Fetische lassen sich aus solchen
Anfängen genügend erklären. Der Beweis aber dafür, dass
diese Voraussetzung, wenigstens für eine sehr beträchtliche
Anzahl von Völkern begründet ist, liegt darin, dass man in
den Religionen der wichtigsten Völker des Alterthums noch
ganz deutlich die Reste, sei es des alten Steincultus oder der
Verehrung heiliger Bäume, sei es auch gewisser Thiere, ja
selbst des Fetischdienstes, nachweisen kann, so bei Aegyptern,
Hebräern, Griechen, Römern und Arabern.
IV. Abli.: L. v. Bocki nger. Ber. über Handscbr. d. sog. Schwabenspiegels. XI. 1
IV.
Berichte über die Untersuchung von Handschriften
des sogenannten Schwabenspiegels.
Von
Dr. Ludwig Ritter von Roekinger.
XI.
Sind die alphabetischen Nachweise über die Handschriften
wie Handschriftenreste des kaiserlichen Land- und Lehenrechts
im Bande CXVIII, Abh. X, S. 25-—27, und im Bande CXIX,
Abh. VIII, S. 1—54, wie Abh. X, S. 1—62 bis an den Schluss
des Buchstabens H geführt worden, so reihen sich ihnen jetzt
die von I bis in den Buchstaben M an, nämlich bis zur Auf
zählung der ganz ausserordentlichen Menge in München.
[Mit den Sammlungen des Nikolaus Jankovich zu Buda
pest gelangten in das ungarische Nationalmuseum daselbst die]
Nrn. 805, 306, 307, 308.
[Im Besitze desselben Nikolaus Jankovich befand sich
auch nach einer Einzeichnung aus dem Jahre 1841 diej Nr. 419.
[Prof. Dr. Johann Adam Ick statt zu Wirzburg besass
im Jahre 1738 die] Nr. 196.
[Jeronimus N. hat im Jahre 1445 geschrieben die]
Nr. 137.
174 72***.
Dass der Nürnberger Patricier Ch. I. Imhof oder Im
hoff von und zu Weidenmühl eine Pergamenthandschrift des
kaiserlichen Land- und Lehenrechts besessen habe, ist einer
brieflichen Mittheilung von Karl Kaiser aus Zürich vom 11. Juli
1878 zu entnehmen, wonach sich in einem von ihm damals
erworbenen Exemplare von Harpprecht’s im Jahre 1723 zu
Sitzungsber. d. pbil.-bist. CI. CXX. Bd. 4. Abb. 1
2
IV. AMiuncllung: L. v. Kockinger.
Kiel erschienener Streitschrift ,Speculi suevici et praesertim juris
feudalis alamannici in foris vicariatus suevo-franconico-palatino
non usus modernus' unter anderen handschriftlichen Einzeich
nungen auch obige Nachricht findet.
Ein nicht unbeträchtlicher Theil Imhof’scher Besitztümer
gelangte durch Familienverbindungen nach Buda-Pest und hier
in die Hände des unermüdlichen Sammlers Nikolaus Jankovich,
daher dann in das ungarische Nationalmuseum. Darf man da
etwa an ein Zusammenfallen mit der Nr. 305 denken?
Eher wohl als an ein solches mit der Nr. 419, welche
zwar eben von Jankovich der k. k. Regierungsrath und Uni-
versitätsdirector Wussin in Wien erwarb, die aber nach Ein
zeichnungen in sie frühzeitig in. Ungarn gewesen ist.
[Das Wappen des ,Seb. Höflfinger] z.Imol[kaim] D' findet
sich auf der inneren Seite des Vorderdeckels derj Nr. 389.
[Hermann v. Inden besass die] Nr. 141.
175***
Eine Handschrift aus Ingolstadt ohne irgend welche
nähere Bezeichnung als der Titelüberschrift ,Hie hebt sich an
das Lannt-Recht-Puch, und lerret wie man ein igleieh sach
richten schol nach dem Rechten* liegt dem in gewisser Weise
systematisch behandelten Land rechte des sogen.
Schwabenspiegels in 275 Artikeln mit vorangehendem Ver
zeichnisse derselben zu Grunde, welches Joh. Friedr.
Schannat im ersten und einzigen Theile seiner Sammlung alter
historischer Schriften und Documenten (Fulda 1725) S. 1(53—322
mitgetheilt hat. v. Lassberg Nr. 72. Homeyer Nr. 348.
Das Verhältniss zu der Reihenfolge der Artikel im Drucke
LZ theilt Ilaiser ,Zur Genealogie der Schwabenspiegelhand
schriften' I S. 159 mit.
[Zu Ingolstadt ist vielleicht gefertigt die] Nr. 286.
[Einträge des Johann Gentzinger in Ingolstadt, wohl
vom Jahre 1439, aus dem Landrechte des sogen. Schwaben
spiegels, s. in der] Nr.-281.
[Aus der Bibliothek der Universität von Ingolstadt
stammen die] Nrn. 285, 286, 287.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
175 •/,***.
Unter den Handschriften der Universitätsbibliothek von
Ingolstadt verzeichnet Ignaz Dominik Schmid capell. ad s.
Catharinae sacellum academ. in seinem Kataloge derselben,
jetzt in der Universitätsbibliothek zu München Mscr. Nr. 387,
auf Fol. 29 ohne nähere Angaben auch: Kayserliche Rechten
etc. in Fol. 1513.
176***.
In der Burg zu Innsbruck befand sich im Jahre 1536
nach einem ,Inventari etlicher Bücher so in einem Gewelb in
der Burg zu Ynnsprugk liegen* ain langletes pergamene ge-
schriben Landrecht buech in rot gepunden. Fickerinden
Sitzungsberichten der philosophisch-historischen Classe der kais.
Akademie der Wissenschaften XXIII, S. 120.
In der Burg zu Innsbruck verzeichnet dasselbe Inventar
weiter ain klaines pergamene Landrecht buech. Ficker
a. a. O. S. 120. Ob die Nr. 181?
[Das wieder in der Burg zu Innsbruck in demselben
Inventare aufgezählte ,alt pergamene Landtrechtbueck zum
tail gereimbt, in weiss gepunden, von donat plettern* ist wohl]
der Spiegel aller deutschen Leute der jetzigen Universitäts
bibliothek dortselbst. Ficker a. a. 0. S. 120 und 121.
[Aus der Bibliothek des Schlosses Ambras bei Innsbruck
wurden im Jahre 1665 in die kaiserliche Hofbibliothek nach
Wien verbracht die] Nrn. 388, 397, 400, 401.
[Die zu Innsbruck im Ferdinandeum nach einer Mit
theilung Johann Friedrich Böhmer’s befindlich sein sollende
Papierhandschrift des als Kaiser Karls Rechtsbuch sich be
zeichnenden sogen. Schwabenspiegels, bei Homeyer Nr. 350,
beruht auf einer Verwechslung mit der da unter Nr. 349 auf
geführten Papierhandschrift des kleinen Kaiserrechtes. Vgl.
hiezu v. Gosen, Das Privatrecht nach dem kleinen Kaiserrechte,
8. 11 Note 22. Rockinger Q S. 419].
178.
Innsbruck, Universitätsbibliothek Nr. 169, mit der Blei
stiftbezeichnung II 2 H17, auf Papier in Folio im 15. Jahr-
1*
4
IV. Abhandlung: L. v. Rocki n gor.
hundert durchlaufend gefertigt, Ruck und Eck in braunes
Leder gebunden. Mone in seinem Anzeiger für Kunde der
deutschen Vorzeit VIII (1839) Sp. 30 unter A Ziffer 3. IIo-
meyer Nr. 354.
Voran geht auf sechs Blättern ein Verzeichniss der
Artikel des Land- und Lehenrechts, theilweise schwarz
und theilweise roth in der Art, dass jedesmal die auf einem
betreffenden Blatte des Textes stehenden Artikel in abwech
selnder Folge roth und schwarz aufgezählt sind. Der Text
selbst, je oben in der Mitte auf der ersten Seite des Blattes
mit römischer Zählung versehen, reicht von Fol. 1—122.
Seine Fassung in den im Bande CXVIII, Abh. 10, S. 20/21
in der Note 1 bemerkten Probestellen theilt Haiser ,Zur Genea
logie der Schwabenspiegelhandschriften' II unter Da 4 mit.
179.
Innsbruck, ebendort Nr. 212/1, mit der Bleistiftbe
zeichnung II 3 F 9, auf Papier in Folio im 15. Jahrhundert
zweispaltig gefertigt, mit Ausnahme des durchlaufend geschrie
benen Verzeichnisses der Artikel, mit einigen wenigen rothen
Ueberschriften derselben, sonst mit schwarzen und mit rothen
Anfangsbuchstaben derselben, in Holzdeckeln mit rothem Leder-
iiberzuge, früher mit zwei Schliessen versehen. Mone a. a. 0.
Sp. 30 unter A Ziffer 2. Homeyer Nr. 351, und nochmal 353.
Nach den beiden ersten leeren Blättern beginnt unter
der rothen IJeberschrift ,Hye hebt sich an das lantreclit puech,
das ist wye man vmb ain yegleiche Sache lichten sol‘ von
Fol. 3—55 Sp. 1 das Landrecht in 377 roth nummerirten Ar
tikeln, von Fol. 55 Sp. 2—74' Sp. 1 das Lehenrecht in 151
ebenso gezählten Artikeln. Daran schliesst sich von Fol. 75 bis
81 das Verzeichniss der Artikel der beiden Werke.
Der Wortlaut in den vorhin berührten Probestellen Haiser’s
findet sich a. a. 0. unter Cb 13.
180.
Innsbruck, ebendort Nr. 498/1, mit der Bleistiftbe
zeichnung II 2 E 13, nach einer wohl gleichzeitigen Abschrift
eines Schreibens des Bischofes Johann von Brixen an den
Pfarrer von Patsch aus dem Jahre 1316 auf ursprünglich leerem
Berichte über Handschriften des sog. Schwabonspiegels. XI.
O
Raume des letzten Blattes zu dieser Zeit in Tirol befindlich
gewesen, von dem Ritter Anton von Annenberg dem Karthäuser
kloster Schnals geschenkt, auf Pergament in Quart zweispaltig
mit rothen Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangs
buchstaben derselben gefertigt. Mone a. a. 0. Sp. 29/30 unter
A Ziffer 1. Homeyer Nr. 352. Ficker über einen Spiegel
deutscher Leute u. s. w. in den Sitzungsberichten der, kais.
Akademie der Wissenschaften, Band XXIII, S. 238—242, wo
selbst sich auch am Schlüsse ein Facsimile einer Spalte des
Fol. 24 findet; über die Entstehungszeit des Schwabenspiegels,
ebendort LXXVII, S. 832—836.
Das Landrecht in 304 Artikeln, mit LZ 313 schliessend,
reicht bis Fol. 62', woran sich unmittelbar das Lehenrecht
in 72 Artikeln, deren letzter = LZ 50 b, 51a, bis Fol. 72'
schliesst, woselbst der Schreiber noch seinen Stossseufzer ,0
scriptor cessa, quoniam manus est tibi fessa‘ anbrachte.
Die Fassung des Textes in den vorhin erwähnten Probe
stellen Haiser’s findet sich a. a. 0. unter B a 2.
181*.
Innsbruck, ebendort Nr. 842, mit der Bleistiftbezeichnung
1144 D, auf Pergament in Quart in der zweiten Hälfte des
14. Jahrhunderts mit rothen Ueberschriften der Artikel und
rothen Anfangsbuchstaben derselben gefertigt, am Anfänge und
Ende unvollständig, Ruck und Eck in braunes Leder gebunden.
Diese Handschrift besteht jetzt noch aus 33 Blättern
ohne Bezeichnung der Lagen von 8 und 6 Folien, welche
wechseln, beginnt mit den Worten ,vnd eilen werltleichen
fürsten mit dem vanen. der chunig sol dhehV des Art. LZ 132
des Landrechts, und reicht bis zu den Worten des Art. 245:
vnd in so grozzen zorn cham daz si den chunig beschält do
ier wille für sich nicht.
Vgl. hiezu Rockinger H,. woraus von S. 471—488 und
491—501 in II das Verhältniss zum Drucke LZ und zu v.
Maurers Ausgabe des vermeintlichen Landrechtsbuches des
Ruprecht von Freising hervortritt.
[Die zu Innsbruck ebendaselbst unter der Bezeichnung
II 3 F 9 aufgeführte Handschrift in Homeyer’s Nrn. 351 und
353 =j Nr. 179.
6
IY. Abhandlung: L. v. Rockinger.
[Graf Karl von Inzaghi schenkte dem Museum Francisco-
Carolinum in Linz die] Nr. 203.
[Ein nicht näher bezeichneter Johannes schrieb die]
Nrn. 48, 354.
[Johannes schrieb im Jahre 1475 die] Nr. 215.
[Dem Prof. Dr. Ludwig Iselin zu Basel gehörte im Jahre
1592 die] Nr. 20.
[Joseph Albert v. Ittner, 1 Kanzler des Malteserordens zu
Heitersheim nicht weit von Freiburg im Breisgau, dann gross
herzoglich badischer Staatsrath, Curator der Universität Frei
burg, zuletzt in Constanz, schenkte der Bibliothek der ge
nannten Universität die] Nr. 86.
[Dem Staatsrathe Joseph Albert v. Ittner 1 gehörte auch
die] Nr. 143.
[In der Wohnung des Staatsrathes Joseph Albert v. Ittner 1
zu Constanz haben Dr. Dümge und Dr. Mone nach dem Be
richte über ihre im Herbste 1819 aus Auftrag der Gesellschaft
für ältere deutsche Geschichtkunde unternommene Reise, im
Archive der Gesellschaft I S. 229, auch ,manches merkwürdige
aus eigenthümlichem Vorrathe 4 gesehen, unter Anderem ,die
Handschrift eines Sachsenspiegels, eines starken Folianten,
welche Aufmerksamkeit verdienen möchte. Sie scheint Ab
schrift eines alten Exemplares des Schwabenspiegels, der ur
sprünglich, wie bekannt, nichts weiter ist als ein durch Ein
schaltung schwäbischer Rechtsgewohnheiten und vieler Sätze
aus dem sogen. Kaiserrechte interpolirter Sachsenspiegel 4 .
Soll hier etwa die oben genannte Nr. 86 gemeint sein?
Oder liegt allenfalls eine Verwechslung mit der Hand
schrift im Stadtarchive von Constanz, Nr. 56, in Mitte, welche
v. Ittner damals gerade bei sich gehabt haben mag?]
[Leonhard Prindlinger von Judendorf hat sich im Jahre
1522 eingezeichnet in] Nr. 404.
[Johann zum Jungen besass im 15./16. Jahrhundert die]
Nr. 224.
[Dem Johann Maximilian zum Jungen zu Frankfurt am
Main gehörte die] Nr. 82.
1 Es sei hier über ihn in Kürze auf Daniel Jaeoby in der ,Allgemeinen
deutschen Biographie 1 XIV S. 647/648 verwiesen.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabonspiegels. XI.
7
[Ort zum Jungen besass im 15./16. Jahrhundert die] Nr. 224.
[Von dem Buchhändler Junginger zu Augsburg erwarb
Dr. Johann Heinrich Prieser daselbst für fünf Gulden die] Nr. 94.
[Georg Kalb von Reichenschwand in Mittelfranken hat
sich mehrmals eingezeichnet in] Nr. 55.
[Hanns Kallemberger oder Kallenberger besass die]
Nr. 32.
[Aus der ,Cancellaria' von Kamenz in Schlesien stammt
die] Nr. 47.
[Für den jungen Rudeger den Kapeller 1 zu Regensburg
fertigte Ernst der Hunkofer die] Nr. 92.
[Im Besitze des Johann Franz Egkher, Freiherrn von
Kap fing, Fürstbischofes von Freising, befand sich im Jahre
1696 die] Nr. 243.
182.
Kasch au, geheimes Stadtarchiv, auf Papier in Quart
zweispaltig mit rotlien Ueberschriften der Artikel und rothen
Anfangsbuchstaben derselben am Samstage in der Quatember
woche der Fasten des Jahres 1430 von dem damals beim
Studium in Passau gewesenen Johann Härlicher ? vollendet, 2
in Pergamentumschlag ohne jede Aufschrift. Prof. Dr. Krones,
Deutsche Geschichts- und Rechtsquellen aus Oberungarn, im
Archive für österreichische Geschichte, Band 34, S. 234—252.
Auf das Verzeichniss der Artikel des Land- wie
Lehenrechts folgen diese beiden Bestandtheile unseres Rechts-
buches selbst. Der erste schliesst mit dem Artikel von ,viech-
waid und ander gemein', woran sich ,das LehenrechtpueclF reiht.
Die Gestalt des Ganzen ergibt sich zur Genüge aus der
Verzeichnung der Artikel und ihrer Ueberschriften, welche
1 Vgl. Bd. CXVIII, Aldi, io, S. 10—15.
2 Am sogleich zu bemerkenden Orte heisst es S. 235, dass am Schlüsse Fol
gendes in ziemlich verblasster und gegen Ende hin undeutlicher Schrift
steht: Anno domini millesimo CCCC U tricesimo finitum sabato die in an-
garia prima jejuuiorum — so wird wohl anstatt ,inaugaria(sic) prima jejunio“
zu lesen sein — ante Reminiscere per me: Johannein Härlicher (?) Vindo-
bona(?) . . . serius (?) etiam tempore studens in Pätauia. Zu ,Vindobona(?)‘
ist in der Note 1 angefügt: Geschrieben steht: vona 1 * 8 (mit einem nach
oben gebogenen Abkürzungsstriche über vona), etwa Vindobona (?) bis (?).
Vielleicht ist zu lesen: Johannein Härlicher? conventualis hnius
monasterii, et iarn tempore studens in Patauia.
8
IV. Abhandlung: L. v. Rock ingor.
a. a. 0. S. 241—252 mitgetheilt ist. Vgl. Rockinger in H, hier
insbesondere S. 464—468.
[Kassel, ständische Landesbibliothek, Mscr. jurid. in
Fol. 26. Zwei Bände auf Papier in Folio im Jahre 1724 ge
fertigt, der erste das Landrecht des sogen. Schwabenspiegels
enthaltend, der zweite dessen Lehenrecht, ex bibliotheca Jo
hannis Noe de Neufville, diversorum principum consiliarii aulici
et legati. Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschicht-
kunde VI, S. 204. v. Lassberg Nr. 17. Homeyer nach seiner
Nr. 116.
Vgl. hiezu auch sogleich das weiter folgende Mscr. jurid.
in Fol. 27],
[Kassel, ebendort, Mscr. jurid. in Fol. 27, ebendaher wie
die beiden vorhergehenden Bände stammend, auf Papier in
Folio im 18. Jahrhundert gefertigt, v. Lassberg Nr. 17, Ho
meyer nach seiner Nr. 116,
a) das Landrecht des sogen. Schwabenspiegels,
b) dessen Lehen recht, sodann der Auctor vetus de be-
neficiis,
c) ein alphabetischer ,Vocabularius der alten Wörter
und Redensarthen so hin und wider in dem Schwabenrecht
befindlich sambt deren Erklärung',
im Ganzen nicht weniger als 1713 Seiten umfassend, wozu noch
d) ein alphabetisches Register über den sogen. Schwaben
spiegel auf 286 Seiten kommt.
Nach der Bemerkung Homeyer’s zu seiner Nr. 116 enthält
die vorhergehende wie diese Nummer die ersten Entwürfe zur
Ausgabe unseres Rechtsbuches von Hieronymus von der Lahr
in des Freiherrn v. Senkenberg Corpus juris germanici publici
ac privati II, Abth. 1, S. 1—492 und 1—188],
183.
Kassel, ebendort, Mscr. jurid. in Fol. 44, auf Papier in
Folio im 15. Jahrhundert durchlaufend gefertigt, niederrheinisch,
in Holzdeckel mit gepresstem braunen Lederüberzuge gebunden,
mit je fünf Messingbuckeln und zwei Schliessen. Archiv a. a. 0.
VI, S. 204. v. Lassberg Nr. 16. Homeyer Nr. 116.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
9
Voran geht ein am Anfänge mangelhaftes alphabetisches
Inhalts verzeichniss 1 mit Anfügung der je treffenden Artikel
zahlen am Rande, auch mit Nachträgen von anderer Hand
versehen. Dann folgt das Land- und Lehenrecht selbst,
auch äusserlich gleich sehr an die Nr. 137 erinnernd, äusserst
splendid geschrieben, die beiden Anfangshauptbuchstaben farbig
und mit G-old, die übrigen Initialen roth, die Ueberschriften
schwarz, aber immer mit bedeutenden Zwischenräumen nach
dem vorhergehenden und vor dem folgenden Texte der Artikel,
deren Gesammtzahl auf 530 beziffert ist, wovon 378 auf das
Landrecht fallen.
184.
Kassel, ebendort, Mscr. jurid. in Fol. 45. Auf Pergament
in Folio im 14. Jahrhundert zweispaltig gefertigt, mitteldeutsch,
in Holzdeckel gebunden, früher mit grünem Leder, jetzt mit
marmorirtem Papier überzogen, an mehreren Stellen beraubt,
so beispielsweise der Folien 13—20 einschliesslich und 23—26
einschliesslich, von Dr. Philipp Burchard ,redintegrandae et red-
augendae bibliothecae archipalatinae' zum Geschenke gemacht.
Archiv a. a. 0. VI, S. 204. v. Lassberg Nr. 15. Homeyer Nr. 114.
Auf den ersten vier Blättern findet sich ganz roth ge
schrieben ein Verzeichniss der Artikel mit farbiger roth
und blauer Initiale. Dann folgt unter gleichzeitiger je oben in
der Mitte angebrachter römischer Foliirung 1—94 das Land-
und Lehenrecht selbst mit rothen Ueberschriften. Letzteres
bricht auf Fol. 94' Sp. 2 mit den Worten LZ 159 ab: der ge
winnet leider mangen vient.
[Ob das im Stadtarchive von Kassel befindliche alpha
betische Rechtswörterbuch, auf Papier in Folio von Konrad
von Nordheim im Jahre 1414 gefertigt, niederdeutsch, auch
für unser kaiserliches Landrecht in Betracht kommt, ist zur
Zeit nicht bekannt. Vgl. Karl Philipp Kopp’s ausführliche
Nachricht von der altern und neuern Verfassung der geistlichen
und Civil-Gerichten in den fürstlich Hessen-Casselischen Landen
I, §. 33, S. 62 —64. Spangenberg’s Beiträge zu den teutschen
Rechten des Mittelalters S. 74 in der Note. Homeyer Nr. 119].
[Heinrich Kellner besass seinerzeit die] Nr. 82.
1 Von dem Buchstaben A sind nur noch drei Zeilen vorhanden.
10
IV. Abhandlung: L. v. Kockinger.
[Einzeichnungen über die fränkische Familie von der
Ker oder von der Kere aus den Jahren 1470 aut 1480 linden
sich in der] Nr. 340.
[Ernst Kerssenstein hat sich eingezeichnet in die] Nr. 58.
[Etatsrath Prof. Dr. Andreas Wilhelm Cramer in Kiel
ersteigerte aus der Ebner’schen Bibliothek zu Nürnberg für
9 Gulden die] Nr. 92.
[Johann Kiem hat im Jahre 1422 geschrieben die] Nr. 54.
185**.
Professor Martin Kiem, Conventual von Muri-Gries, zu
Sarnen. Bruchstück einer Handschrift auf Pergament, zwei
spaltig, in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit rothen
Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben der
selben in der Gegend um den Vierwaldstättersee gefertigt.
Es umfasst die Art. des Landrechts LZ 227—235 bis
zu den Worten S. 107 Sp. 2: ob er dar vf icht nimet, das sol
m[an] über in richten als über den den.
Mittheilung des Herrn Staatsarchivars Dr. Theodor von
Liebenau zu Luzern vom 20. December 1878, samrnt Abschrift.
[Graf Konrad von Kirchberg besass im 15. Jahrhundert
die] Nr. 234, vielleicht auch die Nr. 192?
185V 2 -
Das Archiv von Kirchdrauf, Szepes-Värallya, aller
Wahrscheinlichkeit nach dem ältesten Colonistenorte der Zips
und in seiner königlichen Burg dem Mittelpunkte des Comitatus
Scepusiensis, verwahrt einen Band auf Papier in Folio aus dem
Jahre 1628 mit Nachträgen: Collectanea Allerley Nützlicher
vnnd Nothwendiger Regeln des Rechtens aus dem göttlichenn
sowol auch kayserlichenn Rechtenn vnd sonderlich aus dem
Saxenspiegel vndt anderer vornehmen Autoribus vnd Rechts-
büchern so in den XIII Staedten in Zips vblichen, mit allem
tleysz excerpiret vnd nach alphabetischer Ordnung sub certos
titulos vnd in locos communes redigiret durch Balthasarum Apellein
Notarium p[ro] tfempore] Opp[idij Waralliae. Prof. Dr. Krones,
Deutsche Geschichts- und Rechtsquellen aus Oberungarn, im
Archive für österreichische Geschichte, Band 34, S. 229—234.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
11
Dieses ,Rechtsbuch der 13 Zipser Städte 4 von dem be
rührten Notar Apel enthält in verschiedenen seiner Artikel
Beziehungen auf das ,Kayserrecht‘ und auch ,Landrecht' oder
den sogen. Schwabenspiegel, beispielsweise in den Artikeln
von Burgschafft, Diebstall, Belieben Gut, Schuldt, Zeugen.
[Von ,Martinus Ravenspurg, scriptor in Kirchheim' ist
gefertigt die] Nr. 143.
[Im Besitze der Herren von Schellenberg in der Herr
schaft Kislegg im Allgäue befand sich von der zweiten Hälfte
des 15. Jahrhunderts an die] Nr. 427.
186.
Klattau, Stadtarchiv, auf Papier in Folio im Jahre 1467
gefertigt.
Böhmische Bearbeitung b 1 Fol. 1'—-52, c 1 Fol. 108'
bis 113, Fol. 156—158 ein kleiner Theil von a, 1 nämlich LZ
S. 3—6 Sp. 2 Zeile 10 bis zu den Worten ,gvten gewonheit'.
Mittheilung des Herrn Stadtarchivars Prof. Dr. Emler zu
Prag vom 4. Februar 1878.
[Klattau, ebendort. Böhmische Bearbeitung b. 1 Hanka’s
Prehled pramenuw prawnich w Cechäch, S. 161, Nr. 18. Ob =
der] Nr. 186?
[Die zu Klattau, ebendort, von Homeyer unter Nr. 357
verzeichnete böhmische Bearbeitung der sächsischen Distinc-
tionen vom Jahre 1465 beruht wohl auf einer Verwechs
lung mit der] Nr. 186, beziehungsweise der ihr folgenden Ver
zeichnung.
[Eine Schreibübung mit Erwähnung des Peter Kleebeck,
Bürgers zu Straubing in Niederbaiern, findet sich auf der
Rückseite des letzten Blattes der] Nr. 7.
[Wilhelm Klopfer hat sich eingezeichnet in der] Nr. 98.
[Aus dem Besitze des Pfarrers Friedrich Koch zu
Gmunden in Oberösterreich gelangten in die kaiserliche Hof
bibliothek zu Wien zum Theile die Bruchstücke der] Nr. 407.
[Derselbe Pfarrer Friedrich Koch erkaufte im Jahre 1874
oder 1875 die Bruchstücke der] Nr. 155.
Vgl. i m Bande CXVIII, Abh. X, S. 18—20.
12
IV. Abhandlung: L. v. Rockinger.
187.
Köln, Stadtarchiv, Nr. 327. Auf Papier in Quart im
15. Jahrhundert, niederdeutsch, nach einer Bemerkung auf dem
ersten Blatte oben 1 von ,Crystina‘ geschrieben, auf dem Schnitt
rande im 17./18. Jahrhundert als ,aliciuot statuta iuris civilis et
feudorum' bezeichnet, aus dem Nachlasse des Domarchivars
und Registrators Anton Joseph Wallraf in Köln.
Am dritten Blatte beginnt das Verzeichniss der Ar
tikel. Nach einer Reihe von Blättern folgt das Buch der
Könige alter Ehe auf 47 Folien. Am folgenden ,hijft sich
an dat Lantreicht boiclF mit dem gewöhnlichen Anfänge:
Here got hemelscher vader u. s. w. An dieses schliesst sich
auf Fol. 143 ,dat Leenboich 1 bis Fol. 176: haint die lehen
recht buch ein ende etc. etc. dat verleyn vns der vader vnd
der sun vnd der hilge geist. amen.
Mittheilung des Prof. Dr. Lamprecht zu Bonn, dann des
Stadtarchivars Dr. Hühlbaum zu Köln vom 17. Februar 1882.
[Durch Schenkung v. Oitmann’s zu Köln erhielt Freiherr
Franz Sales v. Weichs zu Osnabrück im Jahre 1780 die]
Aus dem Stadtarchive zu Königgräz in Böhmen führt
eine nicht genauer gekennzeichnete böhmische Bearbeitung
des sogen. Schwabenspiegels? nach einer Mittheilung von Hanka.
in dessen Prehled pramenuw präwnich w Ceckdch ich sie nicht
finde, Homeyer in seiner Nr. 360 auf.
189.
Königsberg, königliches Staatsarchiv, Nr. 32, auf 199
Blättern guten Pergamentes in Folio von 33'5 Decimeter Höhe
und 24'5 Decimeter Breite, zweispaltig, mit rothen Ueber-
schriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben,
wahrscheinlich- kurz vor 1450 von demselben Schreiber ge
fertigt, der die Statuten des deutschen Ordens und andere
Bücher für die Kanzlei des Hochmeisters abschrieb, welche
1 Ich Crystina hann dys buechelynn geschrybenn vnnd myt eynnander
vber etc.
2 Dr. Steffenhagen setzt am alsbald anzufiihrenden Orte den Ausgang 1
des 14. oder Anfang des 15. Jahrhunderts an.
Berichte über Handschriften des sog. Sclnvabenspiegels. XI.
13
das Deutschordensarchiv zu Königsberg noch auf bewahrt, ent
weder in der Marienburg selbst oder vielleicht eher in einem der
Deutschordenshäuser in Deutschland, mitteldeutsch, nun stark
vergilbt und theilweise erloschen, noch in dem ursprüng
lichen Einbande von Holzdeckeln mit rothgefärbtem Schaffell-
Uberzuge. Hasse in der Zeitschrift für geschichtliche Rechts
wissenschaft IV, S. 65, Note 2. v. Lassberg Nr. 73. Homeyer
Nr. 364. Steffenhagen, Catalogus codicum manuscriptorum bi-
bliothecae regiae et universitatis Regiomontanae, Fasc.I, Nr. 156;
Deutsche Rechtsquellen in Preussen im 13. bis zum 16. Jahr
hundert, S. 24 unter Nr. 81.
Diese Handschrift zerfällt in drei besonders foliirte, räum
lich aber nicht von einander getrennte Theile. Den Anfang
bildet das Buch der Könige alter Ehe mit den Zusatz
artikeln zu unserem Landrechte, wovon Rockinger F S. 310
und 318—335 handelt, wonach das Landrecht auf 101
Blättern und das Lehenrecht auf 39 Blättern folgt.
Nach Mittheilung des Staatsarchivars und Stadtbibliothe
kars Dr. Meckelburg zu Königsberg vom 19. März 1874 liess
Prof. Dr. Heinrich Eduard Dirksen eine Abschrift machen.
Ob dieselbe, welche nach Homeycr’s Schluss seiner Nr. 364
Prof. Dr. Johann Christian Hasse, zuletzt an der Universität
Bonn, besass?
189 '/,***
Im Verzeichnisse des am 26. März 1884 zur Versteigerung
gelangten Nachlasses des Freiherrn August von Koller in
Baden bei Wien war auch eine Handschrift der böhmischen
Bearbeitung des sogen. Schwabenspiegels auf Papier aus
dem 15. Jahrhunderte, worin einige Blätter fehlen, angezeigt.
[In der fürstlich Kolloredo-Mansfeld’schen Bibliothek
zu Prag s. die] Nr. 53. Vgl. auch die Nr. 80.
[Die Handschrift in der Stadtbibliothek von Kolmar s.
oben in der] Nr. 54.
[Der Diakon Konrad von Lützelnheim schrieb zu Frei
burg im Breisgaue und Vörstätten im Jahre 1287 die] Nr. 89.
[Die Handschrift des Kreisrichters a. D. Wilhelm Kon
rad y auf der Miltenburg s. oben in der] Nr. 55.
[Die Handschrift im Stadtarchive von Konstanz s. oben
in der] Nr. 56.
14
IV. Abhandlung: L. v. Rockin ger.
190.
Kopenhagen, königliche Bibliothek, alte Sammlung
jurid. Nr. 402, auf Papier in Folio auf 128 Blättern im
15. Jahrhundert gefertigt, niederdeutsch. Dis is dat lantrecht-
buch mit dem lehenrecht vnde mit de künige huch vorher.
Wilda im rheinischen Museum für Jurisprudenz VII S. 343/344.
v. Lassberg Nr. 75. Homeyer Nr. 370.
Das zuletzt berührte Buch der Könige alter Ehe
reicht bis Judith einschliesslich. Die letzten Artikel des Land
rechts entsprechen LZ 376, 377 II, 377. Dann folgt das
Lehenrecht.
[Wohl von dem Assessor Kräner am städtischen Handels
gerichte zu Regensburg hatte Maurus Gandershofer erhalten
die] Nr. 269.
[Im Kräner’schen Auctionskataloge vom 16. April 1855,
S. 1, Nr. 1 ist aufgeführt die] Nr. 34.
[Dem Notar Georg Krafft von Kronenberg zu Frankfurt
am Main gehörte am 14. Februar 1534 die] Nr. 121.
191***.
Raimund Krafft von Delmensingen zu Ulm besass —
wohl durch Erwerb aus der Spitzel’schen Bibliothek zu Augs
burg — eine Papierhandschrift des 15. Jahrhunderts in Folio,
worin nach der Notitia codicum manuseriptorum splendidissimae
bibliothecae Raymundo-Krafftianae (von Franz Dominik Hä-
berlin zu Ulm 1739 herausgegeben, und mit neuem Titelblatte
,Catalogus historico-criticus bibliothecae Raymundo-Krafftianae*
und geänderter Vorrede, Ulm 1753), S. 48/49 Nr. 29 an das
,Recht-Buch von dem Teufeil Welial wider Jhesum* sich das
,Lannt-Recht Puch* oder der sogen. Schwabenspiegel anschloss,
v. Lassberg Nr. 76. Homeyer Nr. 372.
Ob = der Nr. 39? Die Anführung des sogenannten
Belial spricht, wie es den Anschein hat, sehr hiefür.
[Raimund Krafft von Delmensingen zu Ulm besass weiter
die] Nrn. 109 und 114.
[Etatsrath Prof. Dr. Andreas Wilhelm Kramer in Kiel
ersteigerte aus der Ebner’schen Bibliothek zu Nürnberg um
9 Gulden die] Nr. 92.
Berichte über Handschriften des sog. Sclnvabenspiegels. XI.
15
[Hofbibliotheksecretär Joseph Kramer zu München hat
im Jahre 1782 geschrieben die] Nr. 258. Ob auch die
Nr. 259?
[Pangraz Krappmer kaufte im Jahre 1482 von einem
Ottenhofer die] Nr. 7.
[Derselbe Pangraz Krappmer besass auch im letzten
Viertel des 15. Jahrhunderts bis in den Anfang des folgenden
die] Nr. 243.
[In der Bibliothek des berühmten Wiguläus Freiherrn
v. Kreittmayr zu München sah Johann Georg Lory nach
seiner Commentatio I de origine et processu juris boici civilis
antiqui §. 43 Note e unter III im Jahre 1747 oder 1748 die]
Nr. 261.
[Stephan Kreucher aus Traunstein in Oberbaiern voll
endete in profesto s. Oswaldi regis et martyris des Jahres 1459
zu Wien die] Nr. 414.
[Dem Notar Georg Krafft von Kronenberg zu Frankfurt
am Main gehörte am 14. Februar 1534 die] Nr. 121.
[Dem Oberappellationsgerichtsrathe Dr. Friedrich Kropp
in Lübeck gehörte die] Nr. 336.
[Die Handschrift aus der Bibliothek des bekannten Car
dinais Nikolaus von Kues s. oben in der] Nr. 57.
[Insofern für das ,alte Kulm’sche Buch' oder kurz den
,alten Kulm' auch der sogen. Schwabenspiegel zur Berück
sichtigung gelangt ist, mag hier an die Handschriften jenes
Rechtsbuches erinnert sein, welcher Dr. Emil Steffenhagen in den
Deutschen Rechtsquellen in Preussen vom 13. bis zum 16. Jahr
hundert S. 202/203 gedacht hat.]
[In der Glosse zum sogen, alten Kulm V 44 geht die
Verweisung ,im Buch genandt König Lehen- und Landtrecht
Fol. 24 Wie man einen stummen richten soll' auf den] Art.
LZ 328 des sogen. Schwabenspiegels.
[In der Handschrift der Stadtbibliothek zu Danzig XVIII
C Fol. 56 aus dem 15. Jahrhunderte, mitteldeutsch, findet sich
als der erste der Zusatzartikel zu den sogen, landläufigen
Kulm’schen Rechten der] Art. LZ 370II des sogen. Schwaben
spiegels : Ab ymant eynen toden mensclien ausz grebet =
V 68 im sogen, alten Kulm. Steffenhagen a. a. 0. S. 9 Nr. 17,
S. 215/216.
16
JV. Abhandlung: L. v. Rockinger.
[Aus der Antiquariatshandlung' von Kuppitsch in Wien
sind erworben die] Nrn. 25 und 405.
[Johann Kym hat im Jahre 1422 geschrieben die]
Nr. 54.
[Staatsrath Prof. Dr. Paul Lab and in Strassburg schenkte
am 17. September 1884 dem Berichterstatter eine im Jahre
1861 gefertigte Abschrift des Landrechts und der Art. 1 bis
44 = LZ 1 bis 45 des Lehenrechts der] Nr. 45.
[Ein Eintrag auf König Ladislaus von Ungarn und seine
Begräbnissstätte Gross-Wardein von einer Hand des 15. Jahr
hunderts findet sich in der] Nr. 419.
[Im Besitze des Hieronymus von der Lahr befand sich
seinerzeit die] Nr. 126.
[In der fürstlich Auersperg’schen Fideicommissbibliothek
zu Laibach sind die] Nrn. 10—12 einschliesslich.
192.
Benediktinerstift Lambach in Oberösterreich, Nr. 147,
auf Papier in Folio zweispaltig von der bekannten Clara IJätz-
lerin zu Augsburg im dritten Viertel des 15. Jahrhunderts
nach ihrer Einzeichnung am Schlüsse geschrieben. Unter ihren
Namen hat sich sodann ein Cvnrat Graff eingetragen, vielleicht
— wenn die Erinnerung an die Schriftzüge nicht getäuscht hat
— der Graf Konrad von Kirchberg, welcher uns in der Nr. 234
begegnet. Nach einem Vermerke gleich auf dem ersten Blatte
des ersten Sexternes gehörte die Handschrift weiter dem
Lenhart Cristoff Rhelinger zu Augsburg, welchen wir daselbst
um die Mitte des 16. Jahrhunderts bis in das Jahr 1581 treffen.
Mone in seinem Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit VIII
(1839) Sp. 30 unter A Ziffer 4. Homeyer Nr. 373. Rockinger 0
S. 386/387.
Auf dem zweiten Blatte des ersten Sexternes beginnt
das Landrecht in 179 Artikeln, auf der zweiten Spalte des
ersten Blattes des fünften Sexternes das Lehenrecht in
57 Artikeln bis auf Sp. 1 der zweiten Seite des siebenten und
letzten Sexternes.
Das Verhältniss der Artikel zum Drucke LZ ist bei
Rockinger a. a. 0. S. 389—399—400—420 ersichtlich.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
17
193.
Landshut, Bibliothek des historischen Vereines für
Niederbaiern Nr. 1, früher vielleicht nach Weilheim 1 in Ober-
baiern gehörig, auf Papier in Folio durchlaufend mit theils
rothen, theils schwarzen, von der gleichen Hand gesetzten
Ueberschriften der Artikel in den Jahren 1474—147G gefertigt,
in Holzdeckelband mit rothem Lederüberzuge, theilweise noch
vorne wie hinten mit den ursprünglichen Messingzieraten und
noch mit einer der beiden Messingschliessen versehen. Vgl.
des Dr. v. Kern Bericht über seine Reise im Sommer 1859
im dritten Stücke der ,Nachrichten von der historischen Com
mission bei der königlichen Akademie der Wissenschaften*
(Beilage zur historischen Zeitschrift v. Sybel’s 1860) S. 15.
Rockinger C im Berichte V S. 91/92 unter Ziffer 3.
Nach dem oberbaierischen Stadtrechte, worüber des Frei
herrn von der Pfordten Studien zu Kaiser Ludwigs oberbaie-
rischem Land- und Stadtrechte S. 45 in Nr. 20 zu vergleichen,
folgt unter rothen wie schwarzen Ueberschriften der Artikel
und fast durchgehends mit rothen Anfangsbuchstaben derselben
das Landrecht des sogen. Schwabenspiegels in 168 Artikeln
aus dem Jahre 1475 und das Lehenrecht in 80 Artikeln aus
dem Jahre 1476, ersteres bereits mit LZ 102 a in einer zwei
fachen Fassung schliessend, letzteres mit LZ 54a. Rockinger
a. a. 0. S. 92—150.
Daran scldiesst sie ,den bom der gesipten früntschafft jn
teutsch kurtz zu beschreiben, wie jn der hochgelert doctor
Johannes Andree vormals jm latin völliger beschriben hatt* in
dem Augsburger Drucke des Johann Bämler vom Jahre 1474.
1 In einer nicht zur Ausfertigung gelangten Weilheimer Urkunde der be
treffenden Zeit, welche in den Einband hinein verarbeitet worden, er
scheinen als Aussteller Hanns Katzmair, als Sigler Hanns Aichhorn,
als Zeugen Matheis Schröter, Jakob Katzmair, Jörg Turner. Sie be
gegnen uns in anderen Weilheimer Urkunden der fünfziger bis sieben-
ziger Jahre des 15. Jahrhunderts, und es ist wohl insbesondere nicht
zu übersehen, dass die Schrift der Urkunde ganz und gar zu jener des
Erasm Pauss passt, welcher sich in einem Briefe vom Sonntage nach
Georgi des Jahres 1473 ,an der zeit gericht Schreiber der »tat Weylheim*
nennt und später als Unterrichter dortselbst begegnet.
Sitzungsber. d. pliil.-liist. CI. CXX. Bd. 4. Abh. ^
18
IV. Abhandlung: L. v. Ro c ki n gor.
[Vom königlichen Kreisarchive für Niederbaiern in Lands
hut wurden am 18. Oktober 1888 an das baierische allgemeine
Reichsarchiv in München eingesendet die Bruchstücke der]
Nr. 279 '/ 2 .
[Der haierische Regimentsrath Kaspar Ruland zu Lands
hut in Niederbaiern schenkte am 5. Mai 1598 dem Dr. Joachim
Donnersberger daseihst die] Nr. 250.
[Aus der Bibliothek der Universität Landshut kamen in
die der Universität München die] Nrn. 285, 286, 287.
[Freiherr Dr. Friedrich Leonhard Anton v. Las sh erg
zu Sigmaringen erkaufte in den Jahren 1835 und 1837 die]
Nrn. 92 und 93.
[Dessen Vater Josef Maria Christof v. Lassberg auf
der Meersburg am Bodensee besass die] Nrn. 89, 90, 91, 94.
[Im Besitze des Christof Jakob Lauber zu Augsburg
mag sich befunden haben die] Nr. 207?
193 y 2 ***.
Diebold Lauber, Schreiber und Schreiblehrer wie auch
sozusagen Buchhändler in Hagenau 1 im Eisass, um die Mitte
des 15. Jahrhunderts, hat in einer Ankündigung von käuflich
bei ihm zu beziehenden Handschriften mit Bildern und ohne
solche' 2 auch ,ein Keiserlich rehtbuch‘ ausgeboten.
Ob das von Hanns Windeberg in Hagenau geschriebene,
die Nr. 160, den jetzigen Cod. palat. germ. 89 der Universitäts
bibliothek in Heidelberg?
[Des Stiftsherrn Konrad ab dem Werde zu Laudenbach
im Eisass geschieht Erwähnung in der] Nr. 263.
[Aus dem Cisterzienserkloster Himmelpforte in L e h n i n
— wohl aus dem Jahre 1432 — stammt die] Nr. 465.
[Der Minoritenbruder Thomas von Leipheim in Schwaben
schrieb im Jahre 1429 die] Nr. 162.
1 Vgl. über ihn Wattenbach, Das Schriftwesen im Mittelalter, zweite
Auflage, S. 478—481.
2 Haupt in seiner Zeitschrift für deutsches Altertlmm 111 S. 191/192:
Item welcher Hände bücher man gerne hat, gros oder klein,
geistlich oder weltlich, hübsch gemolt, die findet man alle bei Diebolt
Louber, schriber in der bürge zu Hagenovv.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
19
[Zu Leipzig hat im Jahre 1421 Christian Czüden ge
schrieben die] Nr. 9.
[Aus dem Besitze Weigel’s in Leipzig kam in die
königliche Bibliothek in Berlin die] Nr. 34.
[Zu Leipzig wurde im Oktober 1840 für die königliche
Bibliothek in Brüssel erworben die] Nr. 52.
[Aus der T. O. Weigel’schen Buchhandlung zu Leipzig
gelangte im Dezember 1879 in die königliche Bibliothek zu
Berlin die] Nr. 32.
194.
Leipzig, Stadtbibliothek, Rep. II, Fol. 19. Auf Papier
in Folio von der gleichen Hand im Jahre 1404 1 in durch
laufenden Zeilen geschrieben, während das den Schluss bildende
Inhaltsverzeickniss in zwei Spalten gefertigt ist, mitteldeutsch,
in einem mit rothem Leder und eingepressten Thier- wie
anderen Verzierungen überzogenen Holzdeckelbande, der ur
sprünglich auf der Vorder- wie Rückseite durch je fünf Buckel
geschützt, wie auch mit zwei Lederbändern zum Schliessen
versehen gewesen. Die alte Foliirung weist 180 Blätter auf,
wovon nunmehr 1, 12, 13 verloren sind, der erste Bogen der
ersten Lage und das erste Blatt der zweiten. Früher war diese
Handschrift im Besitze des Ambrosius Meusell von Wertheim,
welcher sich nach der bemerkten Jahrzahl 1404 im Jahre 1629
eingeschrieben, wie auch auf der letzten Seite des letzten
leeren Blattes, und nochmal im Jahre 1630 auf einem über
den Rücken des Buches herüberlaufenden Pergamentstreifen,
welcher der Innenseite des Hinterdeckels aufgeklebt ist. Ende
mann in seiner Einleitung zum kleinen Kaiserrechte, S. 36,
Nr. 14. Dr. Naumann, Catalogus librorum manuscriptorum qui
in bibliotheca senatus civitatis Lipsiensis asservantur, Nr. 302.
Homeyer Nr. 381. Rockinger D S. 396/397.
Mit Fol. 2 beginnt das Gerichtshandbuch der Nrn. 195
und 423, welches mit Fol. 14' schliesst.
Auf Fol. 16 folgt das Landrecht des sogen. Schwaben
spiegels bis Fol. 136. Von Fol. 137 —180 schliesst sich sein
Lehenrecht an, an dessen Ende roth die Jahrzahl 1404 steht.
1 Am Schlüsse steht schwarz: Jo. St. mit einer durchstrichenen Jahrzahl,
• worunter roth steht: Ab jnearnacioue Cristj 1404.
2*
20
IV. Abhandlung: L. v. Kocki nge r.
Den Schluss der Handschrift bildet ein Register über
dieses Ganze je mit Angabe der betreffenden Folien des
Textes auf neun Blättern.
Das Verhältniss der 1080 Abschnitte des Landrechts und
der 427 Abschnitte des Lehenrechts gegenüber dem Drucke LZ
ergibt sich aus der Mittheilung Rockinger’s a. a. O. S. 398—449
in der Spalte I — 452—470.
195.
Leipzig, ebendort, Rep. II Fol. 19. Vgl. die vorher
gehende Nr. 194.
Wie vorhin bemerkt, findet sich hier von Fol. 2—14' das
kurzgefasste Gerichtshandbuch, wovon Rockinger in IV
handelt, mitteldeutsch.
Das Verzeichniss der Artikel desselben steht am
Schlüsse der Handschrift.
196.
Leipzig, Stadtbibliothek, Rep. II Fol. 74 a . Auf Papier in
Folio zweispaltig im 15. Jahrhundert nach mehrmaligen Ein
zeichnungen 1 von Hanns vom Wurm, Peter Wurms sun, ge
schrieben, mitteldeutsch, in einem Bande mit gelbbraunem
Lederüberzuge mit je fünf Messingbuckeln vorne und hinten.
Auf der ersten anfänglich leer gewesenen Seite des ersten
Blattes findet sich die Einzeichnung: Dono dat Joannes Adamus
Ickstatt, u[triusquc] J[uris] Dfoctor] p[rofessor] p[ublicus] et or-
dinjarius] in universitate Wirceburgensi a[nno] 1738. Naumann
a. a. 0. Nr. 897. Homeyer Nr. 391.
Bis Fol. 53' beziehungsweise 117 der alten je oben in
der Mitte angebrachten schwarzen Foliirung reicht das Buch
der Könige alter und neuer Ehe. Auf der Rückseite von
Fol. 117 beginnt das Land recht in der Gestalt des sogen.
Grossfoliodruckes, zunächst das rotli geschriebene Register des
ersten Theiles und dann dieser selbst, in der Weise, dass je
vor den einzelnen Abschnitten — mit Ausnahme des dritten —
gleichfalls rotli deren Inhaltsverzeichniss gesetzt ist, bis an den
Schluss der Rückseite des Fol. 214, womit der eilfte Abschnitt
schliesst. Ohne Zweifel war das Folgende noch geschrieben,
1 Beispielsweise auf Fol. 130' oder 187' oder 215.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI
21
ging' aber verloren. Dem 18. Sexterne fehlt nämlich sein letztes
Blatt, das wohl schon vor dem Einbinden mit dem übrigen
Reste des Landrechts zu Grunde gegangen war, indem die
alte Zählung der Blätter, die allem Anscheine nach erst nach
dem Einbinden vorgenommen wurde, ganz richtig von 214 auf
215 u. s. w. fortlauft. Was das Lehenrecht anlangt, beginnt
es auf Fol. 215 ohne Ueberschrift, welche wohl auf dem ver
loren gegangenen vorhergehenden Blatte gestanden sein mag,
und zwar zunächst das Inhaltsverzeichniss, welches fast die
erste Spalte der ersten Seite füllt, aber schon mit ,der lehen
uerkoffet 4 abbricht, während dann der Text selbst mit der
zweiten Spalte beginnt.
197.
Leipzig, königliche Universitätsbibliothek, Nr. 3513. Auf
Papier in Kleinfolio im 15. Jahrhundert von ,Conradus Trat-
felder, briester regenspurger bistumb, an unnser frauen abent
alls sy geporen 4 vollendet, früher im Besitze des Hofrathes
Prof. Dr. Gustav Plaenel zu Leipzig, mit dessen Handschriften
durch Legat an den jetzigen Lagerort gelangt. Homeyer Nr. 298.
Auf der Rückseite des ersten weissen Blattes steht: Hie
hebt sich an das landtrecht puech des heiligen kunigs Karels,
das er gemacht und gesetzt hat nach ratt willen und wissen
unsers heiligen vatern pabst Leo, seines leibplichen brueders,
und auch der andern kurfursten des heiligen römischen reichs.
Auf neuem Blatte beginnt das Landrecht in 349 Artikeln
bis zu den Worten des Art. LZ 376 ,nicht selbdritt ist 4 mit
dem roth geschriebenen Schlüsse: Hie habent ein endt die
landtrecht kayser Karls. Ganz unten steht dann noch der
Titel des folgenden Stückes: Hie hebent sich an die gesetz[t]en
Lehenrecht kayser Karls. Ihr Schluss nach dem Art. 146
lautet: Hie habent die lehenrecht ein ende, und dits lehenrecht
puch ist auf getailt inn vil capitel. die selben capitel die be-
schaiden die recht aller lay alls dann betzaichent ist mit der
rubricken aines yeden capitis.
Nach einer leeren Seite reiht sich zunächst die goldene
Bulle in ihrer deutschen Fassung an, in eigenthümlicher
Mischung der Landfriede des Kaisers Friedrich II. von Mainz
aus dem Jahre 1236 czu sant Marien in mitten angst und des
Königs Rudolf von 1281, König Albrechts Friedbrief von 1303,
22
IV. Abhandlung: L. v. Rocki nger.
dann der des Kaisers Ludwig des Baiers von Nürnberg 1323
des nagsten sambtztags nach ausgang der Osterwochen.
Mit Ausnahme von ihm folgen noch die Verzeichnisse
der Artikel und Abschnitte der berührten Bestandtheile.
[Die Witwe Susanna Leisner schenkte im Jahre 1626
ihrem Verwandten J. Hektor Faust zu Aschaffenburg die] Nr. 225.
198.
Leitmeritz, Stadtarchiv, Cod. IV. Auf Papier in Folio
in zwei Spalten im Jahre I486 1 oder um dasselbe vielleicht
von dem Stadtschreiber Siegmund in schmuckvoller Ausstattung
mit gemalten Anfangsbuchstaben auf den ersten Blättern der
einzelnen Bestandtheile und mit rothen Ueberschriften der
Artikel gefertigt.
Von Fol. 238—300 findet sich als .Präva cisarzska‘ eine
böhmische Uebersetzung 2 des Landrechts des sogen.
Schwabenspiegels, von Fol. 300—305 des Lehenrechts.
Das Rechtsbuch zerfällt in vier Abtheilungen mit 516
nicht nummerirten Abschnitten. Am Schlüsse desselben steht:
Ende der alten Kaiserrechte, die gewöhnlich Landrechte heissen,
weil die Herren Ritter Städte und Städtchen in der ganzen
Christenheit vor Alters sich nach ihnen richteten und in vielen
Stücken auch noch richten. Einzelne Stücke dieses alten
Rechts halten sie aber nicht mehr, weil nachmals die Kaiser
Könige und Fürsten den verschiedenen Ländern besondere
Privilegien über diese Rechte hinaus gegeben haben.
Jul. Lippert, Das Recht am alten Schöppenstuhle zu Leit
meritz — vgl. auch die Geschichte dieser Stadt in den Bei
trägen zur Geschichte Böhmens, Abth. 3, Band 2 — und seine
Denkmäler, in den Mittheilungen des Vereines für Geschichte
der Deutschen in Böhmen VI, S. 171, Ziffer 4.
199.
Leitmeritz, Stadtarchiv, Cod. IV. Vgl. die vorher
gehende Nr. 198. Lippert a. a. O. VI, S. 172, Ziffer 11.
1 Dieses Jahr ist am Ende des Lehenrechts bemerkt.
3 Vgl. im Bande CXVIII, Abh. 10, S. 18—20.
3 Das vorhergehende Stück ist im Jahre 1500 beendet.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
23
Von Fol. 382—413 3 findet sich wieder eine böhmische
Uebersetzung- des Landrechts unseres Rechtsbuches mit
Weglassung des ersten Buches, für welches jedoch leerer
Raum blieb, also nach Band CXVIII, Abh. X, S. 19 die böhmi
sche Bearbeitung b. Am Schlüsse derselben steht: Und
Einige behaupten, dass sich nach ihnen — den Satzungen
des sogen. Schwabenspiegels — richten die Herren von der
Altstadt Prag. Von Fol. 413—417 folgt wieder das Lehen
recht.
[Georg von Lerchenfeld zu Freising, 1521—-1531, be-
sass die] Nr. 243.
[Johann Lessewitz von Liegnitz schrieb im Jahre 1431
die] Nr. 116.
[Goldschmied Jakob Sulzer zu Winterthur? besass als
Geschenk seiner Base Susanne Sulzer zu Leutkirch im Jahre
1681 die] Nr. 421.
200.
Liegnitz, Petro-Paulinische Kirchenbibliothek, Nr. 13,
nach dem Kataloge Nr. 73, in Folge einer Bemerkung des
selben ,e Curia 167 1‘ stammend. Auf Papier in Folio im
15. Jahrhundert durchlaufend geschrieben, während das Ver
zeichniss der Artikel in zwei Spalten erscheint, mit rothen
Ueberschriften beziehungsweise Zahlen der Artikel, mittel
deutsch, im Ganzen von ausserordentlicher Aehnlichkeit der
Einrichtung wie oben Nr. 47, so dass beispielsweise auch auf
den gegenüberstehenden Seiten von zwei Blättern immer Keiser
recht || libro primo oder I u. s. w. steht, in Holzdeckelband
mit früher grünlichem Lederüberzuge, vorne und rückwärts je
mit fünf Messingbuckeln und zwei Sekliessen. v. Lassberg
Nr. 78. Homeyer Nr. 408; in seiner Einleitung zum sächsischen
Lehenrechte S. 24 unter Ziffer 55.
Auf Fol. 267 beginnt ,das KeyserrechP in vier Büchern
von 81, 126, 84 oder nach dem Register 83, 73 Artikeln bis
Fol. 366'.
Hieran schliesst sich von Fol. 367 das in zwei Spalten
geschriebene Verzeichniss der Artikel bis Fol. 385.
[Johann Lessewitz von Liegnitz schrieb im Jahre 1431
diej Nr. 116.
24
IY. Abhandlung: L. v. Rockin ge r.
[Dem Reichsfreiherrn Johann Christof von Abele von
und zu Lilienberg gehörte einmal die] Nr. 203.
201 ***.
Eine Handschrift des sogen. Schwabenspiegels .in dem
Vorrathe des Freiherrn v. Limbach, so Rudolf der I. selbst be
stärket haben solte, und sehr schön auf Pergamen geschrieben*
ist, erwähnt der Reichshofrath Freiherr Heinrich Christian von
Senkenberg im §. 14 der Vorrede zu seinem Corpus juris feu-
dalis germanici. v. Lassberg Nr. 79. Homeyer Nr. 410.
[Im Archive der vormaligen Reichsstadt Lindau fanden
sich nach dem jetzt im baierischen allgemeinen Reichsarchive
hinterliegenden Generalrepertorium über die dortigen Kanzlei
akten aus dem letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts, von
welchen die Buchstaben E—L damals in der ,oberen Stuben*
auf bewahrt gewesen, unter G 5: Urkunden, alte, den Schwaben
spiegel betreffend.
Bei meinem Aufenthalte am Bodensee im September des
Jahres 1873 waren die hierauf gerichteten Nachforschungen
ohne Ergebniss.]
[Dr. Zacharias Prueschenk von Lindenhofen schenkte
dem Prof. Dr. Johann Schilter zu Strassburg die] Nr. 134.
[Felix Lindinner zu Bubikon schrieb im Jahre 1787
die] Nrn. 2 und 18.
202.
Linz, öffentliche Bibliothek, Cc V 12, aus der Probstei
Silben in Oberösterreich stammend, dessen Bruder Lambert
Bogner sich am Schlüsse 1 eingezeichnet hat, von Konrad Meyer
aus Burghausen auf Papier in Folio am 24. December 1428 2
vollendet. Mone in seinem Anzeiger für Kunde der deutschen
Vorzeit VIII (1839) Sp. 32 unter A Ziffer 8. v. Lassberg Nr. 80.
Homeyer Nr. 411.
' Nach der in der folgenden Note zur Sprache kommenden Bemerkung.
Frater Lambertus Pogner, professus in Suben, mit dem Spruche darunter:
Sancta Anna succurre mettercia!
2 Am Schlüsse ist schwarz eingetragen: Das ist das lantrechtpuech, das
geschriben ist da man czallt von Christi gepuerd m°. cccc 0 vnd xxviij,
an dem heiligen etc.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
25
Vorne auf dem zweiten Blatte beginnt rotb: Das lehen
puech, vnd hat sechs lehenreclit vnd irew gesecztt. Dann folgt
in der nächsten Zeile schwarz: (Sjwer lehenrecht erkennen
well, der volige dicz puechs lere. Aller erst schuellen wir
merckhen das der herschilt, und dann mit dunklerer Tinte:
vnd von sein. Hier bricht die erste Spalte der Seite ab und
beginnt auf der Rückseite das Inhaltsverzeichniss zu des Do
minikanerbruders Berchtold deutscher Uebersetzung der Summa
confessorum des Johann von Frey würg auch aus dem Prediger
orden, welche bis Fol. 192 alter rother Zählung reicht. Nach
ihrem Schlüsse auf der ersten Spalte der Rückseite des Fol. 192
und nach dem Namen wohl des Schreibers ,Michel Pechraer
folgt roth: Nw sagen wir fürhas von allen lanttrechten. dy
sagt vns her nach dy geschriben tauel. Nach einem leeren
Blatte und der leeren ersten Seite des nächsten, nicht auf einem
neuen Sexterne, sondern auf der Rückseite des sechsten Blattes
eines solchen, beginnt auf Fol. 197' neuer Bleistiftbezeichnung
das Verzeichniss der Artikel des Landrechts, welches
noch die nächsten drei Blätter füllt. Nach der ersten leeren Seite
des nächsten Blattes folgt auf dessen zweiter das Landrecht
selbst in 295 Artikeln ohne alte Blattzählung auf Fol. 201' neuer
Bleistiftbezeichnung. Vom Lehenreehte findet sich keine Spur.
Vgl. Rockinger H, woraus von S. 471—488 und 491—501
in III das Verhältniss zum Drucke LZ und zu v. Maurer’s
Ausgabe des vermeintlichen Landrechtsbuches des Ruprecht
von Freising ersichtlich wird.
203.
Linz, Museum Francisco - Carolinum, Nr. 72, Invent.
Nr. 9872. Auf Papier in Folio, zweispaltig, nach einer Be
merkung am Schlüsse des auf den sogen. Schwabenspiegel
folgenden österreichischen Landrechts Fol. 144 Sp. 2 im Jahre
1415 geschrieben, von Fol. 9'—10' mit Nachrichten über die
Marschalche von Reichenau aus den Jahren 1499 bis 1537,
auf Fol. 1 oben mit einem Einträge auf die Frau Sophei von
Althan, die Tochter des Joachim Marschalch zu Reichenau,
nach einer weiter vorne eingeklebten Vignette einmal dem
Reichsfreiherrn Johann Christof von Abele von und zu Lilien
berg, edlem Herrn auf Häckhing, im Jahre 1670 kaiserlichem
26
IV. Abhandlung: L. v. Rocki ngor.
Hofratke, geheimen Secretäre und Referendarius der inner-
österreichischen Lande, zugehörig gewesen, endlich noch mit
einem ganz oben auf dem der Vorderdecke aufgeklebten ersten
Blatte des Verzeichnisses der Artikel des kaiserlichen Land-
und Lehenrechts befindlichen Wappen in rothern Siegellack
mit einer strahlenden Sonne und den Buchstaben JNVS um
die Helmzier, vom Grafen Karl von Inzaghi dem Museum ge
schenkt, in einem mit Leder überzogenen und je vorne wie
hinten mit fünf Messingbuckeln versehenen Holzbande, auf dessen
Vorderseite ein Pergamentstreifen mit der alten Aufschrift auf-
geklebt ist: Das allt lanndts vnnd lehen recht puech. 1415. Archiv
der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde X, S. 430.
Dr. Victor Hasenöhrl, Oesterreichisckes Landesrecht im 13. und
14. Jahrhundert, S. 2—4.
Auf dem der Innenseite des Vorderdeckels aufgeklebten
Blatte beginnt, wie schon bemerkt, das Verzeichniss der
Artikel des Land- wie Lehenrechts bis Fol. 9 Sp. 1 der
neueren Bleistiftbezeichnung, welche indessen das auf das erste
Blatt folgende Foliurn übersprungen hat, je unter Angabe der
Folien und sogar deren Spalten, auf welchen sie sich im Texte
finden. Auf Fol. 11 Sp. 2 beginnt das Land recht in 385
Artikeln bis Fol. 90 einer alten je oben in der Mitte an
gebrachten Foliirung beziehungsweise bis Fol. '100 der neueren
Bleistiftzählung Sp. 1, woran sich ohne alle Unterbrechung
unter der schwarzen Uebersckrift ,Hie hebet sich das lehen
recht des puches an' das Lehenrecht in 153 Artikeln bis
Fol. 119 der alten rothen oder 135 der neueren Bleistiftzählung
Sp. 2 knüpft.
Zu Art. LZ 377 II des Landrechts ist am Rande von
einer Hand des 16. Jahrhunderts eine Bemerkung gemacht,
welche darauf hindeutet, dass diese Handschrift mit ,kerrn von
Rottens buch' verglichen worden, wobei sich ergab, dass in
ihm verschiedene Artikel gefehlt haben, wie 296, 297, 299,
305, 308, 316, 355, 357, 363b, 375, 377 II selbst.
204.
Linz, ebendort, Nr. 77, Invent. Nr. 4855. Auf Papier
in Schmalhochfolio von Erasmus Reutter im Jahre 1420 in
Berichte über Handschriften des sog. Schwabcnspiegels. XI.
27
Zangberg 1 im ehemaligen oberbaierischen Gerichte Neumarkt ge
schrieben, früher der Familie Enenkel beziehungsweise Hoheneck 2
angehörig. Mone in seinem Anzeiger für Kunde der deutschen
Vorzeit VIII (1839) Sp. 32 unter A Ziffer 9. Archiv a. a. 0. X,
S. 430. Homeyer Nr. 412. Hasenöhrl a. a. 0. S. 3 in der Note 4.
Diese Handschrift besteht aus zehn Sexternen, von deren
erstem das erste Blatt verloren, während von dem letzten das letzte
Blatt nicht mehr beschrieben ist. Nach dem Verzeichnisse der
Artikel 3 beginnt auf der zweiten Seite des nunmehrigen fünften
oder ursprünglich sechsten Blattes der Text des Landrechts in
239 Artikeln mit der rothen Ueberschrift ,Hie hebt sich an das
lantrecht puclr bis zum vorletzten Blatte des zehnten Sexternes.
Vgl. hiezu Rockinger H, worin S. 471—488 und 491—501
in V das Verhältniss zum Drucke LZ und zu v. Maurer’s Aus
gabe des vermeintlichen Landrechtsbuches des Ruprecht von
Freising berücksichtigen.
1 Am Schlüsse steht schwarz und roth durchstrichen:
Finis adest operis. mercedem posco laboris.
Finitus est iste über feria tercia post festum purificationis s. Marie in
Zangberg per manus Erasmi liewtter sub anno domini millessimo qua-
dringentessimo anno vicessimo.
Tx mkchk npn dfpptbbks nksk prfckxm mltchk — verschrieben
anstatt dbbks — dbbis.
Hierauf folgt noch roth:
Das puech hat ain end.
Got alle peschorne weib sehend.
2 Auf einem kleinen der Rückseite des nunmehrigen neuen Vorsetzblattes
aufgeklebten Pergamentzettel wohl von der ursprünglichen Decke des
Buches steht: 1439 Gasper Enenkel zv Albr:
Nach dem Schlüsse des Ganzen findet sich die Bemerkung: Jobus
Hartmannus Enenkel de Albertiperga über baro Hohoneccius. 1600.
3 Von ihm beginnt das zweite Blatt des ersten Sexternes mit: Von dreyer
haut freyen mit der Folienbezeichnung ij°. Von vog geding ij°. Von
den siben herschilten iij°. Diese Folienbezeichnung hört indessen mit
Art. 12 auf, von wo an den folgenden keine Zahlen mehr beigefügt
sind. Das Verzeichniss selbst läuft fort bis: Wie man chaiserleichen
frid svvert. Von fridleichen tagen zw himmel. Wie vil ainer seiner
frenntt auf gericht furen sol.
Hierauf beginnt in einer neuen Zeile mit dem Anfänge ,Hie hebt
sich an ein ander recht puch‘ ein weiteres Artikel verzeichniss, und
zwar des nicht mein- folgenden Freisinger Stadtrechtbuc.hes des dortigen
Vorsprechen Ruprecht.
28
IV. Abhandlung: L. v. Rockin ger.
205.
Fürstlich Lobkowitz’sche Bibliothek zu Prag, Hanka’s
Pfehled pramenuw präwnich w Cechdch, S. 162, Nr. 21. Ho-
mcyer Nr. 546.
Böhmische Bearbeitung 1 abc.
[Fürstlich Lobkowitz’sche Bibliothek ebendort. Ho-
meyer Nr. 547?
Böhmische Bearbeitung. Hanka führt a. a. 0. S. 162 eine
solche Handschrift nicht auf. Vielleicht liegt den beiden auf
seinen Mittheilungen beruhenden Nrn. 546 und 547 Homeyer’s
nichts weiter zu Grunde als nur eine Trennung unserer] Nr. 205.
[Wessel van den Loe hat sich eingezeichnet in der] Nr. 289.
206.
Aus dem britischen Museum in London wird von den
Arundel-Manuscripten Nr. 131 mit 201 Blättern als Kaiserrecht
eine Handschrift unseres Land- und Lehen rechts mit dem
oberbaierischen Landrechte des Kaisers Ludwig und der gol
denen Bulle Karls IV., woran sich von Fol. 182—201 sächsische
Rechte schliessen, theils auf Pergament und theils auf Papier
gefertigt, aus dem 15. Jahrhunderte, im Archive der Gesellschaft
für ältere deutsche Geschichtkunde VIII S. 756 aufgeführt.
Vgl. Endemann in der Einleitung zu seiner Ausgabe des kleinen
Kaiserrechts S. 49 unter Ziffer 5. Homeyer Nr. 414.
[Im britischen Museum zu London sah nach brieflicher
Mittheilung vom 5. Dezember 1882 mein inzwischen verewigter
Freund Dr. Ignaz Gundermann in München ein kaiserliches
Land- und Lehenrecht, auf Papier in Folio, nach einer
Einzeichnung mit Tinte oben auf der ersten Seite aus dem
Reichsstifte s. Ulrich und Afra in Augsburg stammend, am
Einbande mit der gedruckten Aufschrift: Der Schwabenspiegel.
Ohne Ort und Jahr.
Der Anfang lautet: In de[m] namen des höchsten Richters
Jesu Christi unsers Herrn. Hie hebbet sich an u. s. w.
Zwischen den Fol. CV und CVI sind vier nicht gezählte
Blätter.
Vgl. Bd. CXVIII, Abh. X, S. 18—20.
Berichte über Handschriften des sog. Scliwabenspiegels. XI.
29
Handelt es sich hier um eine Handschrift oder um einen
der alten Foliodrucke unseres Rechtsbuches?]
[Nach London soll jetzt auch verbracht sein die] Nr. 67.
[Lorenz N. oder vielleicht mit besonderer Beziehung auf
,edl und arm
mochtte wol dem tewfl erparm 1
Lorenz von N. mag im 15. Jahrhundert der Besitzer gewesen
sein von] Nr. 305.
207.
Ein nicht genauer bezeichneter Louber machte seiner
zeit dem Prof. Dr. Johann Schilter zu Strassburg das Aner
bieten der Mittheilung einer Pergamenthandschrift unseres
Lehen rechts, wie Johann Frick in der Vorrede vom Sep
tember 1727 zum zweiten Bande eben von Sckilter’s Thesaurus
antiquitatum teutonicarum S. 2 bemerkt: illustrissimus Louberius
codicem offert juris alemannici feudalis membranaceum, si
forte adhuc nonnihil prodesse ant juvare ad curas — libro
jam edito — secundas posset. v. Lassberg Nr. 81. IJomeyer
Nr. 415.
Vielleicht darf man an Christof Jakob Lauber zu Augs
burg denken, welcher nach einer anderweiten Nachricht eine
Handschrift des Augsburger Stadtrechtes besass. Schilter selbst
nämlich bemerkt in der Vorrede zum Glossarium alamannicum
im dritten Tlieile des erwähnten Thesaurus S. 38 Sp. 2—39
Sp. 1, dass ihm diese Handschrift ,vir cl. Chr. Jac. Lauber,
Reipublicae Consiliarius celeberrimus' mitgetheilt.
[Da zu der Gesetzgebung des Kaisers Ludwig IV. für
sein Heimatland Oberbaiern aus den dreissiger und vierziger
Jahren des 14. Jahrhundert der sogen. Schwabenspiegel beige
zogen worden ist, sei hier auch auf die Verzeichnisse von
Handschriften dieser Landrechte wie des Stadtrechts verwiesen,
welche unter ,Oberbaiern' berührt sind.]
[Zu Ludwigsburg in der herzoglich würtembergischen
öffentlichen Bibliothek erwähnt Friedrich Christof Jonathan
Fischer in seinem Versuche über die Geschichte der teutschen
Erbfolge II S. 124 die] Nr. 370.
[Dem Oberappellationsgerichtsrathe Dr. Friedrich Cropp
in Luebeck gehörte die] Nr. 336.
30
IV. Abhandlung: L. v. Rockinger.
208***.
Aus einem alten Verzeichnisse der Handschriften der
Threse zu Luebeck kennt man unter der Anführung ,Hie be
ginnet dat Kayser Recht' mit dem Schlüsse ,Finitum anno
domini 1320 per manus fratris Bernhardi in der midclewecken
voer unser frouwen clibeltag' eine Handschrift wohl unseres
Land- und Lehenrechts, niederdeutsch.
Unter Bezugnahme auf ein Schreiben des Karl Heinrich
Dreyer von dort vom 24. April 1757, welches diese Nachricht
aus ,einer aufgefundenen alten Designation der auf hiesiger
Threse ehedessen befindlich gewesenen Codicum' gibt, gedenkt
dieser Handschrift, von welcher eben Dreyer vermuthet, dass
sie ,zu Zeiten des unruhigen Consulis Wollenweber' abhanden
gekommen, der Reichshofrath Heinrich Christian Freiherr v.
Senkenberg in der Vorrede zu seinem Corpus juris germanici
publici ac privati ex medio aevo I 1, §. 32 mit der Note b,
S. 32 33. Endemann in seiner Einleitung zum kleinen Kaiser
rechte S. 48 unter Ziffer 37. Homeyer Nr. 418.
209.
Lueneburg, Stadtrathsbibliothek. Auf Papier in Gross
folio mit ausserordentlicher Pracht, insbesondere durchgehends
der Initialen, im 14. Jahrhundert in zwei Spalten gefertigt,
vielleicht aus einer Klosterbibliothek 1 stammend, wahrschein
licher aber für Lüneburg selbst gefertigt oder jedenfalls früh
zeitig in dessen Besitz, 2 niederdeutsch, in äusserst starke Holz
deckel mit Lederüberzug gebunden, oben und unten an den
Ecken mit Messing beschlagen und vorne wie hinten in den
vier Ecken wie in der Mitte mit schönen Messingbuckeln,
1 Wenigstens besagt eine Bemerkung auf der inneren Seite des Vorder
deckels, vielleicht von einem früheren Stadtarchivare, unter Bezug
nahme auf die Stelle am Schlüsse von Art. LZ lb ,auer dit bok segget
van werltlikeme gerichte, vnd dar vmme hetet dit bok lantrecht 4 Fol
gendes: Male ergo Monachi, antiqui possessores hujus libri, titulum ei
adscripserunt: Keyserrecht.
2 Zwischen den Arabesken auf dem oberen Rande des alsbald zu er
wähnenden Bildes sind —- wie am unteren Rande die Wappenschilder
der sieben Kurfürstenthümer — die des Herzogthums und der Stadt
Lüneburg angebracht.
Berichte über Handschriften des sog. SchwabenBpiegels. XI
31
früher auch mit zwei Schliessbändern versehen, auf dem Vorder
deckel aussen mit der gleichzeitigen Aufschrift .Keyser recht'
unter einer rings mit Messingplättchen aufgenagelten durch
sichtigen Hornhaut. Kraut, Commentatio de codicibus Lune-
burgensibus quibus libri juris germanici medio aevo scripti
continentur, S. 9—-18, woselbst sich von S. 11—14 die Zu
sammenstellung der Artikel des Landrechts mit den Druck
ausgaben von Schilter und v. Berger wie jener von der Lalir’s
bei Freiherrn v. Senkenberg findet. Endemann in der Ein
leitung zu seiner Ausgabe des kleinen Kaiserrechts S. 38 unter
Ziffer 18, wozu Rockinger Q S. 420/421, 427—432 zu ver
gleichen. v. Lassberg Kr. 82. Homeyer Nr. 423.
Nach zwei leeren Blättern folgt auf einem besonderen
Quaterne von Fol. 3—10 das Verzeichniss der Artikel des
Landrechts. Nach wieder zwei leeren Blättern bildet ein pracht
voll theihveise auf Goldgrund in glänzenden Farben ausgeführtes
Bild einer Rechtsverleihung, welche der Kaiser 1 da durch
Uebergabe eines mit Schliessen versehenen Buches vornimmt,
das Folium 13, und zwar das erste des betreffenden Quaternes,
so dass es hienach gleich von Anfang an zu dieser Handschrift
bestimmt gewesen, nicht erst später eingefügt worden ist.
Mit Fol. 14 beginnt das Landrecht bis Fol. 87. Unmittelbar
auf dessen Rückseite schliesst sich das Verzeichniss der
Artikel des Lehenrechts und dann dessen Text selbst
an bis Fol. 117. In ihm ist durch den Ausriss eines Blattes
des zehnten Quaternes eine Lücke entstanden, indem der Text
1 Er sitzt in einer schön gewölbten Halle mit offenen Eingängen auf
beiden Seiten, über welcher links und rechts zwei Thurmhallen ohne
Zinnen und in der Mitte ein Thurm mit Zinnen sich erheben, im
Kaisermantel mit der Krone auf dem Haupte in dem königlichen Stuhle,
in der Rechten das Scepter haltend, umgeben von den zu beiden Seiten
stehenden drei geistlichen und vier weltlichen Kurfürsten, von welchen
der Herzog von Sachsen als Marschall durch das aufrecht gehaltene
Reichsschwert gekennzeichnet ist, und hat die Linke noch auf einem
verschlossenen Buch liegen, welches eine vor ihm knieende in weiss
seidenen reich mit Gold übersäeten faltigen Mantel gekleidete schöne
Mannsgestalt mit gelocktem Haupthaare mit beiden Händen entgegen
nimmt, in deren Hintergründe sich ein vornehmer Jüngling wieder mit
gelocktem Haupthaare und eine Reihe ältlicher männlicher Wesen
befinden.
32
IV. Abhandlung: L. v. Rockinger.
des vorhergehenden mit den Worten bald nach dem Anfänge
von Art. LZ 112 c: ,der bode schal to deine minnesten van
eine liebben ene halue houe to lene, eder dat viff Schillinge'
schliesst, während das folgende Blatt mit den Worten am
Schlüsse von Art. 115b: ,[vra]gen vmrne len wen sine man'
beginnt.
Die berührten Verzeichnisse der Artikel des Land- wie
Lehenrechts sind bei Weitem ausführlicher als die Ueber-
schriften des Textes selbst.
Den übrigen Inhalt dieser Handschrift bildet die bekannte
Abhandlung von der Herren Geburt vom Sachsenlande, nach
welcher sich von derselben Hand in kleinerer Schrift folgende
fünf Zeilen theilweise mit roth übergeschriebenen römischen
Zahlen:
II VIII XII XXIX
Herschild se twene viff Schillinge he by sinen iaren
III XII
Hulde ban westacht desse wiset van tughe lemrecht
Unecht roff duue swe tuch but kempe beschorne.
Spelman vest achte desse wiset van tuge lemrecht
lenrecUt l" 8 III" 8 XIV" 8 I" 8 Il us XV
Uorderen nicht beteren nemen anders gifft were werschap
finden, das Hildesheimer Dienstrecht und Jus litonicum in der
Fassung, wie es Freiherr v. Fürth in den Ministerialen Beil. V
S. 525—527 mittheilt, das Magdeburger Dienstrecht wie eben
dort Beil. IV S. 523 und 524, endlich das kleine Kaiserrecht,
wozu Rockinger Q S. 420/421 und 427—432 zu vergleichen.
210.
Lueneburg, ebendort. Auf Pergament in Grossfolio am
Ende des 14. Jahrhunderts gefertigt, gleichfalls niederdeutsch.
Kraut a. a. O. S. 1—3. Homeyer Nr. 421; in seiner Einleitung
zum sächsischen Lehenrechte S. 25 unter Ziffer 57.
In dieser Handschrift des sächsischen Landrechts mit
Glosse und des sächsischen Lehenrechts ohne solche finden
sich in dem ersteren auch Verweisungen auf das ,Keyser-
recht' oder Landrecht des sogen. Schwabenspiegels, beispiels
weise zu I Art. 67, zu II Art. 4, und weiter, sodann gleichfalls
im Lehenrechte am Rande solche auf das Kaiserlehenrecht
oder das Lehenrecht eben wieder des sogen. Schwabenspiegels.
Berichte über Handschriften des sog. Scliwabenspiegels. XI.
33
211.
Lueneburg, ebendort. Auf Pergament in Grossfolio im
15. Jahrhundert gefertigt, niederdeutsch. Kraut a. a. 0. S. 3—9.
Homeyer Nr. 422. Steffenhagen in den Sitzungsberichten der
phil.-hist. Classe der Akademie der Wissenschaften zu Wien,
Band CVI, S. 200—202.
Diese am Anfänge auf der Kehrseite der ersten vier
Blätter mit vier blattgrossen farbenprächtigen Bildern von un
gewöhnlich schöner Ausführung bei einer Bildfläche von je
30 Centimeter Höhe und 21 Centimeter Breite geschmückte
Handschrift des sächsischen Landrechts mit der Glosse Brand’s
von Tzerstede enthält gleichfalls Verweisungen auf das
,Keys er landrecht' wie ,Keyser recht' oder das Landrecht
des sogen. Schwabenspiegels, nicht aber auf dessen Lehenrecht.
Eine Stelle aus dem ersteren, LZ Art. 286a, ist in der
Glosse Brand’s von Tzerstede zur Vorrede ,von der Herren
Geburt' nach Steffenhagen a. a. 0. S. 226 [§. 12J in ihrem
Wortlaute nach zwei besonderen Texten — vgl. auch was bei
der Handschrift 235 der Bibliothek der Stadtkirche in Sonders
hausen bemerkt ist — folgendermassen excerpirt und inter-
polirt: Dat keyserlandreckt secht ok: In welker stad schepen
syn, dat synt gesworene radmanne, de scholen ordele geuen
ouer jewelke sake, unde nemand anders, ut keyserreckt ca-
[pituljo cc. lxxxvj, uel keyserrecht li[bro] tertio lege Ixix § ij.
212.
Lueneburg, ebendort. Auf Pergament in Kleinfolioformat
im 15. Jahrhundert gefertigt, gleichfalls niederdeutsch. Kraut
a. a. 0. S. 18 und 19. Unger in den Göttinger gelehrten An
zeigen vom Jänner 1841 S. 15. v. Lassberg Nr. 83. Homeyer
Nr. 424.
Den Inhalt dieser Handschrift bildet ein sogen. Schlüssel
des Landrechts.
213.
Lueneburg, ebendort. Von den am Schlüsse der eben
berührten Handschrift befindlichen zwei Verzeichnissen von
Artikeln bezieht sich das erste auf das Land recht des
sogen. Schwabenspiegels.
Sifczungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 4. Abh.
3
34
IY. Abhandlung: L. v. R o c k i n g e r.
Kraut a. a. 0. S. 19: Claudunt codicem duo indices, unus
juris provincialis alemannici, alter speculi saxonici.
[Bei Lüneburg mag bier im Vorübergehen auch noch
erinnert sein an die] Nrn. 1(J3, 168, 236.
214***
Lueneburg, im ehemaligen Michaeliskloster, dann in der
Bibliothek der im Jahre 1850 aufgehobenen Ritterakademie
dortselbst.
Auf den inneren Seiten der Deckel einer alten Ausgabe
des Corpus juris, gedruckt durch Francois Fradin 1514—1518,
in 6 Grossfoliobänden in der Bibliothek des genannten Klosters
entdeckte Prof. L. A. Gebhardi in Lüneburg Pergamentbogen
alter Handschriften, wovon 8 einer in zwei Spalten zu je 30
Zeilen mit rothen Anfangsbuchstaben der ohne Ueberschriften
erscheinenden nur mit rothen römischen Zahlen bezeichneten
Artikel im 14. Jahrhundert gefertigten Handschrift des Land-
und Lehenrechts in Klcinfolio angehören. Amtmann Wedekind
zu Lüneburg machte einen Theil des Fundes in dem All
gemeinen literarischen Anzeiger von 1798, Nr. 86, S. 877/878
bekannt. Prof. Ebers daselbst schrieb alsbald auch den Rest
ab, und mit dessen Vorbericht ist sodann das Ganze in Dr. Ernst
Spangenberg’s Beiträgen zu den teutschen Rechten des Mittel
alters u. s. w. S. 216—226 mitgetheilt worden, v. Lassberg
Nr. 84. Homeyer Nr. 425.
Es enthält Reste des Land rechts des sogen. Schwaben
spiegels in der mit dem Art. LZ 313 abschliessenden Gestalt
von den Worten ,sint se aber ime abegesegit, her ne haP im
Art. 201c an bis Art. 313 mit dem Schlüsse ,man sol im vor-
delin eygen un len un alle wertliche ere‘ in mitteldeutscher
Sprache. Nach zwei besonderen Artikeln — 323 und 324
S. 224 — in niederdeutscher Sprache schlicsst sich gleichfalls
in dieser das sächsische Lehenrecht an.
Sind diese Bruchstücke in dem von Martini im Jahre
1827 in Druck gegebenen Kataloge der Bibliothek der ehe
maligen Ritterakademie zu Lüneburg aufgeführt, so vermag ich
über den jetzigen Lagerort nur die nachstehende Mittheilung
des Stadtbibliothekars daselbst, Direktors a. D. der Realschule
Dr. Wilhelm Friedrich Volger, vom 16. November 1873 zu
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
35
geben: Da die Mehrzahl der Handschriften der Akademie der
Göttinger Universitätsbibliothek 1850 zugefallen ist, so kann ich
fast mit Gewissheit behaupten, dass die bezeichneten Bruch
stücke sich in Göttingen finden. Nach der königlichen Bibliothek
in Hannover sind sie meines Wissens — ich besorgte damals die
Vertheilung — nicht gekommen.
Die Erkundigungen bei meinem Aufenthalte in Göttingen
im Herbste 1875 blieben ohne Erfolg. Aber auch in Eduard
Bodemann’s Verzeichniss der ,Handschriften der königlichen
öffentlichen Bibliothek zu Hannover* habe ich sie, obwohl
daselbst an den verschiedensten Orten Handschriften des Lüne
burger Michaelisklosters begegnen, nicht gefunden. An etwaiges
Vorhandensein in den unter den Nrn. 848—862 S. 540 er
wähnten 15 starken Folianten der Collectaneen des Prof. L. A.
Gebhardi wird kaum zu denken sein. Ebenso wenig wohl an
ein solches in seiner unter Nr. 976 S. 558 berührten histori
schen Beschreibung des Klosters und der Ritterakademie zu
s. Michaelis in Lüneburg.
[In der Luetzelnaue im Rheingaue stand seinerzeit in
amtlichem Gebrauche die] Nr. 8.
[Der Diakon Konrad von Luetzelnheim schrieb im
Jahre 1287 zu Freiburg im Breisgaue und Vörstätten in dessen
Nähe die] Nr. 89.
214 y 2 .
In die Stadtbibliothek von Luzern gelangte nach brief
licher Mittheilung des Vorstandes des fürstlich Fürstenberg-
schen Archives und der dortigen Hofbibliothek Dr. Baumann
zu Donaueschingen vom 25. September 1884 aus dem Besitze
des Pfarrers G. Mayer von Oberurnen, der sie in seiner Gegend
bei einem Privatmann entdeckte, eine Handschrift des sogen.
Schwabenspiegels aus dem Jahre 1426.
Nach einer Zuschrift des Staatsarchivars Dr. Theodor
von Liebenau in Luzern vom 16. Oktober 1884 ist sie vor
etwa drei Jahren erworben worden, auf Papier gefertigt, und
enthält am Schlüsse folgende Einzeichnung: Conscripsit et
complevit Johannes dictus zum Bach pictor per procurationem
patris meis, cuiusdam ydonei civis Lucernensi opidi, nomine
Nicolai zum Bache, pictoris ibidem. Facta et impleta et scripta
3*
36
IV. Abhandlung: L. v. Kockinger.
sunt kec in vigilia sancto Matkie apostoli, scilicet VII Kal.
mensis Februarii sub anno domini M° CCCC 0 XXVI 0 .
[Zu Luzern befand sick in den Neunzigerjakren des
15. Jakrkunderts die] Nr. 1.
[Vom Gymnasialdirektor Wiggert in Magdeburg erhielt
Prof. Dr. Gustav Homeyer in Berlin zum Geschenke das
Bruchstück der] Nr. 40.
[Insoferne zu den Quellen der IX Blicker Magdeburger
Rechts — vgl. Dr. Emil Steffenhagen’s Deutsche Rechtsquellen
in Preussen vom 13. bis zum 16. Jahrhundert S. 138 bis 200
— der sogen. Schwabenspiegel zählt, mag hier auch der a. a. 0.
S. 139 bis 143 aufgezählten Handschriften gedacht sein.]
[In der fürstlich Oettingen-Wallerstein’schen Fideicommiss-
bibliothek zu Maihingen unweit Wallerstein befinden sich
die] Nrn. 383 und 384.
[Peter von Backarach, Bürger zu Mainz, schrieb im
Jahre 1401 die] Nr. 8.
[Prof. Dr. Franz Josef Bodmann zu Mainz erwarb im
Jahre 1795 die] Nr. 55.
[Mit Handschriften der kurfürstlichen Bibliothek von
Mainz kamen in die Hofbibliothek zu Aschaffenburg die]
Nrn. 8 und 9.
[Die Beziehung des Hieronymus von der Lahr auf Mainz
beruht, indem nicht von Mainz, sondern von Wien -— vgl.
Band CXVIII, Abh. X, S. 15/16 — die Rede ist, auf einem
Leseversehen bei der] Nr. 126.
215***.
Gabriel Mail’, Bürger und Stadtgerichtsassessor zu Regens
burg, besass im Anfänge des 17. Jahrhunderts eine Papier
handschrift unseres Land- und Lehenrechts in 529 durch
gezählten Artikeln, wovon 378 auf das Landrecht fallen,
welche ein Johannes im Jahre 1475 gefertigt, aus
der sich Einträge und das Verzeichniss der Artikel erhalten
haben in der Nr. 270.
Vgl. hierüber Rockinger A S. 412/413, 420, 430/431,
und insbesondere K im Anhänge S. 206—211.
[Aus dem Benediktinerstifte Mallersdorf in Niederbaiern
stammen die] Nrn. 249 und 274,
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
37
216***.
Für den Ritter Rudeger den Manessen 1 den Aelteren zu
Zürich hatte der Schreiber Wild im 13. Jahrhundert eine
Pergamenthandschrift in Folio des Buches der Könige alter
Ehe, des kaiserlichen Land- und Lehenrechts, und des be
kannten Mainzer Landfriedens des Kaisers Friedrich II. vom
Jahre 1235 in seiner deutschen Fassung gefertigt.
Nach Einträgen aus ihr in der Nr. 270 schenkte sie ihr
Besitzer in den Jahren 1264—1268 dem oberpfälzischen Edel
knechte Heinrich von Präckendorf. Dann fand sich in ihr das
Wappen des Rathsherrn Urban Trinkl oder Trünkl oder
Trunkl von Regensburg aus der ersten Hälfte des 15. Jahr
hunderts. Am 7. Februar 1609 gehörte sie einem Herrn A —
ob Adler? oder Aichinger? oder wem immer — daselbst, und
der Rathsherr Nikomed Schwäbel theilte sie da dem damaligen
Besitzer der berührten Nr. 270 zur Einsichtnahme mit. Weitere
Spuren über sie sind bis jetzt nicht aufgetaucht. Vgl. Rockin-
ger A S. 413—449; jetzt namentlich die Untersuchung über
die Abfassung des kaiserlichen Land- und Lehenrechts in den
Abhandlungen der historischen Classe der Akademie der Wissen
schaften in München XVIH S. 285—309 und 659 660.
[Aus dem Benediktinerstifte s. Mang zu Füssen in Ober-
baiern stammt die] Nr. 384.
[In die Probstei s. Andreas und Mang zu Stadtamhof
bei Regensburg gehörte früher die] Nr. 253.
[In das kurpfälzische Archiv zu Mannheim mag seiner
zeit gelangt sein die] Nr. 158.
[Aus der kurpfälzischen Bibliothek zu Mannheim, E —
nämlich Jurisprudenz — Nr. 15 2 stammt die] Nr. 236.
217***.
Nach der zu Marburg oder früher Marchburg in der
Steiermark geschriebenen Vorrede vom 7. August 1531 hat
Wolfgang Sckallinger dortselbst die in der Nr. 4 aufgeführten
Rechte ohne irgend welche Veränderung der alten Vorlagen
1 Vgl. v. Wyss, Beiträge zur Geschichte der Familie Maness, S. 4—10
im Anzeiger für Schweizerische Geschichte 1870, Nr. 2 und 3, S. 21 — 24,
49—53; Zürich am Ausgange des 13. Jahrhunderts, 1876, S. 23—26.
38
IV. Abhandlung: L. v. Rockinger.
abgeschrieben. Ygl. Kaltenbaeck’s Bericht im Anzeigeblatte
zu den Wiener Jahrbüchern der Literatur, Band 115, S. 35—42.
Bischoff, Steiermärkisches Landrecht des Mittelalters, S. 21
Nr. 10.
[Rubein von Marchelkofen im ehemaligen niederbaie-
rischen Gerichte Teisbach schrieb im Jahre 1473 diej Nr. 243.
218.
Benediktinerstift Marienberg in Tirol. Nach Mittheilung
des P. Basilius Schwitzer von dort aus Meran vom 8. Dezember
1880: Papierhandschrift, im Jahre 1461 ,per Johannem Rotarii'
von Niederndorf 1 in zwei Spalten mit kleiner Schrift gefertigt,
in Holzdeckel mit Messingbeschlägen gebunden.
Das Landrecht in 293 Artikeln füllt 78 Blätter, wovon
mehrere ausgerissen sind, worauf das Lehenrecht in 142 Ar
tikeln auf 36 Blättern folgt, dem sich noch am Schlüsse des
Kaisers Ludwig IY. älteres oberbaierisches Landrecht anreiht.
[Nachrichten über die Mar Schälle von Reichenau aus
den Jahren 1499—1537 finden sich in der] Nr. 203.
[Von einem Martin ist im Jahre 1480 geschrieben die]
Nr. 97.
[Martin Gollir hat rubricirt die] Nr. 118.
[Von ,Martinus Ravenspurg scriptor in KirchheinP ist
gefertigt die] Nr. 143.
[Johann Mathas von Rodelshausen schrieb im Jahre
1438 die] Nr. 138.
[Mathes von Straubing, Schreiber zu Enns in Oberöster
reich, schrieb 1415/1416 die] Nr. 306.
[Hennerich Maul hat sich im Jahre 1566 eingezeichnet
in die] Nr. 119.
[Für Erasm Mäuslein, Pfleger zu Falkenstein, schrieb
Pangraz Ilaselberger im Jahre 1434 die] Nr. 405.
[Der Gösser Rentmeister Kajetan von Mayern stiess
auf dem Dachboden des Pichelhofes zu Vordernberg in Steier-
1 Nach der Einzeichnung am Schlüsse: Completum est per me Johannem
Rotarii de Niderndorff sub anno domini m° cecc 0 Ixi feria 4 ante festum
s. Georii.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
39
mark am Anfänge der Vierzigerjahre unseres Jahrhunderts auf
die] Nr. 153.
[Aus der ehemals M a z ar i n'sehen Bibliothek in Paris
stammt die] Nr. 302.
219***.
Die Handschrift des Dr. Sebastian Meichssner, die er
im Hinblicke auf die von ihm angewendete Schreibweise als
,sehr alt vnnd vncorrect* bezeichnet, liegt nach seiner zu Heidel
berg am 20. Jänner 1561 geschriebenen Vorrede der in Frank
furt am Main im Jahre 1566 erschienenen Druckausgabe des
kaiserlichen Land- und Lehenrechts zu Grunde, v. Lass
berg Nr. 85, theilweise mit der folgenden Nummer verwechselt.
Homeyer Nr. 439.
220***.
Ausserdem besass Dr. Sebastian Meichssner nach der
berührten Vorrede noch eine grosse Handschrift, welche ,in
anno 1472 zu Tleydelberg geschriben und zum fleissigsten und
ordentlichsten auch von der Teutschen rechten ausz diesem —
nämlich dem sogen. Schwabenspiegel — und dem Sachssen-
spiegel, auch andern Büchern verfasst worden* ist, und welche
er mit der Zeit herausgeben wollte, v. Lassberg Nr. 85, theil
weise mit der vorhergehenden Nummer verwechselt. Homeyer
Nr. 440.
Darf man hier etwa an die nunmehr in der Universitäts
bibliothek von Giessen befindliche Handschrift 974 denken,
Nr. 111?
[Aus dem Nachlasse des Gymnasialprofessors Johann Joa
chim Meier zu Göttingen erkaufte Freiherr v. Senkenberg im
Oktober 1737 die] Nr. 119.
[Konrad Meier von Burghausen in Oberbaiern schrieb
im Jahre 1428 die] Nr. 202.
[Johann Meilinger aus Wasserburg in Oberbaiern schrieb
im Jahre 1464 die] Nr. 241.
221***.
Meiningen, herzogliche Bibliothek. Nach gewissen Wahr
nehmungen bei der sogleich folgenden Nummer zu scldiessen,
dürfte jene Handschrift vollständig auch das Buch der Könige
40
IV. Abhandlung: L. v ltockinger.
alter Ehe und das Landrecht, und zwar wahrscheinlich mit
den von Rockinger in F S. 298—300 und 310 wie 318—335
behandelten Zusätzen, noch umfasst haben, letzteres wohl in-
soferne das eben in Nr. 222 noch erhaltene Lehenrecht der
berührten Gruppe angehört.
Das Buch der Könige und das Landrecht füllten 15 Qua-
terne. Ist die Annahme richtig, dass das Land- und Lehen
recht nach dem Buche der Könige besonders foliirt gewesen,
wovon am Anfänge des Lehenrechts noch die Zählung von i4
an erübrigt, so würde das Buch der Könige bis über die Mitte
des sechsten Quaternes gereicht haben und von da an sich
das Landrecht mit den betreffenden Zuthaten bis an den
Schluss des fünfzehnten Quaternes beziehungsweise Fol. 73 ge
reiht haben.
222.
Meiningen, herzogliche Bibliothek, Nr. 40. Auf Perga
ment in Folio zweispaltig im zweiten Viertel des 14. Jahr
hunderts mit rothen Ueberschriften der Artikel und abwech
selnd rothen und blauen Anfangsbuchstaben derselben gefertigt,
nach einer Bemerkung am oberen Rande der Innenseite des
Vorderdeckels ,aus der Münchner Bibliothek im Jahre 1631 {
stammend, während auf der Rückseite des jetzt ersten und
Titelblattes sich die Einzeichnung des Herzogs Bernhard zu
Sachsen findet:
I[n] Vjulneribus] C[hristi] Tfriumpho].
Bfernhart] Hjertzog] Z[u] Sjachsen],
1678,
in Pappendeckel mit rothem Sammtüberzuge gebunden. B. G.
Walch in Meiningen in Johann Georg Meusel’s Historisch
literarischem Magazin I S. 122/123. v. Lassberg Nr. 86.
Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde
VIII S. 672. Homeyer Nr. 444.
Diese Handschrift ist offenbar nur mehr ein Theil einer
Handschrift des (Buches der Könige alter Ehe und des) sogen.
Schwabenspiegels, und zwar der das Lehenrecht desselben
enthaltende, indem ihre vier Quaterne je auf der letzten Seite
unten die ursprünglichen römischen Zahlen 16—19 einschliess
lich aufweisen und sich auch noch auf dem ersten Quaterne
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
41
je oben in der Mitte zwischen den Spaltenlinien eine frühere
arabische Folienbezeichnung 74—81 einschliesslich findet.
Das jetzige erste Blatt bildet gewissermassen als Titel
blatt ein auf Pergament in Farben ausgeführtes Bild des im
kaiserlichen Stuhle sitzenden Reichsoberhauptes mit der Krone,
den Scepter in der linken Hand haltend, hinter welchem der
Träger des Reichsschwertes steht, während aus der rechten
Hand der Herzog von Baiern in knieender Stellung die Fahne
des Herzogthums mit den silbernen und blauen Wecken em
pfängt, hinter welchem vier Gestalten Fahnen ohne Wappen und
nur an kürzeren Stangen halten.
Mit dem jetzigen Fol. 2 beginnt unter der rothen Ueber-
schrift ,Hie hevet sich an daz Lehen Puch 4 das Lehenrecht
bis Fol. 33' Sp. 1: vnd der heilig geist. amen. Deo gracias.
Die Reihenfolge der Artikel in ihrem Verhältnisse zur
Nr. 224, zum Ambraser Codex in Wien, der Nr. 388, zu den
Druckausgaben v. Berger’s, Schilter’s, v. d. Lahr’s u. s. w.
führt die ,Harmonie der Kapitel 4 hei Walch a. a. 0. I
S. 129—132 in der ersten Spalte vor Augen.
Den Text der Artikel 1—16 einschliesslich hat er eben
dort II S. 75—111 und HI S. 75—83 mitgetheilt.
223.
Meiningen, ebendaselbst, Nr. 41. Auf Papier in Gross
folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und ab
wechselnd rothen und blauen Anfangsbuchstaben derselben im
15. Jahrhundert gefertigt, in Holzdeckel mit braunem reich
gepressten Lederüberzuge gebunden, früher mit je fünf Buckeln
und zwei Schliessen versehen. Auf Streifen der zum Verbinden
der einzelnen Lagen und Bogen verwendeten Pergament
urkunden des 15. Jahrhunderts erscheint einmal eine Eilsa
dicta Vogelerin de Kyppenheim olim in opido Rynöwe dum
vixit, dann eine N Vsemberges des Schuhemachers vnd Briden
sinre elichen würtin dohter zu Straszburg, u. s. w. v. Lass
berg Nr. 87. Archiv a. a. O. VIII S. 672/673. Ilomeyer
Nr. 446.
Die Fol. 1—6' bieten unter der rothen Ueberschrift mit
blauer Initiale ,Hje vohet sich one des buches capitel das da
genant ist das keyser reht, vnd saget vns von allen dingen
42
IV. Abhandlung: L. v. Rockin-ger.
noch dem rehten also sü gesait sint noch dem rehten/ das
Verzeichniss der 369 Landrechtsartikel. Nach den
leeren Blättern 7 und 8 folgt in der Weise, dass auf der ersten
Seite des Fol. 9 unter der noch nicht ausgeführten grossen für
die ganze Höhe und zwei Drittheile der Breite berechneten
Initiale H roth ,erre got himelscher vatter, durch dine milte
güte geschüffe du den menschen mit driualtiger' steht, das
Landrecht selbst je unter rother Voranstellung der Zahl der
Artikel bis Fol. 119. Nach den leeren Blättern 120—130 be
ginnt unter der rothen Ueberschrift mit blauer Initiale ,Hje
vohet sich an des buches cappitel das da genant ist daz lehen
rehff mit Fol. 131 das Verzeichniss der 152 Artikel des
Lehen rechts bis Fol. 132' Sp. 2, und nach den leeren Blättern
133—141 dieses selbst unter der rothen Ueberschrift ,IIie vohet
sich an das Lehen recht, vnd saget gar eigentlich von allen
lehen, wie man die enpfohen sol von dem herren, vnd wie der
herre sin manne halten sol, vnd wie der man sinen herren
halten soll nach einem vielleicht für ein Bild bestimmten leeren
Raume von etwa einer halben Seite mit der grossen roth und
blau gefertigten Initiale W, wieder unter rother Vorsetzung
der jedesmaligen Artikelzahlen von Fol. 142—185 Sp. 2.
223 </,.
Meiningen, ebendaselbst, Nr. 42. Auf Papier in Gross
folio um die Mitte des 15. Jahrhunderts gefertigt, in starkem
Holzdeckelbande mit rotkem Sammtiiberzuge und Goldschnitt,
mitteldeutsch. Archiv der Gesellschaft für ältere deutsche
Geschichtskunde VHI S. 672. Homeyer Nr. 443.
Aus dem Inhalte dieser Handschrift fällt das am letzt
genannten Orte gleich an erster Stelle berührte Abecedarium
oder alphabetische Rechtswörterhuch hieher. Es finden
sich nämlich nach einer gütigen Mittheilung des Herrn geh. Hof-
rathes Brückner auf eine desfallsige Anfrage in demselben
unter den betreffenden Schlagworten auch die Verweisungen auf
unser Landrecht. So beispielsweise gleich unter ,abehauwen‘
folgendes: Wer dem andern seynir glede eyns abeliauwit adir
abesneydet, dem sal man das selbe thun. in dem keyser rechte
l[ib]r. II ar[t], XXIX u. s. w.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XI.
43
224.
Meiningen, ebendaselbst, Nr. 44. Auf Papier in Folio
zweispaltig — mit Ausnahme der Verzeichnisse der Artikel —
mit rothen Ueberschriften und rothen Anfangsbuchstaben der
selben im 15. Jahrhundert gefertigt, in diesem und vielleicht
am Anfänge des folgenden 1 im Besitze des Henne Salmonn
und weiter des Ort zum Jungen, wie sodann des Johann zum
Jungen, in Holzdeckeln mit rothem Lederüberzuge und früher
je mit fünf Buckeln und zwei Schliessen. B. G. Walch in
Johann Georg Meusel’s Historisch-literarischem Magazin I
S. 124. v. Lassberg Nr. 88. Archiv a. a. 0. VIII S. 673.
Ilomeyer Nr. 447.
Von Fol. 2—9 reicht das Verzeichniss der 392 Ar
tikel des Land rechts, denen die laufende römische Zahl
roth beigesetzt ist. Dieses selbst folgt unter der rothen Ueber-
schrift ,Hie heb ent sich an das Lant recht buche, vnd von
erste die vorredde' von Fol. 10—105' Sp. 2 unter rother An
fügung der Artikelzahlen am Rande. Von Fol. 107—109' schliesst
sich das Verzeichniss der 156 Artikel des Lehenrechts,
gleichfalls roth gezählt. Dieses selbst folgt unter der rothen
Uebersclirift ,Hie hebent sich ane alle Lehenrechte etc.' von
Fol. 110—141 Sp. 1 wieder unter Beifügung der rothen Zahlen
am Rande, und zwar so, dass hier auch das in dem eben er
wähnten Verzeichnisse der Artikel nicht besonders mehr auf
geführte Schlusskapitel mit 157 bezeichnet ist.
Den Schluss der Handschrift bilden, von derselben Hand
von Fol. 143 beziehungsweise 144 einspaltig geschrieben, die
Sprüche Freidank’s.
Die Reihenfolge der Artikel des Lehenrechts in ihrem
Verhältnisse zur Nr. 222, zum Ambraser Codex in Wien, der
Nr. 388, zu den Druckausgaben v. Berger’s, Schilter’s, v. d.
Lahr’s u. s. w. führt die ,Harmonie der Kapitel' bei Walch
a. a. 0. I S. 129—132 in der letzten Spalte auf.
1 Nach einer Einzeichnung von drei verschiedenen Händen auf der ersten
ursprünglich leer gewesenen Seite: Diz hoch ist Henne Salmonns etc.
Vnd ist nu Orten zu seinem an teil worden, Orten zum Jongen. Vnd
furter Johan zum Jungen.
44
IY. Abhandlung: L. v. Kockinger.
Dem Texte der Artikel des Lehenrechts 1—16 ein
schliesslich aus der Nr. 222 hat er ebendort II S. 75—111
und III S. 75—83 auch die Abweichungen der jetzigen Nummer
beigefügt.
225.
Meiningen, ebendaselbst, Nr. 50. Auf Pergament in Folio
zweispaltig um die Mitte des 15. Jahrhunderts 1 gefertigt, nieder
deutsch, vielleicht aus Soest oder der Umgegend 2 stammend,
durch Schenkung der Susanna Leisner im Jahre 1626 an
ihren Verwandten J. Hektor Faust von Aschaffenburg 3 gelangt,
in Holzdeckel mit rothem gepressten Lederuberzuge gebunden,
früher mit je fünf Buckeln und zwei Sckliessen versehen. IIo-
meyer Nr. 442; in seiner Einleitung zum sächsischen Lehen-
rechte S. 25 unter Ziffer 58.
Nach dem Land- und Lehenrechte des Sachsenspiegels
und dem Richtsteige des Landrechts, an dessen Schluss auf
Fol. 100' Sp. 2 ,Deo laus, amen' steht, folgen von der gleichen
Hand von Fol. 101—104 Sp. 2 unter rothen Ueberschriften und
mit rothen Anfangsbuchstaben 11 Artikel, wovon der letzte
,von der antworde vmme gut dat dy ghedän is‘ einem Richt
steige angehört, die übrigen zehn in folgender Weise aus dem
Lehenrechte des sogen. Schwabenspiegels gezogen sind:
1. Van tinslene dat eyn here lenet = LZ 125.
2. De romessche koning steruet 4 = LZ 147.
3. Ofte eyn man vorsettet eyn gut = LZ 25.
4. Wor men myt dren mannen tughen sal = LZ 27.
1 Am Schlüsse des ersten von anderer Hand geschriebenen deutschen
Gedichtes ,dis ist daz Anderlant* auf Fol. 105' Sp. 1 steht roth: Ex-
plicit die Erhardi anno 1455.
2 Am Schlüsse des zweiten deutschen Gedichtes ,o geselle, nu spare dyn
gut 1 auf Fol. 106' Sp. 1 ist roth die Bemerkung angefügt: Anno etc.
47 jr nül stormt man Soyste.
3 Nach einer schwarz geschriebenen Eiuzeichnung am unteren Rande der
ersten Seite: Ex liberalitate affinis Susannae Leisnerin viduae me possidet
1626 J. Hector Faust von Aschaffenburg.
4 An den oberen Rand ist von einer Hand des 17. Jahrhunderts bemerkt:
Pfalzgraff vicarius des Reichs, jtem Richter vbern König.
Der Schluss lautet: Desse ere heuet de palensgreue van deine
Rine dar vmme wante he ouer den konynk richter is.
Berichte über Handschriften des sog. Sctnvabenspiegels. XI.
45
5. Wan .eyn gut vntfeyt zyme heren = LZ 31 und 35
von den Worten der Zeile 7 an: jd en si dat he synes liues
vorte, ofte he id dan weder sproken hadde u. s. w.
6. Ofte eyn nicht gut an synes vorspreken wort =
LZ 37 und 41.i
7. Ohne Ueberschrift = LZ 85b cd.
8. Van schilt lene = LZ 98.
9. Ohne Ueberschrift = LZ99 2 und 112a von den Worten
der Zeile 13 der S. 204 Sp. 2 ,de here sal ok an de stad dem
manne dach glieueik bis an den Schluss von L 112 b: dessen
köre heuet de here.
10. Oft eyn nyne lene erue en heuet = LZ 122.
[Ambros Meusel von Wertheim hat sich in den Jahren
1629 und 1630 eingezeichnet in] Nr. 194 195.
[Für Erasm Meusel, Pfleger zu Falkenstein, schrieb
Pangraz Haselberger im Jahre 1434 die] Nr. 405.
[Einzeichnungen über Wolfgang Meusel finden sich
gleichfalls in der] Nr. 405.
[Konrad Meyer von Burghausen in Oberbaiern vollendete
im Jahre 1428 die] Nr. 202.
226***.
Eine alte Handschrift des sogen. Schwabenspiegels ,zu
Michelstadt in dem Erbachischen 4 erwähnt der Reichshof
rath Freiherr Heinrich Christian v. Senkenberg im §. 14 der
Vorrede zu seinem Corpus juris feudalis germanici mit dem
Anfügen, dass sie alle die seinigen übertraf. v. Lassberg Nr. 89.
Homeyer Nr. 450.
227 ***.
Ausser dieser Handschrift unseres Land- und Lehenrechts
führt aus Michelstadt noch einen mit der Nr. 61 verwandten
Codex eines umfangreichen alphabetischen Rechtswörter
buches, in Grossfolio gegen den Ausgang des 14. Jahrhunderts
wohl auf Papier gefertigt, der Reichshofrath Heinrich Christian
1 Schluss: Dyt recht hebbet de tweyne heren so dat rike ane konynges is.
2 Kamerleen heuet ende so de man vnde de here wylt id kamer leen is.
also wan eyn here spreket: ich lene dy vt myner kameren eyne mark,
myn ofte mer, dar en heuet de man nyne ghewer an.
46 IV. Abh.: L. v. Rockinge r. Ber. über Hanctschr. d. sog.Scbwabcnspiegels. XI.
Freiherr v. Senkenberg in seinen Visiones diversae de collcc-
tionibus legum germanicarum Cap. IV §. 62 S. 108 und in
der Vorrede zu seinem Corpus juris germanici publici ac pri-
vati ex medio aevo §. 109 mit dem Bemerken bezüglich der
Nr. 61 an: et emendatior Michelstadiensis, quo — cum Franco-
furto abirem — repetito et remisso, postea potiri denuo non
licuit. Homeyer Nr. 449, woselbst indessen von einem Richt
steige Landrechts die Rede.
[In die Bodmann-Habel’schen handschriftlichen Samm
lungen des Kreisrichters a. D. Wilhelm Conrady auf der
Miltenburg oberhalb Miltenberg in Unterfranken, zur Zeit
im baierisclien allgemeinen Reichsarchive in München, gehört
die] Nr. 55.
[Zu Möskirch in Baden ist im Jahre 1425 geschrieben
worden die] Nr. 401.
[Aus dem Benediktinerstifte Mondsee im Innviertel kam
in die k. k. Hofbibliothek zu Wien die] Nr. 399.
[Vgl. zu dieser Handschrift aus Mondsee auch noch
die] Nr. 282.
228***.
In demselben Mondsee befand sich auch nach der Man-
tissa chronici lunae-lacensis bipartita (München und Innsbruck
1749) S. 405 ein Liber jurium provincialum et feudalium a ss.
pontificibus impei’atoribus et regibus statutorum, in teutonico,
chart. fol.
Ob etwa die jetzt in der lc. k. Hofbibliothek zu Wien
befindliche Nr. 394?
[Der Gräfin Magdalena von Montfort gehörte in der
ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die] Nr. 263.
[Aus der gräflich Montfort’schen Bibliothek zu Hohen
ems stammt die] Nr. 234.
[Dem Stadtschreiber Joseph Bernhard Bart zu Moosburg
in Oberbaiern gehörte im Jahre 1770 die] Nr. 265.
V. Abb.: Brandt, üebei'd. dual. Zusätze etc. III. Ueber d. Leben d. Lactantius. 1
y.
Ueber die dualistischen Zusätze und die Kaiser
anreden bei Lactantius.
Nebst Untersuchungen über das Leben des Lactantius und
die Entstelmngsverhältnisse seiner Prosaschriften.
Von
Dr. Samuel Brandt,
Professor in Heidelberg.
III. Ueber das Leben des Lactantius.
JJie spärlichen Notizen, welche über die persönlichen
Verhältnisse des Lactanz sowie über seine schriftstellerische
Thätigkeit überliefert sind, haben schon sehr oft eine bald
längere, bald kürzere Behandlung von Seiten der Herausgeber
wie anderer Gelehrter gefunden *, gleichwohl ist eine erneute
1 Literatur. Besprechungen des Lactanz und seiner Arbeiten in all
gemein geschichtlichen, kirchen- und literargeschichtlichen Werken,
sowie gelegentliche Bemerkungen über ihn und seine Schriften, die
sich an mancherlei Stellen zerstreut finden, endlich einige Special
arbeiten werden in diesen Untersuchungen, wo es nötliig ist, genannt
werden. Hier verzeichne ich folgende Arbeiten zuerst von Heraus
gebern, deren sehr viele eine Vita des Lactanz vorausschicken: Isaeus
(1646) p. Xis.; Baluze zu seiner Ausgabe von De mortibus persecu-
torum, Miscellanea (1679) II p. 347ss., bei Le Brun-Lenglet II p. 277 ss.
nach der zweiten Ausgabe (1680) wiedergegeben; Le Nourry in den
Dissertationes zu seiner Ausgabe derselben Schrift (1710) p. 103ss.,
wiederholt in seinem alsbald zu nennenden Apparatus p. 1643ss.;
Pfaff in der Di.ssertatio praeliminaris seiner Ausgabe der Epitome der
Institutionen (1712); Heumann in seiner Ausgabe von Lactantii Sym
posium (1722), Praefatio p. XXVIIIss. und Appendix p. 211 ss., und in
seiner Gesammtausgabe (1736), Praefatio; Walch, Diatribe de Lactantio
eiusdemque stilo, in seiner Ausgabe (1735) p. Iss.; Le Brun-Lenglet
(1748) I p. XIVss. XXs.; Eduardus a S. Xaverio, In omnia L. Caelii
Lactantii Firmiani opera dissertationum praeviarum decas prima (1754)
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 5. Abh. 1
2
V. Abhandlung: Brandt.
Besprechung dieser Fragen nicht überflüssig. Denn einerseits
haben uns die beiden Abhandlungen über die dualistischen
Zusätze und Uber die Kaiseranreden bei Lactanz 1 mehrfach auf
Behauptungen über dessen Leben und schriftstellerische Arbeiten
geführt, deren Begründung nothwendig ist, dort aber nicht ge
geben werden konnte, andererseits herrscht über nicht wenige
Fragen noch grosse Unsicherheit oder geradezu ein falsches
Urtheil, und gewisse Gesichtspunkte sind für die Untersuchung
des Lebens und der literarischen Tlnitigkeit von Lactanz noch
gar nicht aufgestellt worden.
III. Ueber das Leben des Lactantius.
Zunächst muss von den Namen des Lactanz gesprochen
werden, und zwar sowohl deshalb, weil über sie vielfach ein
solches Schwanken stattfindet, dass z. B. Fritzsche auf der
ersten Seite seiner Ausgabe sagen konnte: Quae nomina Lac-
tantio fuerint, aegre dixeris, wie deshalb, weil bis in die
neueste Zeit mit dieser Frage die andere nach der Heimat
des Schriftstellers in Beziehung gebracht worden ist. Die zeit
lich Lactanz nahestehenden Autoren, Hieronymus und Augustin,
und Decas secunda (1757), es sind dies die Prolegomenen zu der Aus
gabe von Xaveriö, Rom 1754 ff., in 12 Bänden; die beiden ersten Disser
tationen über Namen und Herkunft des Lactanz hat Xaverio schon
Rom. 1751 in dem Apparates ad novam L. Caelii Firmiani Lactantii
operum editionem, der 40 Dissertationen enthalten sollte, aber nach
der zweiten abbricht, veröffentlicht; P. H. Jansen, Ausgewiihlte
Schriften des Firmianus Laktantius . . . übersetzt (1875) in der Kemp-
tener Bibliothek der Kirchenväter, S. 1 ff, 95 ff — Bearbeitungen von
anderen Gelehrten: Le Nourry, Apparates ad Bibliothecam Maximam
Veterum Patrum II (1715), Dissertatio III, p. 571ss.; Bertold, Prole-
gomena zu Laktantius, Metten 1861; Ebert ausser in seiner Geschichte
der christlich - lateinischen Literatur 2 (1889) S. 72 ff. und in Herzog’s
Real-Encyklopädie für protestantische Theologie und Kirche VIII 2
(1881) S. 361 ff., in der Abhandlung über den Verfasser des Buches De
mortibus persecutorum, Berichte über die Verhandlungen der Gesell
schaft der Wissenschaften zu Leipzig, phil.-hist. Classe, Band 22 (1871),
S. 115 ff.; Mecchi, Lattanzio e la sua patria, Fermo 1875; P. Meyer,
Quaestionnm Lactantianarum partjcula prima, Jülich 1878.
1 In diesen Sitzungsberichten 1889, Band CXVIII, Abhandlung VIII und
Band CXIX, Abhandlung I.
lieber die dual. Zusätze etc. III. Ueljer das Leben des Lactantius. 3
sagen kurz entweder Lactantius oder Firmianus, nur an der
noch oft zu nennenden Hauptstelle über Lactanz, bei Hiero
nymus, De uir. inlustr. c. 80, heisst es: Firmianus qui et Lac
tantius. Was die massgebenden Handschriften betrifft, so findet
sich, um Ueber- oder Unterschriften, die nur einen jener bei
den Namen enthalten, hier zu übergehen, in dem Bononiensis
(6./7. Jahrh.) in den Unterschriften der Bücher I, II, III, IV,
VII der Institutionen L. CAELI FIRMIANI LACTANTI,
in dem Parisinus 1663 (9. Jahrh.), der, abgesehen von den
dualistischen, den panegyrischen und einigen anderen kleinen
Zusätzen, im Grossen und Ganzen eine treue Ueberlieferung gibt,
in einer von vielleicht zweiter Hand am Rande zugefügten Ueber-
schrift des Buches I: CELII FIRMIANI, jedoch von erster
Hand am Ende der Bücher I (hier auf Rasur, nicht ganz sicher,
ob von 1. Hd.), III, V: L. CAELII (-LI) FIRMIANI, am
Ende von IV: CAELI FIRMIANI, in dem aus dem 12. Jahr
hundert stammenden Stück des guten Parisinus 1664 unter
Buch III: L CAELI firmiani, dazu kommt der Codex von
Valencienne 141 (9./10. Jahrh.) der Schrift De opificio dei mit
CAELII FIRMIANI LACTANTI. 1 Diesen Namen steht
gegenüber die Ueberlieferung des Parisinus 1662 (9. Jahrh.), der
unter Buch I: CECILII FIRMIANI hat, ebenso, nur mit der
Schreibung CAECILII, über Buch II, am Ende von De ira dei
ci
und De opificio dei, endlich unter Buch VII: CELI FIR
MIANI, ci wohl vom Corrector zugefügt. Allein dieser Codex
steht überhaupt an Werth hinter dem Bononiensis, der auch
viel älter ist, und dem Parisinus 1663 zurück und trägt viele
Spuren der Willkür, der Name Caelius aber konnte leicht in
Caecilius geändert werden 2 , und zwar viel leichter als um-
1 Ein zu Anfang von junger Hand hinzugefügtes Zeichen, welches auf
den ersten Blick wie ein ausgemaltes C aussieht, ist nur ein öfter beim
Beginn von neuen Abschnitten wiederkehrendes Paragraphenzeichen.
2 Es gibt nach den Verzeichnissen in dem Supplementum ad Acta Sanc-
torum der Bollandisten (1875) p. 251 ss. 396 ss., allein fünf Heilige, die
Caecilius heissen, und dazu zehn heilige Frauen namens Caecilia, da
gegen gibt es nur den einen Heiligen Coelius Sedulius. Auch in Hand
schriften von Profanschriftstellern ist Caelius sehr häufig in Caecilius
verändert worden, viel seltener dagegen Caecilius in Caelius. In dem
Apparat der Ausgabe des Nonius von L. Müller ist an 10 Stellen von
1*
4
V. Abhandlung: Brandt.
gekehrt Caecilius in Caelius. Noch weniger Gewicht als der
Parisinus 1662 hat der sehr interpolirte Montepessulanus 241
(10. Jahrh.), in dem unter Buch VI steht: L (am Rande
von vielleicht erster Hand zugefügt) CAECILI (so) FIR-
MIANI LACTANCI, woraus eine von ganz junger Hand
dem Buche I gegebene Ueberschrift stammt: L. Caecilii (dies
auf Rasur) Firmiani (über der Zeile) Lactantii. Es entscheidet
daher die Autorität jener beiden Codices, des Bononiensis und
des Parisinus 1663, zumal sie durch den Parisinus 1664 und
den Valentianensis wesentlich unterstützt wird, für Caelius als
Gentilname. Die Form Caelius oder Coelius ist in den ältesten
Ausgaben und noch lange nachher die stehende; erst als die
Schrift De mortibus persecutorum bekannt geworden (1679)
und Baluze (vgl. dessen Notae bei Le Brun-Lenglet II 280)
wegen deren Ueberschrift LVCII • CECILII auch für Lac-
tanz, dem er jene Schrift zuwies, den Namen Caecilius in An
spruch genommen hatte, begann die Verwirrung. Allein es
bedarf keines besonderen Beweises, dass die zuletzt genannte
Ueberschrift, über die wir in der später folgenden Abhandlung
über die literarische Thätigkeit des Lactanz noch handeln
werden, für unsere Frage nicht von Belang sein kann.
Wir haben demnach als Namen unseres Autors die her
kömmliche römische Verbindung von Praenomen, Nomen, Co-
gnomen in L. Caelius Firmianus, wozu noch Lactantius tritt.
Da Hieronymus an der angeführten Stelle diesen Namen mit
qui et anfügt, so ist in demselben das sogenannte Signum, eine
kurze familiäre Bezeichnung, zu erkennen. Es muss auf diese
bekannte Thatsache hier doch noch besonders aufmerksam ge
macht werden, damit man nicht, wie es bis in die jüngste Zeit
vorkommt, Lactantius vor Firmianus setze. 1
den 16, an denen Caelius Antipaler citirt ist, die Variante Caecilius (Ce-)
verzeichnet, auf die 98 Stellen dagegen des Komikers Caecilius kommen
nur 6 mit der Variante Caelius (Celius, Caeleus). In den sieben Bänden
der Keil’schen Grammatiker haben von 27 Stellen 3 Caelius (Coe-, Ce-)
für Caecilius, dagegen von 33 Stellen 6 den Namen Caecilius (Ce-)
für Caelius. — In jungen Laetanzhandschriften steht oft Caecilius; Bei
spiele aus den Pariser Codices gibt Lestocq bei Le Brun-Lenglet II
p. LVIIIss.
1 Vgl. über das Signum Marquardt-Mommsen, Handbuch der römischen
Alterthümer VII 2 , 26.
üeber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
O
Da Hieronymus De uir. inlustr. c. 80 sagt, dass Lactanz
ein Schüler des Arnobius gewesen, der nach Cap. 79 ,Siccae
apud AfricanF Lehrer der Rhetorik war, dass ferner von Lac
tanz ein ,Symposium* erhalten sei, ,quod adulescentulus scripsit
Africae* und ein 'cSowcopaov Africa usque Nicomediam hexa-
metris scriptum uersibus’, so war nichts natürlicher, als dass
man Lactanz in dem Lande, in dem er als ganz junger Mensch
schon war, auch geboren sein liess. Allein in neuester Zeit
kommt mehr und mehr die Meinung auf. Lactanz stamme aus
Italien, und zwar aus Firmuni in Picenum, dem heutigen
Fermo. 1 Nach Mecchi S. 5 soll zuerst Niccolo Peranzone in
seiner 1524 verfassten, aber erst 1793 durch Giuseppe Colucci
veröffentlichten Schrift De laudibus Piceni sive Marchiae Anco-
nitanae 2 von solchen gesprochen haben, welche Fermo für
die Heimat des Lactanz hielten. Das älteste Druckwerk, in
dem diese Ansicht vertreten wird, sind, wie es scheint, die
Magdeburger Centurien, Bd. IV (1560) p. 1075, dagegen hat
sich für Afrika als Vaterland des Lactanz zuerst wohl Baronius,
Annales eccl. III p. 321 ed. Pagi, erklärt, indem er, der
Tendenz seines Werkes entsprechend, jedenfalls sich zur Be
handlung auch dieser Frage durch die Angabe der Centuria-
toren veranlasst fand. Für Firmum sprechen sich von älteren
Gelehrten auch aus z. B. G. J. Vossius, De historicis Iatinis
(1651) p. 192; Cave, Scriptorum eccl. historia litteraria (ed. 1705)
p. 102; vornehmlich aber suchte Walch S. Off. diese Annahme
zu erweisen. An Baronius wiederum schlossen sich an Le
Nourry, Apparatus p. 575 s., und Heumann, Symposium
p. XXVIII ss. Gegen letzteren richtete sich dann mit lär
mender Polemik und einer Menge der hohlsten Scheingründe,
häutig nach Walch, Ed. a S. Xaverio in der zweiten Disser
tation, Decas prima, p. 49, und endlich hat der Fermaner
Mecchi 1875 in der S. 2 Anm. angeführten, sehr ausführ
lichen Schrift mit meistens aus Xaverio entnommenen Gründen
seiner Vaterstadt den Ruhm vindiciren wollen, Lactanz zu
ihren Söhnen zu zählen. Wie schon in älterer Zeit, nach den
1 Auch von Formiae hat man gefabelt, ja nach Mecchi S. 1 ff. sogar von
dem urkundlich Firmion genannten Schloss Sigmundskron bei Bozen.
2 Ich habe nach dieser Schrift bei mehreren der grössten deutschen
Bibliotheken vergebens angefragt.
6
V. Abhandlung: Brandt.
Angilben bei Xaverio p. 109 und Mecclii S. 5 ff., man sich
wohl überwiegend für Firmum entschieden hatte, so scheint
auch heutzutage diese Meinung die herrschende zu sein; sie
findet sich bei Ebert, Geschichte der ehrist.-lat. Literatur 2 S. 72
und in Herzog’s Encyklopädie VIII 2 S. 364 (,wahrscheinlich
italischer Herkunft 1 ); Teuffel, Geschichte der römischen Lite
ratur 4 S. 929; Hase, Kirchengeschichte (nach den neueren Auf
lagen) § 56; bei den Patristikern Alzog (1866) S. 170 und
Nirschl (1881) 1 368 und Anderen mehr oder minder bestimmt
ausgesprochen. Diese Ansicht haben wir nun zu prüfen. Nach
ihr soll Firmianus als Gognomen des Lactanz von Firmum ab
geleitet sein. Dagegen ist zu sagen, dass Cognomina, die von
Ortsnamen der ersten oder zweiten Declination gebildet sind,
nie auf -ianus, sondern immer auf -anus ausgehen, und schon
Isaeus sagte kurz und richtig: a Firmo Firmanus, non Fir
mianus fuerat dicendus. Zahlreiche Beispiele für solche Bil
dungen hat Hübner zusammengestellt, Quaestiones onomato-
logicae latinae, Ephemeris epigraphica II p. 53 ss.; ferner
Schnorr v. Carolsfeld, Das lateinische Suffix änus, Archiv für
lateinische Lexikographie und Grammatik I 178 ff. Solche Co
gnomina sind ursprünglich nichts anderes als der Einwohner
name und haben ganz die gleiche Form wie dieser; so sind
die von Ortsnamen auf -um abgeleiteten Beneuentanus, Nomen-
tanus, Tusculanus, Venafranus ebensowohl die Bezeichnung der
Einwohner überhaupt wie das Cognomen Einzelner. Für Fir
manus als Cognomen, welches von dem Namen der Stadt
Firmum herkommt, liegt der Name L. Tarutius Firmanus, in
dem Firmanus wohl eher Cognomen als Heimatsname ist, bei
Cicero De diuin. II 47, 98 vor; dann gibt es aber das Co
gnomen Firmanus, von dem Namen der spanischen Colonie
Augusta Firma gebildet (Hübner S. 54), wobei es natürlich für
das Wort nichts ausmacht, ob es von einem Stamme der ersten
oder der zweiten Declination hergeleitet ist. Allein der Beispiele
für Firmanus, von Firmum gebildet, bedarf es in einer so klaren
Sache nicht. Wie wir aus den Einwohnernamen Asculanus,
Paestanus, Pedanus, Toletanus schliessen müssen, dass die
entsprechenden, aber nicht nachweisbaren Cognomina ebenso
lauteten, so kann ein zu Firmum Geborener oder Wohnhaftei’,
dev sein Cognomen nach dieser Stadt hat, nur Firmanus
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Uebör das Leben des Lactantius.
7
heissen. Dieses ist nun aber auch auf lateinischem Gebiet die
einzige Form des Einwohnernamens, so bei Cicero VII Phil. 8,
23. ad Attic. IV 8 b, 3; bei Livius 27, 10, 7. 44, 40, 6; bei dem
älteren Plinius III 13 (18); bei dem jüngeren, Epist. VI, 18;
endlich in den wenigen vorhandenen Inschriften CIL. IX 5376.
5420. 5860; auch findet sich weder bei Mommsen, CIL. IX
p. 508, noch im Onomasticon von De-Vit eine andere lateinische
Form. Freilich ist es richtig, was Mecchi S. XI. 38 f. sagt,
dass es neben der griechischen Form <£>i'pp.ov, Strabo V 4, 2,
auch eine andere, dn'pp.tov, gab, Ptolemaeus III1, 52 (45), und dass
bei dem einzigen Autor, der den griechischen Einwohnernamen
gibt, bei Plutarch, Cato mai. 13, zweimal <btpp.tavo; geschrieben
ist; es sind hier die <J>tpp.tavot in dem Sinne von Firmana cohors,
Liv. 44, 40, 6, gemeint. Auf diese Stelle baut nun Mecchi, ab
gesehen von anderen nichtigen Grundlagen ', seinen Satz, Fir-
mianus als Cognomen des Lactanz sei von Firinum herzuleiten.
Um nun aber diese Form des Namens weiter zu rechtfertigen,
muss er den ganz unwahrscheinlichen Ausweg einschlagen,
Lactanz habe sich dieses Cognomen in griechischer Form erst
später beigelegt, als er in der griechisch sprechenden Stadt
Nicomedien lebte, wie Pomponius sich Atticus genannt habe.
Derartige luftige Hypothesen, denen noch die unerwiesene
Voraussetzung zu Grunde liegt, es habe im Griechischen nur
die eine Form ‘Jüpp.tavci, nicht auch eine andere, dhcp-avci, ge
geben, bedürfen keiner Widerlegung. — Uebrigens ist es ebenso
wenig zulässig, Firmianus etwa als ursprüngliches Nomen von
dem Stadtnamen Firmum herzuleiten; die Form müsste dann
wiederum Firmanus oder Firmanius heissen (Hübner S. 30 ff.,
64 ff., ein Beleg für Firmanius S. 67). Das Nomen Firmianus,
CIL. XIV 256 260, ist daher nicht von Firmum abgeleitet, sondern
aus demselben Cognomen, wie es Lactanz hat, entstanden.
Die richtige Erklärung des Cognomens Firmianus, die
schon längst Heumann, Symposium p. XXXII, gegeben hat, ist
vielmehr die, dass man es als eine Ableitung von dem zum
1 Falsch ist die Berufung auf Livius (ohne Stellenangabe) für Firmianus
bei Mecchi, S. XI Anm. 1 und S. 39, völlig unsicher, wie Mecchi
S. XII selbst zeigt, die Unterschrift eines Bischofs unter den Acten des
Lateranconcils vom Jahre 649; Beispiele ans der Renaissancezeit (Mecchi
S. XII f.) beweisen aber nichts,
8
V. Abhandlung: Brandt.
Namen gewordenen Adjectiv Firmus betrachtet. Beispiele
solcher Bildungen zeigen die Inschriften in Masse, Flaccus
Flaccianus, Florus Florianus, Fuscus Fuscianus, Primus Pri
mianus, Priscus Priscianus, Seuerus Seuerianus, Verus Verianus
u. s. w. Das Cognomen Firmus ist nicht selten, in den afrika
nischen Inschriften (CIL. VIII), die uns bei Lactanz besonders
interessiren, findet es sich etwa fünfzehnmal. Vielleicht trug
der Vater des Lactanz dieses Cognomen, wie z. B. in der bei
Marquardt-Mommsen, Handbuch der römischen Alterthümer VII 2 ,
S. 24, Anm. 5 angeführten Inschrift der dritte Sohn eines M.
Cosinius Priscus den Namen M. Cosinius Priscianus führt.
Vielleicht aber ist es auch eine Weiterbildung des mütterlichen
Gentilnamens, wie der Sohn des Flauius Sabinus und der Ve-
spasia Polla den Namen T. Flauius Vespasianus erhielt; als
Gentilnamen der Mutter ist dann das überall häufige, auch
für Afrika (CIL. VIII 730; 2586 34; 3667; 4081 eine Firmia)
bezeugte Firmius vorauszusetzen. Ausserdem aber ist Ableitung
von dem Namen anderer Verwandten oder sonst Nahestehender
möglich (vgl. Marquardt a. 0. S. 25). In der That lässt sich
nun auch der Name Firmianus mehrfach nachweisen, in Ober
italien CIL. V 4449 19. 5068. 5633, in Mittelitalien CIL. IX 1038.
1656 M. Tanonius Firmianus; die vorher bezeichneten Beispiele
geben nicht wie dieses letzte die drei Namen. Aus Spanien
ist der Name CIL. II 4568 überliefert, merkwürdiger Weise
ist es aber gerade Afrika, welches die verhältnissmässig meisten
Beispiele gibt, in denen Firmianus an dritter Stelle als Co
gnomen steht. CIL. VIII 7241: L. Caecilius Firmianus, in
der Grabschrift eines Fünfundzwanzigjährigen, durch ein Spiel
des Zufalls ganz derselbe Name, wie ihn Baluze für Lactanz
wollte, jedoch sind die Caecilii in Afrika ausserordentlich
häufig; 2569 ll: C. Pompeius Firmianus, nach ausdrücklicher
Angabe aus Lambaesis, wie auch die vorhergehende Inschrift
aus Numidien stammt; aus Mauretanien 8551: Q. Considius
Firmianus, in der Grabschrift eines Dreiundzwanzigjährigen.
Sollen dies nun etwa doch Leute aus Firmurn sein, wie man
nach Mecchi den Thatsachen zum Trotz behaupten müsste?
Auch ein Bischof der Provinz Numidien Firmianus wird in dem
Verzeichniss der bei der Besprechung zu Karthago im Jahre 484
versammelten Bischöfe genannt, in Victor Vitensis ed. Petschenig
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
9
p. 119, 6. Es bietet sich uns also eine ganz einfache und völlig
sichere Erklärung des Namens Firmianus, während umgekehrt
die Herleitung' von Firmum allen Thatsachen und Analogien
widerspricht. Vielleicht wird meine Widerlegung dieser Ansicht
etwas umständlich erscheinen, allein bei der neuerdings auf
tauchenden Begünstigung italischer Herkunft des Lactanz
müssen die einzelnen Gründe und Belege für die hier ver
tretene Ansicht genau aufgeführt werden.
Da wir hier über die Namen des Lactanz handeln, so
möge es uns erlaubt sein, bevor wir die weiteren angeblichen
Beweise für Italien als Vaterland desselben untersuchen, noch
einen Blick auf die beiden anderen Namen, abgesehen von dem
Pränomen, zu werfen. Der Gentilname Caelius (Coelius) ist in
afrikanischen Inschriften ein ausserordentlich zahlreich ver
tretener, der Index des betreffenden Bandes VIII des Corpus
gibt für die Form Caelius über hundert, für Coelius fünfzehn
Beispiele, die sich aus Band V und VII der Ephemeris epi-
graphica noch vermehren lassen. Anderseits beschränkt sich
das Vorkommen dieses Namens in Firmum nur auf die eine
Ziegelinschrift T Coeli, CIL. IX 6078 03, während sonst in
Pieenum und den übrigen in Band IX des Corpus behandelten
mittel- und unteritalischen Landschaften Caelier nicht selten
sind. Was den Namen Lactantius anbetrifft, so hat man ihn
öfter unserm Autor seiner Beredsamkeit halber gegeben sein
lassen, ,quod quasi alter Liuius eloquentiae lacteo fonte manaret',
Isaeus, Praef. p. XI, und in diesem Sinne ihn auch für das
Spiel in Epigrammen zum Preise des ,lacteus Lactantius' be
nutzt 1 . Der Name ist eine Weiterbildung des allerdings, soviel
ich sehe, nicht überlieferten Lactans, dasselbe Verhältniss liegt
vor in Constans Constantius, Exsuperans Exsuperantius, Fidens
1 Vgl. z. B. die Distichen in der Ausgabe von Venedig 1502, mitgetheilt
in der Zweibrücker Ausgabe I p. XXI und bei Buenemann, praef. bei
Erwähnung jener Ausgabe; andere in der Ausgabe von Gallaeus 1660
p. hinter den Testimonia. Umgekehrt wurde freilich von Antonius
Raudensis, dem erbitterten Censor des Lactanz (vgl. Voigt, Die Wieder
belebung des classischen Alterthums 2 512), der Name in das mir aller
dings nicht ganz verständliche Lactensius verdreht, worüber er wieder
von Franciscus Philelfus heftig angegriffen wurde; vgl. die Nachweise
in der Ausgabe von Le Brun-Lenglet I p. VII s.
10
V. Abhandlung: Brandt.
Fidentius, Prudens Prudentius, Pudens Pudentius u. s. W.; wie
bei Lactantius Lactans, so ist bei ähnlichen Bildungen, Audentius,
Augentius, Gaudentius, der Stammname, wie es scheint, nicht
überliefert. Lactans leite ich ab von lactare in der intransitiven
Bedeutung ,saugen', die transitive ,säugen' führt, wie ich meine,
zu keinem Verständniss des Namens. Jenes Lactans bedeutet dann
,saugend, an der Mutter trinkend 1 , und zwar ,kräftig trinkend',
so dass sich für diesen Wunschnamen die Bedeutung ,gedeihend'
ergibt. Namen gleicher Bildung und ähnlicher Bedeutung sind
Crescens Crescentius," Florens Florentius, Valens Valentius-,
.die passendste Parallele wäre Pascentius, vorausgesetzt, dass
es von pascere als Intransitivum herkommt, doch kann ich auch
Pascens nicht nachweisen. Ist es nun aber nicht höchst merk
würdig, dass, um von dem doch sehr zweifelhaften ,Lactantius'
Placidus abzusehen, das einzige sichere Beispiel des Namens
wiederum aus Afrika stammt und denselben wiederum als
Signum zeigt? Es findet sich in der Ephem. epigr. V p. 382
n. 681 mitgetheilten Grabinschrift aus Numidien, in der es
heisst: Scius Clebonianus qui et Lactantius. Einen andern
Beleg habe ich in den Indices zum Corpus und zu vielen
Profan- und Kirchenschriftstellern nicht finden können, auch
das Onomasticon von De-Vit bringt nur diesen. Wenn aber
selbst der eine der scillitanischen Märtyrer nicht Laetantius
hicsse, wie Baronius, Annal. eccles. II p. 400 (ed. Pagi) in
den betreffenden Acten aus dreien seiner Angabe nach sehr
alten Handschriften und mit ihm Ruinart, Acta Martyrum
(1731) p. 65 (vgl. hier Anm. 8) den Namen gibt, sondern wie
Tillemont, Memoires pour servil- a Fhistoire eccles. III p. 134
meint und die Regensburger Ausgabe (1859) von Ruinart’s Acta
Mart. S. 133 bietet, Lactantius, so wäre es doch eben wieder
ein Afrikaner, der diesen Namen trüge.
Nachdem wir gefunden, dass die Namen des Lactanz
nicht nur nicht die geringste Stütze für die Vorstellung italischer
Herkunft desselben bieten, sondern im Gegentlieil unverkenn
bar auf Afrika weisen, gehen wir zu den weiteren Gründen
über, durch die man jene Vorstellung aufrecht erhalten wollte.
Schon Ed. a S. Xaverio, Decas prima p. 55 s., dann Mecchi
S. 29 ff. haben sich auf jenes bekannte Decret des Papstes Ge-
Jasius vom Jahre 495/496 ,De recipiendis et non recipiendis
Heber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
n
libris 4 berufen, in dem auch die Bücher des Lactanz als Apo
crypha verworfen werden. Es soll da heissen: Opuscula Lac-
tantii siuo Africani siue Firmiani. Lautete die Stelle wirklich
so, dann wäre allerdings ein Zeugniss aus alter Zeit vorhanden,
welches uns veranlassen müsste, die Möglichkeit, Lactanz habe
bei Manchen als Finnancr gegolten, ins Auge zu fassen. Allein
Thiel, Epistolae Romanorum Pontilicum genuinae (1868) I
p. 467, hat nach den besten Handschriften einfach ,Opuscula
Lactantii apocrypha' in den Text gesetzt. Da nämlich in dem
Decret unmittelbar folgt: Opuscula Africani apocryplia, so
haben geringe Handschriften beide Titel in den einen: Opus
cula Lactantii siue Africani siue (dies siue fehlt in einigen
dieser Handschriften) Firmiani verschmolzen. Dass hier eine
offenbare Verderbniss vorliegt, beweist auch der weitere Um
stand, dass Papst Hormisdas in der Wiederholung jenes Decrets
vom Jahre 520 (Thiel p. 937) ,Opuscula Lactantii apocrypha.
Opuscula Africani apocrypha' geschrieben hat.
Aber — so wird weiter geltend gemacht (Ed. a Xavcrio,
Decas prima p. 115 ss., Mecchi S. 51 ff., Teuffel, Geschichte der
römischen Literatur * S. 929) — Lactanz muss italischen Ur
sprungs sein, da er öfter die Römer als ,nostri‘ den Griechen
gegenüberstellt. Solche Stellen, bei den angeführten Gelehrten
nicht vollständig aufgezählt, sind: Inst. I 1, 9: ideirCo apud
Graecos maiore in gloria philosophi quam oratores fuerunt;
5, 11 nach Erwähnung von Orpheus, Homer und Hesiodi
nostrorum primus Maro; 13, 12 noster Maro; III 25, 1 suminus
ille noster Platonis imitator, nämlich Cicero; Epit. 4, 3 nostrorum
Seneca Stoicos secutus, nachdem vorher von Thaies bis Zeno
nur griechische Philosophen genannt waren; De ira dei 11, 8
quod cum uetustissimi Graeciae scriptores . . tum etiam Romani
Graecos secuti et imitati docent, quorum praecipue Euhemerus
ac noster Ennius . . .; 22, 5 Sibyllas plurimi et maximi auctores
tradiderunt, Graecorum Aristo Chius et Apollodorus Erythraeus,
nostrorum Varro et Fenestella. Dazu kommen Inst. I 15, 14,
die von uns in der Abhandlung über die Kaiseranreden S. 24
behandelte Stelle, wo nach Erwähnung der Panegyriken gesagt
wird: quod malum a Graecis ortum est, quorum leuitas instruefa
dicendi facultate et copia incredibile est quantas mendaciorum
nebulas excitauerit; 18, 7 sed haec fortasse Graecorum culpa
12
V. Abhandlung : Brandt.
sit, qui res leuissimas pro maximis semper habuerunt; VII 15,
11, wo Lactanz mit Schaudern davon redet (harret animus
dicere), dass vor dem Ende aller Dinge auch das römische
Reich untergehen werde; und 25, 6ff., wo er sagt, man müsse
Gott bitten, dass diese furchtbare Katastrophe möglichst hinaus
geschoben werde. Alle diese Stellen zeigen nun deutlich, dass
Lactanz sehr lebhaft als Römer empfindet, allein wo verräth
sich in ihnen auch nur die geringste Spur davon, dass er
dieses Gefühl gerade als Italer hegt, dass er nicht Afrikaner
sein könne? Die geistige und literarische Welt zerfiel damals
immer noch in eine römische und griechische Hälfte, und
Lactanz gehörte nach Sprache und Bildung zu ersteren, denn
Afrika trug damals, wie die Inschriften und die Literatur
zeigen, durchweg lateinischen Charakter. Auch war er als
lateinischer Rhetor von Diocletian nach Nicomedien berufen
worden, wie aus Hieronymus De uir. inlustr. c. 80 hervorgeht,
wonach er ,ob graecam uidelicet ciuitatem' dort Mangel an
Zuhörern gehabt haben soll. Vielleicht hatten gewisse Erfah
rungen und Beobachtungen in Nicomedien sein Urtheil über
die Griechen beeinflusst, wahrscheinlich schliesst er sich aber
auch, wenn er Inst. I 15, 14; 18, 7 auf die leuitas der Griechen
hinweist, an Cicero an, der nicht nur Tusc. I 1 ss. de oraf. 1 44,
197 die Römer und Griechen zum Vortheile der ersteren ein
ander gegenüberstellt, sondern auch De fin. II 25, 80 und Ad
Quint, fr. I 2, 4 die leuitas der Griechen tadelt, und derart
war ja überhaupt das Urtheil der Römer über die Griechen.
Die Wärme, mit der Lactanz von dem römischen Reiche
spricht, erklärt sich einfach daraus, dass er römischer Bürger
war. Darüber braucht, da Caracalla allen Provinzialen das
Bürgerrecht gegeben, und gar bei einem Manne, der von Dio
cletian als öffentlicher Lehrer berufen worden, doch wohl kein
Wort verloren zu werden. Alle jene Stellen zeigen also weiter
nichts, als dass Lactanz politisch und geistig sich als Römer
fühlte, eine Deutung jener Stellen auf italischen Ursprung ist
willkürlich.
Endlich glaubt man sich, so Walch p. 14, Ed. a S. Xa-
verio p. 112 ss., Ebert, Geschichte der christ.-lat. Literatur, S. 73,
Nirschl, Patrologie 1368, auf die verhältnissmässig reine Latinität
des Lactanz als eine Stütze für dessen italische Herkunft berufen
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
13
zu können, namentlicli wenn man ihn mit Arnobius, der sein
Lehrer war (Hieronymus, De uir. inlustr. 80; Epist. LXX 5,
tom. I 427 D Val].), vergleicht. Gewiss besteht ein grosser Unter
schied zwischen dem Classicismus, wie man wohl sagen darf,
des Lactanz und dem wilden Stil des Arnobius, aber daraus
folgt noch keineswegs, dass die höhere Stufe, die Lactanz als
Stilist einnimmt, eine glückliche Wirkung Italiens als seines
Vaterlandes, wie man will, gewesen sei. Die Sprache des
Lactanz hat sich offenbar noch unter ganz anderen Einflüssen
als unter dem des Arnobius entwickelt, letzteren nennt Hiero
nymus wohl nur deshalb als seinen Lehrer, weil er ein bekannter
und ebenfalls christlicher Schriftsteller war. Aber neben Ar
nobius können noch Lehrer ganz anderer Richtung auf ihn
gewirkt, vor allem aber muss er sich selbst durch das Studium
Ciceros, mit dem er sich so vertraut zeigt, gebildet haben.
Anderseits aber war der Stand der Verkelirsprache oder der
stilistischen Studien in der zweiten Hälfte des dritten Jahr
hunderts gerade in Italien keineswegs ein solcher, dass man
die Ausdrucksweise des Lactanz aus diesen Quellen ableiten
könnte, viel eher möchte man in ihr eine Verwandtschaft mit
der gallischen Redekunst finden. Dazu kommt noch ein anderer
Punkt. Dass die Sprache des Lactanz Erscheinungen, welche
der Africitas eigen sind, bietet, haben schon Heumann und
Buenemann gelegentlich bemerkt, in neuerer Zeit hat Sittl,
Die lokalen Verschiedenheiten der lateinischen Sprache (1882)
S. 102. 103. 110. 111. 113. 115. 127. 128. 137 auf solche hin
gewiesen, wie er auch selbst S. 90 sich für Numidien als
Heimat des Autors ausspricht; auch einzelne Arbeiten in
Wölfflin's Archiv für lateinische Lexikographe und Grammatik
finden bei Lactanz Berührungen mit den Afrikanern, z. B.
Bd. III 191. 461. IV 394 (vgl. S. 393. 398 f.). Wollte man
sagen, diese Eigen tbümlichkeiten habe Lactanz erst in Afrika
in sein ursprünglich reineres Idiom aufgenommen, so kann
man doch mit demselben, wenn nicht mit noch grösserem
Rechte erwidern, dass dieses natürliche Einflüsse seiner hei
mischen afrikanischen Redeweise sind, die sich bei ihm er
halten haben, so sehr er im Allgemeinen auch bemüht war,
seinen Stil nach classischen Mustern zu bilden. Wir dürfen
daher unbedenklich erklären, dass man kein Recht hat, sich
14
V. Abhandlung: Brandt.
für die behauptete italische Herkunft des Lactanz auf seine
Latinität zu berufen.
Die bisher widerlegten Gründe sind die wesentlichsten
und anscheinend stärksten, welche man für Italien als Heimat
unseres Autors vorgeführt hat. Was Ed. a S. Xaverio und
Mecchi sonst Vorbringen, verdient keine Widerlegung. Der
ganze Ballast von nicht zur Sache gehörigen Citaten, Inschriften,
Excursen kann über die Schwäche ihrer Beweisführung nicht
täuschen. Das Wort dotXoüs 6 jxüOo? wj? aXrflsiag £<pu gilt auch noch
in unserer Zeit, wenn aber Mecchi ein Buch von XXI und
140 Seiten schreiben musste, um die eine von ihm behauptete
Thatsaclie zu beweisen, Lactanz sei ein Firmaner, so muss
schon ein so gewaltiger Apparat höchst bedenklich gegen die
Wahrheit der Sache machen. Auch Mommsen lehnt in der
Bemerkung zu der Inschrift CIL. 1X5860, welche Mecchi S. 80 ff.
im Interesse seines Satzes höchst willkürlich behandelt hat,
dessen Ansicht ab, indem er sagt: De origine tituli Firmana
quae coniecit Mecchius Firmanus Lactantii ciuis sui, ut ait,
patronus elegans magis quam felix, consulto praetermisi. Aber
welches war denn eigentlich der letzte Grund jener Behauptung?
Offenbar nichts anderes als das Streben, der Stadt Fermo,
dem Picenerlande und Italien den Ruhm zu verschaffen, dass
Lactanz der Ihrige sei. Wenn zuerst Niccolo Peranzone in
seiner Schrift De Laudibus Piceni von Solchen gesprochen
hat, welche jene Ansicht äusserten, so erkennt man unschwer
den Boden, auf dem sie erwachsen ist. Es ist ohne Zweifel
eine patriotische Phantasie des romantischen Zeitalters der
Renaissance, in dem man in Begeisterung für die wiederge
wonnene classische Welt die eigene Stadt oder Landschaft so
oft mit dem grossen Alterthume, im vorliegenden Falle auch
mit dem christlichen in Verbindung zu setzen suchte. Der
Wunsch der Betheiligten, wie den heidnischen, so auch ,den
christlichen Cicero* einen Bürger Italiens nennen zu können,
ist begreiflich, aber es ist und bleibt eben nur ein Wunsch.
Wir sehen es demnach als eine Thatsache an, dass
Lactanz in Afrika geboren ist. Offenbar stammte er aus
heidnischer Familie und trat erst später, wahrscheinlich in
Nicomedien, zum Christenthum über. Die heidnische Herkunft
beweisen freilich nicht die öfters hierfür geltend gemachten
Leber ttio dual. Zusätze etc. IIL Ueber das Leben des Lactantius.
15
Stellen Inst. YII 27, 1 abiectis erroribus quibus antea tene-
baniur, fragilibus seruientes et fragilia concupiscentes, und De
ira del 2, 2 quo (sc. Christo) docente liberati ab errore quo
inplicati tenebamur formatique ad ueri dei cultum iustitiain
disceremus, da sie, wie schon Le Nourry p. 578 bemerkte,
überhaupt auf die frühere nichtchristliche Welt zu beziehen
sind, weit mehr dagegen Inst. I 1, 8, wo er sein früheres
Lehramt als eine Unterweisung der Jugend ,non ad uirtutem,
sed plane ad argutam malitiaml verurtheilt. Ferner ist es un
wahrscheinlich, dass Lactanz als Christ Schüler des Heiden
Arnobius war, denn die Studien des Lactanz bei Arnobius
müssen, wie die weitere Untersuchung zeigen wird, vor des
letzteren um 295 fallenden Uebertritt zum Christenthum liegen.
Ein ganz bestimmtes Zeugniss aber dafür, dass Lactanz nicht
von Jugend an Christ gewesen, sondern erst in späteren
Jahren sich vom alten Glauben dem Christenthum zugewandt
hat, liegt meiner Ansicht nach in einer bisher nicht beachteten
Stelle von Augustin, De doctrina christiana II 61 (III pars 1,
p. 42 F. Maur.). Nachdem hier der Satz dargelegt ist, dass
die Christen das Gute, was die heidnische Literatur biete, un
bedenklich benutzen dürften, wird die Erzählung des Exodus
11, 2. 12, 35, nach der die Israeliten beim Auszuge aus
Aegypten Geräthe aus Gold und Silber und Kleider von den
Aegyptern mitgenommen, allegorisch auf diesen Satz gedeutet,
obgleich das Bild allerdings ja nicht ganz zutreffend ist. Dann
heisst es: nonne aspicimus quanto auro et argento et ueste suffar-
cinatus exierit de Aegypto Cyprianus doctor suauissimus et
martyr beatissimus? quanto Lactantius, quanto Victorinus,
Optatus, Hilarius .. ? 1 Die Stelle lässt mit Sicherheit den Schluss
zu, dass Augustin die genannten für solche hielt, die erst
später aus dem Heidenthume, in dem sie noch ihre Bildung
genossen hätten, zum Christenthume übergetreten seien. Von
Cyprian und Hilarius ist dies bekannt, für Optatus von Mile-
vum, über dessen Lebensschicksale man so gut wie nichts
1 Die ganze Stelle hat mit namentlicher Anführung von Augustin und
dessen Schrift Cassiodor wiederholt, De institutione diuinarnm litterarum
(II p. 554 ed. Garet), er fügt selbst noch Ambrosius, Angustin und
Hieronymus' hinzu.
16
V. Abhandlung: Brandt.
weiss, erfahren wir es aus dieser Stelle, desgleichen für Vic-
torinus, unter dem hier offenbar Victorinus Petabionensis zu
verstehen ist, für Lactanz aber wird uns dasjenige hier in
willkommenster Weise bestätigt, was sich uns aus anderen
Gründen als das Wahrscheinlichste ergibt. Ganz besonders
aber lässt uns, wie schon am Schlüsse der Abhandlung Uber
die dualistischen Zusätze gesagt wurde, das antike Element
in dem ganzen Wesen und Denken des Lactanz darauf schliessen
dass seine Bildung im classischen Alterthume, nach philosophi
scher Seite hauptsächlich in stoischen Anschauungen wurzelte.
Lactanz bewegt sich mit viel grösserer sachlicher Sicherheit und
dialektischer Gewandtheit auf dem Gebiete der alten Philosophie
als auf dem des christlichen Lehrinhalts und die Schriften der
Römer sind ihm bekannter als die Bibel, deren Stellen, wo
er sie verwendet, meistens aus Cyprian’s Testimonien abge
schrieben sind *. Das eigentlich Christliche steht bei ihm ver-
liältnissmässig im Hintergründe, die Darlegungen über die Ge
schichte und Lehre Christi im vierten Buche der Institutionen
und die Apokalyptik im siebenten Buche sind nach zum Theil
nachweisbaren Vorlagen gearbeitet und machen einen unselbst
ständigen Eindruck. Die Lehre von der Vorsehung und von
dem einen Gotte treten bei ihm fast mehr als Forderung den
Heiden gegenüber auf als die specifisch christlichen Dogmen.
Dies erkannte schon Hieronymus klar, wenn er sagt (Epist. LVIII
10, tom. I p. 324 B Vall.): Lactantius . . . utinam tarn nostra
adfirmare potuisset quam facile aliena destruxit. Es kann aber
Jemand, der innerlich so völlig im classischen Alterthum lebt, wie
Lactanz, in damaliger Zeit von Haus aus nicht Christ gewesen sein.
Was die Familie des Lactanz betrifft, so hat man viel
fach geglaubt, die Anrede im Anfänge der Epitome ,Pentadi
frater' weise auf einen leiblichen Bruder. Diese Deutung, bei
der man in Pentadius das Signum dieses Bruders zu sehen
hat, ist möglich, aber keineswegs ganz sicher 2 , obgleich
1 Vgl. Rönsch, Zeitschrift für die historische Theologie 1871, S. 531 ff.
2 Ed. a S. Xaverio in seiner kritiklosen Weise meint, Decas prima p. 137 ff.,
Pentadius, der leibliche Bruder des Lactanz sei derselbe Pentadius, der
von Ammian XIV 11,21 als Notarius von Constantius II genannt wird,
der alsdann XX 8, 19 als Magister officiorum und noch einmal XXII
3, 5 vorkommt. Die erste Stelle führt in das Jahr 354, die letzte in
tteber die dual. Zusätze etc. III. ÜeW das Leben des Lactantiüs. 11
man sich darauf berufen könnte, dass Lactanz De ira dei
22, 1 die Anrede Donate carissime, 1, 1 das einfache Donate,
361. Da Lactanz selbst höchst wahrscheinlich um 340 im höchsten
Greisenalter gestorben ist, so ist es nicht glaublich, dass ein Bruder
von ihm noch so viele Jahre später ein Hofamt sollte bekleidet haben.
Ferner hat Ed. a S. Xaverio diesen Bruder des Lactanz auch in dem
Verfasser einiger der unter dem Namen Pentadius in der lateinischen
Anthologie überlieferten Gedichte (234. 235. 265—268 Eiese) wieder
finden wollen. Burmann zur Anthologie Lib. III Ep. CV (Vol. I
p. 558 seiner Ausgabe) stimmt ihm bei, und Wernsdorf, Poetae lat. min.
III p. 259, folgt Burmann, allein dies ist eine blosse Vermuthung, die
sich durch keine Gründe stützen lässt, wie anderseits, vorausgesetzt,
dass es nicht mehrere Dichter des Namens Pentadius sind, jene Iden-
tificirung auch nicht geradezu unmöglich ist; die mythologischen Be
ziehungen in den Gedichten würden nicht dagegen sprechen. Es ist
jedoch der Name Pentadius keineswegs so selten, dass man um des
willen den Pentadius der Epitome für den Dichter Pentadius halten
müsste. Er findet sich auf einer Inschrift aus Aquileja CIL. V 1695,
ferner nach Ed. a S. Xaverio p. 140 auf einer stadtrömischen Inschrift
hei Aringhus, Koma subterranea (1659) I p. 344: Pentadius. in pace
depositus. XIII. Kal. Mar., sodann hiess so ein Enkel des Arztes Vindi-
eianus, eines Zeitgenossen von Augustinus. Ed. a S. Xaverio führt
p. 140 die Adresse eines Briefes dieses Arztes an eben diesen Enkel
aus dem Cod. Vatican. 7192 fol. 100: ,Ad Pentadium nepotem suum‘
an; vielleicht ist es derselbe Brief, den Peiper, Philologus XXXHI 561,
aus einem Wiener Codex herausgegeben hat, dem Teuffel, Geschichte
der römischen Literatur 4 S. 1023, noch einen St. Gallensis zufügt; es
würde also noch jener Vaticanus hinzukommen. Dass Ed. a S. Xaverio
p. 140 es für möglich hält, dass auch noch der Brief der vaticanischen
Handschrift sich auf ,unum eundemque Pentadium, Lactantii fratrem ger-
manum“ beziehe, charakterisirt die Art seines wissenschaftlichen Ur-
theilens; wenn er sich in der Decas secunda p. 24s. nachträglich darauf
beschränkt, letzteren für einen Nachkommen des Lactanz zu erklären,
so ist dies nicht weniger willkürlich. Wie der Name Pentadius grie
chischen Ursprungs ist, so ist er auch auf griechischem Gebiete noch
nachweisbar. Nach Brief 29. 127 des Synesius hiess so ein Praefectus
Augustalis in Aegypten , wiederum kommt ein Pentadius vor auf einer
griechischen Inschrift aus Lyon, CIG. HI 6796, und der Frauenname
Pentadia bei Photius, Biblioth. cod. 96, und bei Sozomenus 8, 7. Wenn
Peiper, der a. O. 561 f. die meisten der angeführten Stellen beibringt,
meint: ,es sind doch wohl alles Glieder derselben Familie“, so muss
man dies bei einem römischen Gentilnamen griechischen Ursprungs für
diese Zeit und auf einem so weiten geographischen Bereich für un
möglich halten. Pentadius ist Cognomen oder Signum, wenn es nicht,
wie auf jenem christlichen Grabe, einziger Name war.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 5. Abh. 2
18
V. Abhandlung: Brandt.
und ebenso De opificio dei 1, 1 und 20, 1 Demetriane an
wendet und nur in der Epitome den Zusatz frater macht. Es
lässt sich aber frater hier auch als freundschaftliche Anrede
verstehen', und zwar ohne dass man dabei an das christliche
Bruderverhältniss zu denken braucht. Auch diese letzte Er
klärung ist aufgestellt worden, z. B. von Bähr in Pauly’s
Real-Encyclopädie Y S. 1317, der zwischen der Auffassung
,frater in Christo' oder ,College im Lehramt' schwankt. Im
Sinne einer solchen collegialischen Anrede ist aber ,frater'
gewiss nicht zu erklären, man müsste sonst annehmen, dass
Lactanz zur Zeit, wo er die Epitome schrieb, jedenfalls nach
Mitte 313, wiederum ein Lehramt bekleidet hätte, in dem er
Collegen hätte haben können. Dies müsste nach seiner später
noch zu besprechenden Lehrthätigkeit bei Crispus, dem Sohne
Constantins, der Fall gewesen sein. Dass aber Lactanz in die
Stellung eines öffentlichen Lehrers, etwa an der Schule zu
Trier, sollte zurückgekehrt sein, dafür gibt es nicht nur
keinerlei äussere Anhaltspunkte, sondern es widerspricht dies,
wenigstens wenn man an ein Lehramt der Rhetorik für ihn
denkt, dem verwerfenden Urtheile, welches er selbst Inst. I 1, 8
über seine frühere Thätigkeit als Lehrer der Rhetorik fällt.
Nicht haltbarer erscheint jene andere Deutung auf einen Bruder
im christlichen Sinne. Dazu passt nämlich der Zusammen
hang dieser Anrede ,Pentadi frater' durchaus nicht, indem mit
einem gewissen Humor der Wunsch des Pentadius, Lactanz
möge ihm einen Auszug aus den Institutionen schreiben, auf
ein sehr wenig geistliches Motiv zurückgeführt wird: horiun
tibi epitomen fieri, Pentadi frater, desideras, credo ut ad te
aliquid scribam tuumque nomen in nostro qualicumque opere
celebretur. Der Zug von guter Laune, der in der Zuschiebung
dieses Motivs liegt, passt viel weniger zu der Anrede ,frater
in Christo', wie Bähr erklärt, als zu dem Tone, wie er zwischen
leiblichen Brüdern oder guten Freunden angeschlagen wird.
Auf welches dieser beiden Verhältnisse hier mit frater hinge
wiesen wird, muss also unentschieden bleiben, obgleich es
näher liegt, das erste anzunehmen.
1 Ueber diesen Gebrauch vgl. Friedländer, Darstellungen aus der Sitten
geschichte Roms 1° S. 445.
TJeber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
19
Nach den schon angeführten Stellen des Hieronymus, De
uir. inlustr. 80 und Epist. LXX 5, war Lactanz ein Schüler des
Arnobius, der nach De uir. inlustr. 79 zu Sicca Veneria, der
bekannten, nahe bei Numidien im proconsularischen Afrika liegen
den Stadt, mit glänzendem Erfolge Rhetorik lehrte. Mit Recht
hat man sich daher gewundert, dass Lactanz, während er Inst.
V 1, 22—24 Minucius Felix (diesen auch 111, 55), Tertullian und
Cyprian als seine Vorgänger in der Vertheidigung des Christen
thums nennt, über Arnobius mit Stillschweigen hinweggeht.
Isaeus, p. 255 seiner Ausgabe, meinte, Lactanz habe das gleich
zeitig mit seinen Institutionen entstandene Buch des Arnobius noch
nicht gekannt, allein da erstere jedenfalls nach 303 begonnen,
letzteres um 295 abgeschlossen worden ist, so ist bei Lactanz
eine Unbekanntschaft mit dem Werke des ihm früher nahe
stehenden Arnobius schwerlich anzunehmen. Le Nourry p. 623
hielt es auch für möglich, dass, wenn Lactanz in Asien um das in
Afrika entstandene Werk des Arnobius gewusst, er vielleicht
aus Ehrerbietung gegen seinen alten Lehrer dessen Namen an
jener eine Kritik enthaltenden Stelle V 1, 22 nicht habe nennen
wollen, an der er mit den einführenden Worten ,ex iis qui mihi
noti sunt' andeutet, dass er von mehr lateinischen Apologeten
als nur von jenen dreien Kenntniss habe. Was nun zunächst
die Grundfrage betrifft, ob Lactanz das Werk des Arnobius
wirklich gekannt, so kann ich kaum zweifeln, dass sie zu be
jahen ist, zumal es, wie soeben schon bemerkt, wirklich un
denkbar ist, dass Lactanz nach 303 in Nicomedien so von der
alten Heimat und den alten Freunden sollte abgeschlossen ge
wesen sein, dass er das Buch seines ehemaligen Lehrers nicht
sollte zu Gesicht bekommen haben. Ferner aber, mag man
noch so sehr sich hüten, bei Lactanz da eine Anlehnung an
Arnobius anzunehmen, wo auch Minucius Felix oder Tertullian
oder Cyprian Aehnlichkeiten mit Lactanz zeigen, mag man in
manchen Fällen für die beiden Autoren eine gemeinsame Quelle
annehmen, mag man endlich mancherlei einzelne Ausdrücke
oder gewisse grammatische Constructionen bei Lactanz als
Nachklänge noch aus der Zeit des Studiums unter Arnobius
ansehen, so bleiben unter den zahlreichen bei beiden ähnlichen
Stellen, die namentlich Le Brun-Lenglet und Buenemann nach-
weisen, doch immerhin einige derartige, dass man hier eine
2*
20
V. Abhahdliing: Brandt.
directe Benützung des Arnobius durch Lactanz wird anzu
nehmen haben, so z. B. Lact. Inst. IV 15, 6 f. 11 f. und
Arnob. I 45. 46. 63 (der Bericht über die Thaten und Wunder
Christi, bei Lactanz ausführlicher; Einzelheiten: Lact. §6 adeo
ut membris omnibus capti receptis repente uiribus roborati
ipsi lectulos suos reportarent, in quibus fuerant paulo ante
delati, und Arnob. p. 30, 3 Reifferscheid: captos membris
adsurgere, et iam suos referebant lectos alienis paulo ante
ceruicibus lati; Lact. §7 claudis uero . . currendi dabat facul-
tatem, und Arnob. p. 30, 1: qui claudos currere praecipiebat;
Lact. § 11 quod . . redderet . . debilibus integritatem, und
Arnob. p. 43, 17: qui debilibus integritatem [restituerat]);
Lact. I 11, 17: at enim poetae ista finxerunt, und Arnob.
p. 167, 5: sed poetarum, inquiunt, figmenta sunt haec
omnia; Lact. VI 2, 13: hic uerus est cultus, in quo mens
colentis u. s. w., in Verbindung mit Cap. 1—3, und Cap. 24,
26: hic cultor est uerus dei, cuius sacrificia sunt mansuetudo
animi u. s. w., § 28 ad quod sacrificium . . opus est . . iis quae
de intimo pectore proferuntur, und Cap. 25, anderseits Arnob.
VI 30f.: cultus uerus in pectore est u. s. w.; Lact. V 9, 14:
inpios enim uocant, ipsi scilicet pii (10, 11: qui cum se
maxime pios putant, tum maxime fiunt impii) und Arnob.
p. 165, 27: quoniam nos impios et inreligiosos uocatis, uos
pios contra; ferner Lact. III 3, 2f. 6. 8 (über die Grenzen des
menschlichen Wissens) und Arnob. 1151; Lact. II 14 (in der
Lehre von den Dämonen, §4 mediam quandam naturam ge
reutes) und Arnob. II 35 (p. 76, 16 Reiff, qualitatis et ipsi
sunt mediae). Bemerkenswerth schien es auch schon Hiero
nymus, dass Lactanz ebenso wie sein Lehrer Arnobius sein
apologetisches Werk gerade in sieben Büchern geschrieben hat,
Epist. LXX 5: septem libros aduersus gentes Arnobius edidit
totidemque discipulus eius Lactantius. Dies ist wohl mehr
als ein Zufall. Vielleicht erklärt es sich, ebenso wie das
Schweigen über Arnobius bei Lactanz, wenn dieser, wie wir
allen Grund haben anzunehmen, das Buch seines früheren
Lehrers kannte, auf folgende Weise. Nach der Ansicht des
Lactanz — und darin ist er völlig Rhetor — trägt an der Er
scheinung, dass das Christenthum so wenig Gläubige findet und
so viele Gegner, eine Hauptschuld die stilistisch und dialektisch
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
21
ungenügende Darstellung desselben, V 1, 18—28; I 1 10;
II 19, 1. 5 f.; III 1, 1 ff. 7: wenn Männer von wissenschaftlicher
Bildung und Beredsamkeit sich der Vertheidigung des Christen
thums zuwenden würden, so müssten bald die falschen Reli
gionen und die ganze Philosophie verschwinden; Minucius
Felix hätte bei seiner Beredsamkeit grösseren Erfolg haben
können, wenn er sich ganz dieser Aufgabe gewidmet hätte
(V 1, 22), Tertullian dagegen konnte als Apologet nicht hin
reichend wirken, weil er ,in eloquendo parum facilis et minus
comptus et multum obscurus fuiff (V 1, 23; 4, 3), Cyprian aber
habe die Aufgabe insofern nicht richtig angefasst, als er
immer wie zu schon Gläubigen gesprochen habe, daher sei
seine Beredsamkeit nicht erfolgreich gewesen (V 1, 24—28; 4,
3—7). Wenn demnach nicht einmal diese beiden letzten Lac-
tanz genügten, und zwar Tertullian um stilistischer Mängel
willen, wie hätte dann erst sein Urtheil über Arnobius ausfallen
müssen! Die polternde, stilistischer Zucht und Ordnung so
sehr entbehrende Diction eines so unfeinen Menschen, wie es
Arnobius ist, musste Lactanz, welcher der Form der Darstellung
eine so viel höhere Sorgfalt widmet, dessen Persönlichkeit auch
weit über der des Arnobius steht, geradezu unerträglich sein.
Vielleicht hat er auch ihn im Sinne, wenn er von gewissen
Apologeten im Vergleich zu Cyprian sagt V 1, 28: quodsi ac-
cidit hoc ei cuius eloquentia non insuauis est, quid tandem
putemus accidere eis quorum sermo ieiunus est et ingratus?
qui neque uim persuadendi neque subtilitatem argumentandi
neque ullam prorsus acerbitatem ad reuincendum habere po-
tuerunt, wenngleich ja nicht ,ieiunus‘, um so mehr aber
,ingratus' auf die Sprache des Arnobius passt. Ich erkläre mir
daher jenes Schweigen bei Lactanz über Arnobius aus der
Rücksicht auf den früheren Lehrer, den er schonen wollte; er
hätte ihn in jener Kritik der früheren Apologeten viel schärfer
als die drei Genannten beurtheilen müssen, die ja in der That
auch persönlich wie hinsichtlich der Kunst der Darstellung auf
einer viel höheren Stufe stehen als Arnobius. Was aber die
Zahl von sieben Büchern bei Lactanz betrifft, so hat er sie
vielleicht gewählt, um in stillschweigendem Protest sein Werk
dem des Arnobius gegenüberzustellen.
22
V. Abhandlung: Brandt.
Schon frühzeitig muss das stilistische Talent des Lactanz
sich in hervorragender Weise geltend gemacht haben. Nach
Hieronymus Cap. 80 gab es von ihm ein Symposium 1 , quod adules-
centulus scripsit Afrieaeh Unter Diocletian wurde er nach
Hieronymus Cap. 80, wozu das eigene Zeugniss Inst. V 2, 2
(ego cum in Bithynia oratorias litteras accitus docerem) kommt,
mit, einem Grammatiker Flavius nach Nicomedien berufen -, er,
um Rhetorik zu lehren. Jedenfalls hatte er schon vorher in
Afrika die Thätigkeit als Lehrer ausgeübt. Die Reise nach
dem Orte seiner neuen Wirksamkeit beschrieb Lactanz in
einem Gedicht, wie Hieronymus Cap. 80 berichtet: habemus
eius . . iL'.-cp'.y.dv Africa usque Nicomediam hexametris scri
ptum uersibus. Man erkennt in dieser Berufung das Bemühen
Diocletians, die neue Hauptstadt nicht nur äusserlich durch
prachtvolle Bauten, sondern auch durch Fürsorge für die
geistigen Interessen auf gleiche Höhe mit den anderen Resi
denzen zu bringen; wie sehr aber die Regenten der diocle-
tianisch-constantinischen Periode auch dem öffentlichen Unter
richte ihre Aufmerksamkeit schenkten, dafür ist die durch
Constantius erfolgte Ernennung des Eumenius zum Leiter der
Schule in Autim (vgl. dessen Rede pro instaurandis seholis,
besonders Cap. 6. 14) ein laut redendes Zeugniss. So besetzte
Diocletian die Stelle eines grammaticus latinus in Nicomedien
durch Flavius, die eines rhetor latinus durch Lactanz. Hiero
nymus sagt nun weiter Cap. 80: penuria diseipulorum oh
graecam uidelieet ciuitatem ad scribendum se eontulit, und
jedenfalls hat zur Zeit und unter den Wirkungen der diocle-
tianischen Christenverfolgung die öffentliche Lehrthätigkeit des
Lactanz ganz aufgehört. Die Anfangsworte des zwischen 303
und 305, höchst wahrscheinlich 304 geschriebenen Buches De
opificio dei zeigen uns Lactanz nur mit eigenen Studien und
literarischen Arbeiten beschäftigt: quam minime sim quietus
1 Ueber das Symposium werden wir in der folgenden Untersuchung noch
einige Worte sagen.
5 Es ist eine nicht zu begründende Ausmalung, wenn Möhler, Patrologie
(1840) S. 917 von dem Symposium sagt, dass es die Aufmerksamkeit
Diocletians auf Lactanz gelenkt und seine Berufung zum Lehrer der
Bhetorik nach Nicomedien veranlasst habe; ebenso Nirsehl, Patrologie I
(1881) S. 368, nur dass er das Symposium immer noch in den Bäthseln
des Symphosius findet.
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantins.
23
etiam in summis necessitatibus, ex hoc Iibello poteris aestimare,
quem ad te . . . Demetriane, perscripsi, ut et cotidianum Stu
dium meum nosses . . Darnach soll diese Schrift ein Beweis
dafür sein, wie wenig er ruhig (quietus), d. h. unthätig ist, und
zugleich seine tägliche Beschäftigung bekunden. Er kann also
damals sein Lehramt nicht mehr ausgeübt haben. Es hat allen
Anschein, dass die Beschäftigung mit schriftstellerischen Arbeiten
bei Lactanz erst um diese Zeit beginnt. De opificio dei 20, 2
sagt er: statui enim quam multa potero litteris tradere quae
ad uitae beatae statum spectant, et quidem contra philosophos.
Es macht dies ganz den Eindruck, als ob Lactanz jetzt erst
den Entschluss gefasst, sich der schriftstellerischen Thätigkeit
zu widmen, zumal er nicht von irgend welcher früheren
literarischen Beschäftigung redet, vielmehr in der gleichen
Schrift 1, 2 nur auf frühere mündliche Unterweisung hindeutet.
Die von Hieronymus Cap. 80 erwähnte Schrift Grammaticus
und die vier Bücher an Probus, welch letztere man in die
vorchristliche Zeit des Lactanz gesetzt hat, müssen keineswegs
an das Ende der Lehrthätigkeit fallen. Die erstere kann eine
Jugendarbeit sein wie das Symposium und die Beschreibung
der Reise von Afrika nach Nicomedien, jene vier Bücher sind
aber, wie wir noch zeigen werden, sehr möglicher Weise viel
später, nach 314, verfasst. Wir werden also annehmen dürfen,
dass Lactanz erst nach Beginn der Verfolgung das Katheder
mit der Feder vertauscht hat. Allerdings wäre diese Annahme
dann kaum möglich, wenn Hieronymus Recht hätte mit seiner
Mittheilung, dass der Mangel an Zuhörern in der griechischen
Stadt Lactanz die Fortführung seines Lehramtes erschwert
oder unmöglich gemacht hätte. Denn der Miss stand eines
überwiegend aus Griechen bestehenden Auditoriums bestand
in Nicomedien ja immer und hätte Lactanz schon längst und
von Anfang an in seiner Thätigkeit als Lehrer hemmen müssen.
Aber noch mehr zeigt folgender Umstand, dass der Grund,
den Hieronymus anführt, nicht richtig sein kann. Alle jungen
Leute, die irgendwie unmittelbar oder mittelbar sich der Justiz
und Verwaltung widmen und diese Gebiete des öffentlichen
Lebens kennen lernen wollten, mussten unbedingt Lateinisch
lernen und zwar in Nicomedien nicht weniger als etwa in Trier.
Wenn auch schon in der früheren Kaiserzeit im Orient das
24
V. Abhandlung: Brandt.
Griechische als Gerichtssprache in gewissem Umfange zuge
lassen wurde, so blieb das Lateinische doch noch lange die
officielle Sprache. ,Diocletian und Constantin erliessen noch
auf griechische Vorträge der Parteien im kaiserlichen Gericht
lateinische Rechtssprüche*, in der lateinischen Sprache war
,die Literatur der classischen Jurisprudenz mit wenigen Aus
nahmen und die kaiserlichen Rescripte und Edicte bis in die
erste Hälfte des fünften Jahrhunderts verfasst* *. Daher kann
es in Nicomedien, der Residenz und Hauptstadt im Osten,
unmöglich an jungen Leuten gefehlt haben, welche die
lateinische Sprache nothwendig studiren mussten, und es ist
undenkbar, dass nur deshalb, weil die Landessprache das
Griechische gewesen, der Hörsaal des Lactanz sich geleert
habe, so dass er endlich, um nicht vor den blossen Bänken
zu reden, sich auf schriftstellerische Arbeiten verlegt habe.
Auch wird Diocletian doch wahrlich gewusst haben, weshalb
er Lactanz nach Nicomedien berief, und Lactanz wird schon
in seiner Eigenschaft als officiell berufener kaiserlicher Rhetor
der Gefahr enthoben gewesen sein, vor leeren Bänken zu
sprechen. Auch will es uns wenig einleuchten, dass ein solcher
Meister der Sprache, zugleich ein solcher Gelehrter und ein
so lebendiger, anregender Geist, wie es Lactanz war, in seinen
besten Jahren so wenig im Stande gewesen sein sollte ein
Auditorium zu fesseln, dass dieses sich nach und nach ver
loren hätte und damit seine Lehrthätigkeit höchst unrühmlich
im Sande verlaufen wäre. Doch betrachten wir die Worte des
Hieronymus, die man bisher immer ohne Anstand hingenommen
hat, näher. Er sagt: ob graecam uidelicet ciuitatem. Zeigt
nun aber das Wort uidelicet ,offenbar* nicht deutlich genug,
dass der Autor hier eine blosse Vermuthung äussert? Wenn
uns nun diese Vermuthung aus dem angeführten Grunde
durchaus unwahrscheinlich Vorkommen muss, so haben wir
auch noch eine Aeusserung von Lactanz selbst, welche zeigt,
dass er zu Anfang der Verfolgung noch lehrte. Er sagt Inst.
V 2, 2: ego cum in Bithynia oratorias litteras accitus docerem
contigissetque ut eodem tempore templum dei euerteretur . . .
1 Bethmann-Hollweg, Der Civilprocess des gemeinen Rechts III (1866)
S. 226. 196,
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
25
Diese Worte besagen doch wohl, dass er wirklich noch das
Lehramt ausübte und sich nicht nur dem Namen nach als
Lehrer in Nicomedien aufhielt. Wie kam es nun aber, dass
Lactanz sein Amt verlor und sich deshalb auf schriftstellerische
Arbeiten verlegte? Die Ursache ist sehr einfach: schon das
erste Verfolgungsedict, vom 24. Februar 303, musste ihn treffen.
Da nach diesem die Christen jegliche Ehren und Würden ver
loren (De mort. persec. 13; Euseb. h. e. 8, 2), so ging auch
Lactanz seiner Stellung als öffentlicher Lehrer verlustig. Dies
wird der wahre Grund gewesen sein, weshalb er, als er die
Schrift De opificio dei schrieb, so viel Müsse zu literarischen
Arbeiten hatte, dass er jetzt den Entschluss fasste, sich ganz
denselben zu widmen. An diesen Grund dachte Hieronymus
nicht und deshalb gab er statt einer Thatsache nur eine Ver-
muthung, die dazu noch unhaltbar ist. Wir dürfen auch darauf
aufmerksam machen, dass Lactanz sagt, dass er lange Zeit
Lehrer gewesen sei, Inst. I 1, 8 professio . . illa oratoria, in
qua diu uersati . ., eine Stelle, an der er zugleich, wie schon
früher bemerkt, von seinem jetzigen christlichen Standpunkte
aus sehr strenge über jene Lehrthätigkeit urtheilt, denn er
fährt fort: non ad uirtutem, sed plane ad argutam malitiam
iuuenes erudiehamus. Uebrigens ist Lactanz, wenn an dieser
Stelle § 10 ,exercitatio illa fictarum litiumf im Zusammenhänge
mit seinem Lehramte erwähnt wird, doch nie selbst als Gerichts
redner aufgetreten: III 13, 12 eloquens numquam fui, quippe
qui forum ne attigerim quidem. Wie an letzter Stelle, so spricht
er öfter sehr bescheiden von seiner stilistischen Fähigkeit,
ebenda § 13 (ab homuneulo non diserto); III 1, 1 ff.; 30, 1;
de opif. 1, 1 ff. 20, 8, wobei man freilich in Betracht ziehen
muss, dass der herkömmliche Brauch der Redner, namentlich
in den Einleitungen eine möglichst geringe eigene Vorstellung
von ihrer Begabung zur Schau zu tragen, in der damaligen
Zeit wohl ganz besonders von den Rhetoren befolgt wurde; so
in Rede IV der gallischen Panegyriker Cap. 1. 2; V 1; VII 1;
IX 1 u. s. w. Auch ist Lactanz durchwegs von nicht geringer
Zuversicht auf den Erfolg seiner Beredsamkeit getragen, und
die schon besprochene Kritik des Tertullian und Cyprian lässt
dieses Selbstgefühl, zu dem er übrigens berechtigt war, eben
falls durchblicken. Freilich vergisst er nicht hervorzuheben,
26
V. Abhandlung: Brandt
dass Gott es sei, der ihm die Kraft der Rede zur Erfüllung
seiner Aufgabe verleihe, II 19, 1 (maiestate caelesti suggerente
nobis dicendi facultatem), und grösser noch als das Vertrauen
auf seine Redekunst ist das auf die Wahrheit seiner Sache
III 1, 4 ff.; 13, 12. — Von den Schülern des Lactanz ist uns
einer aus dieser Zeit dem Namen nach bekannt, Demetrianus,
an den er die Schrift De opificio dei (1, 1 ff. Inst. II 10, 15)
und nach Hieronymus Cap. 80 auch zwei Bücher Briefe rich
tete; vielleicht war auch jener ,Asclepiades nosteff, der ihm
nach Inst. VII 4, 17 eine Schrift über die Vorsehung widmete
und selbst von Lactanz zwei Bücher Briefe zugeeignet erhielt
(Hieronymus Cap. 80), einer von ihnen.
In Nicomedien wohl erst hatte sich Lactanz dem Chri
stenthum zugewandt, unter welchen äusseren Einwirkungen
oder inneren Erlebnissen wissen wir nicht. Vielleicht waren
die von ihm noch in seinen christlichen Schriften so oft als
Grundlagen seines philosophischen und theologischen Denkens
vorgetragenen stoischen Lehren von der Einheit des göttlichen
Wesens und von der Vorsehung Ausgangs- oder Anknüpfungs
punkte gewesen. Zur Zeit des Beginnes der diocletianischen
Verfolgung hatte er sich jedenfalls innerlich schon und wohl
auch äusserlich für den neuen Glauben entschieden. Was die
Dauer des Aufenthaltes von Lactanz in Nicomedien betrifft, so
kann man sicher annehmen, dass er jedenfalls gegen Ende von
305 sich noch dort befunden hat. Die Schilderung der gegen
die Christen angewandten Schreckmittel und Qualen, welche
sich Inst. V 11, 9 ff. findet, kann man nur auf die Zeit nach
dem letzten Verfolgungsedict des Diocletian, welches befahl,
alle Christen zum Opfern zu zwingen, beziehen, also auf die
Zeit nach 304. Auch der Inhalt der Capitel 13. 19 ff. führt
in diese Zeit, zumal 13, 8; 18, 12; 20, 5ff. deutlich der Opfer
zwang bezeichnet wird. Ebert (Ueber den Verfasser des Buches
De mort. persec. S. 129) will aus der Inst. V 11, 10 erwähnten
Verbrennung eines christlichen Bethauses, welche von Hunziker
(Zur Regierung und Christenverfolgung des Kaisers Diocletianus,
in Büdingers Untersuchungen zur römischen Kaisergeschichte
II 229f.) frühestens in das Jahr 306 gesetzt wird, schliessen,
dass damals Lactanz noch in Nicomedien gewesen sei, aber
dieser Beweis ist nicht sicher, da Lactanz nicht sagt, dass
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
27
dieses Ereigniss sieb zugetragen, als er selbst noch in Bithynien
gewesen sei. Einen ganz bestimmten Anhaltspunkt dagegen
finde ich in Inst. V 11, 15: uidi ego in Bithynia praesidem
gaudio mirabiliter elatum tamquam barbarorum gentem ali-
quam subegisset, quod unus, qui per biennium magna uir-
tute restiterat, postremo cedere uisus esset. Rechnet man
diese vollen zwei Jahre von dem Gebote des allgemeinen
Opferzwanges (304) an, so erhält man mindestens das Jahr
306, wollte man aber jenen Christen zu denjenigen Gemeinde
vorstehern zählen, welche schon 303 gefangen gesetzt wurden
und zum Opfern gezwungen werden sollten (Hunziker S. 173),
so käme man doch weit in das Jahr 305 hinein. Bei dieser
Gelegenheit tritt nun die Frage auf, wie Lactanz sich in dieser
Zeit gehalten, um als Christ der Verfolgung nicht zum Opfer
zu fallen und doch auch seinen Glauben nicht zu verleugnen.
Die Frage ist für die Beurtheilung des Charakters von Lactanz
nicht ohne Bedeutung und verlangt eine genauere Beantwortung,
als ihr bisher zu Theil geworden. Einigen Aufschluss gibt
zunächst die Schrift De opificio dei, die während der diocle-
tianischen Verfolgung, wie später noch zu zeigen sein wird,
entstanden (1, 1 f. 7), damals aber keinesfalls veröffentlicht,
sondern nur Demetrian überreicht worden ist. In diesem Buche
fehlt alles eigentlich Christliche, es hält sich auf dem allge
meinen Standpunkte des Monotheismus und des Vorsehungs
glaubens. Lactanz thut dies in absichtlicher Behutsamkeit.
Daher redet er von seinen Gesinnungsgenossen nur mit dem
unbestimmten Ausdrucke ,pkilosophi nostrae sectae quam tue-
mur‘ (§ 2), und auch die Mahnung an Demetrian (§ 9): me-
mento et ueri parentis tui et in qua ciuitate nomen dederis et
cuius ordinis fueris, ist eine nur vorsichtig andeutende, wie
auch die folgenden Worte zeigen: intellegis profecto quid lo-
quar. Ferner gehören hieher die Worte des Schlusscapitels
20, 1: haec ad te, Demetriane, interim paucis et obscurius for-
tasse quam deeuit pro rerum ac temporis necessitate peroraui.
Es ist demnach kein Zweifel, dass Lactanz sich um der Ver
folgung willen nur vorsichtig äussert, ja nach den letzten
Worten hat er das Gefühl, als ob er vielleicht in dieser Schrift
sich zu behutsam ausgesprochen hätte. Liegt nun nicht
hierin ein gewisses Geständniss, dass er seinem Standpunkte
28
V. Abhandlung: Brandt.
während der Verfolgung nicht ganz treu geblieben, und
lassen sich nicht hieraus Folgerungen ziehen, welche die Auf
fassung seines Charakters ungünstig gestalten müssen? Das
erste Verfolgungsedict, vom 24. Februar 303, hatte ihn, wie
wir sahen, nur seines Amtes als öffentlicher Lehrer beraubt.
Wenn Lactanz die Schrift De opificio dei mit den Worten
beginnt: quam minime sim quietus etiam in summis ne-
cessitatibus, so kann man darin einen Hinweis auf eine
materiell bedrängte Lage erkennen, da er ja seine Bezüge
verloren hatte, doch ist es wohl angemessener, hier den
Ausdruck des Schmerzes und der Trauer über die Ver
folgung anzunehmen. Allein bis zu dem Gebote allgemeinen
Opferzwanges, 304, blieben die einzelnen Christen, so weit sie
nicht Gemeindehäupter waren, ohne besondere Behelligung und
so auch gewiss Lactanz. Aber wie stellte er sich von dieser
Zeit an? Man kann nur antworten, dass er sich möglichst
zurückgehalten und Alles vermieden haben wird, was die Auf
merksamkeit auf seine Zugehörigkeit zu den Christen hätte
lenken können; vielleicht Hess man den ruhigen Gelehrten, der
sich jetzt auf seine stillen Studien beschränkte, um so bereit
williger unangefochten, weil er bis zur Verfolgung eine an
gesehene officielle Persönlichkeit gewesen war. Um nun aber
Lactanz nicht ungerecht zu beurtheilen, muss man bedenken,
dass nicht alle Christen so strenge dachten wie Tertullian oder
Cyprian. Nach den ersten Worten von Tertullians Schrift
De fuga in persecutione gab es Christen, welche es für erlaubt
hielten, sich vor Verfolgung durch Flucht zu sichern; nach
Cap. 6 begründete man dies auch mit Bibelstellen, nach Cap. 11
aber theilten selbst Diakonen, Presbyter und Bischöfe diesen
Standpunkt. Auch Lactanz betrachtete diese Ansicht als
berechtigt, ja er beruft sich für dieselbe auf die Lehre, die
Christus durch sein Beispiel gegeben, Inst. IV 18, 2, welcher
,secessit cum discipulis suis, non ut uitaret quod necesse erat
perpeti ac sustinere, sed ut ostenderet quod ita fieri
oporteat in omni persecutione, ne sua quis culpa incidisse
uideaturh Aus diesen Worten darf man schliessen, dass Lac
tanz, was er vor seinem Gewissen verantworten zu können
glaubte, gethan haben wird, um nicht durch seine Schuld
ohne Noth die Verfolgung auf sich zu ziehen, zumal er ohne
Üeber die dual. Zusätze etc. IIT. Ueber das Leben des Lactantius.
29
Zweifel sali, wie Viele nur von einem krankhaften Taumel der
Schwärmerei angesteckt oder aus äusserlichen Beweggründen
sich zum Märtyrerthuine drängten. Allerdings hat es den An
schein, als ob er mehr Vorsicht als Muth bewiesen hätte; allein,
um ein Urtheil Uber ihn zu wagen, müsste man die Verhält
nisse im Einzelnen ganz anders kennen, als es uns möglich
ist. Wenn er sagt De opificio dei 20, 1: haec . . obscurius
fortasse quam decuit pro rerum ac temporis necessitate per-
oraui, so wird diese Selbstbeurtheilung eher eine zu strenge als
eine zu laxe sein. Lactanz hatte Demetrian gegenüber keinerlei
Veranlassung oder Nöthigung zu einem Selbstbekenntnisse und
fürchtete gewiss nicht, dass man diese Worte zu seinen Un
gunsten deuten werde, ebenso wenig wie er eine solche Besorg
nis gehabt haben kann, als er jene Stelle IV 18, 2 schrieb.
Er sagt allerdings VI 17, 25 f.: uirtus est mortem contemnere
. . ut coacti deum relinquere ac fidem prodere mortem susci-
pere malimus u. s. w.; sic ea quae alii timent, excelsa et in-
superabili mente dolorem mortemque calcabimus. haec est uirtus,
haec uera constantia, in hoc tuenda et conseruanda solo, ut
nullus nos terror, nulla uis a deo possit auertere, allein er selbst
kam offenbar nicht in die Lage, dass er gezwungen werden
sollte, Gott zu verlassen und den Glauben zu verrathen. Dass
Christen durch Schweigen und Vermeiden eines provocirenden
Auftretens in der Verfolgung sicher blieben, sehen wir auch aus
anderen Beispielen, die Lactanz selbst gibt 1 . Derartige Fälle
1 Demetrian befindet sich während der Verfolgung nach De opificio dei
1, 5—9 in ganz besonders glücklichen Verhältnissen, so dass Lactanz
ihn ermahnt, sich von denselben in seinem Christenthum nicht ein
schläfern zu lassen; ja die Worte § 4: nam licet te publicae rei ne-
cessitas a ueris et iustis operibus auertat, scheinen mit Buenemann
auf ein öffentliches Amt gedeutet werden zu müssen. Nach Inst. V
2, 9 hörten Christen ohne Protest die Vorlesung .einer Angriffsschrift
gegen das Christenthum an; Lactanz sagt unbefangen und ohne ein
Wort der Missbilligung: nam si qui nostrorum adfuerunt, quam uis
temporis gratia coniuerent. Es waren dies ohne Frage öffentliche
Vorlesungen, nach der Sitte jener späteren Zeit. Eine solche muss es
auch gewesen sein, bei der Lactanz, wie er V 4, 1 sagt: ,praesente me
ac dolente“, die Schriften jener beiden Gegner des Christenthums kennen
lernte, die den Plan zu seinen Institutionen in ihm hervorriefen. Auch
er war hier in die Stellung des stummen Zuhörers gedrängt. — Nach
unserer Darlegung ist es übrigens falsch, was der Verfasser einer später
30
V. Abhandlung: Brandt.
sind gewiss viel häufiger gewesen, als es nach den überlieferten
Schilderungen der Verfolgung und der Martyrien den Anschein
hat, und dass nicht überall und in allen Fällen die Ausführer
der Verfolgungsbefehle in gleicher Weise auftraten, ist allbe
kannt. Und nennt man etwa Tacitus charakterlos, weil er unter
der von ihm doch mit den düstersten Farben geschilderten
Regierung des Domitian nicht nur unbehelligt blieb, sondern,
ganz anders als Lactanz, sogar noch in der öffentlichen Laufbahn
avancirte? Wollte aber Jemand gleichwohl Lactanz Schwäche
zum Vorwurf machen, so wird er doch zugeben müssen, dass
dieser sich nicht anders hinstellt, als er ist, da er offen jenen
Grundsatz IV 18, 2 ausspricht. Wahrhaftigkeit und Ehrlichkeit,
die wir bei früherer Gelegenheit (,Die Kaiseranreden', S. 21 ff.)
unbedingt bei ihm annahmen, muss man ihm auch im vorlie
genden Falle lassen.
Doch kehren wir jetzt zu unserer chronologischen Frage
zurück. Lactanz muss, wie wir fanden, mindestens noch Ende
305 in Nicomedien gewesen sein; anderseits steht fest, dass er
beim Niederschreiben des fünften Buches der Institutionen nicht
mehr in Nicomedien war. An der Stelle V 2, 2 sagt er: ego
cum in Bithynia litteras oratorias accitus docerem . . , und
11, 15: uidi ego in Bithynia praesidem gaudio mirabiliter
elatum . . (vgl. S. 27), aber so konnte er sich nur ausdrücken,
wenn er sich ferne von Nicomedien befand. Nun ist aber das
fünfte Buch und überhaupt das ganze Werk vor dem Ende
Maximians 310, also spätestens 309 oder Anfang 310, abge
schlossen worden. Den Beweis dafür hat zuerst Ebert (Ueber
den Verfasser des Buches De mort. persec. S. 125 ff.) gegeben,
Manches hat Meyer (Quaest. Lact. I p. 2s.) hinzugefügt, der
jedoch das Jahr 311 als äussersten Zeitpunkt für die Abfassung
annimmt. Es möge uns erlaubt sein, hier, wo die folgende Dar
legung ganz auf der Datirung der Institutionen beruht, die Haupt
gesichtspunkte kurz anzuführen, obwohl wir sie später noch
einmal besprechen werden, indem wir sie dann zugleich auch
zu nennenden Schrift, Wehner, sagt, Lactanz sei ein ,hervorragendes
Mitglied der christlichen Gemeinde in Nicomedien gewesen 4 ; derselbe
schreibt auch, nachdem er von der Berufung des Lactanz als Lehrer
der Beredsamkeit gesprochen: ,da er aber bald hierzu nicht die volle
Befähigung in sich fühlte, legte er seine Stelle nieder 4 !
Ueber die dual. Zusätze etc III. Ueber das Leben des Lactantius.
31
noch gegen mögliche Einwände werden sichern können. Man
hat früher die im fünften Buche besprochene Christenver
folgung meistens für die des Licinius angesehen und dem
nach die Entstehung der Institutionen in die Zeit um 320 ge
setzt. Nun enthält aber das Schlusscapitel 23 von Buch V
eine Drohung an die mali principes, die iniustissimi persecutores,
des Inhalts, dass Gott sie schon in ihrem zeitlichen Leben und
dereinst im ewigen Gerichte strafen werde, indem die zeitliche
Strafe als eine Ausrottung bezeichnet wird. Erstlich spricht
Lactanz nun hier von mehreren, nicht von einem Verfolger,
zweitens würde er jedenfalls eine Hindeutung auf das elende
Ende der beiden schlimmsten Verfolger, Maximian und Galerius,
gemacht haben, anstatt so unbedingt von der künftigen Rache
zu sprechen. In der Epitome 48 (53), 4 f. wird umgekehrt,
was für unsere Frage von grosser Wichtigkeit ist, das jener
Drohung entsprechend inzwischen nun eingetretene göttliche
Strafgericht an sämmtlichen Verfolgern ausdrücklich bezeugt.
Wir müssen also annehmen, dass sie, als Lactanz jenes Ca-
pitel 23 schrieb, noch lebten. Auch passt die Schilderung der
Greuel der Verfolgung, namentlich V11, 1 ff., nicht auf Licinius,
sondern auf Galerius. Zu diesem Grunde kommt noch hinzu, dass
Lactanz Inst. V 2 ff. (4, 1), wo er berichtet, dass das Auftreten
der beiden, schon von uns (S. 29 Anm. 1) erwähnten literarischen
Bekämpfer des Christenthums für ihn der Anlass zu seinen
Institutionen gewesen sei, ohne alle Frage auf die Zeit der
diocletianischen Verfolgung zurückweist. Er sagt von dem
einen derselben 2, 7: ut autem appareret, cuius rei gratia opus
illud elaborasset, effusus est in principum laudes, quorum
pietas et prouidentia, ut quidem ipse dicebat, cum in ceteris
rebus tum praecipue in defendendis deorurn religionibus cla-
ruisset; consultum esse tandem rebus humanis u. s. w. Die
principes können nur Diocletian und Galerius sein; in der
licinianischen Verfolgung wäre die Nennung einer Mehrheit
ohne rechten Sinn. Alle Schilderungen und Erörterungen aber,
welche in den folgenden Capiteln (9. 11—13. 19 ff.) sich auf
die Verfolgung beziehen, schliessen sich an jene Capitel 2 ff.
und den in ihnen beschriebenen Anfang des gewaltthätigen
Vorgehens gegen die Christen an, der unter jenen principes
stattfand; nirgends deutet Lactanz neben der früheren, so viel
32
V. Abhandlung: Brandt.
grausamer wüthenden diocletianiscli-galerianischen Verfolgung
auf eine spätere, die des Licinius, hin, sondern es ist immer
nur jene eine grosse, von der er spricht. Auch kann man
sich nimmermehr denken, dass Lactanz, der die Sprache und
alle Mittel der Darstellung in so hohem Masse beherrscht,
nachdem er im Anfang der Verfolgung, welche jene principes
ins Werk setzten, also bald nach 303, den Plan gefasst, in
einem grossen Werke die falsche Religion und Philosophie zu
bekämpfen, noch um das Jahr 320, wo die licinianische Ver
folgung erst zu Blutthaten sich steigerte, an diesem Werke
gearbeitet haben sollte, zumal dasselbe im wesentlichen das
jenige wiedergibt und ausführt, was er anderen Autoren,
christlichen wie heidnischen, entnommen hatte. Es' ist also un
möglich, die Abfassung der Institutionen erst in die licianische
Verfolgung zu setzen, sie muss in die Zeit fallen, wo die Ver
folger noch lebten, also in die Zeit vor 310. Als Lactanz aber
das fünfte Buch schrieb, befand er sich nach den angeführten
Stellen V 2, 2 und 11, 5 schon nicht mehr in Bithynien. Als
dann aber entsteht die Frage, wann er diesen seinen Aufent
haltsort verlassen und wohin er sich begehen hat. Hieronymus
sagt nun De uir. inl. c. 80 über das äussere Leben unseres
Autors noch Folgendes: hic extrema senectute magister Caesaris
Crispi filii Constantini in Gallia fuit, qui postea a patre inter-
fectus est, ausserdem in der Chronik ad a. Abr. 2333: Crispus
et Constantinus filii Constantini, et Licinius adulescens Licini
Augusti filius Constantini ex sorore nepos, Caesares appellantur.
quorum Crispum Lactantius latinis litteris erudiuit uir omnium
suo tempore eloquentissimus, sed adeo in hac uita pauper, ut
plerumque etiam necessariis indiguerit. Sonst liegen uns keine
Nachrichten über die weiteren Lehensschicksale des Lactanz
vor, von einem andern Aufenthalt desselben nachdem er in Nico
medien gewesen, als dem in Gallien, den Hieronymus bezeugt,
weiss weder dieser etwas zu berichten, noch findet sich hei Lac
tanz selbst eine derartige Andeutung. Wann wird nun Lactanz
nach Gallien, genauer gesagt nach Trier, welches bis Ende
von 316 Residenz Constantins war, gekommen sein? Crispus
wurde 317 Cäsar. Er war damals schon Jüngling (Zosimus
II 20,2), was sich auch daraus ergibt, dass er 318 Consul
wurde, mit dieser Würde hat man aber nicht wie bisweilen
Ueber die dual. Zusätze etc. III. lieber das Leben des Lactantius.
33
mit der Cäsarenwürde Kinder bekleidet 1 . Ferner hat er nach
dem 321 gehaltenen Panegyricus des Nazarius Cap. 36 schon
selbständig die Barbaren, vielleicht die Franken 319, nieder
geworfen 2 . Daher ist der Schluss von Tillemont, Histoire des
empereurs IV 84, Crispus sei um 300 geboren, gewiss richtig,
nur darf man schwerlich unter 300 heruntergehen, sondern
wird vielmehr etwas hinaufgehen müssen. Bei der Annahme
rund des Jahres 300 als des Geburtsjahres von Crispus liegt
es durchaus im Bereiche des Möglichen, dass Lactanz schon
im Jahre 308, wenn nicht noch früher von Constantin als Lehrer
des Crispus nach Gallien berufen wurde. Eine hier brauch
bare Parallele bietet Ausonius in seinem Verhältniss als Lehrer
des Gratian. Letzterer war 359 geboren, Ausonius aber trat
seine Stellung bei demselben spätestens 368, wahrscheinlich
schon vor 367, damals schon sehr angesehen 3 , an und lehrte den
etwa achtjährigen Prinzen zuerst Grammatik, dann Rhetorik
(Ausonius lectori 25 ss.). Aehnliches kann man bei Lactanz
annehmen, zumal der Unterricht der Kinder damals überhaupt
sehr früh begann 4 . Auch der Oheim des Ausonius Arborius
ist vielleicht schon vor 330 Lehrer des damals noch nicht zehn
jährigen Constans geworden ' 1 . Nun war Constantin bis in das
Jahr 305, wenn nicht bis in 306 (De mort. persec. 24) am
Hofe Diocletians und Galerius’ in Nicomedien gewesen, und
damals sind offenbar die Beziehungen zwischen ihm und Lac
tanz angeknüpft worden, die bald gewiss schon zu des letzteren
Berufung nach Gallien führten. Constantin, nach seines Vaters
Tode (25. Juli 306) Cäsar geworden, wird wohl nicht sogleich
in demselben Jahre Lactanz nach Gallien berufen haben, wohl
aber kann dies in den folgenden geschehen sein. Nimmt man
1 Vgl. Mommsen, Römisches Staatsrecht II 2 1086.
2 Wenn der Panegyriker p. 241, 28 (Bährens) in diesem Zusammenhänge
,pueriles annos c des Crispus nennt, so ist dies eine Herabsetzung des
Alters, um die Tüchtigkeit des Prinzen desto grösser erscheinen zu
lassen.
3 Ausonius lectori 18ss.; vgl. Schenkl, Prooem. p. IX und Peiper, Praef.
p. LXXXXV ihrer Ausoniusausgaben.
4 Ausonius im Protrepticus an seinen Enkel sagt Vers 67 ff.: multos lac-
tantibus annis Ipse alui gremioque fouens et murmura soluens Eripui
tenerum blandis nutricibus aeuum.
5 Schenkl a. a. O. p. VII, anders Peiper, p. LXXXXII.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CXX. Bd. 5. Abli 3
34
V. Abhandlung: Brandt.
hinzu, dass Constantin bei dem Nebeneinanderbestehen und
Rivalisiren mehrerer Regenten sicherlich alle Eile hatte seinen
damals einzigen Sohn Crispus, auf dem seine Hoffnung fin
den Fortbestand der von seinem Vater Constantius gegründeten
Dynastie beruhte, nach Abschluss der Erziehung als eine Stütze
auch für die Zukunft sich zur Seite zu sehen, dass ferner
Lactanz in Nicomedien durch keine Thätigkeit mehr gebunden
war, im Gegentheil sich aus den dortigen, unter Galerius für
ihn immer peinlicher werdenden Verhältnissen dringend weg
sehnen musste, so wird man vollauf berechtigt sein, die
Jahre um 308 für die Uebersiedlung des Lactanz nach Gallien
anzunehmen' 2 . Die Thätigkeit des Lactanz bei Crispus hat
jedenfalls im Jahre 317, wo dieser Cäsar wurde, ihr Ende
erreicht, vielleicht schon einige Zeit vor diesem Jahre. Wir
setzen mit dieser Annahme das Ende der Lehrthätigkeit des
Lactanz bei Crispus in die Zeit, in der Andere sie erst be
ginnen lassen, wie z. B. Le Brun-Lenglet I p. V. Wenn es
hier heisst: Eusebius horum temporum scriptor diligentissimus
admonet, ex Bithynia in Gallias profectum non fuisse Lactan-
tium nisi anno 317, so kann mit dieser Stelle nur der oben
angeführte Vermerk von Hieronymus ad a. Abr. 2333 gemeint
sein, in dem nach der Angabe, Crispus sei in diesem Jahre
zum Cäsar ernannt worden, die Notiz über Lactanz als dessen
Lehrer folgt. Da nun die Ernennung des Crispus zum Cäsar
317 stattfand, so erscheint Le Brun-Lenglet offenbar dieses
Jahr zugleich als dasjenige, in welchem Crispus Lactanz zum
Lehrer erhielt. Man könnte aber zum Schutze dieser Ansicht
auch noch die erste der obigen Stellen des Hieronymus Vor
bringen: hic extrema senectute magister Caesaris Crispi
filii Constantini in Gallia fuit. Indessen kann man bei näherer
1 Auch bei dem 315/316 geborenen jüngeren Constantin hat der Vater
nach dem Panegyricus des Nazarius, Cap. 37, die Erziehung beschleunigt:
iam (also 321) maturato Studio litteris habilis, iam felix dextera
fructuosa subscriptione laetatur.
2 Man hat öfter für die zeitliche Bestimmung des Verhältnisses von Lac
tanz zu Constantin die Anreden an den letzteren, die sich Inst. I 1
nach § 12 und VII nach Cap. 26 in einigen Handschriften finden, be
nützen zu können geglaubt, da aber die Unechtheit derselben in der
betreffenden Abhandlung von uns erwiesen ist, so fiel die Berücksich
tigung derselben für uns weg.
Heber die dual. Zusätze, etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
35
Betrachtung unmöglich diese Stellen zu jener chronologischen
Bestimmung für geeignet halten. An der einen fügt Hieronymus
die Notiz über Lactanz als Lehrer von Crispus der Haupt
angabe, dass in diesem Jahre die genannten zu Cäsaren er
hoben worden sind, doch nur gelegentlich bei, an der andern
aber muss man den Zusatz Caesaris für einen ungenauen Aus
druck ansehen. Hieronymus will nur sagen, Lactanz sei Lehrer
des Crispus, des späteren Cäsar, gewesen. Wir werden alsbald
noch zu zeigen haben, dass die Stelle auch noch einen anderen
Irrthum enthält, für unsere vorliegende Frage aber ist Folgendes
entscheidend. Es ist doch nie und nimmer denkbar, dass Con-
stantin erst in dem Jahre 317 seinem Sohne den Lactanz zum
Lehrer gegeben haben sollte, da jener schon 318 Consul ge
worden ist und vielleicht 319 die Franken bekämpft hat. Als
Consul hat doch wahrlich Crispus nicht mehr unter Leitung
von Lactanz literarische Studien gemacht, überhaupt aber war
im Jahre 317, wo er etwa siebzehn Jahre alt war, die Zeit
der wissenschaftlichen Ausbildung für ihn vorüber, so gut wie
für jeden anderen jungen Mann, der nicht gerade Rhetor oder
Gelehrter werden wollte oder besonders starke wissenschaft
liche Neigungen hatte. Crispus war aber ein Fürstensohn, dem
ganz andere Aufgaben bevorstanden, auf dessen möglichst
baldige Hilfe in militärischen und politischen Dingen der Vater
ohne Zweifel doch rechnete. Und weshalb sollte Constantin
so spät erst Lactanz nach Gallien berufen haben, wo dieser
doch, wie schon bemerkt, in Folge der Edicte gegen die
Christen schon längst unter Diocletian seines Amtes in Nico
medien verlustig gegangen war, vollends da nach Diocletian
dort Galerius die Verfolgung noch steigerte? Lactanz war schon
lange Zeit vor 317 frei zur Uebernahme des neuen Amtes bei
Crispus, und dieser war auch schon eine längere Reihe von
Jahren vor diesem Zeitpunkt in dem Alter, wo er unter Lac
tanz studiren konnte. Ebenso wenig wie das Jahr 317 können
wir aber 315, wie Baluze (bei Le Brun-Lenglet H p. 279) will
kürlich meint, für richtig halten, auch nicht 312 (so ohne
Beweis Bertold S. 10), wo die Institutionen schon in Gallien ab
geschlossen waren. In Verbindung mit diesem letzteren Gesichts
punkte ist die von uns vertretene Ansicht zuerst kurz und
treffend von Meyer (Quaest. Lact. I p. 6 s.) formulirt worden.
3*
36
V. Abhandlung: Brandt.
Es bleibt uns nun aber noch ein Punkt in der ersten
der beiden oben angeführten Stellen des Hieronymus zu be
sprechen übrig. Hieronymus sagt, Lactanz sei ,in extrema
senectute' Lehrer des Crispus in Gallien gewesen. An dieser
Angabe hat man bisher noch nicht Anstoss genommen, allein
bei näherer Betrachtung kann sie nicht bestehen bleiben.' Es
ist an und für sich schon völlig unwahrscheinlich, dass Con-
stantin seinem Sohne, einem ganz jungen Menschen, einen ,im
höchsten GreisenalteP Stehenden zum Lehrer gegeben haben
sollte. Für die extrema senectus dürfen wir unbedenklich
mindestens das siebenzigste Lebensjahr, richtiger noch ein
späteres annehmen. Doch bleiben wir bei siebzig Jahren,
damit unsere Rechnung desto sicherer wird. Zu dieser inneren
Unwahrscheinlichkeit kommen aber noch weitere Schwierig
keiten hinzu. Lactanz war, wie S. 13. 19 besprochen, nach dem
doppelten Zeugniss des Hieronymus, De uir. inlustr. c. 80 und
Epist. LXX, ein Schüler des Arnobius. Hieronymus gibt
nun aber in der Chronik ad a. Abr. 2343 die Notiz: Arnobius
rhetor in Africa clarus habetur, dann folgt die Geschichte von
der Entstehung seines Werkes, die in Verbindung mit seinem
Uebertritt zum Christenthume stand. Da nun aber das Werk
des Arnobius um 295 entstanden ist, so kann man zweifeln,
ob jenes Jahr des Hieronymus, welches 327 n. Chr. ergibt,
das richtige ist für die Blüthe des Arnobius. Daher bemerkt
Teuffel, Geschichte der römischen Literatur 4 S. 926, es sei
dies wahrscheinlich das Todesjahr des Arnobius. Dass Hiero
nymus überhaupt mit Unrecht Arnobius mit diesem Jahre 327
in Verbindung bringen sollte, ist, so wenig er mit besonders
grosser Sorgfalt die Chronik des Eusebius bearbeitet hat, doch
deshalb nicht wahrscheinlich, weil nach den Worten: huc usque
historiam scribit Eusebius Pamfili martyris contubernalis. cui
nos ista subiecimus, gerade an dieser Stelle seine eigene Fort
setzung derselben beginnt und schwerlich doch sogleich der
erste Eintrag völlig falsch ist. Gehen wir also von 327 als
dem Todesjahre des Arnobius aus. Im Jahre 310, wie wir
in runder Zahl annehmen wollen, wäre nach Hieronymus
Lactanz mindestens als Siebenziger Lehrer bei Crispus ge
worden, er muss aber doch jedenfalls zehn Jahre jünger als
sein ehemaliger Lehrer Arnobius gewesen sein, also wäre Arno-
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
37
bius im Jahre 310 achtzig, 327 aber siebenundneunzig Jahre
alt gewesen. Diese Zahl von rund hundert Jahren ist aber
an sich schon unwahrscheinlich, auch würde ein so hohes
Lebensalter des Arnobius doch vielleicht an der einen oder
anderen Stelle des Hieronymus um seiner Merkwürdigkeit
willen überliefert sein. Aber man könnte trotzdem diese Le
bensdauer für möglich halten oder einen Fehler bei Hieronymus
annchmen oder die Zahl durch Verschiebungen in der Rech
nung auf nahe an neunzig Lebensjahre herabdrücken. Wir
geben daher noch einen Beweis, und zwar aus Lactanz selbst.
Die Institutionen sind nicht nach 310 geschrieben worden, zu
welcher Zeit nach Hieronymus Lactanz schon im Greisenalter
gestanden hätte, die Schrift De opificio dei aber wohl 304, damals
wäre Lactanz jedenfalls schon beinahe Greis gewesen. Lactanz
spricht nun in diesen Werken nirgends wie ein Greis', wenn
man auch einzelne Stellen so gedeutet hat. De opificio dei 20, 7
redet er von dem geplanten Werke der Institutionen: magnum
uideor polliceri, sed caelesti opus est munere, ut nobis facultas
ac tempus ad proposita persequenda tribuatur. quod si uita
est optanda sapienti, profecto nullam aliam ob causam uiuere
optauerim, quam ut aliquid efficiam quod uita dignum sit . .
quo perfecto satis me uixisse arbitrabor et officium hominis
implesse. . . Aber in diesen Worten liegt doch keineswegs,
wie Meyer (Quaest. Lact. I p. 7) annimmt, die Beziehung auf
ein hohes Alter, im Gegcntheil wäre Lactanz damals schon
Greis gewesen, so würde er gegenüber einer solchen Aufgabe,
wie die Institutionen es waren, ganz anders die Unsicherheit
seines schon der natürlichen Grenze zueilenden Lebens her
vorgehoben haben. So wie er hier spricht, kann recht wohl
ein Mann in guten Jahren sprechen, dem angesichts eines
grossen Werkes die Frage sich erhebt, ob die Dauer des
Lebens ihm die Vollendung desselben erlauben werde. Nicht
mehr Beweiskraft kann ich der schon von Betuleius, Praefat.
fol. a 4 b seiner Ausgabe (1563), und dann auch von Meyer
a. 0. benutzten Stelle Inst. I 1, 11 einräumen: nam si qui-
dam maximi oratores professionis suae quasi ueterani decursis
operibus actionum suarum postremo se pliilosophiae tradiderunt
eamque sibi requiem laborum iustissimam putauerunt . ., quanto
iustius ego me ad illam piam ueram diuinam sapientiam quasi
38
V. Abhandlung: Brandt.
ad portum aliquem tutissimum conferam, in qua omnia dictu
prona sunt, auditu suauia, facilia intellectu, honesta susceptu?
Die Stelle bezieht sich offenbar auf Cicero und dessen Worte
zu Anfang der Tusculanen, noch mehr aber klingt der Anfang
des Werkes De oratore durch, selbst in einzelnen Ausdrücken.
Lactanz zieht nun aber hier durchaus keine Parallele in Be
ziehung auf das Alter, sondern nur in Beziehung auf die
Thätigkeit. Wie gewisse grosse Redner, nachdem sie diesen
Beruf aufgegeben, sich der Philosophie zugewandt haben, so
wendet sich auch Lactanz, nachdem sein Lehramt ein Ende
gefunden, der Darlegung der göttlichen Weisheit zu. In dem
vorhergehenden Stücke hatte er von seiner ,oratoria pro-
fessio' gesprochen und nur von einer langen Dauer derselben
(in qua diu uersati § 8), keineswegs aber in dem Tone eines
arbeits- und berufsmüden Greises geredet, nur mit Be
dauern blickt er zurück auf jenes Amt, in dem, wie er sagtj-
,non ad uirtutem, sed plane ad argutam malitiam iuuenes eru-
diebamus'. Je höher nun aber die göttliche Weisheit steht
als die menschliche Philosophie, um so mehr (quanto iustius)
darf er sich, nachdem er in Bezug auf seine Thätigkeit als
Rhetor ein Veteran wie jene geworden, in diesen sicheren
Hafen zurückziehen. Das Bild des Hafens ist ihm nahegelegt
durch Cicero, der De or. I 1, 1—3 das Bild der Schifffahrt
im Auge hat. Auch zeigt § 12 hei Lactanz, in dem er sich
in einem ähnlich wie § 11 gebauten Satze nun auch mit den
Rechtslehrern vergleicht, dass es ihm hier nur um eine ge
meinsame Beziehung auf die Art der Thätigkeit, nicht um eine
Hervorhebung des Alters zu thun ist. Was endlich die Stelle
Inst. VII 27, 8 angeht: quanto quisque annis in senectutem
uergentibus adpropinquare cernit illum diem quo sit ei ex hac
uita demigrandum, cogitet quam purus abscedat . ., non ut
faciunt quidam caecis mentibus nixi, qui iam deficientibus cor
poris uiribus in hoc admonentur instantis ultimae necessitatis,
ut cupidius et ardentius hauriendis libidinibus intendant, so
kann man zugeben, dass es wenigstens möglich ist, hier eine
Hindeutung auf das eigene Lebensalter zu finden. Aber Lactanz
sagt doch nur ,annis in senectutem uergentibus', und so kann
ganz gut ein Fünfziger sprechen; dass aber Lactanz gegen
310, wo er diese Stelle geschrieben, fünfzig Jahre alt gewesen,
Ueber die dual. Zusätze etc. III. Ueber das Leben des Lactantius.
39
halten wir für sehr möglich. Aber noch weiter. In den In
stitutionen ist Lactanz noch voll Arbeitskraft und Schaffens
lust und hat noch weitere literarische Pläne. Er beabsichtigt
nicht nur II 17, 5 die später ausgeführte Schrift De ira dei
zu verfassen, sondern nach IV 30, 14 trug er sich noch mit
einem anderen Gedanken: postea plenius et uberius contra
omnes mendaciorum sectas proprio separatoque opere pu-
gnabimus, also ein ausführliches polemisches Werk der be
kannten Art ,Aduersus omnes haereses - '; da Hieronymus über
dasselbe schweigt, so ist die Ausführung vielleicht unterblieben.
Allein noch in dem nach den Institutionen geschriebenen Buche
De ira dei 2, 6 hegt er diesen Plan: quos . . refutabimus
postea diligentius, cum respondere ad omnes sectas coepe-
rimus. Ausserdem gedachte er nach Instit. VH 1, 26 ein Werk
der von Harnack, Texte und Untersuchungen I 3 (1883) S. 76 ff.,
besprochenen zahlreichen Gattung ,Aduersus Iudaeos' zu
schreiben: sed erit nobis contra Iudaeos separata materia,
in qua illos erroris et sceleris reuincemus. Solche Arbeits
pläne, sowie die unbedingte Sicherheit, mit der sie dem Pu
blikum mitgetheilt werden, passen nicht zu einem Manne ,in
extrema senectuteb Auch das letztgenannte Werk ist vielleicht
nur ein Plan geblieben, doch werden die sonstigen christlichen
Schriften des Lactanz, die Hieronymus nennt, wie später ge
zeigt werden wird, in dessen späterer Zeit entstanden sein.
Ueberhaupt aber ist auch die grosse Frische und Lebendigkeit
des Geistes und der Sprache, die uns in allen Schriften des
Lactanz entgegentritt, ein starker Beweis gegen die Annahme,
er sei zur Zeit, wo er die Institutionen schrieb, schon hoch
betagt gewesen. Nirgends sehen wir einen müden Greis, nir
gends finden sich Rückblicke, Betrachtungen oder Stimmungen,
wie sie bei einem am Lebensabend Angelangten unwillkürlich
sich einstellen, sondern überall ist er voll Arbeitsfrische, voll
Kampfeslust, voll Siegesgewissheit, in einem Grade, dass wir
oft einen sanguinischen jungen Mann zu hören vermeinen. Ich
glaube aus den angeführten Gründen, dass die Unrichtigkeit
der Nachricht bei Hieronymus nicht bezweifelt werden kann.
Lactanz wird, als er die Institutionen abschloss (gegen 310),
etwa fünfzig Jahre alt gewesen sein und zu dieser Zeit war
er auch der Lehrer des Crispus. Hieronymus hat offenbar
40
V. Abhandlung: Brandt.
verschiedene Dinge unrichtig mit einander verbunden. Lactanz
war allerdings auch in seinem äussersten Greisenalter in Gallien,
aber damals war er schon längst nicht mehr Lehrer des 32G
hingerichteten Crispus, diese letzten Lebensjahre waren wohl
die Zeit, von der ganz besonders die Worte jener zweiten
Stelle des Hieronymus zu verstehen sind: adeo in hac uita
pauper, ut plerumque etiam necessariis indiguerit. Man ver-
muthete, dass diese Dürftigkeit damit in Zusammenhang ge
standen hat, dass ihn die Ungnade Constantins in irgend welcher
Verbindung mit dem Geschicke des Crispus getroffen. Es ist
dies möglich, doch Hesse sich ja das Eine oder Andere sagen,
was diese Möglichkeit schwächer erscheinen lässt. Halten wir
die Angabe des Hieronymus fest, nach der Lactanz jedenfalls
bis in das äusserste Greisenalter gelangte, sagen wir bis zu
achtzig Jahren, so würde er etwa 260 geboren, 340 gestorben
sein, und nehmen wir an, dass sein Lehrer Arnobius zehn
Jahre älter war, so wäre dieser 327 im Alter von siebenund
siebzig Jahren gestorben. Etwa in seinem fünfzigsten Lebens
jahre, um 308, kam Lactanz nach Gallien; wann er nach Nico
medien berufen worden ist, darüber wird man nur dies sagen
können, dass er doch schon eine gewisse Reife erlangt und
sich bewährt haben musste, um überhaupt den Ruf in eine
so hervorragende Stellung zu erhalten. Früher als in den
letzten Jahren vor 290 kann er wohl kaum aus Afrika
nach Asien übergesiedelt sein, einige Jahre nach Diocletians
Regierungsantritt (284). Aller Wahrscheinlichkeit nach ist Lac
tanz, nachdem seine Thätigkeit bei Crispus beendigt war, in
Trier geblieben und hier gestorben, bei Hieronymus schliesst
wenigstens die Mittheilung über sein Leben mit dem Aufenthalt
in Gallien. Auf den Aufenthalt in Gallien weist vielleicht auch
die Erklärung der Namen Gallier und Galater, die Hieronymus
im Commentar zum Galaterbrief, in der Vorrede des zweiten
Buches (tom. VII 425 Vall.) aus dem dritten Buche von
Lactanz’ Briefen an Probus mittheilt. Ferner schrieb Lactanz
nach Hieronymus Cap. 80 zwei Bücher Briefe an Severus, in
Cap. 111 wird aber genannt ,Acilius Seuerus in Hispania, de
genere illius Seueri ad quem Lactantii duo epistularum scri-
buntur librF, man wird es daher für natürlich halten, dass
auch jener Seuerus ein Spanier war, und für naheliegend,
Uober die dual. Zusätze etc. III. lieber das Leben des Lactantius.
41
dass diese Verbindung in Zusammenhang mit Lactanz’ Auf
enthalt in Gallien stand. Er selbst berührt nirgends in den
erhaltenen Schriften Dinge, die auf diesen Aufenthalt schliessen
lassen, wie er überhaupt über seine persönlichen Verhältnisse
sehr wenig mittheilt. Die Schriften, die Lactanz an Freunde
gerichtet, an Demetrian, Asclepiades, Probus, Seuerus, wozu
die Schrift De ira dei an Donatus kommt, zeigen uns jedoch,
dass er auch in seinen späteren Jahren einen Kreis von Persön
lichkeiten hatte, die gewiss ebenso warm ihm zugethan waren,
wie für ihn seinem ganzen Wesen nach persönlicher Verkehr,
Mittheilen, Lehren ein Bedürfniss gewesen ist.
So hat Lactanz die drei Theile der alten Welt durch
wandert, seine ersten Jahrzehnte verlebte er in Afrika, die Jahre
der besten Kraft theils in Asien, theils schon in Europa, und hier,
in Gallien, hat er als hochbetagter Greis sein arbeitsreiches
Leben beschlossen.
Einige Bemerkungen, die Sittl in dem nach Einreichung dieser Ab
handlung an die kais. Akademie erschienenen Jahresbericht für Alterthums
wissenschaft LIX (1889, II), S. 281 über die oben S. 2 Anm, genannte
Schrift von P. Meyer macht, veranlassen mich zu einem kurzen Nachtrage.
Meyer entscheidet sich nämlich ebenfalls dafür, dass Lactanz wegen der
beiden oben S. 24 und 27 genannten Stellen Inst. V 2, 2. 11, 5 im Jahre
311 nicht mehr in Bithynien habe sein können, und benutzt diesen An
haltspunkt zu einem Schlüsse für die Entscheidung der Frage nach dem Ver
fasser der Schrift De mortibus persecutorum: da nämlich dieser als in
Nicomedien lebender Augenzeuge der Ereignisse von 303 bis 313 spricht, so
kann er nicht Lactanz sein. In meiner folgenden, fast druckfertigen Ab
handlung habe ich anerkannt, dass damit Meyer zuerst einen festen Aus
gangspunkt für die Entscheidung jener Frage gefunden, in der vorliegenden
Arbeit habe ich absichtlich die Mortes nicht berührt, da ich das Leben des
Lactanz nur nach dessen unzweifelhaft echten Schriften darstellen wollte.
Sittl sagt nun, der Schluss von Meyer sei unverständlich. ,Als Lactanz „De
mortibus persecutorum“ unter einem toleranten Fürsten an einen befreun
deten Glaubensgenossen schrieb, konnte er ungescheut von Nicomedien aus
als seinem Aufenthaltsorte sprechen. Aber wenn er sich an die heidnische
Welt als Missionär in einer Zeit der Verfolgung wendete, war damit sein
Tod besiegelt — wenn man ihn fand. Dass der stille unpraktische professor
eloquentiae nicht ohne Notli den Martertod finden wollte, wird man ihm nicht
verargen. 4 Aus diesen Worten muss man schliessen, dass Sittl, der übrigens
Meyers Ansicht, dass die Institutionen vor 311 geschrieben sind, zulässt,
die Meinung hegt, Lactanz habe das Werk während der Verfolgung, und
zwar in Nicomedien veröffentlicht, um sich aber als Urheber desselben zu
42 V. Abli.: Brandt. Uetier d. dual. Zusätze etc. III. Ueber d. Leben d. Lactantius.
verbergen, habe er jenen beiden Stellen eine solche Fassung gegeben, als
befände sich der Schriftsteller jetzt nicht mehr in Bithynien, sondern an
derswo. Allein ich muss diese Deutung des geschätzten Gelehrten für völlig
unmöglich halten. Wir sahen, wie behutsam Laetanz in dem wirklich in
Nicomedien verfassten Buche De opificio dei sich ausdrückt, um sich nicht
als Christen zu verrathen (S. 27), umgekehrt zeigen die Institutionen nicht
das Mindeste von einer solchen Vorsicht, im Gegentheil, Laetanz spricht
ganz offen von seinem früheren Lehramt 11,8. V 2, 2, er nennt den Freund
Asclepiades, den Schüler Demetrianus (S. 26): dies hätte er nie und nimmer
gethan, wenn er, und gar aus Furcht vor der Verfolgung, seine Persönlich
keit oder seinen Aufenthalt hätte in Dunkel hüllen wollen. Jede Versteckt
heit liegt den Institutionen völlig ferne, in den Anfangsworten der Epitome
aber blickt er auf die Institutionen in einer Weise zurück, mit der man es
nicht vereinen kann, dass er sie aus einem Versteck heraus, ohne sich als
Verfasser derselben zu bekennen, in die Welt gesandt haben sollte. Vollends
enthält das ganze Werk auch nicht das geringste Anzeichen dafür, dass der
Verfasser etwaige Nachspürer durch unrichtige Angaben über sich auf die
falsche Fährte hätte leiten wollen. Hätte Laetanz gefürchtet, als Verfasser
des Buches zu erscheinen, so würde er jedenfalls dasselbe anonym herausge
geben haben. Und welche Schwierigkeifen musste für Laetanz, falls er aus
Furcht seinen Aufenthalt verheimlichen wollte, nicht allein schon das Unter
nehmen haben, ein so umfangreiches Werk in das Publicum zu bringen, wenn
er wirklich in Bithynien sich, wie Sittl sagt, an die heidnische Welt als
Missionär in einer Zeit der Verfolgung wandte! Ja, wäre es ein kleiner
Tractat, eine Flugschrift, dann könnte man allenfalls an dergleichen denken,
aber ein Werk, das aus ,septem maximis uöluminibus 1 (Epitome, Prooem. 2)
bestand? Sittl ist zu seiner Deutung jener Stellen nur dadurch veranlasst
worden, dass er Laetanz für den Verfasser der Mortes hält, allein ich werde
zeigen, dass dieser jetzt ziemlich allgemeinen Ansicht noch andere Dinge im
Wege stehen als jene beiden Stellen, und lasse diesen wie Meyer ihren ein
fachen und natürlichen Sinn. Laetanz schrieb dieses Stück der Institutionen
und schloss das Werk ab in Gallien, als er wirklich nicht mehr in Bithynien
war. — Ferner bemerkt Sittl gegen die von Meyer gezogene Consequenz,
Laetanz sei schon lange vor des Crispus Ernennung zum Cäsar dessen Lehrer
geworden, dass Laetanz recht wohl Crispus den höheren Unterricht in
Rhetorik und Philosophie nach dessen Ernennung zum Cäsar habe eftheilen
können, ,als er princeps iuuentutis 1 war. Allein ich kann nicht erkennen,
wie dieser letzte Gesichtspunkt für die Frage von Belang sein soll, die
Gründe, die oben gegen die Annahme eines so späten Eintritts des Laetanz
bei Crispus, wobei man nothwendig in das Consulatsjahr desselben kommt,
vorgebracht worden sind, werden dadurch jedenfalls nicht abgeschwächt.
Zu S. 3 f. ist noch der Eintrag in einem Katalog von Bobbio aus dem
10. Jahrhundert: Celii Firmiani Lactantii de opificio dei (Becker, Catalogi
antiqui p. 67 n. 220) hinzuzufügen.
VI. Abhandlung: v. Hartei. Patriotische Studien. I.
1
VI.
Patristische Studien.
I.
Zu Tertullian de spectaculis, de idololatria.
Von
Dr. Wilhelm v. Hartei,
wirkt. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
August Reifferscheid, welcher die Herausgabe der
Schriften Tertullian’s für das Wiener Corpus übernommen
hatte, wurde durch seinen frühen, von uns tief beklagten Tod
verhindert, dieselbe zum Abschluss zu bringen. Seine Vor
arbeiten waren so weit gediehen, dass er den wichtigsten und
für eine Anzahl Schriften jetzt uns einzig erhaltenen Codex
Agobardinus (A) mit peinlichster Sorgfalt wiederholt ver
glichen und die adnotatio critica für den ersten Band zu
sammengestellt hatte, welcher vor Allem jene Tractate Tertullian’s,
für welche wir andere Handschriften nicht mehr besitzen,
bringen sollte. Im Wesentlichen hielt er wohl diesen Band
für abgeschlossen, indem er mit dem Druck desselben im
Jänner des Jahres 1888 beginnen wollte. Noch wenige Wochen
vorher hatte er diese Absicht uns in Erinnerung gebracht, und
es war Alles für den Druck bereit, als die Nachricht von
seinem plötzlichen Tode eintraf. Eine Prüfung des Nachlasses
ergab, dass, was zur Fertigstellung für den Druck noch man
gelte und unerlässlich schien, wohl dem Sinne des Heraus
gebers entsprechend besorgt werden könnte, und ich unterzog
mich beruhigt und gerne den Mühen dieser Aufgabe, als Herr
Professor G. Wissowa, welchem inzwischen die Herausgabe
der weiteren Bände Tertullian’s übertragen worden war, sich
bereit erklärte, an dem Geschäfte dieser liedaction theilzu-
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 6. Abk. 1
2
VI. Abhandlung: v. Hartei.
nehmen. Wir waren aber bemüht, das hinterlassene Werk, so
weit dies möglich war, unverändert zum Druck zu bringen, wenn
gleich hie und da stärkere Eingriffe nicht ganz zu vermeiden
waren. Diese trafen weniger die Stellen des Textes, wo die
Entscheidung von der Wahl zwischen den Lesarten des Ago-
bardinus (= A), der editio princeps des Gangneius (= B) und
ihrer Randbemerkungen (= Bmg) oder etwa des Codex Cle-
mentis (= C) abhängt; in den meisten Fällen dieser Art Hessen
die von Reifferscheid in den kleinen Oehler’schen Text ein
getragenen Lesarten und die Anordnung der adnotatio critica
keinen Zweifel über das, was er selbst für richtig gehalten
hatte. Aber wo Uber die Ueberlieferung hinauszugehen und
nur durch Conjectur zu helfen war, da zeigten oft mehrere
mit Fragezeichen vermerkte Versuche, dass er seine Entscliei-
düng weiterer Ueberlegung Vorbehalten hatte. Wie das bei
einem Autor wie Tertullian und einer Arbeit der Art natürlich
ist, hatten zahlreichere Bemerkungen zu schwierigen Ausdrücken
oder selteneren Constructionen nur die vorläufige Bedeutung,
zu erinnern, dass eine Stelle dunkel sei oder eine Verderbniss
vorliegen könne, indem von dem Fortgang der Untersuchung
Aufklärung erwartet wurde. Es erwuchs bei der Herausgabe
daraus die Pflicht, von solchen Vorschlägen und Bemerkungen
nur eine Auswahl mitzutheilen und wohl auch selbst zu ver
suchen, Manches ins Reine zu bringen. Indem wir uns aber
in Bezug auf den Text die grösste Zurückhaltung auferlegten,
setzten wir in die adnotatio critica manche eigene Conjectur,
die wir damit weiterer Erwägung empfehlen wollten.
In dieser Richtung wird also wohl im Sinne Reifferscheid’s
das Meiste geordnet sein. Auf die Vorzüge, welche die Aus
gabe gewonnen hätte, wenn es ihm gegönnt gewesen wäre, die
letzte Hand an sie zu legen, müssen wir verzichten. Möge die
gelehrte Welt das in ihr anerkennen und schätzen, was uns
bestimmte, dieses Vermächtniss des um unser Unternehmen so
verdienten Forschers ohne weiteren Aufschub zu veröffentlichen,
und die Ueberzeugung gewinnen, dass durch die genaue Mit
theilung der Lesarten des Agobardinus und seiner Defecte der
Kritik dieses schwierigen Textes die lang vermisste sichere
Grundlage gegeben ist. Wie wenig man sich auf die Angaben
früherer Herausgeber verlassen könne, hat Maximilian Kluss-
Patristische Studien. I.
3
mann (Curarum Tertullianearum particulae tres, Gothae 1887),
welchem wir eine mit grosser Akribie veranstaltete Collation
der Bücher ad nationes nach dem Agobardinus und werthvolle
kritische Beiträge verdanken, gezeigt; er sagt p. 5: nam Gotho-
fredi et Rigaltii tempora non ea erant, ut, quemadmodum aiunt,
omnia cum puluiscido excuterent, ne minima quidem neglegerent
aut praetermitterent: Oelilerus autem codicem ne uidit quidem et
in Bdluzii et Hildebrandi collationibus ita acquieuit, ut, cum
ut.ramque aequi iuris esse iubeat, neutri confidat, et in uariis quas
inde exscripsit lectionibus hanc illam subsequi uoluerit, qua socordia
ardentius nouae illius codicis collationis desiderium mouisse di-
cendus est' . Was von dieser Schrift gilt, die freilich in der
Ueberlieferung am meisten gelitten hat, gilt auch von allen an
deren, die nur durch den Agobardinus erhalten sind. Ueber
den Werth der Reifferscheid’schen Collation äusserte sich aber
Ernst Klussmann in seiner Ausgabe der Bücher de specta-
culis (Rudolphopoli 1876), für welche ihm die Benützung der
selben gestattet war, p. 4: optima certe dos libelluli Augusto
Reifferscheidio debetur, nouam dico eamque exactissimam codicis
Agobardini collationem . . . quo totius rei agendae fundamento
certissimo si caruissem, librum innumeris mendis inquinatissi-
mum recensere animum profecto non induxissem. ut enim res
est, restituendorum, quantum fieri possit, ipsius Tertulliani uer-
borum unica spes in eo libro posita uidetur. codex autem tarn
misere laesus et märgines laterarii magnam partem ita uiolati
sunt, ut modo in foliis uersis prima quaeque uersuum uerba modo
in foliis rectis extrema plane desiderentur. quae loca quot fere
litteris expleantur Reifferscheidius punctis pro modulo lacunae
positis signifcaueratA
Was innerhalb dieser den ersten Band füllenden Schriften
ausser dem Agobardinus von handschriftlichen Zeugnissen noch
in Betracht kommt, ist mit Vorsicht zu benützen. So hat
Joannes Gangneius, dessen Ausgabe in Paris 1545 erschien
Und die Baseler Ausgaben um die im Agobardinus stehenden
Schriften de testimonio animae, de anima, de spectaculis, scorpiace,
1 Vgl. Ernst Klussmann in Ililgenfeld’s Zeitschr. III, p. 82—100, 363—393.
? In der Ausgabe sind die verlorenen oder durch das Ueberfahren von
späterer Hand vernichteten Buchstaben der ursprünglichen Schrift durch
eckige Klammern L , eingeschlossen.
1*
Ü
4
VT. Abhandlung : v. Hartei.
de idololatria, de oratione (die schwer lesbaren Bücher ad
nationes liess er bei Seite liegen) vermehrte, ausser diesem vetu-
stissimus Codex eine jüngere interpolierte, aber besser lesbare
Handschrift zugrunde gelegt, welcher er die drei Schriften de
baptismo, de pudicitia und de ieiunio adu. psychicos allein ver
dankte. Das hat E. Klussmann erkannt, sowie Gangneius’ Ver
fahren kaum unrichtig beurtheilt, indem er sagt, a. a. 0. p. 1:
permulta enim in codice Agobardino omittuntur, quae in altero
codice legebantur, ut mutilum et misere laesv/m in describendo
postponeret pleniori et integro. non is est Gangneius, qui suo
iudicio et arbitno multa immutare soleat: quae praesto erant,
bona fide reddere solet, ut tarnen, quemadmodum dixi, non raro
nouo quodam contaminationis genere utatur. interpolatus autem
sine dubio alter iste codex fuit, ut nisi iis locis, quibus ea quae
in Agobardino desiderantur explet, sequendus non sit, ubi in reli-
quis discrepat, tanti sit aestimandus, quanti in ea re librarii iudi-
ciuni fuisse uidetur. Indem wir an zahlreichen Stellen, wo der
Agobardinus lückenhaft oder verderbt ist, zu Gangneius unsere
Zuflucht nehmen müssen, hat dieser seiner Quelle ein grösseres
Ansehen erobert, als sie in Wirklichkeit verdienen mag. Uns
wenigstens schien mehr Zurückhaltung geboten, als Reifferscheid
beobachten zu sollen meinte. Wie wenig vertrauenswürdig
Gangneius selbst sei, hat jüngst K. Schenkl in einem andern
Falle unwiderleglich gezeigt (Poet. Christ, min., pars I, p. 337 f.,
p. 437 f.). Wir aber glaubten uns auf die Entfernung nur der
klarsten Interpolationen beschränken zu sollen, um uns von
der Reifferscheid’sehen Recension nicht zu weit entfernen zu
müssen. Das Gleiche gilt von den Lesarten, welche Gangneius
am Rande seiner Ausgabe verzeichnet hat (Bmg), unter welchen
wir bald auf Lesarten des Agobardinus stossen, bald eigene
Vermuthungen Gangneius’ zu suchen haben.
Ein nicht um Vieles höherer urkundlicher Werth kommt
den Lesarten von Sigismund Gelenius zu, welcher fünf
Jahre später zu Basel 1550 Tertullian edierte und hiebei sich
für einen grossen Theil der Werke und darunter für alle jene,
welche Gangneius aus dem Agobardinus zuerst veröffentlicht
hatte, einer aus England erhaltenen Handschrift bediente, die
er ausnehmend preist: tandern ex ultima Britannia Ioannes
Lelandus, uir antiquarius et feliciori dignus ualetudine, communi-
Patristische Studien. I.
5
cauit exemplar in Mäsburensi coenobio gentis eius uetustissimo
repertum, in quo nihil de.side.rare, possis amplius. tanta erat inte-
gritas, nisi quod aliqui libri deerant. continebat autem et omnia
illa quae accesserunt ad postremam editionem Lutetiae: quae si
quis cum hac praesenti contulerit, uidebit non uanurn esse Gele-
nium. utinam habuisset codex is etiam reliqua, nihil in lioc scrip-
tore requireretur in posteruni. Da Gelenius keine Varianten
des Codex ausdrücklich als solche anführt, haben die Lesarten
seiner Ausgabe in keinem Falle eine genügende urkundliche
Gewähr; denn wir vermögen nicht zu entscheiden, was davon
aus dem Codex genommen, was blosse Conjectur sei. Ueber-
trifft er ja seine Vorgänger und besonders Gangneius weit
durch Gelehrsamkeit und Belesenheit auf diesem Gebiete, so
wie durch Divinationskraft. Es ist demnach begreiflich, wenn
E. Klussmann, was sich ihm aus einer Prüfung der Lesarten
in dem 'Fractat de spectacidis ergab, dahin zusammenfasst: sic
quaecunque aut nouauit aut correxit, suo ingenio debuit, ut in
hoc quidem libello codicem, quem summis laudibus ejfert, aut
nullum aut nullius pretii fuisse pro certo afßrmem. Ein vor
sichtiges Verfahren wird diesen Grundsatz auch für die übrigen
gelten lassen müssen.
Auf das Engste schliesst sich an Rigaltius’ Ausgabe die des
Jakob Pamelius an (Paris 1579), welcher sich um die Er
klärung des Tertullian mit Erfolg bemühte, für die Kritik aber
nur einen Codex von Belang (Clementis Angln = C) beibrachte,
welcher die Bücher de spectacidis, de praescript. haereticorum,
de resurrectione carnis, de monogamia, de ieiunio adu. psychicos,
de pudicitia enthielt. Durch andere Herausgeber erfuhr der
kritische Apparat keine wesentliche Erweiterung aus neuent
deckten Handschriften, wenn man von dem Ambrosianus (= D)
zu der zweiten Hälfte der Schrift de oratione absieht, welchen
Reifferscheid nach Muratori (1713) genau verglichen hat; wohl
aber wurde er durch eine genauere Durcharbeitung des Ago-
bardinus vermehrt und gesichert. Das geschah zunächst durch
Nie. Rigaltius, welcher Tertullian zweimal, in den Jahren
1634 und 1641 edirte und die Verbesserung des Textes wesent
lich förderte, und durch Fr. Oehler, welcher den Agobardinus
zwar nicht selbst verglich, aber zwei Collationen, eine von
Stephan Baluze und eine von Hildebrand angefertigte zur
6
VI. Abhandlung: v. Hartei.
Verfügung hatte. Wie wenig aber die daraus geschöpften, oft
widersprechenden Angaben eine feste Grundlage für die Gestal
tung des Textes zu schaffen vermochten, wird jede Seite der
neuen Ausgabe darthun. Je mehr demnach die mit peinlicher Ge
nauigkeit ausgeführte Vergleichung des Agobardinus für alle Zu
kunft ein bleibendes Verdienst der Reifferscheid’schen Ausgabe
begründen wird, desto mehr waren wir bemüht, seine Collation
mit grösster Vollständigkeit und Genauigkeit mitzutheilen, und
es unterzogen sich, nachdem ich das Manuscript der adnotatio
critica ergänzt und revidiert hatte, die Herren Professoren
Alex. Reifferscheid und G. Wissowa, jener bei der ersten,
dieser bei der zweiten Correctur der Mühe einer nochmaligen
Vergleichung des Drucks mit Reifferscheid’s Manuscript und
den von ihm angefertigten Collationen. Zugleich hatte Herr
Professor A. Harnack in Berlin die Güte, eine Correctur
zu lesen und durch werthvolle Winke und Berichtigungen,
namentlich in den Citaten der heiligen Schrift die Arbeit zu
unterstützen. Die Schwierigkeit des Textes verlangte ein
gehende Prüfung zahlreicher Stellen und verpflichtete gewisser-
massen dort, wo Reifferscheid eine nicht jedem sofort einleuch
tende Entscheidung getroffen, für ihn das Wort zu nehmen,
noch mehr aber an anderen Stellen, wo von ihm abzuweichen
räthlich oder geboten schien, die bestimmenden Gründe zu ent
wickeln. So entstanden die folgenden Bemerkungen, welche
die redactionelle Thätigkeit zum Theil rechtfertigen und Andere
zu erfolgreicheren Versuchen anregen mögen. Von den Stellen,
welche ich auf Grund meiner Ansicht über den Werth der
Lesarten von B und Gelenius anders ediert hätte, habe
ich zunächst nur gelegentlich zur Begründung dieser Ansicht
Proben geben wollen.
Patristische Studien. I.
7
I. De spectaculis.
c. 1, p. 2, 1. Tertullian beschäftigt sich in dem 1. Capitel
mit zwei Argumenten, welche die Theilnahme der Christen
an den Schauspielen als erlaubt darthun wollen; dieselbe ver-
stosse nicht gegen das göttliche Gebot, und das Verbot be
zwecke nur, durch Enthaltung von Vergnügungen zu leichterem
Verzicht auf das Leben zu erziehen. Das erste zu widerlegen
und zu zeigen, quemadmodum ista non competant uerae religioni
et uero obsequio erga uerum deum, wird als Aufgabe der wei
teren Darlegung hingestellt. Das zweite, aus welchem sich
ergiebt, ut hoc (d. i. die Enthaltung von solchen Vergnügungen)
consilio potius et humano prospectu, non diuino praescripto
definitum existimetur, wird nicht ganz zurückgewiesen, sondern
dieser gute Rath als berechtigt hingestellt. Die Worte lauteten
nach Gangneius in A: quamquam etsi ita esset, tarn apto con
silio tantae obstinatio disciplinae debebat obsequium. Mit Recht
verschmähte Reifferscheid ausser anderen Vermuthungen zu
dieser Stelle auch die E. Klussmann’s, der aperto für apto
empfahl und meinte, dass es sich hier um ein unzweifelhaftes
Gebot handle, das der Christ nicht auf seine Zweckmässigkeit
oder Unzweckmässigkeit zu prüfen, sondern einfach zu befolgen
habe: licebat de iis rebus dubitare, quae uere dubiae erant uel,
ut cum ipso Tertulliano loquar (de spect. 3), quae neque signi-
ficanter neque nominatim denuntiatae erant neque apevte positae
uelut non occides, apertis sine ulla dubitatione parendum erat,
aptis non erat (Gratulationsschreiben des Jenenser Gymnasiums,
Rudolstadt 1876, S. 6), ein Gedanke, welcher nur dann be
rechtigt wäre, wenn dieses zweite Argument, wie das erste,
durch das Wort Gottes widerlegt werden sollte. Tertullian
aber macht das ausdrückliche Zugeständniss, dass es sich dabei
um einen menschlicher Ueberlegung entsprungenen Rath, nicht
um ein diuinum praescriptum handle, und sagt: ,immerhin, wenn
es sich auch so verhielte, einem so zweckmässigen Rathe würde
die Strenge der Zucht Gehorsam schuldig sein*. Reifferscheid
hat aber das überlieferte tantae, welches auf disciplinae be
zogen, letzteres in miissiger Weise betont — mag man auch
8
VI. Abhandlung: v. Hartei.
mit E. Klussmann in tantus die Bedeutung finden, ut id dicat
quod quantum sit nemini dubium esse possit. — in tantum ver
ändert und meinte damit wohl einen Ausdruck zu gewinnen,
welcher dem Gedanken entspräche: je besser ein solcher Rath,
um so grösser ist dann die Pflicht, ihm zu gehorchen. Allein
dann wäre nicht tantum, sondern tantundem oder in tantum zu
schreiben. Noch weniger aber könnte tantum hier passend
dieses consilium als einen blossen Rath bezeichnen, welcher
einer weiteren Stütze entbehre. Offenbar knüpft Tertullian
mit diesen Worten an den Anfang dieser Betrachtung an
p. 1, 18: sunt qui existimant Christianos, expeditum morti genus,
ad hanc obstinätionem abdicatione uoluptatium erudiri, quo
facilius uitam contemnant, und er wird geschrieben haben: tarn
apto consilio tanta obstinatio disciplinae debebat obsequium.
c. 2, p. 2, 21. Ebenso wenig vermag ich hier die von
E. Klussmann empfohlene Bedeutung des Wortes tantus passend
zu finden. Tertullian sagt, dass Viele mehr die Furcht auf
das Vergnügen als auf das Leben zu verzichten von dem
Christenthum abbringe: nam mortem etiam stultus ut debitam
non extimescit, uoluptatem etiam sapiens ut tantam non con-
temnit, cum alia non sit et stidto et sapienti uitae gratia quam
uoluptas. Denn die Hervorhebung der Grösse des Vergnügens
passt schlecht zu der wenigstens von den Philosophen erwar
teten Gleichgiltigkeit gegen dasselbe, während die Unabwend
barkeit des Todes auch die Furchtlosigkeit des Ungebildeten
wohl begreifen lässt. Diese Beziehung der Gedanken wird
auch durch Oehler’s Conjectur ut datam verrückt. Reifferscheid
hatte die Stelle unentschieden gelassen, indem er mir unver
ständlich mutuatam? vermerkte; ich setzte ut optatam ein, das
durch den so häufigen Untergang einer Silbe zu tatam, tantam
wurde (vgl. E. Klussmann a. a. 0. p. 16) und die uoluptas
als Ziel des Wunsches bezeichnet, dessen Erreichung beglückt.
Nicht minder leicht und passend wäre aber auch optandam.
p. 2, 27. sed quia non penitus deum norunt nisi naturali
iure, non etiam familiari, de longinquo, non de proximo, necesse
est ignorent, qudliter administrari aut iubeat aut prohibeat quae
instituit. So ediert man seit Gelenius die Stelle, während
Patristische Studien. I.
9
Gangneius auf iuberet aut pröhiberet, der Agobardinus blosses
iubeat bietet. Der Mangel an urkundlicher Gewähr der Les
arten B, wo über A kein Zweifel obwaltet, mindert auch unser
Vertrauen zu Gelenius, der, was er in B fand, nur grammatisch
einrichtete. Der Gedanke lässt sicherlich nichts vermissen,
wenn wir mit A lesen: qualiter administrari iubeat quae in-
stituit, zumal in dem unmittelbar folgenden simül quae uis sit
aemula ex aduerso adulterandis usibus diuinae conditionis ein
Aequivalent für das aufzugebende prohibeat enthalten ist. —
So ist auch vielleicht in den nächsten Worten p. 3, 5 in
engeren Anschluss an A zu lesen: non ergo hoc solurn respicien-
dum est, a quo omnia sint instituta, sed a quo conuersa. ita enim
apparebit, cui usui (cid usui sint Rigaltius, cuius ui sint B, cuiu-
suis A) instituta, si appareat, cui non. Die Auslassung der Co-
pula in indirecten Fragesätzen und sonst ist charakteristisch fin
den Stil dieses Schriftstellers. Vgl. c. 6, p. 8, 14 sed de idololatria
nihil dijfert apud nos, sub quo nomine et titulo, dum ad eosdem
Spiritus perueniat, ad nat. I, c. 4, p. 64, 17 nemini subuenit,
ne ideo bonus quis et prudens, quia Christianus, aut ideo Chri
stianus, quia prudens et bonus; ib. c. 14, p. 84, 22 neque Inter
est qua forma, dum deformia simulacra curemus; ib. c. 17,
p. 89, 4 hoc loco Romana gens uiderit in quibus indomitae et ex-
traneae nationes; ib. II, c. 1, p. 93, 15 prouocans conscientiam
uestram, an uere dei, ut uultis, an falso, ut scire non uultis.
Vgl. Patrist. Stud. II zu ad nat. c. 1, p. 59, 11.
p. 3, 19. ipse liomo, omnium flagitiorum auctor, non tantum
opus dei, uerum etiam imago est. E. Klussmann hatte mit seiner
Bemerkung actor scripsi cum C (= cod. Clementis): auctor
enim omnium flagitiorum ex sententia Tertulliani diabolus est,
actor homo Reifferscheid überzeugt. Harnack erhob dagegen
berechtigten Einspruch, denn die urkundliche Autorität ist so
gut wie keine, actor wird man in einer solchen Verbindung
vergeblich suchen, hingegen ist auctor ein bei Tertullian be
liebtes Wort, das ebenso den Teufel als Urheber des Bösen,
als den Vollbringer oder Veranstalter von irgend etwas be
zeichnet. Vgl. p. 6, 16 tum artes quibus auctoribus deputantur;
p. 13, 2 oderis, Christiane, quorum ßudorum) auctores non potes
non odisse; p. 22, 22 ipsi auctores (actores A) et administratores
spectaculorum; ad nat. II, c. 9, p. 112, 24 urbium auctores; ib.
10
VI. Abhandlung: v. Härtel.
c. 5, p. 104, 7 et itci recte in ceteris agitis auctorem considerantes
(es geht voraus 1. 2 certum enim est quodcunque fit ei adscri-
bendum, non per quod fit, sed a quo fit).
p. 3, 11. Ohne hinreichenden Grund verdächtigte Reiffer
scheid die Ueberliefernng: uides homicidium ferro ueneno ma-
gicis deuinctionibus perfid: tarn ferrum dei res est quam lierbae
quam angeli, indem er für angeli anelli vorschlägt. Aber es
passt durchaus zu Tertullian’s Anschauungen, die bösen Engel
als die mitwirkenden Helfer bei Verhexungen zu denken, si-
quidem, wie es de cultu fern. I, c. 2 heisst, et metallorum opera
nudauerant et herbarum ingenia traduxerant et incantationum
uires prouulgauerant et omnem curiositatem usque ad stellarum
interpretationem. designauerant, zu welcher Stelle Rigaltius
Enoch’s Worte aus Synkellos p. 10 citirt: 6 §e svoexatoi; d'xpp.xpcc
s5iBal;e 03.pg.ay.do1q iaq, tsooiaq v.al kizaot3wv XuTY]pia y.T£. Dass
mit angeli die bösen Geister, die angeli diaboli (6, 11) gemeint
sind, ist aus dem Zusammenhänge so klar, dass eine nähere
Bestimmung, etwa quam (nequam) angeli, so leicht sich ihr Aus
fall erklärte, entbehrlich wird. Ebenso heisst es p. 9, 18 uene-
fica eis utique negotium gessit, quorum sacerdos erat, daemoniis
et angelis scilicet.
р. 4, 3. nam si omnem malignitatem et si etiam malitiam
excogitatam deus exactor innocentiae odit, indubitate quaecumque
condidit non in exitum operum constat condidisse quae damnat.
Die von Reifferscheid in den Text gesetzte Vermuthung etiam
entspricht dem Gedanken bestens: ,wenn Gott jede Schlechtig
keit und sogar die böse Absicht hasst', nur weicht sie stark
ab von dem, was Gangneius noch deutlich im Agobardinus
gelesen zu haben scheint: si tantam. Deshalb möchte ich
schreiben: et' si cunctam malitiam et cogitatam (oder et ex
cogitatam). Ob man nun cunctam billigt oder Klussmann’s
omnem vorzieht, jedenfalls empfiehlt sich ein solches Attribut,
weil si omnem malignitatem vorausgeht; et aber ist fast unent
behrlich.
с. 3, p. 5,21. Um den Besuch der Schauspiele als von
Gott verboten erscheinen zu lassen, wird Psalm 1, 1 felix uir
qui non abiit in concilium impiorum etc. in doppelter Richtung
Patristische Studien. I.
ll
durch Interpretation erweitert — denn late semper scriptura
diuina diuiditur, ubicumque secundum praesentis rei sensum etiam
disciplina munitur, ut hic quoque non sit aliena uox a spectacu-
lorutn interdictione —, indem die negative Fassung durch die
positive ersetzt und der Satz verallgemeinert wird: itaque e
contrario ,infelix qui in quodcumque concilium impiorum abierit
. . generaliter dictum intellegamus. Damit ist seine Anwendung
auf die Schauspiele evident; denn cum quid (t)aliter (aliter AB),
etiam (etiam om. A) specialiter interpretari capit. nam et spe-
cialiter quaedam pronuntiata generaliter sapiunt; es ist demnach
omne spectaculum concilium impiorum a gen er e ad speciem. In
diesem Zusammenhänge hat das überlieferte aliter so wenig eine
Stelle als das von Reifferscheid eingesetzte aliud, welches
sowohl grammatisch anstössig ist, wenn es so viel als cum quid
aliud, tum hoc etiam, ,wenn irgend ein Satz, so lässt dieser
eine Anwendung auf besondere Fälle zu‘, bedeuten soll, als
sachlich Bedenken erregt; denn warum sollte gerade dieser
allgemein formulirte Gedanke eine Anwendung im Besonderen
gestatten? Wir erwarten eine Behauptung ohne Einschränkung
schon um des Folgenden willen; deshalb war mit Ergänzung
eines Buchstaben taliter zu schreiben, was sich mit Wissowa’s
Vermuthung generaliter dem Sinne nach deckt. Auch p. 73,
28 und 85, 10 begegnet der gleiche Fehler.
c. 4, p. 6, 7. Durch die Taufe hat der Christ dem
Teufel, seiner Pracht und seinen Engeln entsagt und damit
auch den Schauspielen; denn der Teufel und seine Pracht
zeigen sich in der Idololatrie, und aus dieser entspringt jeder
unreine und böse Geist, was Tertullian liier nicht weiter ver
folgen will: ex qua (idololatria) omnis immundus et nequam
spiritus ut ita dixerim, quia nec diutius de hoc. Diese Brevi-
loquenz erregte E. Klussmann’s Bedenken, und er bemerkte,
dass die Formel ut ita dixerim hier nicht wie sonst angewendet
sei ad excusandam dictionis aliquam insolentiam aut periculum,
t- und dass nec vor diutius eine Beziehung vermissen lasse: nam-
que de nulla re supra ita dixerat, ut nec de hac re se ain-
plius et diligentius dicturum esse liceret scribere. Sieht man
schärfer hin, so ist das Letztere nicht richtig; denn auch die
12
VI. Abhandlung: v. Hartei.
Behauptung, dass wir durch den Taufakt bezeugen renuntiasse
nos diabolo et pompae et angelis eins, wird hier mit diesen
wenigen Worten hingestellt, um erst c. 24 erwiesen zu werden,
wie die Bedeutung dieses Gelöbnisses durch die kurze Frage
erledigt wird: quid ent summurn atque praecipuum, in quo dia-
bolus et pompae et angeli eius censeantur quam idololatria, ex
qua omnis immundus et nequam Spiritus? Was aber at ita
dixerim betrifft, so steht dasselbe wie das griechische <oc ehre!v
bei allgemeinen Begriffen, wie ad nat. II, c. 2, p. 96, 8 Epicurei
otiosum et inexercitum et, ut ita dixerim, neminem (deum ex-
ponunt), womit sich vergleichen lässt de anima c. 18, p. 327, 3
segressus potissimum ab oculis et auribus et, quod dicendum sit,
a toto corpore. Endlich ist auch die Breviloquenz quia nec
diutius de hoc (sc. dicam) Tertullian ganz geläufig; fast jede
Seite bietet Belege. Vgl. c. 5, p. 7, 4 nihil iam de causa uo-
cabidi (sc. dicam), cum rei caussa idololatria sit; c. 8, p. 10, 20
proinde si Capitolium, si Serapeum sacrißcator ael adorator in
trauer o, a deo excidam, quemaclmodum circum uel theatrum
(sc. si intrauero, excidam); ad nat. I, c. 4, p. 64, 13 quo more
etiam nobis soletis (sc. dicere); ib. c. 6, p. 66, 19 uerbi gratia
homicidam, adulteruni lege (sc. dicam); ib. c. 11, p. 80, 24 nam,
ut quidam (sc. dixit), somniastis; ib. c. 12, p. 83, 12 at (ad
Havercamp) manifesta iam (sc. dicam)', ib. c. 19, p. 91, 6 liucus-
que opinor horrenda obstinationum Christianarum; ib. II, c. 4,
р. 101, 14 sed quid ego cum argumentgtionibus ■physiologicis? ib.
с. 15, p. 127, 16 differo de his quos in oraculis colitis (sc. dicere').
Wir werden demnach Reifferscheid Recht geben, wenn er E.
Klussmann’s Annahme einer doppelten Lücke vor und nach
ut ita dixerim quia verwarf.
c. 5. Nachdem Tertullian im 4. Capitel eine Disposition
des Stoffes für den ersten Theil der Schrift gegeben: comme-
morabimus origines singulorum, quibus inmnabulis in saeculo
adoleuerint, exinde titulos quorundam, quibus nominibus nuncu-
pentur, exinde apparatus, quibus superstitionibus instruantur, tum
loca, quibus praesidibus dicentur, tum artes, quibus auctoribus
deputentur, handelt er c. 5 über den Ursprung der Schauspiele,
c. 6 über ihre Titel und Namen, c. 7 über den Apparat, c. 8
Patristische Studien.
13
über die Oertlichkeiten, c. 9 über die verschiedenen Spiele.
Der erste Punkt p. 6,20 beginnt mit den Worten, welche nicht
ohne Aenderung verständlich sind. E. Klussmann stellte sie
in folgender Weise her: de originibus ut secretioribus ex (et AB)
ignotis penes plures nostrorum actis (artis A, altius B, non altius
Junius) nec aliunde inuestigandum fuit quam de instrumentis
ethnicalium litterarum, und rechtfertigt diese Herstellung p. 35:
origines spectacidorum secrcfiores dicuntur et christianae fidei
hominibus fere ignotae; itaque ad ethnicas litteras recurrendum
esse, ut quae fuerint appareat. utut enim de corrupta codicis A
lectione statueris, secretae origines eae erunt, quae christianis
quidem non pateant. itaque non altius in eas inquirendum, sed
ex iis fontibus, ad quos christiani accedere fere non solebant,
earurn notitia petenda erat. Die origines rei scenicae sind aber
nicht blos für Christen secretiores, sondern an sich in tieferes
Dunkel gehüllt, und dass Tertullian ex ignotis penes plures
nostrorum actis dieselben erhellt haben sollte, ist um so auf
fälliger, wenn er eine eingehendere Darstellung nicht gab
und nur de instrumentis ethnicalium litterarum, d. i. mit Be
nützung geläufiger Handbücher, wie das Folgende zeigt, einige
Angaben machte. Tertullian will offenbar zwei Punkte seiner
Darstellung rechtfertigen, erstens ihre Kürze, indem die origines
secretiores sind, und die Heranziehung profaner Quellen, indem
dieselben apud plures nostrorum ignotae sind, und so wird mit
Ergänzung eines Buchstabens zu schreiben sein: arti(u)s nec
aliunde inuestigandum fuit. Eine knappere Erörterung wird
auch sonst durch artius bezeichnet; so führt Oehler's Index
aus de resurr. carnis c. 17 die Phrase artius dicere an (dass de
exh. cast. c. 2 arte et impresse recogitandum esse stehe, ist ein Irr
thum, indem alte überliefert und passend ist). Zu artius kann
man aus dem Vorhergehenden commemorabimus oder dicemus
ergänzen, oder es wird auch nichts im Wege stehen, artius mit
nec aliunde zu verbinden. Die Erforschung der Ursprünge
musste sich in engeren Grenzen, und zwar innerhalb der pro
fanen Literatur halten, wo darüber nur etwas zu finden war.
c. 7, p. 8, 22 sq. Die Stelle über die sceniscben und
circensischen Spielen gemeinsame pompa hat zu mannigfachen
■
u
VI. Abhandlung: v. Hartei.
Missverständnissen Anlass gegeben: perinde apparatus communes
liabeant necesse est de reatu generali idololatriae conditricis suae.
sed circensium paulo pornpatior suggestus, quibus proprie. hoc
nomen, pompa. praecedens, qaorurn sit in semetipsa probans de
simulacrorum Serie, de imaginum agmine, de curribus, de tensis,
de armamaxis, de sedibus, de coronis, de exuuiis. E. Klussmann
hielt die Worte für lückenhaft: desideratur certe . . . principale
sententiae uerbum aut praedicatum, welches er hinter exuuiis
vermisste, Gelenius aber durch Conjectur gewann: praecedit.
H. Kellner wirft die Sätze bunt durcheinander und interpretiert
falsch: jedoch ist in den circensischen Spielen das voran
gehende Gepränge, welchem der Name Pomp eigen ist, noch
um etwas pomphafter. Bei ihnen sind gegen ihren Cha
rakter beweisend: die lange Reihe der Götterbilder, die
Schaar der Ahnenbilder u. s. w. £ Hält man fest, dass es Ter-
tullian um den communis apparatus der beiden Arten von
Spielen zu thun ist, wie denn in der That die pompa, wenn
auch ein hauptsächlicher Bestandtheil der ludi circenses, doch
auch für die ludi magni und Romani, für die Apollinares,
Megalenses und Augustales ausdrücklich oder indirect bezeugt
wird (Marquardt, R. StV. III, 487, A. 8), so ermangelt der Satz
weder der Construction, indem pompa praecedens als Apposition
den pornpatior suggestus näher ausführt, oder vielmehr, indem
pompa zu dem vorausgehenden, praecedens zu dem folgenden
Satz bezogen wird (= quibus proprie hoc nomen pompa, quae
dum praecedit, quorum sit probat), noch eines befriedigenden
Sinnes: ,pomphafter aber ist die Zurüstung der circensischen
Spiele, für welche diese Bezeichnung pompa eigentlich gilt,
welche, indem sie vorausgeht, an sich schon (d. i. aus der
Art ihrer Zusammenstellung) erkennen lässt, zu welchen Spielen
sie gehört, nämlich an der Reihe der Götterbilder u. s. w.‘
p. 9, 6. Es macht keinen Unterschied, wenn in den Pro
vinzen die Spiele mit geringerer Pracht wegen der geringeren
Mittel derselben gefeiert werden; ihr verbrecherischer Ursprung
ist der gleiche: nam et riuulus tenuis ex suo fonte et surculus
modicus ex sua fronde qualitatem originis continet. uiderit ambitio
siue frugalitas eins ** sit. deum offendit qualiscumque pompa drei.
So edierte Reifferscheid die ihm lückenhaft erscheinende Stelle,
indem ihm ebenso wenig E. Klussmann’s Aenderung frugalitas
Patristisclie Studien. I.
15
eius. scilicet deum, wobei eius auf das folgende pompa bezögen
werden soll, wie Oehler’s eius, si deum gefallen konnte. In
dessen, so schwer scheinen die Worte nicht verdorben zu sein,
indem mit der Wandlung eines e in c zu helfen ist: uiderit
ambitio siue frugalitas cuius sit, deum offendit qualiscumque
pompa drei: es ist gleichgültig, zu welchem Spiel (oder zu
welcher pompa) reiche oder bescheidenere Ausrüstung gehöre,
Gott verletzt jeder Aufzug. Ueber die einer Concessivpartikel
gleichkommenden Verbalformen uiderit uiderint vgl. für Ter-
tullian Oehler zu de corona c. 13 (p. 450), für Cyprian den
Index meiner Ausgabe p. 458. Ein indirecter Fragesatz wie
hier hängt davon ab: de idol. c. 7, p. 36, 22 uiderit (uiderint
Reifferscheid) iam, an per similitudinem dictum sit; ib. c. 11,
p. 41, 20 uiderint si eaedeni merces — usui sunt; de pallio c. 6
uiderit nunc philosophia quid prosit; apol. c. 25 uiderit Cybele,
si urbem Romam adamauit. — etsi pauca simulacra, fährt er
fort, dreumferat, in uno idololatria est; etsi unam tensam trahat,
Iouis tarnen plaustrum est; quaeuis idololatria sordide instructa
uel modice, locuples et splendida est censu criminis sui. E. Kluss-
mann wollte hier die beiden in der Provinz üblichen Arten
gegenüber der Pracht des römischen Circus hervorgehoben
wissen (duo enim genera apparatuum in prouinda esse notum
erat, aut exiguos et tenues esse aut insigniores et magis conspicuos)
und schrieb: idololatria, uel sordide instructa uel modice, locuples
et splendida est censu criminis sui, ohne ausdrücklich zu sagen,
wie er das Wort censu auffasst. Vielleicht verstand er es wie
Kellner, welcher folgenden Sinn darin findet: ,Auch die ärmlich
auftretende Idololatrie hat in ihrer Art einen Reichthum, Cen-
sus, nämlich an Verbrechen, und in dieser Hinsicht ist sie der
pomphaft auftretenden gleich/ Indem er aber erklärt: utros-
que (apparatus) non minus damnandos dicit quam splendissimam
et locupletissimam pompam in circo romano; utrumque enim genus
eodem idololatriae crimine teneri, scheint er doch vielmehr sor
dide instructa uel modice und locuples et splendida als Apposition
zu quaeuis idololatria zu nehmen und est censu criminis sui
auf beide Arten bezogen zu haben. Dann aber kann census
nur in der auch sonst bei Tertullian gewöhnlichen Bedeutung
,Ursprung, Ausgangspunkt* stehen, in welcher es selbst mit
origo verbunden erscheint, wie de corona c. 13 (p. 452 Oehler)
16
VI. Abhandlung: v. Härtel.
usque adhuc proprietatem istius habitus ex originis censu et
ex superstitionis usu idolis uindicamus; ad nat. I, c. 12 nec
diutius super isto argumentandum est, quando naturali praescrip-
tione omne omnino genus censum ad originem refert; quanto
genus censetur origine, tanto origo conuenitur in genere; apol.
c. 7 census istius disciplinae, ut iam edidimus, a Tiberio est;
c. 10 ante Saturnum deus penes uos nemo est, ab illo census
totius uel potioris et notioris diuinitatis. Wenn man nun erwägt,
dass Tertullian wie in den anderen Abschnitten so auch hier
mit diesen Worten in den Gedanken zu Anfang des Capitels
zurücklenkt (apparatus communes liabeant necesse est de reatu
generali idololatriae conditricis suae), und dass der Paral
lelismus der Glieder sordide instructa uel modice — locuples et
splendida die gleiche syntaktische Beziehung verlangt, wird
man nicht anstehen, quaeuis als Subject und idololatria als
Prädicat zu fassen: jedepompa, mag sie kärglich und bescheiden,
reich und glänzend sein, erweist sich als Idololatrie durch die
Sünde, aus der sie entspringt. Die Stellung von est ist kaum
solcher Auffassung entgegen, indem est in prägnantem Sinne
für exstat, demonstratur steht; es hätte auch heissen können:
quaeuis idololatria censetur in crimine suo. Gleichwohl würde,
wenn wir e für est schrieben, der Ausdruck gefälliger. An
einer ganz ähnlichen Stelle findet sich in: de corona c. 13
et in omnibus istis idololatriae (sc. sunt) in solo quoque (quaeque?)
censu coronarum quibus omnia ista redimita sunt. In gleich
prägnanter Bedeutung, welche die Herausgeber ohne Grund
anzweifeln, und mit einem Ablativ verbunden, steht est de idol.
c. 23, p. 56, 26, wo von Contracten mit der Schwurformel
die Rede ist, durch deren Unterzeichnung die Christen das Ver
brechen der Verleugnung Gottes begehen: et est (et es Gelenius,
et haeres Latinius, egisti. Oehler) tarn facto quam cogitatu.
c. 8, p. 9,. 17. Die Spiele des Circus, welcher dem Sol
heilig ist, werden auf die Tochter des Sonnengottes zurück-
geführt. qui spectaculum a Circa [liabentJ Soli patri suo, ut
uolunt, editum affirmant, ab ea et drei appellationem argumen-
tantur. plane uenifica eis utique negotium qessit hoc nomine,
quorum sacerdos erat, daemoniis et angelis scilicet. Reifferscheid
Patristiscbe Studien. I.
17
hat nach Junius’ Vorgang liabent getilgt, das sich allerdings
leicht aus dem unmittelbar vorausgehenden Satz (quem in
aperto habent) einschleichen konnte. Der Fehler wäre dann
älter als unsere Handschriften, denn auch Isidorus Orig.
XVIII 25 las in seiner Handschrift habent. Wie es scheint,
nahm man an der Verbindung a Circa liabent Anstoss. Aber
diese findet sich z. B. c. 13, p. 15, 4: necesse est quicquid
dignitatis nomine administrativ communicet etiam maculas eins,
a qua habet causas; de an. c. 1, p. 300, 15 a deo discas quod
a deo habeas. Dieses habent kommt demnach der Bedeutung
von acceperunt nahe. Indem wir aber habent schützen, bleibt
Soli patri suo, ut uolunt, editum affirmant Hauptsatz, was
für den Anschluss des folgenden plane ueneßca. eis utique nego
tium gessit nothwendig ist. E. Klussmann liess zwar habent
stehen, tastete aber hoc nomine an, das ihm unerklärlich schien:
quo nomine? ueneficae? at uenefica quidem Circe non nominal) atur ■
er verlangt horum nomine und versteht horum nomine als dae-
moniorum impulsu et instigatione; aber eis—horum nomine ist eine
mehr als harte Ausdrucksweise. Ich kann Reifferscheid’s Ver
fahren, der Klussmann’s Conjectur nicht erwähnte, nur billigen.
Tertullian will über die Meinung, dass Circe zuerst die Spiele
gestiftet habe, nicht urtheilen; aber das steht ihm sicher: die
Zauberin hat dadurch hoc nomine (d. i. durch die Veranstaltung
der diesen Namen tragenden Spiele) jenen dienen wollen, deren
Priesterin sie war, den Dämonen und bösen Engeln.
c. 10, p. 12. itaque Pompeius magnus, solo theatro suo
minor, cum illam arcem (arcem B, sortem ABing) omnium tur-
pitudinum exstruxisset, ueritus quandoque memoriae suae censoriam
animaduersionem Veneris aedem superposuit. Dass Gangneius
arcem nicht seiner Handschrift verdankt, sondern kühn wie
sonst aus blosser Vermuthung in den Text gesetzt, hat 31. Haupt
richtig erkannt (Opusc. III, 350). Trotzdem verschmähte Reiffer
scheid seine scharfsinnige Conjectur cortem und behielt arcem,
vielleicht weil sonst die Form cors im Agobardinus nicht wieder
kehrt oder weil er die Phrase cohortem exstruere bedenklich
fand. Ich möchte sie nicht anzuzweifeln wagen, wenn nicht
eine andere Vermuthung bei der nicht seltenen Vertauschung
Sitzungsber. d.jpbil.-bist. CI. CXX. Bd. 6. Abh. 2
18
YI. Abhandlung: v. Hartei.
der Tenuis und Media im Agobardinus noch um etwas näher läge,
nämlich sordem. Den seltenen Singular dieses Wortes hat Cicero
ad Att. I 16 apud sordem urbis et faecem multo melius (sumus).
p. 13, 2. Die auf Stimme, Melodie, Instrumenten und
Texten beruhenden Spiele haben zu Vorständen (manches)
Götter wie Apollo, Minerva, Mercur, die Musen, oderis, Chri
stiane, quorum auctores non potes non odisse. iam nunc uolumus
suggerere de artibus et de Ins, quorum auctorum (auctores B) in
nominibus exsecramur. E. Klussmann hält die Worte in dieser
vom Agobardinus gebotenen Fassung für unverständlich; quorum
auctorum könne Tertullian nicht geschrieben haben, ut ipsam
de qua dicit rem reticeat. Daher er quae eorum auctorum ver-
muthet mit der Erklärung: se ea allaturum promittit, quae,
utpote a diis ethnicis profecta, Christiani exsecrentur. Reiffer
scheid nahm aus B quorum auctores, eine handgreifliche Ver
besserung des Gangneius, auf, wohl um den gleichen Be
denken zu begegnen. Beide fassten also Ms als Neutrum,
ohne dass man erkennen könnte, was unter diesen Dingen
neben den artes gemeint sei. Nehpien wir his als Masculinum,
so lehrt die folgende Darstellung sofort, welche mit diesen
Künsten in Verbindung stehende Wesen gemeint sind, bei
deren Namen der fromme Christ sich bekreuzt. Es sind die
schlimmen Geister und Dämonen, welche hinter den Urhebern
scenischer Spiele stecken und durch sie für ihre eigene Ehrung
sorgen. Dieser Zusammenhang ist so klar, dass die ursprüng
liche Lesart nur quorum in nominibus exsecramur gewesen sein
kann. Der erklärende Zusatz sollte die dunkle Stelle auf
hellen. Das absolut gebrauchte exsecrari findet sich nicht selten.
p. 13, 18. Auch hier, wo die Dämonen als Ersinner der
Schauspiele näher beleuchtet werden, quibus hominem a deo
auocarent et suo honori obligarent, dürfte die Lesart des Ago
bardinus eine Erklärung gestatten: neque enim. ab aliis pro-
curatum fuisset quod ad illos peruenturum esset nec per alios
tune homines edidissent quam per ipsos, in quorum nominibus
et imaginibus et historiis fallaciam consecrationis sibi negotium
acturae (acturae A, acturi Rigaltius, facturae E. Klussmann)
constituerunt. Wenigstens ist mir acturae oder das von Reiffer
scheid aufgenommene acturi verständlicher als facturae, wo
durch die consecratio nach Klussmann’s Deutung als daemonibus
Patristische Studien. I.
19
operosa futura bezeichnet werden soll. Das ist aber ein abson
derlicher, sonst nirgends auch nur durchschimmernder Gedanke,
dass den Dämonen ihre Consecration ohne solche Helfershelfer
Schwierigkeiten gemacht hätte. Die Phrase negotium alicid agere
bedeutet für Jemanden thätig sein, ihm dienen, wie z. B. adu.
Marc. IV 29 saluo et illo, quod in quantum timendum creatorem
ingerit, in tantum, illi negotium agens creatoris est und de
anima c. 1, p. 300, 1 negotium nauare socio. Cicero hat Verr.
III 149 quem — tuum negotium agere loquebantur, pro Mil. 47
cur non meum quoque agam negotium? aber weit häufiger negotium
gerere, wie auch Tertullian von ähnlicher Hilfeleistung p. 9, 16
plane uenefica eis utique negotium gessit hoc nomine, quorum sacer-
dos erat. Und in dieser Bedeutung sind die Worte nicht un
passend, wie Klussmann meinte. Die consecratio wird, weil sie
in täuschender Weise von den Dämonen unter anderem Namen,
scheinbar für andere eingerichtet wird, ailsfallax, aber zugleich
als eine sibi (d. i. den Dämonen) profutura bezeichnet; so heisst
es 1. 11: daemonas ab initio prospicientes sibi inter cetera idolo-
latriae etiam spectaculorum inquinamenta, quibus hominem ■— suo
honori obligarent, eius modi quoque artium ingenia inspirasse, und
c. 13 quae faciunt daemoniis faciunt consistentibus scilicet in con-
secrationibus idolorum, siue mortuorum siue, ut putant, deomm.
c. 11, p. 13, 23. Die ' Wettkämpfe gelten den Göttern
oder Todten, daher die Titel: Olympia Ioui, quae sunt Romae
Capitolina, item Herculi Nemea, Neptuno Isthmia, ceteri mortuarii
agones. Wenn irgendwo, so liegt es hier klar vor, dass diese
Lesart des Agobardinus aus Unverstand entstellt wurde, in
dem B mortuarii uarii, Bmg C mortuorum uarii bieten; weil
die singuläre Bildung mortuarius Befremden erregte, ver
wässerte man sie lieber durch den Zusatz uarii, denn ihre
Verschiedenheit zu betonen, war hier keine Veranlassung.
Wer diese wuchernden Bildungen auf -arius überschaut, wie
sie Rönsch, It. und Vulg., S. 131 f. zu Häuf gebracht, wird ein
mortuarius, dessen Existenz zudem die romanischen Sprachen
verbürgen, für Tertullian nicht aufgeben wollen.
p. 14, 13. nam olim, quoniam animas defunptorum humapo
sanguine propitiari creditum erat, captiuos uel tus seruos
2*
20
VI. Abhandlung: v. Hart ei.
mercati in exsequiis immolabant. B füllt die Lücke im Ago-
bardinus durch uel malo ingenio seruos aus, was sich durch
den noch sichtbaren Rest tus in A als blosse Vermuthung zu
erkennen giebt. Die von Reifferscheid selbst bestätigte Grösse
der Lücke, die nach Möglichkeit zu berücksichtigen ist, spricht
gegen seine eigene Vermuthung male ingeniatos. Rigaltius’
mali Status wird der Lücke und dem in A erhaltenen tus ge
recht, aber es ist doch ein auffälliger Ausdruck für gering-
werthige Sclaven, von denen hier allein die Rede sein durfte.
Ich möchte vorschlagen: uel maculatos seruos.
c. 15, p. 16, 18 wird sich in Erinnerung an eine ähnliche
(oben zu p. 2, 21) besprochene Verwechslung leicht herstellen
lassen: ceterum rettulimus supra de locorum condicione, quod
non per semetipsa nos inquinent, sed per ea quae illic geruntur,
per quae, simul inquinamentum combiberunt, tune et totum (et
tantum A, et B, iterwm E. Klussmann, etiam Reifferscheid) in
alteros respuunt; denn et totum bringt das nicht leicht zu ver
missende Object und verstärkt passend den Gedanken. — Grössere
Schwierigkeiten bieten die sich unmittelbar anschliessenden
Worte: uiderit ergo, ut diximus, principalis titulus, idololatria;
reliquas ipsarum rerum qualitates contra ut dei omnes feramus
(so E. Klussmann, contra di oihs feramus A, contrarios omnes
feramus dei B, contrariis omnes feramus Gelenius, contrariis
conferamus Latinius, contrarius omnes feramus dei Oehler). deus
praecepit spintim sanctum, utpote pro naturae suae bono tenerum
et delicatum, tranquillitate et lenitate et quiete et pace tractare,
non furore, non bile, non ira, non dolore inquietare. huiusmodi
cum (so Klussmann, huic modicum A Bmg, huic quomodo cum
B) spectaculis poterit conuenire? Ich brauche mich mit einer
näheren Betrachtung der zu dieser schwierigen . Stelle ge
machten Conjecturen und ihrer gewaltsamen Deutungen nicht
aufzuhalten. Ein Blick in Oehler’s Commentar kann das recht-
fertigen. Beachtenswerth ist nur E. Klussmann’s Versuch,
welcher, von der Lesart A ausgehend, die leichte Aenderung
contra ut dei omnes vorschlug, die auch Reifferscheid billigte.
Klussmann erkennt hier ein Zurückgreifen auf den im 2. Ca-
pitel entwickelten Ein wand, dass, da die Dinge, welche beim
Patristische Stadien. I.
21
Schauspiel in Frage kommen, wie Pferd, Löwe, Körperkraft,
Anmuth der Stimme, die Bauten und ihr Material von Gott
geschaffen (dei res sunt) und nicht sündhaft sind (ut omnia
boni auctoris), auch der Besuch der Spiele nicht sündhaft sein
könne: iam hoc loco omnia uitanda esse absoluit quae in specta-
culis idololatriae seruiant, reliqua et rerum ipsarum qualitates, i. e.
res a deo profectas necdum ad impios usus ab horhimbus per-
uersas a Christianis ferenda esse, und gewinnt die Begründung
dafür, indem er schreibt: ut dei omnes ,weil sie alle von Gott
herrühren, wollen wir sie uns gefallen lassen'. Bei dieser Er
klärung bleibt es unverständlich, weshalb Tertullian jene in
differenten Stoffe und Aeusserlichkeiten, ex quibus spectacula
instruuntur (p. 2, 8), reliquas ipsarum rerum qualitates nennt,
dass dieselben hier als frei von idololatrischer Befleckung er
scheinen sollen, nachdem er im 2. Capitel das Gegentheil dar-
gethan (vgl. p. 3, 3 non ergo hoc solum respiciendum est, a
quo omnia sirit instituta, sed a quo conuersa). Schlimmer ist es,
dass eine derartige Aufforderung, ohne jede Veranlassung ein
gestreut, den strengen Zusammenhang zerreisst und keinen
Uebergang zu der folgenden Erörterung gestattet, welche aus
der Beschaffenheit der Stoffe, die in den Spielen dargestellt
wei’den, und den durch sie erregten Leidenschaften ihre Un-
erlaubtheit herleitet. Dieselbe gliedert sich aber genau der
Disposition des Ganzen an, deren Uebergänge von dem einen
Punkt zum andern Tertullian deutlich hervortreten lässt. Nach
dem er im 1. und 2. Capitel die Scheingründe der Heiden für
die Erlaubtheit der Spiele abgetlmn, kommt er zu dem, was
ihm Hauptsache ist, zu den Einwänden der Christen (c. 3 con-
uertamur niagis ad nostrorum detractatus), unter welchen als
der erste und wichtigste der erscheint, quod non significanter
neque nominatim denuntietur seruis dei abstinentia eiusmodi.
Darauf wird im 3. Capitel, Psalm 1, 1, im 4. Capitel das
Gelöbniss der Taufe angeführt, durch welches sich die Christen
von dem Teufel und seinen Werken losgesagt haben; damit
haben sie den Schauspielen entsagt, quae diabolo et pompae et
angelis eins sint mancipata, sdlicet per idololatrian. Um dies
zu beweisen, sollen die origines, tituli, apparatus, loca, artes
derselben näher betrachtet werden; si quid ex his non ad ido-
lum pertinuerit, id neque ad idololatriam neque ad nostram eie-
22
VI. Abhandlung: v. Hartei.
rationem (bei der Taufe) pertinebit (p. 4, 12). Diese Betrachtung
reicht von c. 5 bis c. 13 und wird hier ausdrücklich als ab
geschlossen bezeichnet: satis, opinor, impleidmus orclinem, quot
et quibus modis spectacula idololatrian committant, de originibus,
de titulis, de apparatibus, de locis, de artificio. Mit c. 14 werden
wir von dieser in breiter Ausführung entwickelten Digression zu
dem im 3. Capitel eingeschlagenen Wege der Betrachtung zurück
geführt. nunc interposito nomine (nomine Ursinus, nosse ne AB,
noscimine Klussmann) idololatriae, quod solum subiectum sufficere
debet ad abdicationem spectaculorum, alia iam ratione tractemus
ex abundanti, propter eos maxime qui sibi blandiuntnr quod non
nominatim abstinentia ista praescripta sit. Ursinus hat unzweifel
haft richtig nomine hergestellt; nomen steht hier wie de idolol.
c. 1, p. 30, 19 et utique erga hominem admissa fraus maximi cri-
minis nomen, gleichbedeutend mit titulus, welchen Ausdruck
er einige Zeilen später gebraucht (p. 16, 19 uiderit principalis
titulus, idololatria), und bezieht sich auf den Abschnitt der
Schrift von c. 5 bis 13, welcher durch interposito deutlich als
eine Digression bezeichnet wird. Es beruht auf einem Ver
kennen dieser Verhältnisse, wenn Reifferscheid interim seposito
(oder posi.to) vorschlug, oder Klussmann nomine verdächtigte
und dafür ein neues Wort noscimine empfahl. Im weiteren
wird nach der Methode des 3. Capitels (cum quid generaliter,
etiam specialiter interpretari capit) im 14. Capitel zunächst aus
der Verdammung der sündhaften Begierden und Vergnügungen
(concupiscentiae et uoluptates) in der heiligen Schrift auf die
Verdammung der Schauspiele geschlossen; im 15. ist es das
Gebot der Ruhe und Leidenschaftslosigkeit (deus praecepit
spiritum sanctum, utpote pro naturae suae bono tenerum et deli-
catum, tranquillitate et lenitate et quiete et pace tractare, non
furore non bile non ira non dolore inqidetare), gegen welches
jener sündigt, der die Schauspiele besucht; den Uebergang
vermittelt eine Zurückweisung auf das über die Orte der
Schauspiele c. 8 Gesagte, die nicht an sich beflecken, sed per
ea quae illic geruntur. Insofern nun das Schauspiel schon durch
den Ort der Aufführung mit Idololatrie behaftet wird, das gilt
als abgethan, wie schon im Eingang des 14. Capitels vermerkt
wurde; hier aber sind die übrigen Eigenschaften der Hand
lungen selbst, die dargestellt werden, unter dem Gesichtspunkt
Patristische Studien. I.
23
zu untersuchen, ob sie mit dem genannten Gebote im Einklang
stehen oder nicht. Muss dies der Sinn der fraglichen Worte sein,
dann wird die Stelle dadurch, dass wir homines für oiTis in A
schreiben, verständlich: uiderit ergo, ut diximus, principalis titulus,
idololatria; reliqucis ipsarum rernm qualitates contra dei homines
feramus d. h. wir wollen die übrigen Eigenschaften gegenüber den
Dienern Gottesund ihren Pflichten erwägen (vgl. contrap. 190,17).
Es wäre leicht, für feramus eine gewöhnlichere Wendung wie
disseramus oder conferamus vorzuschlagen, aber ich möchte das
seltenere Tertullian nicht absprechen. Der Ausdruck aber dei
homines drängte sich Tertullian auf durch die Stelle, auf welche
er in den folgenden Worten anspielt, Ephes. 4, 30, wo der
Apostel seine Aufforderung, den neuen Menschen anzuziehen,
den Menschen Gottes, des weiteren ausführt, huiusmodi aber,
wie hier Klussmann treffend hergestellt hat (huiusmodi cum
spectacidis poterit conuenire?) kann nicht besser umschrieben
werden als durch hominibus dei und verlangt fast im Voraus
gehenden eine Setzung des Begriffes, den wir durch Conjectur
gewonnen haben. Es ist nur ein anderer Ausdruck dafür, wenn
es p. 18, 18 heisst: si quid horum, quibus circus furit, alicubi
conpetit sanctis, etiam in circo licebit, si uero nusquam, ideo
nec in circo, und c. 24, p. 24, 9, wo diese ganze Betrachtung
zum Abschluss gelangt: quot adliuc modis probabimus nihil ex
Ms quae spectacidis deputantur placitum deo esse aut congruens
serno dei, quod deo placitum non sit! wo allerdings Reiffer-
scheid’s Schreibung und Interpunction esse! at congruens — non
sitf diese Rückbeziehung verdeckt; auch das Futurum proba
bimus oder perorabimus (B) ist hier passender, als was er für
sperabimus in A herstellte, probauimus. Denn die Frage ,auf
welche Arten sollen wir weiter beweisen'?' bedeutet, dass das
bisher Bewiesene genügen kann.
In weiterer Ausführung dieses Gedankens heisst es p. 17, 7:
nam et si qui modeste et probe spectaculis fruitur pro dignitatis
uel aetatis uel etiam naturae suae condicione, non tarnen immo-
bilis animi est (so B, tarn eni mobili animi et A, tarnen immo-
bili animo est C) et (add. Klussmann, om ABC, uel Reifferscheid)
sine tacita spiritus passione. Die von Klussmann empfohlene
Schreibung est et fordert, wie er richtig bemerkte, der Gedanke:
non immobilem, non sine animi affectione ne eum quidem esse,
24
YI. Abhandlung: v. Hartei.
qui lionestate seruata spectacidis intersit Tertullianus ciffirmat;
aber est hat keine urkundliche Gewähr und man erhält den
gleichen Sinn und begreift die Interpolation, wenn man nach
A mit Aenderung eines Buchstabens Tertullian die ihm eigen
tümliche Kürze lässt: non tarnen immobili animo et sine ta-
cita Spiritus passione (sc. fruitur).
c. 16, p. 18, 13. Die Affecte der Zuschauer im Theater
werden durch fremdes Glück und Unglück hervorgerufen.
quicquid Optant, quicquid abominantur, extraneum ab iis est; ita
et amor apud illos otiosus et odium iniustum. an forsitan sine
causa amare liceat quam sine causa odissef Dies könnte nach
dem Sprachgebrauch Tertullian’s nur bedeuten magis oder
potius amare quam odisse, indem bei ihm nicht selten quam
in diesem prägnanten Sinn bei Verben des Vorziehens und
sonst sich findet; vgl. de pudic. c. 2, p. 122, 30 idem miseri-
cordiae praelätor quam sacrificii; de orat. c. 7, p. 185, 23 quia
uult (mauult Leopoldus) eam (paenitentiam) quam mortem pecca-
toris; de pudic. c. 18, p. 260, 25 secundum illam clementiam
dei quae uult (so ist zu schreiben, qua ei uult B, quae mauult
Gelenius und Reifferscheid, qua mauult Ursinus) peccatoris
paenitentiam quam mortem; ad nat. I, c. 4, p. 64, 22 mirari
quam assequi norunt; ib. 8, p. 72, 2 fidem uestram uanitatibus
quam ueritatibus deditam demonstrare gestimus; de baptismo c. 20,
p. 218, 5 nihilo minus uentris et gulae meminerat quam dei; de
ieiun. adu. psych. c. 17, p. 297, 26 saginatior christianus ursis
et leonibus forte quam deo ent necessarius (necessarior Reiffer
scheid). Ein solcher Gedanke ist aber hier unangemessen; Ter
tullian will nicht sagen, dass es eher gestattet sei, ohne Grund
zu lieben als ohne Grund zu hassen, sondern wohl vielmehr, dass
das eine ebenso wenig gerechtfertigt sei als das andere, also:
an forsitan sine causa amare liceat quia sine causa odissef In
der Insinuation, dass es wohl für gestattet gelten könne, ohne
Grund zu hassen, liegt etwas von bitterer Ironie; denn dass die
Christen ohne Grund gehasst werden und diesen gegenüber die
natürliche Ordnung der Dinge verkehrt sei, ist eine häufig wieder
kehrende Klage. Ich halte um dieses Nebengedankens willen
quia für richtiger als an forsitan (tarn) oder an forsitan (quam)
Patristische Studien. I.
25
sine causa amare liceat quam zu schreiben; beides, tam-^quam
und das gleichbedeutende quam — quam, kommt sonst gleich
häufig vor. Uebrigens ist die Verwechslung von quia und
quam, wie zwischen den einsilbigen Formen des Relativprono
mens einer der häufigsten Fehler in A und B.
c. 17, p. 18, 19. Mit diesem Capitel geht Tertullian daran,
zu erörtern, inwiefern die Spiele gegen das Gebot der Scham
haftigkeit verstossen: similiter pudicitiam (nec inpudicitiam A,
impudicitiam B) amare (amoliri B) iubemur, welche so von
E. Klussmann hergestellt wurden, indem er die Silben nec in,
welche sich in A aus den unmittelbar vorhergehenden Worten
nec in circo einschliehen, tilgte. Reifferscheid verschmähte
diese evidente Verbesserung. Ich erwähne dies nur, um sein
allzu grosses Vertrauen zu B, das allein sein Verfahren er
klärt, an diesem Beispiele zu zeigen. — Hingegen vermag ich
Klussmann in der Behandlung der folgenden Worte, welche
die Schamlosigkeit scenischer Aufführungen schildern, nicht zu
folgen, wenngleich er in der Hauptsache Reifferscheid’s Zu
stimmung erlangte: ita summa gratia eius (theatri) de spurcitia
plurimum concinnata est, quam Atellanus gesticulatur, quam mimus
etiam per muliebres (res) praesentat (res repraesentat Reiffer
scheid, repraesentat AB), {’sensum) sexus et (sexum B) pudoris
exterminans, ut facüius dorni quam in scaena (in scaena Gele-
nius, scaenae B) erubescant (quam in scaena erubescant om. A).
Denn die Unflätkigkeit hat sicherlich nicht der Mimus allein
per muliebres res dargestellt, und die Wirkung (sensum sexus
exterminans) ist eine auffällige, wenn von Frauen nicht die
Rede ist, auf welche wir doch sexus nur beziehen können.
Gelenius hatte längst das Richtige gefunden: quam mimus etiam
per mulieres repraesentat; denn die Darstellung weiblicher
Rollen durch Frauen war gerade für den Mimus eigenthümlich
(vgl. Grysar in den Sitzungsber. der Wiener Akademie XII,
271 und Friedländer, Sittengesch. II 5 , 395). Damit entfällt aber
auch die Xothwendigkeit, sexum hinzuzufügen, indem mulieres zu
exterminans zu ergänzen oder vielleicht sexus et pudoris exterminas
zu schreiben ist (vgl. ad nat. I, c. 8, p. 74, 23 exules uocis
humanae, de idolol. c. 13, p. 44, 29 extraneus ab omni uanitate;
26
YI. Abhandlung: v. Hartei.
Cyprian, ep. 52, 1, p. 616,16 cathedrae extorris und exterminus
ib. A 293, 86). Jetzt endlich versteht man erst, wer die sind,
welche facilius domi quam in scaena erubescant. Diese Worte
allein mussten errathen lassen, dass es sich um Frauen auf
der Bühne handelt. Das Wort mimus aber kann ebenso gut
von der Gattung des Spieles, wie vom Schauspieler, neben
welchem Frauen auftraten, gesagt sein.
p. 19, 24. Auch hier edierte Reifferscheid nach E. Kluss-
mann: quodsi sunt (quod sint AB, quodsi Ursinus) tragoediae
et comoediae scelerum et libidinum actrices (so- Ursinus, auctrices
AB) cruentae et lasciuae, impiae et prodigae, nullius rei aut atrocis
aut uilis commemoratio melior est: quod in facto reicitur, etiam
in dicto non est recipiendum, nur dass er durch seine Ver-
muthung melior ipsa re est auf die Dunkelheit der Stelle hin
wies. Indem aber der vorausgehende Satz die Verwerflichkeit
der dramatischen Dichtung aus der Verwerflichkeit der pro
fanen Literatur überhaupt begründet (si et doctrinam saecularis
litteraturae ut stultitiae apud deum deputatam aspernamur, satis
praescribitur nobis et de illis speciebus spectaculorum), kann un
möglich das, was in diesem über die Stoffe und ihre Darstellung
gesagt ist, als eine Folge durch quodsi abgeleitet werden.
Unlogisch wie diese Verknüpfung ist aber auch das Verhältnis
des Vordersatzes ,wenn die Tragödien und Komödien als sce-
nische Darstellungen von Verbrechen und Leidenschaften blutig
und ausgelassen sind' zu dem Nachsatz, welcher offenbar eine
Bemerkung über die Art und Weise der Mittheilung oder Dar
stellung der dramatischen Stoffe enthält, indem die Worte
nullius rei aut atrocis aut uilis commemoratione melior doch nichts
anderes bedeuten können als nulla res aut atrox aut uilis com
memoratione uel actione melior fit. An dieser Bedeutung würde
sich nichts ändern, wenn man unter Ablehnung der sich von
selbst aufdrängenden Ergänzung quam per se ipsa est den Ge-
nitivus nullius rei als comparativen fasste, für welchen Gebrauch
sich bei Tertullian überdiess nur schwache Spuren nachweisen
lassen. Wir Huden apolog. c. 40 (p. 268, 1 Oehl.) memorat
et Plato maiorem Asiae uel Af ricae terram Atlantico mari ereptam,
aber ad nat. I, c. 9, p. 73, 19 quam Plato memorat maiorem
Asia aut Africa in Atlantico mari mersam; de carne Christi
c. 3 (p. 430, 1 Oehl.) quod enim angelis inferioribus dei lieuit
Patristische Studien. I.
27
— hoc tu potentiori deo nuferes? (vgl. Rönsch, It. und VuIgA
S. 435). Die Sätze sind also aus dieser Verbindung auszulösen.
Wenn nun aber in dem zweiten von der Darstellung dramatischer
Stoffe die Rede ist, so werden im ersten diese Stoffe oder die
Tragödie und Komödie als Erfinderinnen (auctrices) derselben
charakterisirt worden sein, sowie in dem Schlusssatz (quod in
facto reicitur, etiavi in dicto non est recipiendum) Stoff und
Darstellung auseinander gehalten werden. Der Sinn der Worte
wäre demnach: Insofern die Tragödien und Komödien verbreche
rische und leidenschaftliche Handlungen schaffen, sind sie wie
diese Handlungen blutig und ausgelassen, ruchlos und locker;
die Mittheilung (commemoratio) keiner Handlung von solcher
Beschaffenheit, d. i. einer tragischen oder komischen (atrocis
aut uilis), ist besser, d. i. weniger grausam oder weniger aus
gelassen; was als Handlung verwerflich ist, soll auch als Dar
stellung nicht aufgenommen werden. Diesem Sinne entspricht
die Ueberlieferung, wenn wir nur sint in sunt ändern und inter-
pungieren: quod sunt tragoediae et comoediae scelerum et libi-
dinum auctrices, cruentae et lasciuae, impiae et prodigae (sc.
sunt), nullius rei aut atrocis aut uilis commemoratio melior est. quod
in facto etc. Solch asyndetische Nebeneinanderstellung der
Sätze liebt Tertullian besonders am Schluss seiner Betrachtungen.
c. 19, p. 20, 27 hat Reifferscheid mit Unrecht an der
Ueberlieferung gezweifelt: etiam qui damnantur ad ludum, quäle
est ut de leuiore delicto in liomicidas emendatione proficiant? indem
er in homicidiis vorschlug. Tertullian sagt: sie werden durch
die Strafe (emendatione, vgl. apol. c. 46) von geringeren Ver
brechern zu Mördern. So gebraucht die heil. Schrift in z. B. in
der Gen. 1, 27 crescite et in multitudinem proficite (de anima
c. 27, p. 345, 20); Tert. ad nat. I, c. 12, p. 83, 1 arbor exsurgit
in ramos, in comam, in speciem sui generis; de pudic. c. 20,
p. 268, 12 in Äbrahae filios fiunt; de anima c. 9, p. 311, 24
factus esset homo in animam uiuam (vgl. c. 11, p. 315, 19)
und noch kühner ad nat. II, c. 15, p. 127, 12 quos in sidera
sepelistis (— post mortem sidera fecistis) et audaciter deis mini-
stratis. Ebenso steht ad bei Ennodius 424, 2 nequaquam
ad cursum (fluminis) proficis liquoris impendio, 433, 5 qui
28
VI. Abhandlung: v. Härtel.
tot plenus dotibus ad ecclesiae fastigia creuit, 392, 26 ad cen-
tenos fructus adsurgere und ähnliche Verwendungen von ad
in dem Index meiner Ausgabe p. 636.
c. 21, p. 22, 3. Die Worte, in welchen das züchtige und
sittliche Verhalten der Menschen im gewöhnlichen Leben ihrem
zügellosen und unmenschlichen Benehmen bei den Spielen
entgegengestellt wird, sind meines Erachtens bis auf ein leichtes
noch zu behebendes Versehen richtig überliefert und von
weiteren Verbesserungen freizuhalten: sic ergo eaenit, ut qui in
publico uix necessitate uesicae tunicam leuet, idem, in circo aliter
non aestuet (so ist statt exuet, der Handschrift zu schreiben,
exuat Ursinus, exsultet Gelenius, exuet Reifferscheid und Kluss-
mann), nisi totum pudorem in fadem omnium intendit . ,
(I. 13) immo qui propter hömicidae poenam probandam ad spec-
taculum ueniat (non ueniat Klussmann), idem gladiatorem ad
homicidium ßagellis et uirgis compellat inuitum, et qui insigniori
(indigniori Klussmann) cuique hömicidae leonem. poscit, idem gla-
diatori atroci petat (so B, sperat ABmg, expetat Klussmann)
rudern et pilleum praemium conferat, illum (alium Reifferscheid
und Klussmann) uero confectum etiam oris spectaculo repetat,
libentius recognoscens de proximo quem uoluit (noluit Ursinus)
occidere de longinquo, tanto durior, si non uoluit (non ualuit
Reifferscheid, noluit B, uoluit Ursinus). Was zur Erklärung
oder Verbesserung des überlieferten exuet beigebracht wurde,
verdient nicht widerlegt zu werden. Tertullian will offenbar
einer zwingenden Veranlassung (necessitate uesicae) eine nichtige
gegenüb erstellen: die blosse Hitze (aestuare) im Circus ver
anlasst schon zu unzüchtiger Entblössung. — Um zu beweisen,
dass die Heiden malum et bonum pro arbitno et libidine inter-
pretantur (p. 22, 1), und mit Rücksicht auf den Einwurf der
Heiden: bonum est cum puniuntur nocentes (p. 20, 15), womit
die Vorgänge im Amphitheater gerechtfertigt werden, deckt er
den Widerspruch auf, wenn man aus solcher Absicht dahin
geht, um die verdiente Strafe eines Menschenmörders zu sehen
und dort den Gladiator wider seinen Willen zum Menschen
mord zwingt. Daher ist non ueniat ganz und gar unpassend.
Weit bestechender auf den ersten Blick ist Klussmann’s in-
Patristisclie Studien. I.
29
digniori; denn, wie er zur Widerlegung der überlieferten Les
art sagt, insigniorem enim homicidam debitas poenas liiere quis non
uelit? Das aber bedeutet insigniori cuique nicht, sondern es ist
damit jeder Mörder gemeint, dessen That mehr vor den Thaten
anderer Mörder hervorsticht und diese schwerste Art der Be
strafung zu rechtfertigen scheint. Dagegen wäre indigniori
cuique jeder, welcher eine solche Bestrafung weniger ver
diente als andere, die unter erschwerenderen Umständen ge
mordet haben, und damit käme eine ganz falsche Beziehung
in den Gedanken, welcher etwa cuique etiam indigniori., ,jedem,
selbst dem, der es weniger verdiente', aber nicht indigniori
cuique vertrüge. — Nur von demselben Verbrecher, der zum
Kampf mit dem Löwen verurtheilt worden war, ist im Fol
genden die Rede, daher nur illum, nicht alium richtig sein
kann: an den Todesqualen dieses will er sich weiden und ihn
in der Nähe sehen, den er doch von ferne sterben sehen wollte,
oder, setzt Tertullian mit der ihm eigenthümlichen Schärfe
hinzu, er ist, wenn er dies nicht wollte, wenn dies nicht seine
ursprüngliche Absicht war, sondern es ihm auch auf diese
Augenweide ankam, nur um so grausamer zu nennen. Hin
gegen Hesse si non ualuit nur eine gekünstelte und schwäch
liche Erklärung zu: ,wenn sein Wunsch nicht in Erfüllung
ging-. Endlich möchte ich selbst in den Worten: idem gladia-
tori atroci sperat rüdem et pilleum praemium conferat die
Autorität des Agobardinus vertheidigen und weder petcit noch
expetat vorziehen, wenngleich Klussmann bemerkt: expetat
ut scriberem et res ipsa et qui subsequitur coniunctiuus conferat
postulabant, sondern s per et schreiben. Denn darin liegt eine
passende Steigerung; das sperare gladiatori rüdem (für den Gla
diator) ist der stille Wunsch, das confer re pilleum seine Erfüllung.
c. 22, p. 22, 24. Das verkehrte Gebahren der Menschen
wird weiter beleuchtet durch das Verhältniss zu den Künstlern,
die bald Gegenstand des Enthusiasmus, bald der Verachtung
sind: etenim ipsi auctores (actores A) et administratores specta-
culorum quadrigarios scaenicos xysticos arenarios illos amantissi-
mos, quibus uiri animas, fcminae autem Ulis (so Lipsius,
auf illi AB) etiam corpöra sua substernunt, propter quos in ea
30
VI. Abhandlung: v. Hartei.
(se in ea Reifferscheid) committunt quae (so Gelenius, quia AB)
reprehendunt, ex eadem arte, qua magnifadunt, deponunt et de-
minuunt, immo manifeste damnant ignominia et capitis minutione.'
Oehler scheint die durch Lipsius hergestellten Worte zu verstehen,
kann aber durch seine Erklärung nur verwirren; Klussmann ge
steht offen: quid id quod in libris est aut Uli uel quod Lipsio
placuit autem illis sibi uelit ncscio. equidem nihil sani commentus
sum. Auch Reifferscheid war gleicher Ansicht, wie seine Frage
zeichen andeuteten. Lipsius’ Aenderung aber ist leicht und die
Sache, um die es sich handelt, derb und deutlich genug gesagt.
Den Commentar kann Juvenal’s sechste Satire liefern. Mann und
Weib schwärmen für sie, die Frauen noch mehr als das, sie geben
sich ihnen preis (etiam corpora sua substernunt). In schwächlicher
Weise hinkt aber dieser Beschuldigung der Satz nach: aus
Liebe zu ihnen thun sie, was sie tadeln (propter quos in ea com
mittunt quae reprehendunt), der in A fehlt, vielleicht mit Recht.
Selbst wenn man crimirta für in ea schriebe, bliebe er kraftlos.
р. 23, 8. quäle iudicium, ut ob ea, quis offuscetur, per quae
promeretur? immo quanta confessio mala . . . .! quarum actores,
cum acceptissimi sint, sine nota non sunt. So steht die Stelle mit
vier erloschenen Buchstaben in A, welche B durch malae rei
ausfüllte; sie leidet aber wie das einer Beziehung entbehrende
quarum zeigt, an einem weiteren Gebrechen, welches durch
die Ergänzungen Oehler’s malarum rerum quarum, E. Kluss-
mann’s malarum artium quarum, die Schreibungen Ursinus’
(malae rei) cuius, Scaliger’s qua tum, Reifferscheid’s quoniam nicht
überzeugend behoben ist. Wenn B in so genauerWeise Lücken
füllt, verdient er allerdings Beachtung, aber doch keine unbe
dingte. Und hier erweckt der Genetiv schon Misstrauen —
auch bei quäle iudicium fehlt ein solcher —, indem man viel
mehr das Subject vermisst, welches mit dem vorausgehenden
ut ob ea quis offuscetur respondiert, also mala fama. Was folgt,
schliesst sich durch eine leichte Aenderung relativ oder als
dritte Frage an: quare actores — sine nota non sunt?
<
с. 23, p. 24, 3. ceterum cum in lege praescribit (deus) male-
dictum esse qui muliebribus uestietur, quid, de pantomimo iudicabit,
qui etiam muliebribus cu . . . ur f So A. Die mannigfachen Ver-
Patristische Studien. I.
31
suche, das so trefflich die Lücke füllende Verbum, welches B
bietet, nämlich curatur, durch ein anderes zu ersetzen, wie
utatur (Ursinus), scurratur (de Lagarde), calceatur (E. Kluss-
mann), curuatur (Reifferscheid) sind missglückt; denn zwischen
,weibliche Kleider tragen' und ,solche gebrauchen' oder ,unter
solchen sich krümmen' oder ,weibliche Schuhe anthun' oder
selbst ,in weiblichen Kleidern schmarotzen' ist kein solcher
Gegensatz, dass das zweite das Gericht Gottes mehr heraus
fordern sollte als das erstere. Das erweckt kein ungünstiges
Vorurtheil für curatur, was Gangneius zu seiner Zeit noch in A
gelesen oder aus der andern mit A nahe verwandten Handschrift
entnommen haben kann. Einer Conjectur sieht es wenigstens
nicht gleich. Unter diesen Umständen fühlt man sich zu dem
Versuche einer Erklärung ermuthigt. Wie wenn Tertullian die
Worte des Deuter. 22, 5 oü3s |A; eväöarjTai ävl)p otoay)v Yuvaizsi'av
nicht ohne Absicht durch muliebribus uestiretur entsprechend
allerdings seiner lateinischen Bibelübersetzung (vgl. de idolol.
c. 16 maledictus enirti omnis qui muliebribus induitu/r) wiederge
geben hätte um dieselbe Ergänzung, welche dieser Ausdruck un
zweideutig darbietet (muliebribus uestibus), für den zweiten an
die Hand zu geben: muliebribus curis curatur. Es ist bekannt,
welche peinliche Pflege die Pantomimen ihrem Körper angedeihen
Hessen, um ihren Bewegungen Geschmeidigkeit und Anmuth
zu verleihen. Toilettekünste jeglicher Art unterstützten ihre
Kunst, die sie ebenso aus dem reichlichen Vorrathe des Boudoirs
eleganter Damen entlehnten wie selbständig ausbildeten (vgl.
Friedländer, Sittengesch. II 5 415 f.). cura (= Öepaxsla) und curare
ist aber der bezeichnende Ausdruck für das Schmücken und
Putzen des Körpers und besonders der Haare; vgl. Phaedrus II
2, 7 capillos homini legere coepere inuicem. qui se putaret fingi (pingi
codd.) cura mulierum, caluus repente factus est; Hör. ep. 11, 94
euratus inaequali tonsore capillos; Valerius Flaccus Arg. VIII, 237
tum nouus impleuit Xhultus honor, ac sua flauis reddita cura comis;
auch TertulL de paenit. c. 12 (p. 664 Oehl.) capilli incuria
horrorem leoninum praeferente. Mehr Beispiele bietet Gronov,
Obseruat. I 98 ed. Fr. Vgl. auch Plaut. Men. 895 und 897 cum
cura curare und G. Landgraf, Acta sem. Erl. II, S. 29 f.
p. 24, 6 kommt Tertullian auf die tadelnswerthen Vor
gänge in der Arena zu sprechen: taceo de illo, qui hominem
32
VI. Abhandlung: v. Ilartel.
leoni prae se opponit, ne parum sit homicida quam qui eundem
postmodum iugulat. Rigaltius denkt an den Fall, dass man
gegen Gladiatoren wohl auch Löwen losgelassen und dass ge
legentlich eines solchen Kampfes ein Gladiator seinen Kame
raden durch geschicktes Manövrieren in die todbringende
Gefahr zu locken wusste, nachdem dieser aber Sieger geblieben,
denselben in einem neuen Gange, den das Volk verlangte,
tödtete: hac ratione primus ille Tertulliano dicitur ,non parum
liomicida 1 , hoc est iterum liomicida, nempe iam seynel, cum. homi-
nem leoni prae se opposuit, iterum uero, cum eundem ipsum,
cuius se corpore texerat, postmodum iugulauit. Diese Erklärung,
welche die Streichung von quam verlangt, verwirft E. Kluss-
mann mit Recht; er denkt sich als Subject von opponit, worauf
schon hominem führen muss, nicht einen Gladiator, sondern
irgend einen, der sich seines Gegners zu entledigen sucht, in
dem er ihn zum Kampfe in der Arena zwingt, und erhält,
indem er parum in perinde ändert, den Sinn: leoni enim homi
nem aduersarium opponi dicit, ne is qui miserum ad bestias
damnauerat, eodem modo interfecisse uideatur, quo is, qui eundem
absolutum (postmodum) trucidet. Wie sich Klussmann mit prae
se abfindet, das gerade Rigaltius an den Gladiator denken
liess, welcher einen andern vor sich hin dem Löwen entgegen-
treibt, sagt er nicht. Der Gedanke aber, dass derjenige in
gleicher Weise als Mörder anzusehen sei, der seinen Mit
menschen in solche Gefahr bringt, mag er sie auch glücklich
bestehen, wie jener, welcher denselben bei anderer Gelegen
heit (postmodum) tödtet, ist mit einer Modification allerdings
annehmbarer als jene Vorstellung eines sonst nirgends bezeugten
Vorganges, den sich Rigaltius für diese Stelle ausgeklügelt
hat. Man darf aber nicht an einen Richter oder sonst Je
manden denken, qui miserum ad bestias damnauerat, weil in
diesem Zusammenhänge nur von den auctores et administratores
spectaculorum (c. 22, p. 22, 22) und, nachdem über die qua-
drigarii, scaenici und xystici bereits gehandelt ist, nur mehr
von den arenarii, d. i. also von den Thierkämpfern und Gladia
toren die Rede sein kann, und es bedarf der Veränderung keines
Buchstaben, indem ne—sit nicht als Absichtssatz, sondern als
Fragesatz zu nehmen ist und selbst das auffällige prae se,
so leicht sich dafür die Schreibung praedae darböte, eine
Pafcristische Stndieti. I.
33
Erklärung gestattet, qui hotkinem leoni prae se opponit ist der
Veranstalter von Thierhetzen, welcher ein menschliches Wesen
— liominem ist gesagt, und nicht uenatorem oder bestiarium, um
das Mitleidlose und Empörende einer solchen Handlung her
vorzuheben — einem Löwen — leoni prae se, d. i. quem prae
se habeat — entgegenstellt, und dieser ist, wenn er auch nicht
selbst tödtet, doch ein Mörder; denn, um einen Gedanken
Tertullian’s aus ad nat. c. 5, p. 104, 1 zu wiederholen, certum
enim est quodcitnque fit ei adscribendurn, non per quod fit, sed a
quo fit, quia is est caput facti qui et ut fiat et per quod fiat
instituit. Er ist nicht weniger Mörder als der Gladiator, welcher
dasselbe Wesen (eundem), d. i. einen Menschen oder eben den
selben Menschen, der später etwa, wenn er heil aus dem
Kampfe mit dem Löwen hervorging, als Gladiator in der Arena
kämpfte, tödtet. In beiden Fällen handelt es sich um Menschen
mord. Das drückt Tertullian aber durch den Fragesatz aus:
ich will nicht untersuchen, ob (ne) jener weniger Menschen
mörder sei als dieser. Dieser Gebrauch der Partikel ne ist
bei Tertullian sehr häufig, so im 1. Buch der Schrift ad nationes
c. 4, p. 64, 17 nernini subuenit, ne ideo bonus quis et prüdem,
quia Christianus, aut ideo Christianus, quia prüdem et bonus;
c. 7, p. 67, 22 ut nemo recogitet, ne primum illud os mendacia
semihauerit und noch dreimal. Was aber die Verbindung leoni
prae se (einem Löwen vis a vis) betrifft, so ist weder das Re-
flexivum noch diese selbst zu hart, um nicht Tertullian zuge
traut werden zu können. Er geht in der attributiven Ver
wendung einzelner Casus oder präpositioneller Fügungen sehr
weit, wodurch nicht selten eine gewisse Dunkelheit erzeugt
wird. Fälle der Art werden wir noch öfter zu untersuchen
haben; hier sei vorläufig nur auf einige wenige verwiesen: de
orat. c. 6, p. 185,2 ita petendo panem quotidianum perpetuitatem,
postulamus in Christo et, indiuiduitatem a corpore eins; ad nat. I,
c. 6, p. 66, 19 uerbi gratia homicidam, adulterum lege (sacrilegum
Reifferscheid, lege punitis oder arcetis Wissowa); ib. c. 11,
p. 81, 13 Iudaeos refert uastis in locis aquae inopia laborantes
onagris, qui de pastu aquam petituri aestimabantur, indicibus
fontibus (fontis Oehler und Reifferscheid) usos esse (d. i. indi
cibus ad fontes inueniendos aptis); ib. c. 16, p. 87, 10 cum in-
fantes uestros alienae misericordiae exponitis aut in adoptionem
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. G. Abh. 3
34
VI. Abhandlung: v. Hartei.
melioribus parentibus (emancipatis add. M. Klussmann), ib. 1. 19
publicatae libidines siue (fiunt add. Reifferscheid) statiuo uel
ambulatorio titulo; ad nat. II, c. 9, p. 112, 19 illa filia patris in
carcere fame defecti uberibus suis educatnx; ib. c. 12, p. 118, 6
(interpretantur Saturnum) tempus esse et ideo Caelurn et Terrain
parent.es ut et ipsos origini nullos (onginis nullius Reifferscheid);
Apolog. c. 7 (p. 136) dicimur sceleratissimi de sacramento infan-
ticidii et pabulo inde et post conuiuium incesto; ib. c. 47 (p. 288, 2):
Epicurei (deum asseuerant) otiosum et inexercitum et ut ita dixerim
neminem humanis rebus; de orat. c. 22, 18 nostva lex ampliata
atque suppleta defenderet sibi adiectionem (i. e. adiectionem sibi
factam); ad nat. I, c. 17, p. 89, 5 uos tarnen de nostris (i. e.
qui de nostris estis) aduersus nostros (Caesares) conspiratis.
c. 24, p. 24, 15. Auch diese nicht weniger angezweifelte
Stelle erledigt sich mit der Erkenntniss der richtigen Construc-
tion in einfacher Weise. Durch die Taufe (in signaculo fidei),
sagt Tertullian, den im 4. Capitel angesponnenen Gedanken
wieder aufnehmend, schwören wir den Teufel und seine Macht
ab und dürfen an nichts von dem, was des Teufels ist, theil-
nehmen. Dafür bringt er einen Beweis von Seite der Heiden
bei: ceterum si nos (si nos A, nonne B, sic nos Reifferscheid)
eieramus et rescindimus signaculum rescindendo testationein eins,
numquid ergo superest, ut ab ipsis ethnicis responsum flagitemus?
illi nobis iam renuntient, an liceat Christianis spectaculo uti.
atquin hinc uel maxime intellegunt factum Christianum, de repudio
spectaculörum. Reiffersckeid’s Conjectur zerreisst das feste Ge
füge des Satzes und sondert ein Glied ceterum sic nos eieramus
— eins ab, welches für sich gestellt nach quod eieramus, neque
facto neque dicto neque uisu neque conspectu participare debemus
überflüssig ist, was nur deutlicher wird, wenn wir sic (= par-
ticipando) aus diesen Worten erklären. Das Gleiche gilt von
nonne, einer unverkennbaren Conjectur des Gangneius, welche
aber Verständniss der mit si eingeleiteten Satzform zu verrathen
scheint. Die dem Gedanken entsprechende Form des ersten
Satzes hätte aber dann etwa sein müssen: wissen wir nicht selbst,
dass wir das Taufgelöbniss brechen? Sollen wir uns darüber bei
den Heiden aufklären lassen ? E. Klussmann nimmt vor nurn-
Patristische Studien. I.
35
quid eine grössere Lücke an, ohne zu sagen, was in ihr ge
standen haben könne. Fassen wir si als Fragepartikel, so
schwindet jede Schwierigkeit, und es heisst der Satz: ,sollen
wir uns demnach noch von den Heiden eine Antwort geben
lassen, ob wir abschwören und ob wir das Gelöbniss der Taufe auf-
heben, indem wir es zu bezeugen unterlassen? Diese aber be
stätigen das Verbot, indem sie an der Enthaltung von den
Spielen zumeist erkennen, dass Einer Christ geworden 4 , illi nobis
iam renuntient, an liceat Christianis spectaculo uti. atquin hinc uel
maximu intelligunt factum Christianum, de repudio spectaculorum.
Die Partikel si leitet aber bei Tertullian häufig einen indirecten
Fragesatz ein und dieser hat dann regelmässig den Indicativ.
Vgl. ad nat. c. 7, p. 70, 24 uolo enim scire, si per talia sce-
lera adire parati estis quemadmodum nos, p. 71, 7 cupio respon-
deas, si tanti facis (facias Gothofredus) aeternitatem; c. 10,
р. 80, 14 singula ista quaeque adhuc inuestigare quis possit, si
honorem inquietant diuinitatis, si maiestatis fastigium adsolant;
с. 16, p. 87, 7 respicite —, si desunt populi und andere Stellen
dieses Bandes. Den Indicativ haben auch die von Oehler,
ad martyr. c. 2, p. 7 g zusammengetragenen Fälle bis auf
Apolog. c. 21 (p. 206, 4) quaerite ergo si uera s.it ista diuinitas
Christi, wo aber ausser dem Fuldensis alle Handschriften est
bieten, und Stellen wie Apol. c. 8 (p. 141) cupio respondeas si
tanti aeternitas, wo also der Indicativ zu ergänzen. Demnach
ist Apolog. c. 23, p. 213, 8 non dicetis, si oculi uestri et aures
permiserint uobis zu beurtheilen und ad nat. II, c. 13, p. 122, 13
sane quae posterior opinio est, discuti debet, si deus reminispentia
meritorum diuinitateni tribuerit s nicht mit Oehler tribuerit,
sondern tribuit zu ergänzen. Besonders häufig findet sich ein
solcher Fragesatz mit si nach uiderit, uiderint, wie die zu der
Stelle c. 7, p. 9, 6 genannten Sammlungen zeigen.
c. 25, p. 25, 10. sed tragoedo uociferante exclamationes ille
alicuius prophetae retractabit et inter effeminati lib . . . modos
psalmum secum comminiscetur, et cum athletae agent, ille dicturus
est repercutiendum non esse. Um die Lücke in A auszufüllen,
wurde vorgeschlagen: effeminati tibicinis (E. Klussmann), effe
minati histrionis (Rigaltius), effeminati ludii (von mir). Doch
3*
36
VI. Abhandlung: v. Hartei.
wir erwarten neben dem Tragöden und Athleten eine be
stimmtere Bezeichnung des Mimus. Was Bmg überliefert liberi,
füllt die Lücke und bietet, was wir verlangen, wenn wir nur
schreiben: int er effeminati Liberi modos. Tertullian dachte wohl
dabei an einen durch besondere Obscönität ausgezeichneten
Mimus, in welchem der weibische Gott agierte. Dazu kommt,
dass Tertullian erst kurz vorher c. 23, p. 23, 18 auf dieselbe
pantomimische Rolle hingewiesen hatte: placebit et ille, qui
uoltus suos nouacula mutat, infidßUs erga fadem suam, quam non
contentus Saturno et Isidi et Libero proximam facere insuper
contumeliis alaparum sic obicit, tamquam de praecepto domini
ludat? (Vgl. c. 10, p. 12,25 quae priuata et propria sunt scaenae,
de qestu et corporis flexu mollitiae Veneris et Liberi immolant,
illi per sexum, Uli per luxum dissolutis).
c. 28, p. 27, 1. Das Angenehme in den Spielen ist Zu-
that des Teufels, um die Seelen zu vergiften: saginentur eius-
modi dulcibus conuiuae sui: et loca et tempora et imdtator ipso-
rum est. nostrae caenae, nostrae nnptiae nondum sunt. Die Worte
können nur bedeuten was unpassend oder nichtssagend ist: den
Gästen des Teufels gehören Zeit und Ort und Wirth. Dass
aber Ort und Zeit der Spiele des Teufels sind, ist früher gezeigt
worden. Also ist mit Ergänzung von sua, welches hinter sui
leicht ausfiel, zu schreiben: saqinentur eiusmodi didcibus conuiuae
sui; (sua) et loca et tempora, et inuitator ipsorum est. Der freiere
Gebrauch des Possessivpronomens suus, sow’ie der des Refle-
xivums überhaupt ist nicht selten. Vgl. die früher besprochene
Stelle c. 8 qui spectaculum primum a Circa habent, soll patri
suo, ut uolunt, editum affirmant; ib. c. 6, p. 6, 2 aquam ingressi
Christianam fidem in legis suae uerba profitemur; de idolol. c. 14,
p. 47, 6, wo die Feiertage der Heiden und Christen ihrer Zahl
nach verglichen werden, hohes non dicam suos (— ethnicorum) dies
tantum, sed et plures (so Ciacconius, B hat tuos, A tarnen, Latinius
will duos, Wissowa tantos); ad nat. I, c. 4, p. 63, 24 philosophis
patet libertas transgrediendi a uobis in sectam et auctoreni et
suum (= eius i. e. auctoris) nomen; ib. c. 11, p. 81, 18 uos totos
asinos colitis cum sua Epona et omnia iumenta et pecora et
bestias, quas perinde cum suis praesepibus consecratis. Daher
Patristische Studien. I.
37
auch suus als Synonymuni für proprius verwendet wird: de
idolol. c. 13, p. 14, 8 de spectaculis autem et iioluptatibus eius-
modi suum iam uolumen impleuimus; ad nat. I, c. 12, p. 81, 25
siuut uestrum liumana figura est, ita nostrum sua propria; ib. II,
c. 13, p. 121, 6 sed enim manifestis uis sua adsistit (Vgl. meinen
Index zu Cypr. S. 455).
c. 29, p. 27, 28. Der Christ hat andere Vergnügungen,
an denen er sich erbauen kann, wie die Versöhnung mit Gott,
die Offenbarung der Wahrheit, den Sieg über die Lust und
den Teufel: haec uoluptates, haec spectacula Cliristianorwn sancta
perpetua gratuita; in liis tibi circenses ludos interpretare, cursus
saeculi intuere, tempora labentia (computa add. E. Klussmann),
spatia (peracta add. Reifferscheid) dinumera, metas consumma-
tionis exspecta. Klussmann und Reifferscheid waren bemüht,
die Symmetrie der Glieder in verschiedenerWeise herzustellen.
Mir scheint kein so schwerer Fehler vorzuliegen, indem ich in
dinumera den Irrthum erblicke, tempora labentia, spatia in mir
mera. Denn darauf kommt es Tertullian und noch deutlicher
dem Verfasser der Cyprian beigelegten, nach dem Tertulliani-
schen Muster bearbeiteten Schrift de spectaculis (c. 9 und 10)
an, zu zeigen, dass der Christ reichlichere Gelegenheiten zur
Freude in seinem Leben finde. Wie hier mehr Wettrennen,
so gleich später mehr Ringkämpfe.
p. 28, 7: uis et pugilatus et luctatus? praesto sunt, non
parpa i et multa. So schreibt Reifferscheid nach Oehler’s Vor
gang, während B parua sed multa, Ursinus pauca sed multa
Rigaltius pauca simul, E. Klussmann parum sunt multa vor
schlugen. Denn auch, was B hat, ist blosse Vermuthung, bis
auf die Ergänzung der beiden Buchstaben, die heute in A
nicht mehr erkennbar sind. Ich möchte Reifferscheid nicht
tadeln, dass er unter diesen Oehler’s Conjectur bevorzugte,
obwohl Klussmann sie für schlechter hielt als die von Gang-
neius, quasi uero Tertullianus uirtutum cum uitiis in uita liumana
certamina parua esse dixerit uel dicerc potuerit. Das thut er
nicht; denn die Litotes ist ihm sehr geläufig und non parua et
nixdta bedeutet soviel als magna et multa. Aber Reifferscheid
durfte die Lesart des Agobardinus nicht aufgeben, welche ohne
38
VI. Abhandlung: v. Hartei.
Anstoss und rhetorisch viel wirksamer ist, wenn man nur
interpungiert: praesto sunt non par L ua Jt sunt multa.
c. 30, p. 28, 20. Weit grösser sind die Freuden, welche
den Christen im Jenseits erwarten: quae tune spectaculi lati-
tudo! quid admirer ? quid rideam! ubi gaudeam, ubi exultem, tot
spectans reges, qui in caelum recepti nuntiabantur, cum Ioue ipso
et ipsis suis testibus in imis tenebris congemescentes ? item prae-
sides persecutores dominici nominis saeuioribus quam ipsi flammis
saeuierunt insultantes contra Christianos liquescentes? So edirte
Reifferscheid die Stelle, stark abweichend wie seine Vorgänger
von der Ueberlieferung. Es schreiben nämlich:
A: scli flammis saeuferunt insultantibus contra christianos
B: saeuioribus quam ipsi flammis saeuierunt insultantibus
contra christianos {christianis C)
Rigaltius: saeuioribus quam ipsi contra Christianos saeuierunt
flammis insultantibus
Klussmann: saeuioribus quam ipsi saeculi flammis saeuierunt in
sultantibus contra Christianos.
Dass die Lesart des A saeculi die vollste Gewähr der Echt
heit biete, hat Klussmann allein erkannt, aber indem er
dieselbe mit der Lesart von B contaminierte, diese Einsicht
nicht genützt; denn saeculi ist neben quam ipsi saeuierunt über
flüssig, indem die Verfolger doch nur irdische Flammen in An
wendung bringen konnten. Dabei wollte er das nachschleppende
Participium insultantibus nicht fahren lassen, das allein durch
die kühne Umstellung der Worte, welche Rigaltius vornahm,
oder durch Reifferscheid’s Aenderung insultantes erträglicher
wird. Die Worte quam ipsi tragen zu deutlich die Mache
eines Interpolators, also wohl des Gangneius an sich, welcher
mit den überlieferten Worten nichts anzufangen wusste; hin
gegen werden wir das sichtlich verderbte saeuferunt mit sae
uioribus (saeviorib) gerne vertauschen. Es bedarf dann zu
vollkommener Herstellung der Worte nur noch der Lesart
christianis, welche C bestätigt: item praesides persecutores domi
nici nominis saeculi flammis saeuioribus, insultantibus contra
Christianis, liquescentes. Die Verfolger werden durch wüthen-
dere Flammen, als die irdischen sind, verzehrt, während die
Patristische Studien. I.
39
Christen ihrerseits (contra) sich dessen freuen. Dieser neue durch
insultantibus contra Christianis gewonnene Zug ist nach den
vorausgehenden Aeusserungen quid rideam! ubi gaudeam, ubi
exultem? fast nothwendig. Ueber den freieren Gebrauch des
comparativen Ablativs vgl. Kühner § 225, 5, 12 (S. 976).
II. De idololatria.
c. 2, p. 32, 6. Idololatrie begeht nicht blos, wer den
Götzen opfert, so wenig nur der ein Mörder ist, welcher Blut ver-
giesst, sondern nach Johannes auch derjenige, welcher seinen
Bruder hasst: alioqui in modico consisteret et diaboli ingenium
de malitia et dei dominium de disciplina, qua nos aduersus diaboli
altitudines (latitudines Ursinus) munit, si in lvis tantum delictis
iudicaremur, quae etiam nationes decreuerunt uindicanda. Reiffer
scheid hat Ursinus’ Conjectur latitudines in den Text gesetzt.
Ob mit Recht? Allerdings gebraucht Tertullian das Wort lati-
tudo in der Bedeutung ,weites Gebiet' in sonst ungewöhnlichen
Verbindungen, wie de spectac. c. 30, p. 28, 20 quae tune spec-
taculi latitudo! de idolol. c. 2, p. 31, 21 quot modis nobis prae-
cauenda sit idololatriae latitudo; ad nat. II, c. 9 (p. 369 Oehl.)
alia iwm nobis ineunda est humani erroris latitudo, immo silua
caedenda. Der Plural steht hingegen wenig sicher de idolol.
c. 7, p. 37, 9 seit et pictor et marmorarius et aerarius et qui-
cumque caelator latitudines suas et utique multo faciliores, wo wir
vielmehr einen Ausdruck wie ,Mittel und Wege sich zu ver
halten', also wie ich vermuthete alitudines, erwarten. Deshalb
möchte ich altitudines hier nicht verwerfen, womit die Ränke
und Schliche des Teufels bezeichnet werden. So ist c. 2 zwar
von der idololatriae latitudo die Rede, dieselbe wird aber durch
die Worte: multifariam seruos dei non tantum ignorata, sed
etiam dissimulata subuertit, als eine alta charakterisiert.
c. 3, p. 33, 1. s>3o? graece formam sonat; ab eo per di-
minutionem stSotXov deductum aequo apud nos formulam fecit.
Reifferscheid nahm an dieser sinnlosen Verbindung mit Recht
Anstoss und schrieb, indem er nach deductum interpungierte ;
40
VI. Abhandlung: v. Hartei.
aeque apud nos {forma) formulam fecit, wobei forma als Sub-
ject recht auffällig bleibt, indem man eher aeque apud nos
formula factum erwarten möchte. Das, was den Uebergang
von forma zu formula macht, ist die diminutio; daher wohl
quae oder aeque {quae) zu schreiben. Aehnlich steht in A
p. 37, 24 equae für quae; der Fehler ist alt und fand sich
bereits in der von Isidor, Orig. VIII 13, benützten Handschrift,
die nicht zu den besten gehörte; er hat nach der editio princ.
eque apud nos, nach dem Guelpherb. atque, nach anderen eaque.
c. 4, p. 34, 6. Dafür, dass sowohl die Verehrer als die
Erzeuger von Götzenbildern verdammt sind, werden mehrere
Stellen der Schrift angeführt. Im Anschluss an die Stelle aus
Esaias 44, 8 sq. heisst es darauf: et deinceps tota illa pronun-
tiatio quam artifces quam cultores detestatur, cuius clausula est:
cognoscite quod cinis sit cor illorum et terra et nemo
a.nimam suam liberare possit. ubi aeque David et factores.
tales fiant, inquit, qui faciunt ea. Hier nahm Reifferscheid
unter Beibehaltung der üblichen Interpunction vor ubi eine
tiefere Störung oder eine Lücke an. Nach meiner Ansicht
ist die Stelle unversehrt überliefert, wenn man nur richtig die
Sätze verbindet und der bei Tertullian so häufigen Ellipsen
gedenkt: ubi aeque David et factores (sc. detestatur), tales fiant,
inquit etc. Höchstens könnte man, da es sich um Anführung
einer weiteren Schriftstelle, Ps. 115, 8, handelt, den Ausfall eines
et zwischen possit und ubi zugestehen.
c. 6, p. 35, 9. Den Einwurf der Götzendiener, dass
auch Moses in der Wüste eine Schlange aus Erz formen liess,
weist Tertullian mit der vorbildlichen Bedeutung dieses Zeichens
zurück: si, quis autem dissimilat illam effigiem aerei serpentis
suspensi in modum figuram designasse dominicae crucis — siue
quae alia figurae istius expositio dignioribus reuelata est, dummodo
apostolus affirmet omnia tune figurate populo accidisse. bene, quod
idem deus et lege uetuit similitudinem fieri et extraordinär io prae-
cepto serpentis similitudinem interdixit. Diese schwierige Stelle hat
Reifferscheid dadurch, dass er mit bene einen neuen Satz be-
Patriotische Studien. I.
41
ginnen Hess, in einfachster Weise ins Reine gebracht. Der
vorausgehende Satz entbehrt nun freilich der Apodosis, aber
diese ergänzt sich bei der gedrängten Ausdrucksweise des Autors
leicht: wenn Jemand in Abrede stellt, dass jenes Bild das
Kreuz des Herrn bedeutet habe oder aber, wenn Würdigeren
eine andere Bedeutung jenes Bildes enthüllt worden ist, so mag
das sein, wenn man nur an der Versicherung des Apostels
festhält, dass Alles, was damals geschah, für das Volk eine
sinnbildliche Bedeutung hatte. Mit bene oder plane wird, wie
hier, öfter ein neuer Gedanke eingeleitet. Mit dieser Form der
Anreihung si — dummodo — bene sind die Satzverbindungen ui-
derit (uiderint) si (dum) — certe (nam) zu vergleichen (vgl.
oben zu de spect. c. 7), wie de idolol. c. 11, p. 41, 20 uiderint
si eaedem merces — etiam liominibus ad pigmenta medicinalia,
nobis quoque insuper ad solacia sepulturae usui sunt, certe cum
pompae, cum sacerdotia — instruuntur, quid aliud quam procu
ra,tor idolorum demonstraris? ad nat. II, c. 6: uiderint igitur
humanae doctrinae patrocinia quae coniectandi artificio sapientiam
mentiuntur et ueritatem. nam alias natura sic est, ut qui melius
dixerit hic uerius dixisse uideatur; ib. I, c. 1, p. 81, 26 uiderint
liniamenta, dum una sit qualitas; uiderit forma, dum ipsum sit
dei corpus.
c. 6, p. 36, 8. Der Verfertiger von Götzenbildern wird
apostrophiert: plus es illis quam sacerdos, cum per te habeant
sacerdotem: diligentia tua numen illorum est. negas te quodfacis
colere? sed Uli non negant, quibus lianc saginatioreni et aura-
tiorem et maiorem hostiam caedis, salutem tuam, tota die. (c. 7) Ad
hanc partem zelus fidei perorabit ingemens. So Reifferscheid, was
die Interpunction betrifft, unzweifelhaft richtig, indem tota die,
mit der Vulgata zu dem folgenden Satz und Capitel gezogen,
mindestens mtissig ist; bedeutungsvoll hingegen ist es, wenn
es von dem Verfertiger von Götzenbildern heisst, dass er den
Göttern ein fetteres, goldgeschmiickteres und grösseres Opfer,
als sein Werk ist, darbringe, nämlich sein eigenes Heil, und
zwar Tag für Tag, indem das Bild ja Tag für Tag Gegen
stand der durch ihn ermöglichten Verehrung ist. Der Aus
druck tota die für omnibus diebus ist in der lateinischen Ueber-
42
VI. Abhandlung: v. Ilartel.
Setzung der heil. Schrift, sowie im Vulgärlatein totus für omnis,
gebräuchlich (vgl. Rönsch, Itala u. Vulg. 2 S. 338). Dass derselbe
auch den Heiden ihre Priester gebe, ist von diesem Gesichts
punkte aus nicht minder begreiflich, indem ja der Götzen
priester ohne seine Götzen nicht möglich ist; dass er ihnen
aber auch das numen schaffe, damit ist zu viel gesagt, wenn
wir uns unter numen den Inbegriff ihres Glaubens denken
sollen, zu wenig, wenn numen nur die im Bilde dargestellte
Gottheit bedeuten sollte. Nun ist aber numen die Lesart von
B, der Agob. hat noinen, und das ist richtig; von dem Götzen
bilde empfängt der Priester oder der ganze Cult Bedeutung
und Namen, wie ja das einfache nomen bei Tertullian häufig
für nomen Christicinum steht. So erscheinen nomen und honor
verbunden: p. 39, 30 ipsam primam noui discipuli stipern Mi-
neruae et lionori et nomini consecrat, p. 40, 2 quaestus nominibus
et honoribus idolo(rum) nuncupatus. — Es wird geklagt, dass
die Christen, welche den Heiden ihre Bilder arbeiten, wenn
sie vor ihren Gott treten (p. 36, 16), attollere ad deum pat.rem
manus, matres idolorum, kis manibus adorare, quaeforis aduersus
deum adorantur (ädornantur Junius, operantur Wissowa), d. h.
dass sie ihre Hände, welche die Götzen gebildet, erheben, mit
den Händen zu Gott dem Vater beten, deren Werk drausson
(von den Heiden) gegen Gott verehrt wird. Die unbedenkliche
Annahme der doppelten Bedeutung von manus überhebt der
Nothwendigkcit, die Ueberlieferung zu verlassen, und erhält
uns die wirkungsvolle Wiederholung desselben Verbums. Zu
der Apposition matres idolorum vgl. Apolog. c. 12 (p. 160, 17)
(simulacrorum) materias sorores esse uasculorum.
c. 8, p. 37,1. Es ist den Christen verboten, überhaupt etwas
herzustellen, was dem heidnischen Cult dient: nec enim dijfert,
an extruas uel exornes, si templum, si aram, si aediculam eius
instruxeris, si bratteam expresseris aut insignia aut etiam do l mum i
fabricaueris. Man sieht, dass bedeutenderen Gegenständen
templum ara aedicida unbedeutendere brattea insignia angereiht
werden; auf aut etiam ,oder auch nur' kann also nicht domum,
welches zur ersten Gruppe gehören müsste, folgen, wohl aber
donum ,oder auch nur ein Weihgeschenk'. Reifferscheid ver-
Patristische Studien. I.
43
bürgt, dass die drei letzten Buchstaben im Agob. jetzt un
lesbar sind, demnach auch desto leichter von Gangneius, der
domum bietet, m statt n verlesen werden konnte.
p. 37, 28. Tertullian schliesst die Betrachtungen dieses
Capitels, nachdem er noch davor gewarnt, dass der Künstler
nicht einen an sich unverfänglichen Gegenstand, welcher bei
dem heidnischen Cult Verwendung finden könne, wissentlich
herstelle: quod si concesserimus et non remediis tarn usitatis ege
rimus, non puto nos a contagio idololatriae uacare, quorum manus
non ignorantium in officio uel in honore et um daemoniorum
deprehenduntur. Indem ich diese Worte auf die vorausgehende
Mahnung bezog, liess ich mich verleiten, auf dem von Reiffer
scheid eingeschlagenen Wege, welcher iam (so schon Latinius
für tarn) usi paenitentias egerimus vorschlug, von der Ueber-
lieferung abzuweichen, und stellte nur mit engerem Anschluss
an dieselbe iam usi satis egerimus her. Doch von einer Sühne
ist sonst nicht die Rede, und die Worte der Handschrift bieten
keine Schwierigkeit, wenn wir agere im Sinne von uiuere fassen,
wie es oft steht, z. B. de anima c. 31, p. 351,20 sed et Pyrrhus
fallendis piscibus agebat, Pythagoras contra nec edendis, ut ani-
malibus abstinens; de pudic. c. 1, p. 219, 18 quae non apud
deum egisset; Apolog. c. 1 (p. 113, 6) seit se peregrinam in terris
agere; vgl. die Indices zu Cyprian S. 411 und zu Commodian
S. 198. Die erlaubten Mittel des Erwerbs, die remedia tarn usi-
tata, durch die der christliche Künstler sein Leben fristen soll,
sind früher aufgezählt.
c. 10, p. 39, 28. Auch die Beschäftigung der Schul
meister und Professoren ist nicht frei von der Sünde der ldo-
lolatrie: quis ludi magister sine tabula VII idolorum Quinquatria
tarnen frequentabitf So schreibt Reifferscheid, und Oehler glaubt
diese Fassung erklären zu können: nullus magister tabulam
septem idolorum non habet, qui Quinquatria frequentare seque in
censu et numero ludimagistrorum haberi uidt, ohne dass dadurch
der Zusammenhang zwischen dem Besitz oder Gebrauch des
heidnischen Wochencalenders und dem Besuche der Quinqua-
trien und der Sinn von tarnen deutlicher würden. Aber nur
dieses tarnen käme zu seinem Recht, wenn wir mit Latinius
44
VI. Abhandlung: v. Hartei.
und Jos. Scaliger tarnen non oder mit Fr. Jivnius non Quin-
quatria lesen wollten. Offenbar sind hier zwei Sätze durch
falsche Interpunction verbunden, welche in einen Frage- und
einen Behauptungssatz aufzulösen sind: quis ludi magister sine
tabula VII idolorum (sc. est)? Quinquatria tarnen frequeritabit,
d. i. Jeder benützt die heidnische Wochentafel und besucht
als Mitglied der Zunft wenigstens das Zunftfest, tarnen kommt
also einem certe nahe, wie nach Dombart’s Bemerkungen öfter
bei Commodian (Ind. S. 245) und zweimal in der Verbindung
si tarnen Instr. I 32, 10, Apol. 664, welche wir auch bei Ter-
tullian de spect. c. 19, p. 20, 24 finden: melius ergo est nescire
cum mkli puniuntur, ne sciam et cum boni pereunt, si tarnen bonuni
sapiunt (sapio Reifferscheid), wo keine Aenderung erforderlich
ist; denn der letzte Satz kommt einem dummodo boni sint gleich
und drückt, was die Fortsetzung certe quidem gladiatores inno-
centes in ludum ueneunt bestätigt, einen Zweifel aus, ob es dar
unter wirklich solche gebe, qui bonum sapiunt. Einen besseren
Beleg noch für ein solches tarnen werden wir durch die Erklärung
de idolol. c. 23, p. 57, 1 gewinnen. — Auch die unmittelbar an
schliessenden Worte scheinen anders interpungiert werden zu
sollen; allerdings leiden sie überdies an einem kleinen Fehler,
der manche Heilungsversuche hervorrief. Reifferscheid edierte:
ipsam primani noui discipuli stipem Mineruae et honori et nomini
consecrat, ut, etsi non profanatus alicui idolo uerbotenus de idolo-
thyto esse (= sgOcsiv) dicatur, pro idololatra uitetur. quidf minus
est inquinamenti? eoque (eo quem AB) prdestat. quaestus et no-
minibus et honoribus idolo nuncupatus? Das kann wohl heissen:
,ist weniger Befleckung dabei? ist um dieses Minus der dem
Götzen geweihte Erwerb und die dadurch begangene Idolo-
latrie besser als die wirkliche?' und ist verständlicher als was
andere, welche aus quid bis nuncupatus? einen Fragesatz bilden,
für eoque lesen, wie Gelenius quod, Pamelius eo quod, Oehler
eo quam. Letzterer übersetzt und erklärt: ,Was ist darum
weniger Besudlung dabei, als der in Namen und Verehrung
(non solum nomine sed etiam facto, h. e. honoribus) dem Götzen
geweihte Erwerb (in Wirklichkeit) zu Wege bringt? eo, seil,
quod non profanatus alicui idolo uerbotenus de idolothyto esse
dicatur 1 . Dieselbe gekünstelte Erklärung von eo erheischt auch
Reifferscheid’s Lesung, ohne die in den Worten nondmbus et
Patristische Studien. I.
45
honoribus idolo liegende Schwierigkeit zu beseitigen, welche
Oehler’s Uebersetzungsversuch so recht zur Anschauung bringt.
Mir scheint die deutlichste Spur eines Verderbnisses idolo an
sich zu tragen, das aus der Construction des Satzes herausfällt.
Schreibt man dafür idoli oder idolorum, so bedarf es kaum
mehr einer weiteren Aenderung — denn eo kann nach Ana
logie der von Roensch, Ital. und Vulg. 2 S. 275, gesammelten
Beispiele ein vulgärer Dativ sein, der bei Tertullian allerdings
bis auf das zweifelhafte alio p. 42, 10 weitere Stützen nicht
zu haben scheint —- ,um das von AB Gebotene zu verstehen:
quid? minus est inquinamenti eo (= ei), quem praestat quaestus
et nominibus et honoribus idolo(rum) nuncupatus? Zu quem prae-
stat ist idololatran aus dem vorausgehenden Satz zu ergänzen.
,Wie, ist jener weniger befleckt, welchen der dem Namen und
der Ehre der Götzen geweihte Erwerb zum Götzendiener macht?'
Vgl. de spect. c. 17, p. 19, 16 cur, quae ore prolata communi-
cant hominem, ea per aures et oc.ulos admissa, non uideantur lio-
minem communicare, cum spiritui appareant aures et oculi nec
possit mundus praestari cuius apparitores inquinantur? ad nat. II,
c. 5, p. 102, 19 quo (elementorum temperamento) habitatio ista
mundi drculorum condicionibus foederata praestatur; scorpiace
c. 9, p. 164, 20 si dient’ dixeris, lucis rem ostendisti, quae diem
praestat; Cypr. de pudic. c. 2, p. 14, 21 ubi ecclesia — uirgo
praestetur.
c. 9, p. 38, 28. Das Verdienst, das die Weisen des
Morgenlandes um Christus sich erworben haben, können die
Astrologen von heute nicht für sich in Anspruch nehmen.
Die Weisheit jener hat mit Christus aufgehört; sie sind von
Gott selbst auf eine neue Bahn und zur wahren Lehre geführt
worden: quod igitur isdem magis somnium sine dubio ex dei
uoluntate suggessit, ut irent in sua, sed alia, non qua uenerant,
uia, id est, ne pristina secta sua incederent, non, ne illos Herodes
persequeretur, qui nec persecutus est, etiam ignorans alia uia di-
gressos, quoniam et qua uenerant ignorabat, adeo uiam sectam
(sectam Junius, rectam AB) et disciplinam intellegere debemus.
itaque magis praeceptum, ut exinde aliter incederent. Diese
Interpunction verdunkelt den Sinn der Stelle und macht das
46
VI. Abhandlung: v. Hartei.
Wort secta zum Gegenstand einer Erklärung, die hier nicht am
Platze ist und um so wunderlicher wäre, als der Satz ne pristina
secta incederent vorausgeht, welcher als eine durch id est auf
alia zu beziehende Umschreibung dann nur ne uiam pristinam
suam secarent bedeuten könnte. Die Sache würde nicht besser,
wenn wir das zweite sectam wie das erste als Participium von
secare verstünden, ,daher müssen wir den gemachten Weg auch
als Lehre verstehen/ weil et dabei falsch, adeo an der Spitze
des Hauptsatzes auffällig und wie in dem anderen Falle ne
pristina secta sua incederent nach alia non qua uenerant uia
eine ganz läppische Ausführung wäre. Wenn Tertullian durch
non ne illos Her ödes persequeretur sagt, was der Traum nicht
bezweckte, wird er auch gesagt haben, was seine Absicht war.
Das fehlt in der vorliegenden Fassung. Daher ist id est Haupt
satz und zu schreiben: id est, ne (in) pristina secta sua ince
derent. ,Das will sagen, sie sollten nicht in ihrer alten Lehre
als Astrologen wandeln'. Mit adeo uiam rectam — diese Les
art ist nicht aufzugeben — et disciplinam intellegere debemus
beginnt ein neuer Satz: ,daher müssen wir (unter dem neuen
Weg, den sie betreten sollten) den wahren Weg und Glauben
verstehen'.
c. 10, p. 40, 16. Tertullian gesteht zu, dass die profane
Literatur ein nothwendiges Bildungsmittel und selbst für den
Betrieb der studia diuina unerlässlich sei: uideamus igitur ne-
cessitatem litterätoriae eruditionis, respiciamus ex parte eam ad-
mitti non posse, ex parte uitari. Reifferscheid tilgte non. Allein
dieser Satz fasst das Vorausgehende zusammen: dieser Unter
richt kann im Hinblick auf die Gefahren der Idololatrie nicht
zugelassen, aber in Anbetracht der Nothwendigkeit allgemeiner
Bildung doch nicht vermieden werden. Es ist demnach non
posse zu uitari zu ergänzen. Man mag das hart finden, aber
der Grad der Plärte bleibt derselbe, wenn wir bei Reifferscheid’s
Lesung posse ergänzen. Das aber müssen wir, wenn wir nicht in
uitari die Bedeutung von uitandam esse legen wollen, die dieser
Infinitiv nicht hat. — An diesen Gedanken schliesst sich die
weitere Ausführung, dass es zulässiger sei, die profane Literatur
zu lernen als sie zu lehren: fideles magis discere quam, docere
Patristische Studien. I.
47
litteras capit; diuersa est enim ratio discendi et docendi. Der
Unterricht über Götterlehre befleckt vielfach den Lehrer: at
cum fidelis liaec discit, si iam sapit quid (quid Oehler und Reiffer
scheid, qui AB) sit, neque recipit neque admittit, multo magis,
si nondum (nondum AB, dudum Rigaltius und Reifferscheid)
sapit. aut ubi coeperit sapere, prius sapiat oportet quod prius
didicit id est de deo et fide. proinde illa respuet nec recipiet et
erit tarn tutus, quam qui sciens uenenum ab ignaro accipit nec
bibit. Die übliche Interpunction verdunkelt den klaren Ge
danken und liess zudem Rigaltius’ Conjectur dudum für nondum
Billigung finden, welche den scharfen Gegensatz si iam sapit
und si nondum sapit, der allein passend ist, aufliebt. Der Satz
aber aut ubi coeperit discere prius sapiat oportet quod prius didicit
id est de deo et fide enthält dann geradezu etwas Verkehrtes,
und vergeblich suchte hier Scaliger durch seinen gewaltsamen
Vorschlag prius sapit quod. prius didicit zu helfen; denn er kann
wegen des Zusatzes id est de deo et fide nicht, was sonst nahe
läge, begründen wollen, dass es für jenen qui coeperit sapere
besonders gefährlich sei, in die heidnische Literatur eingeführt
zu werden und heidnische Ansichten in sich aufzunehmen. Man
erwartete vielmehr: prius didicerit quod. prius sapiat oportet..
Offenbar sind die Sätze so zu verbinden und zu erklären: at
cum fidelis liaec discit, si iam sapit quid sit, neque recipit neque
admittit, multo magis (sc. neque recipit. neque admittit), si nondum.
sapit aut. tibi coeperit sapere. prius sapiat oportet quod prius
didicit. Eine ähnliche Ergänzung fordern die Worte c. 12,
p. 43, 25: didicit non respicere uit.am, quanto magis (sc. non
respicere) uictum, wie denn keine Ellipse häufiger ist als die bei
quanto magis. Vgl. de spectac. c. 3, p. 5, 10 si enim tune
paucidos Iudaeos impiorum eoncilium uocauit, quanto magis tantum
conuentwn ethnici populi? ib. c. 23, p. 23, 24 qui. omnem simili-
tudinem uet.at. fieri., quanto magis imaginis suae; ad nat. II, c. 8,
p. 108, 12 cum Uli — excidant probat.ioni uerae diuinitatis, quanto
magis illi? Der Sinn ist also: der gläubige Christ darf sich lernend
mit heidnischer Literatur beschäftigen, indem er das Verwerf
liche und Sündhafte an ihr entweder klar erkannt hat oder
noch nicht erkannt hat oder zu erkennen angefangen hat. In
keinem dieser drei Fälle setzt er sich einer Gefahr aus oder
lädt eine Schuld auf sich. Denn als fidelis muss er früher ein
m
48
VI. Abhandlung: v. Hart el.
Bewusstsein von dem haben, was er früher gelernt hat, d. i.
von Gott und seinem Glauben: proinde illa respuet nec recipiet
et erit tarn, tutus, quam qui sciens uenemnn ab ignaro accipit nec
Mbit. Warum aber in diesem Vergleich ab ignaro? Wozu
dieser Zug, hinter welchem man etwas suchen müsste und
doch nichts findet? Wer sieht nicht, dass dafür aut ignarus
gefordert wird? sciens ist der Christ, si iam sapit quid sit,. hin
gegen ignarus der Christ, si nondum sapit aut ubi coeperit sa-
pere. Der sciens und der ignarus lassen sich das Gift zwar
geben, nehmen es aber nicht in sich auf. Der ursprüngliche
Fehler, dürfte sich aber auf einen Buchstaben beschränkt haben,
indem an zu ab, wie p. 74, 9 an aliud zu abaliud, wurde und
dann nothwendig ignaro nach sich zog. Ich vermag allerdings
sciens uenenum an ignarus nicht durch ein gleiches Beispiel zu
belegen; allein es finden sich stärkere Ellipsen der Art als die
hier anzunehmende: nihil refert sciens an ignarus; so z. B. ad
nat. II, c. 7, p. 107, 5 ridendum an irascendum sit (erg. nescio),
tales deos credi quales liomines esse non debeant; de baptismo
c. 6, p. 206, 15 non (erg. dico) quod in aquis spiritum sanctum
consequamur, sed in aqua emundati sub angelo spiritui sancto prae-
paramur.
c. 11, p. 41, 9. Begierde und Lüge sind die Wurzel,
aus welcher der Waarenhandel entspringt, und insoweit er von
jenen nicht frei ist, berührt er sich nach den Worten des
Apostels mit der Idololatrie. Die diesen Gedanken entwickelnden
Worte sind nach meiner Ansicht mit einem kleinen Fehler
überliefert, sonst aber verständlich, wenn sie richtig inter-
pungiert werden: De generationibus si cetera delictorum recogitemw,
inprimis cupiditatem radicem omniurn malorum, qua quidam irre-
titi circa fidem naufragium sunt passi, cum bis et idololatria ab
eodem apostolo dicta sit cupiditns, tum mendaciwn cupiditatis
ministrum (taceo de periurio, quando ne iurare quidem licet),
(nec) negotiatio seruo dei apta est. ceterum si cupiditas abscedat,
quae est causa adquirendi, cessante causa adquirendi non erit
necessitas negotiandi. Reifferscheid und andere hielten den An
fang des Satzes für verdorben; er vermuthet de generalibus
rationibus, Latinius de grauioribus, Heraldus de negotiationibus,
Patristische Studien. I.
49
Ursinus de negotiatione uero. Ferner werden von den Heraus
gebern die beiden Sätze als Fragesätze gefasst: negotiatio seruo
dei apta est? ceterum si cupiditas abscedat, quae est causa ad-
quirmdi? Jede dieser Conjecturen ist schlechter und dunkler
als die überlieferte Lesart. Von den beiden Fragen aber lässt
die erste, ohne jede ihren Sinn andeutende Partikel eingefükrt,
sich in ihrer richtigen Beantwortung nur errathen, die zweite, an
sich klar, erfährt eine weitschweifige Ausführung (cessante—
negotiandi). Der Autor sagt: wenn wir die noch übrigen
sündhaften Handlungen nach ihren Ursprüngen und Motiven
(— secundum generationes) erwägen, wenn wir vor Allem er
wägen, dass die Begierde die Wurzel alles Bösen, dann dass
die Lüge die Dienerin der Begierde sei — der Meineid kann
übergangen werden, da den Christen auch nur zu schwören
verboten ist —, so ist selbst Handelserwerb dem Diener Gottes
nicht angemessen; aber es wird auch, wenn die Begierde
entfällt, welche das Motiv des Erwerbens ist, ein zwingender
Grund Handel zu treiben nicht vorhanden sein. Das von mir
eingesetzte nec wird aber auch durch das vorausgehende cetera
delictorum empfohlen; denn es wird von Tertullian aus der
Zahl der noch nicht erörterten Delicte nur eines mehr, die
negotiatio, herausgegriffen und näher untersucht. — Mag auch
manche Art des Handels, von Begierde und Lüge frei sein
(sit nunc aliqua iustitia quaestus secura de cupiditatis et men-
dacii. obseruatione), jedenfalls ist der Handel mit Sachen, welche
dem heidnischen Cult dienen, verbrecherisch p. 41, 20: uiderint,
si eaedem merces, tura dico et cetera peregrinitatis (ad add. Ur
sinus, Reifferscheid) sacrißcium idolorum etiam hominibus ad
pigmenta medicinalia, nobis quoque insuper ad solacia sepulturae
usui sunt, certe cum pompae, cum sacerdotia, cum sacrificia —
instruuntur, quid aliud quam procurator idolorum demonstraris?
Oehler übersetzt diese Worte so: ,Mögen sie Zusehen (wie sie
sich vertheidigen) wenn dieselben Waaren, ich meine Weih
rauch und anderes der Fremde als Opfer der Götzen auch
den Menschen als heilsame Spezerei, uns (Christen) auch noch
überdies zu Leistungen des Begräbnisses dient'. Auch hier
liess die unrichtige Interpunction Oehler zu einem so schiefen
Gedanken gelangen, der zudem verkehrt und unklar aus
gedrückt wäre. Interpungieren wir: uiderint, si eaedem merces
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 6. Abh. 4
50
VI. Abhandlung: v. Hartei.
— tura dico et cetera peregrinationis, sacrificium idolorum (— quae
idolis sacrificari solent) — etiam hominibus ad, pigmenta medi-
cinalia, nobis quoque insuper ad solacia sepulturae usui sunt, so
ist der Sinn: es mögen immerhin dieselben Waaren, Weih
rauch und andere Gegenstände aus der Fremde, welche man
heim Opfer darbringt, auch den Menschen zur Anfertigung
von Heilmitteln, uns Christen aber auch zur Besorgung des
Begräbnisses dienen, also auch eine unschuldige Verwendung
gestatten: sicherlich erscheinst du, wenn Festzüge und andere
gottesdientliche Feiern aus welcher Veranlassung immer ver
anstaltet werden, als Geschäftsmann im Dienste der Idole.
Denn, wie es zum Schluss dieser Betrachtung heisst, p. 42, 26,
nulla igitur ars, nidla professio, nulla negotiatio, quae quid aut
instruendis aut formandis idolis administrat, carere poterit titulo
idololatriae. Wäre ad sacrificium überliefert, so wäre es viel
leicht zu halten, obwohl dadurch die Beziehung der zusammen
gehörigen Glieder ad pigmenta und ad solacia etwas verdunkelt
würde; aber sacrificium idolorum ist, als Apposition zu tura et
cetera peregrinationis gestellt, um vieles wirkungsvoller. Und
solche rhetorisch wirksame Verwendung der Apposition liebt
Tertullian. Vgl. die früher besprochene Stelle c. 7, p. 36, 14
Christianum attollere ad deum patrem manus, matres idolorum;
ib. c. 18, p. 51, 26 poterit et pueris praetexta concedi et puellis
stola, natiuitatis insignia, non potestatis; ad nat. I, c. 18, p. 90, 9
tormenta midier Attica fatigauit tyranno negans, postremo ne ce-
deret corpus et sexus, linguam suam pastam expuit, totum era-
dicatae confiessionis ministenum; Apolog. c. 5 (p. 131, 7) temp-
tauerat et Domitianus, partio Neronis de crudelitate; ib. c. 7
(p. 139, 3) fama, nomen incerti, locum non habet ubi certum est;
c. 30 (p. 234, 1) offero ei orationem, non grana turis, Arabicae
arboris lacrimas; c. 35 (p. 247, 2) qui nunc scelestarum partium
socii ant plausores reuelantur, post uindemiam parricidarum race-
matio superstes.
c. 14, p. 46, 15. ubi est commercium uitae, quod apostolus
concedit, ibi peccare, quod nemo permittit. Reifferscheid nimmt
vor peccare eine Lücke an; aber der Ausdruck ist vollständig:
wo es Lebensverkehr gibt, welchen der Apostel einräumt, da
Patristische Studien. I.
51
giebt es Gelegenheit zur Sünde, die Niemand gestattet. Es ist
also <ist zu ergänzen; solche Verbindungen wie est peccare —
peecari potest sind aber bei Tertullian nicht selten; vgl. de orat.
c. 25, p. 197, 17 quas (horas) sollemniores in scripturis inuenire
est; de testim. animae c. 5, p. 140, 24 in te est aestimare de
ea quae in te est; de corona c. 10 (p. 439 Oehler) per haec
enim floribus frui est und Oehler zu ad nat. II, c. 3, p. 354b;
Beispiele für scire est bei M. Klussmann curarum Tert. p. 69.
c. 18, p. 51, 21. In Babylon und Aegypten wurde der
Purpur als Auszeichnung den Freunden der Könige verliehen,
ohne dass der damit Ausgezeichnete eine gottesdienstliche
Handlung zu verrichten hatte: simplex igitur purpura illa nec
iam dignitatis (erg. sacerdotalis) erat, sed ingenuitatis apud bar-
baros insigne; quodammodo (cjuemadmodum Pamelius) enim et
Ioseph, qui seruus fuerat, et Daniel, qui per captiuitatem statum
uerterat, ciuitatem Babyloniam et Aegypliam sunt consecuti per
habitum barbaricae ingenuitatis. sic penes nos quoque fideles, si
necesse fuerit, poterit et pueris praetexta concedi et puellis stola,
natiuitatis insignia, non potestatis. Durch die von Reifferscheid
u. a. aufgenommene Conjectur quemadmodum, welche den letzten
Satz mit dem vorausgehenden zu verbinden zwingt (quemad
modum — sunt censecuti —, sic penes nos — poterit), wird der
Gang der Betrachtung gestört; denn die Erlaubniss, die Prä-
texta und Stola zu tragen, ist kein Beweis dafür, dass auch
Daniel und Josef das ihnen verliehene Abzeichen tragen durften.
Wohl aber wird daraus, dass sie gewissermassen (quodammodo)
durch dieses aus Unfreien zu Bürgern wurden, ohne sich
durch das Tragen desselben zu beflecken, gefolgert (sic penes
nos quoque), dass Gleiches auch den fideles gestattet sein
wird. Zuerst war festzustellen, inwieweit das Vorbild von
David und Josef, auf welches man sich berief (p. 52, 8 qui
de Ioseph et Daniel argumentaris), etwas beweisen könne,
und das liess sich nicht in einem vergleichenden Nebensatz
so nebenbei abthun. Die folgenden Worte sind durch einen
Fehler entstellt und so zu verbessern: ceterum purpura uel
cetera insignia dignitatum, et potestatum inserta (insertae AB)
dignitati et potestatibus idololatriae ab initio dicata, habent pro-
4*
52
VI. Abhandlung: v. Hartei.
fanationis suae macidam. Was insertae dignitati (idololatriae)
sein sollte, ist mir unverständlich. Durch inserta erhalten
wir aber zwei Merkmale der Befleckung, welche an den übrigen
Abzeichen haftet; sie dienen zur Auszeichnung sowohl heid
nischer Würden wie auch der Priesterämter (potestatibus idolo
latriae). Auf das erstere war aber im Eingänge dieses Ca-
pitels bereits hingewiesen worden, indem die Abzeichen als
insignia dignitatis verpönt erscheinen.
р. 52, 10. Aber auch jenes Vorbild von Josef und David
erfährt noch eine Beschränkung, indem nicht immer Altes und
Neues vergleichbar ist: nam illi etiam condicione serui erant,
tu uero seruus nullius, in quantum solius Christi. So schreibt
man mit B; A lässt seruus aus und bietet inquilinatum für
in quantum. Dahinter ist nichts weiter zu suchen, indem solcher
bedeutungsloser Silbeneinschub gar nicht selten in A ist; vgl.
p. 32, 26 fi[gu]lo, 64, 27 sedu[ti]litatis, 68, 10 dis[d]p[ljkere,
77, 5 stip[it]ibus, 78, 5 quot[un]usquisque, 81, 8 sangu[in]is,
84, 13 po[te]st, 92, 1 reci[pi]pro[uo]catione. Die Ellipse von
seruus macht aber die Rede kräftiger.
с. 20, p. 54, 11 ist in der Stelle aus Exod. 23, 13: nomen
aliorum deorum ne commemoremini (Wt cvsp.rz 0suv etspiov oü-/.
avap.vYjsörjueaöc) neque audiatur de tuo ore, das Verbum comme
moremini, wofür Reifferscheid comminiscamini einsetzen wollte,
richtig überliefert. Dasselbe steht für meminisse nicht selten
(vgl. Roensch a. a. 0. S. 353), mit Accusativ u. a. Baruch 3, 23
neque commemorati sunt semitas.
c. 22, p. 55, 24. si cui dedero eleemosynam uel aliquid
praestitero beneßcii, et ille mihi deos suos uel coloniae genium
propitios imprecetur, iam oblatio mea uel operatio idololorum
honor erit, per quae (quem per Reifferscheid) benedictionis gra-
tiam compensat. Es ist kein Grund die Lesart von B — A
fehlt uns für die letzten Capitel dieser Schrift — anzutasten.
Die Danksagung erfolgt durch die Nennung der idola, welche
auf diese Weise eine Anerkennung und Ehrung empfangen.
Im Gegentheil müsste die Phrase quem (honorem) compensat
Patristische Studien. I.
53
für pronuntiat oder ein ähnliches Verbum auffällig erscheinen.
— Ebenso muss ich in den folgenden Zeilen (29 sq.) die Ueber-
lieferung vertheidigen: si deus uidet, quoniam propter ipsurn
feci, pariter uidet, quoniam propter ipsurn fecisse me nolui osten-
dere, et (et contra Reifferscheid) praeceptum eins idolothytum
quodammodo feci. Derjenige, welcher von mir eine Wohlthat
empfängt, soll wissen, dass ich dies um Gottes willen thue und
seinem Gebote dadurch nachkomme. Thue ich das nicht
oder nehme ich eine heidnische Danksagung entgegen, dann
habe ich sein Gebot gewissermassen zu einem Götzenopfer
gemacht.
c. 23, p. 56, 10. Gegen jene Christen, welche beim
Abschluss eines beeideten Schuldvertrages nicht geschworen
zu haben Vorgaben, weil sie die Eidesformel nicht aussprachen,
sondern nur unterschrieben, wird bemerkt: pecuniam de ethnicis
mutuantes sub pignoribus fiduciati vurati cauent et se negant (so
Gelenius, necant B); se scire uolunt scilicet tempus persecutionis
ei locus tribunalis et persona praesidis. Die versuchten Erklä
rungen der dunklen Worte vermögen nicht zu befriedigen.
W as Oehler nach Rigaltius’ Vorgang in ihnen findet: negant illi
se iuratos cauisse. quasi uero, inquit tempore persecutionis iudi-
ciariae hoc scire uelint tribunal et praeses, utrum ille in quem
persecutio de pecunia reddenda instituta est, cum caueret, iurasse
sibi conscius esse uelit necne. siue iurauerit siue iurasse se lieget,
non curant, kann man nicht ohne Gewaltsamkeit daraus ent
nehmen. Das Subject tempus persecutionis, dem ein Bewusst
sein zugeschrieben wird, muss sich dabei die Verwandlung in
einen Ablativus der Zeit gefallen lassen, das auffällige scilicet
wird umgangen, die beispiellose Construction und Phrase se
scire uolunt für einfaches sciunt hingenommen. Man begreift,
dass Gelenius se tilgte, das ich durch die Schreibung sed nicht
glücklicher zu retten suchte; dass Reifferscheid zu einem weit
radicaleren Eingriff sich entschloss se sciri nolunt, scitur tempus.
Ich glaube jetzt der Stelle durch ein milderes Mittel aufhelfen
zu können: iurati cauent, etsi negant se scire; uolunt scilicet,
d. h. sie schliessen den Vertrag unter Eid, obgleich sie leugnen
es mit Bewusstsein zu thun; das (— iurari) verlangt nämlich
54
VI. Abhandlung: v. Hartei.
so die Zeit der gerichtlichen Verfolgung, der Gerichtshof und der
Richter, indem eine Verfolgung von Contracten ohne eine
auf diese drei Punkte sich beziehende Eidesformel nicht als ge
sichert gelten kann. Dieser Einwand, welcher das iurati cauent
entschuldigen soll, wird kurz abgethan: praescribit Christus non
esse iurandum; ausführlich wird auf den zweiten etsi negant se
scire eingegangen 1. 14: hic ego naturam et conscientiam aduoco:
naturam, quia nihil potest manus scribere, etiamsi lingua in dic-
tando cessat immobilis et guieta, quod non anima dictauerit;
quam quam, et ipsi linguae anima dictauerit aut a se conceptum
aut ab alio traditum. Mit dem Satz quamquam weiss ich nichts
anzufangen und kenne auch keinen befriedigenden Erklärungs
versuch. Der klare Sinn lässt aber leicht eine sichere Ver
besserung finden. Die Hand vermag nichts zu schreiben, wenn
auch die Zunge, welche sonst zwischen der Seele und Hand
vermittelt, ruht, was nicht die Seele dictiert. Wenn auch die
Hand nur schreibt, so ist es doch wie wenn die Seele der
Zunge selbst dietierte. Es wird demnach tamquam für quam
quam zu schreiben sein. — Alle Einwände sind nichtig 1. 25:
cauisti igitur, quod in cor' tuum plane ascendit, quod neque igno-
rasse te contendere potes neque noluisse. nam cum caueres, scisti,
cum, seines, utique uoluisti; et est (et es Gelenius, et haeres Lati-
nius, egisti Oehler) tarn facto quam cogitatu. Die prägnante
Bedeutung von est (vgl. die Bemerkungen zu de spect. c. 7,
p. 9, 10 quaeuis idololatria est censu criminis sui) ist hier
durchaus am Platze und um vieles passender, als die gemachten
Conjecturen. Zu est ist dasselbe als Subject zu denken, das
als Object in den vorausgehenden Sätzen fungiert, also der
Inhalt des Vertrages. Dieser besteht ebenso durch deine Rechts
handlung (facto), wie durch deine Rechtsabsicht (cogitatu).
— Es heisst weiter: nee potes leuiore crimine maius excludere,
ut dicas falsum plane effici cauendo quod non facis .tarnen (facis .
tarnen Gelenius, facit tarnen B) non negaui, quia non iuraui. quin
immo (quin immo Reifferscheid, immo Gelenius, quoniam B), et st,
nihil tale fecisses, sic tarnen dicereris deierare, fecisse si consenseris.
Oehler hat die Stelle nicht verstanden, wenn er erklärt: leuius
crimen est iurare, maius negare dominum Christum, und macht
auch keinen Versuch dem dunklen tarnen Licht zu geben.
Das leichtere Verbrechen ist offenbar das scribere, das schwerere
Patristisclie Stadien. I.
55
das iurare oder das iuratum cauere, wie auch die Entschuldigung
früher lautete 1. 13: scripsi, inquit., sed nihil dixi. Auf die
Worte: ,Du kannst auch nicht durch das Eingeständniss des
leichteren Verbrechens das schwerere entkräften, indem du
sagst, dieses werde hinfällig, weil du es bei der Abschliessung
des Vertrages nicht begehst' antwortet der Angeklagte: ,das
mag sein, wenigstens aber habe ich nicht geleugnet, weil ich
nicht geschworen habe/ Diese Zwischenrede macht es un
möglich, das überlieferte quoniam zu halten, welches sich nur
unmittelbar an quod non facis oder etwa an quod non facis (et
dicis) ,non negaui, quia non iuraui‘ anschliessen könnte. In
quoniam dürfte aber nicht quin immo, sondern quinam? stecken.
Was aber tarnen betrifft, so haben wir zu c. 10, p. 39, 28 quin
ludi magister sine tabida VII idolorum? Quinquatria tarnen fre-
quentabit die hier angenommene Bedeutung festgestellt.
p. 57, 4 ist mit Aenderung eines Buchstabens zu lesen:
at enim Zacharias temporali uocis orbatione multatus cum animo
conlocutus linguam irritam transit; nani (eam B, cum Oehler,
iam Reifferscheid, om. Gelenius) manibus suis a corde dictat, et
nomen filii sine ore pronuntiat.
c. 24, p. hl, 25. Spiritus sanctus consultantibus tune
apostolis uinculum et iugum nobis relaxauit, ut idololatriae
deuitandae uacaremus. haec erit lex nostra, quo expedita hoc
plenius administranda, propria Christianorum, per quam ab ethnicis
agnoscimur. Wie Tertullian quam für potius (magis) quam
gebraucht, ebenso tanto — quanto, wie z. B. ad nat. I, c. 7,
р. 68, 15 quanto enim pvoni ad militiam, tanto ad mali fidem
oportuni estis; ib. c. 12, p. 83, 8 quantoque genus censetur origine,
tanto origo conuenitur in genere; ib. II, c. 9, p. 112, 2 quod
telum quantum uulgare atque caninum, tanto ignobile uulnus;
ib. c. 12, p. 116, 15 quanto diffusa res est, tanto substringenda
nobis est (vgl. Gothofredus, notae p. 86 und Oehler, de testimon.
animae c. 1, p. 401). Nach der Analogie dieser Fälle könnte
auch quo expedita gerechtfertigt erscheinen, wenn nicht Ter
tullian mit eo gerade quod correspondieren Hesse: ad nat. I,
с. 7, p. 69, 13 quod (quo Gothofredus) plures, hoc pluribus
odiosi; ib. c. 10, p. 76, 18 essent quidem. tolerabüiora eiusmodi
56
VI. Abhandlung: V. Hartei. Patristische Studien. I.
contumaciae sacrilegia, nisi quod eo iam cöntumeliosiora quod
modica; ib. c. 15, p. 85, 15 atquin hoc asperius, quod frigore et
fame aut bestiis obidtis aut longiore in aquis morte summergitis.
Auch derartige Sätze begegnen nicht selten, wie ad nat. I,
c. 4, p. 64, 11 apud uos eo minus sapiens, quid deos abnuens.
p. 58, 4. uiderimus (uidebimus Reifferscheid) enim si se-
cundum arcae typum et coruus et miluus et lupus et canis et
serpens in ecclesia erit; certe idololatres in arcae typo non habetur.
Mit Unrecht hat Reifferscheid uiderimus angezweifelt, wenn
auch bei Tertullian und Cyprian, wie früher gezeigt wurde,
nur die beiden Formen uiderit und uiderint fast ausschliesslich
in diesen formelhaften Verbindungen Vorkommen. Aber wir
finden doch auch uiderimus in unverkennbar concessiver Be
deutung ad nat. I, c. 7, p. 70, 23: uiderimus de fide istorum,
dum suo loco digeruntur; interim credite quemadmodum nos (d. li.
mag es wie immer mit dem Glauben dieser stehen), sowie
bei Cyprian einmal uideris: p. 425,2 uideris quam sis eis in-
sidiosus, nullius magis quam tuae salutis inimicus es.
VlI.AMi.: L. V. Rockinget. Ber. über Sandschr. 4. sog. Schwabenspiegels. XII. 1
VII.
Berichte über die Untersuchung von Handschriften
des sogenannten Schwabenspiegels.
Fon
Dr. Ludwig Ritter von Rockinger.
XII.
Oie alphabetischen Nachweise über die Handschriften wie
Handschriftenreste des kaiserlichen Land- und Lehenrechts
haben im Bande CXVHI, Abh. X, S. 25—70, im Bande CXIX,
Abh. VIII, S. 1—54 und Abh. X, S. 1—62, im Bande CXX,
Abh. IV, S. 1—46 bis zu dem in München befindlichen reichen
Schatze Aufnahme gefunden. Da eine Zerstückelung dieses
sich nicht empfehlen wollte, bildet seine Berücksichtigung den
Hauptinhalt des gegenwärtigen Berichtes, welcher dann noch
den Rest des Buchstabens M einschliesst.
Was gerade von den Handschriften und Bruchstücken
von solchen in München die auf der königl. Hof- und Staats
bibliothek anlangt, kann bei denjenigen welche sich bereits bis
zum Jahre 1840 daselbst befanden eine nur kurze Fassung
genügen, da Freiherr v. Lassberg sich hierüber in dem seiner
Ausgabe des sogenannten Schwabenspiegels vorangestellten
Verzeichnisse auf Grund von ausführlichen Mittheilungen un
seres Schmeller zum Theil weitläufig verbreitet hat, wie aus
den je an den betreffenden Orten angeführten Nummern jenes
Verzeichnisses ersichtlich ist.
229**.
München, Bibliothek der historischen Classe der königl.
Akademie der Wissenschaften. Zwei Bruchstücke einer sehr
Sitzungsb. d. phil.-hißt. CI, CXX. Rd. 7. Abh. 1
2
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
schönen Pergamenthandschrift des sogen. Schwabenspiegels aus
der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts in Folio, zweispaltig in
je 37 Zeilen gefertigt, mit rothen Ueberschriften der Artikel
und rothen Anfangsbuchstaben derselben, von einem Bücher
einbande in Dillingen abgelöst, vom Domprobste Dr. Anton
v. Steichele zu Augsburg 1 im Sommer des Jahres 1875 dem
Akademiker Dr. Ludwig Rockinger geschenkt, und von diesem
vor einiger Zeit dem jetzigen Aufenthaltsorte zugewiesen.
Die Bruchstücke gehören dem Lehenrechte an. Das
eine Blatt, der Schluss der achtzehnten Lage der Handschrift,
enthält die zweite Hälfte des Art. LZ 64 von den Worten
,ge,wer hant an dem gvte vnd ez mit ein ander enphangen
habent, vnd stirbet der vater, si tretent an des vater stat' an
gefangen, 65, 66, 67, 68, 69. Der Rest des anderen Blattes,
etwa ein Viertel umfassend, in zwei Theile zerschnitten, so
dass von der zweiten Spalte äusserst wenig erhalten ist, bietet
den Schluss von Art. LZ 142 ohne den Satz von dem Thor-
wartel mit 143a und 144b als einen Artikel, Reste von 146,
von 147 a und b, endlich von 148 b und ohne Scheidung eines
besonderen Artikels 149 a.
230**.
München, ebendort. Zwei Blätter einer Pergamenthand
schrift unseres Rechtsbuches aus der ersten Hälfte des 14. Jahr
hunderts in Quart, zweispaltig in je 28 Zeilen mit rothen
Ueberschriften der Artikel und leeren Räumen für deren An
fangsbuchstaben, wovon das eine ganz und das andere oben
wie am Seitenrande beschnitten, am 7. Juli 1868 von Prof.
Dr. v. Zahn in Graz, jetzt Landesarchivar der Steiermark dem
Akademiker Dr. Ludwig Rockinger geschenkt, und von diesem
vor einiger Zeit der Bibliothek seiner Classe zugestellt.
Das letztere Blatt enthält das Vorwort des Landrechts LZ
von den Worten gegen den Schluss ,daz ist auch von got billeich
vnt reht, swer den gebot' angefangen, mit einem kleinen Aus
fälle gegen das Ende von c und einem dergleichen gegen den
Schluss von e, bis an das Ende von g: der ainz vnt zwaintzich
iar alt ist, der sol daz vogttaidinch suechen in dem pistum da
1 Als Erzbischof von München-Freislng am 9. Oktober 1889 zu München
verstorben.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
3
er inne ist gesezzen oder in dem gerillte da er gut inne. Das
vollständige Blatt gibt vom Art. 6 = LZ 5a noch die Schluss
worte : seinen prüdem oder swestern. Dann folgen ganz
Art. 7 = LZ 5b, 8 = LZ 5c, 9 = LZ 6 und 7, endlich
10 = LZ 8 bis zu den Worten: pei ainem andern manne,
weder der man noch daz weip gelten niht des.
231**.
München, ebendaselbst. Oben zugeschnittenes Doppel
blatt mit noch 30—32 Zeilen einer Pergamenthandschrift des
sogen. Schwabenspiegels aus dem Ende des 14. oder Anfang
des 15. Jahrhunderts in Folio, zweispaltig mit rothen Ueber-
schriften der Artikel und leer gelassenen Räumen für deren
Anfangsbuchstaben, wovon das eine Blatt nur mehr eine Spalte
enthält, früher als Einband eines Taufbuches irgendwo —
vielleicht in der Steiermark — benützt, am 13. Juni 1868
wieder von dem nunmehrigen Landesarchivar Prof. Dr. v.
Zahn in Graz dem Berichterstatter geschenkt und von diesem
vor einiger Zeit wieder der Bibliothek seiner Classe überwiesen.
Den Inhalt bilden die Art. 149 = LZ 214, 150 = LZ
215, 152 = LZ 220, 153 = LZ 221, 154 = LZ 222, 155 =
LZ 223 und 224, 156 = LZ 225 und 226 des Landrechts.
232***.
München, ebendort. Eine Abschrift der Nr. 256
stellte der Abt Maurus des Benediktinerstiftes Asbach in Nieder-
baiern in der ersten Hälfte der Seckzigerjahre des vorigen
Jahrhunderts der historischen Classe der jüngst gestifteten
Akademie der Wissenschaften, deren Ehrenmitglied er ge
wesen, zur Verfügung. Vgl. die Vorrede zu den Monumenta
Asbacensia im Bande V der Monumenta boica S. 103.
Vielleicht liegt sie dem Abdrucke des Max Prokop Frei
herrn von Freyberg-Eisenberg in seiner Sammlung historischer
Schriften und Urkunden IV S. 505—718 zu Grunde, welcher
vom 7. Dezember .1829 bis 29. März 1842 Secretär der histo
rischen Classe und von da weg bis in den Februar 1848 Prä
sident der Akademie der Wissenschaften gewesen.
[In die Fideicommissbibliothek des gräflichen Hauses
v. Arco-Valley zu München gehört die] Nr. 7.
t
4
VII. Abhandlung: L. v. Rock in ge 1'.
[Dem Augustinerconvente zu München gehörte seit dem
Jahre 1616 die] Nr. 275.
[In Brissel’s Buch- und Antiquariatshandlung zu München
erwarb der Buchhändler und Antiquar Edwin Tross zu Paris
die] Nr. 292.
[Oberbibliothekar Hofrath Heinrich Föringer zu Mün
chen vertauschte an die Hof- und Staatsbibliothek daselbst
die] Nr. 270.
[Aus der Bibliothek des Conventes der Franziskaner zu
München stammt die] Nr. 276.
[Aus dem königlichen geheimen Hausarchive in München
ist seinerzeit in das baierische allgemeine Reichsarchiv abge
geben worden die] Nr. 281.
233.
München, königliches geheimes Hausarchiv, früher in
dessen Bibliothek Nr. 652, jetzt in der Handschriftensammlung,
in Holzdeckel mit rothem Lederüberzuge mit ursprünglich je
fünf Beschlägen und mit zwei Schliessen, wovon schon lange der
Vorderdeckel abhanden gekommen, nach einer Einzeichnung des
16. Jahrhunderts auf dem ersten Blatte des ersten leeren Quin-
ternes dem Doctor beider Rechte M. Johann Gabler 1 zugehörig
gewesen. Auf Papier in Folio zweispaltig von Konrad Welker im
Jahre 1454 beziehungsweise 1458 2 geschrieben, mit rothen
Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben der
selben. Prof. Dr. Johann Michael Söltl, Ludwig der Strenge,
Herzog von Baiern, Pfalzgraf bei Rhein, S. 115, woselbst diese
Handschrift in den Anfang des 16. Jahrhunderts gesetzt ist.
Das Landrecht zerfällt in der gewissermassen syste
matischen Eintheilung, wovon Rockinger in P handelt, in zwei
Bücher, woran sich als das dritte das Lehen recht anreiht.
1 Er hat unter seinem Namen noch bemerkt: Summum jus summa saepe
iniuria est. Terent. in And. Cic. in off. et L si seruum9I § sequi tur ff
de verb. oblig.
Nach dem altbaierischen Pflichtbuche aus dem 16. Jahrhundert im
allgemeinen Reichsarchive in München Fol. 17' hat er am 25. August
1587 den Rathseid geschworen.
2 Nach der rothen Schlussbemerkung: Explicit über per manus Conradus
Welker. Anno domini millesimo quinquagesimo — jetzt stand: quarto,
welches Wort radirt und in der Mitte durchstrichen ist — octauo etc.
Belichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
O
Nach der lateinischen je mit freier deutscher Uebersetzung
begleiteten Vorrede ,Quid est fides? respondetur: fides est
substantia id est fundamentum“ u. s. w. folgt das Artikel-
verzeichniss des ersten Buches von der Uebertragung des Welt
reiches nach Rom bis zum Artikel von der guten Gewohnheit.
Nach einer kurzen wieder lateinischen und deutschen Einleitung-
Uber die Justitia und deren drei Hauptvorschriften aus den
Institutionen folgt der Text selbst unter der rothen Ueber-
schrift ,Hie bebt sich an daz recht als es die pebst kunig
vnd keyser gemacht vnd bestet haben vnd als ir puch sagen'
von Fol. 1—31' gleichzeitiger rother römischer Zählung. Nach
dem Artikelverzeichnisse des zweiten Buches von den Eigen
schaften der Richter bis zur Zauberei unter neuer solcher
Zählung von Fol. 1—39 der Text desselben. Endlich nach
dem Artikelverzeichnisse des Lehenrechts dieses selbst, wieder
mit besonderer Bezeichnung der Folien 1—18.
[Aus der alten herzoglichen beziehungsweise kurfürst
lichen Bibliothek in München wurden im Jahre 1631 zur Aus
wanderung nach Meiningen gezwungen die] Nrn. 221 und 222.
234.
München, königliche Hof- und Staatsbibliothek, Cod.
germ. 21. Auf Pergament in Folio zweispaltig in der ersten
Hälfte des 14. Jahrhunderts mit rothen Ueberschriften der
Artikel und abwechselnd rothen wie blauen Anfangsbuchstaben
derselben gefertigt, nach einer Einzeichnung auf der Innenseite
des Hinterdeckels 1 im 15. Jahrhundert im Besitze eines Grafen
Konrad von Kirchberg, nach einer aus dem 16. Jahrhundert
am oberen Rande des zweiten Blattes ,Bibl. Embs' aus der
besonders durch die beiden Handschriften der Nibelungcn-
dichtung (C) in Donaueschingen und (A) hier genugsam be
kannten Bibliothek zu Hohenems stammend, im ersten Jahr
zehnte unseres Jahrhunderts an den Hofrath Professor M. Schuster
in Prag gelangt, von welchem die Hof- und Staatsbibliothek
hier sie gegen Ueberlassung von Druckwerken erworben hat,
1 Das bvch hvn ich gar vs geleruot bis an ain ent.
Got vns sin segen send.
Es ist war werlich.
Conrar graf zv Kirchberg.
6
"VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
in Holzdeckel mit rosarothem vielfach abgerissenen Lederüber-
zuge gebunden. Scbmeller in den Münchener gelehrten Anzeigen
IV (1837) Nr. 30, Sp. 249. v. Lassberg Nr. 90. Homeyer
Nr. 453.
Von Fol. 1'—8' Sp. 1 reicht das Verzeichniss der 197
Artikel des Lehenrechts und der 439 des Landrechts.
Mit Fol. 9 beginnt unter der rothen Ueberschrift ,Hie hebet sich
an daz Lehen pvech' dieses bis Fol. 37' Sp. 1. Ganz unten
auf dessen Spalte 2 bilden die vier rothen Zeilen: ,Hie hebt
sich an das lant reht puech, wie man umbe ein igelich sache
richten sol swie di gtan sei' den Uebergang zum Landrechte
von Fol. 38—125 Sp. 2, woselbst der lange Artikel LZ 377 II
schliesst, worauf noch roth bemerkt ist: Hie get daz lantrechte
puech auz. amen. amen. Den einzelnen Artikeln sowohl des
Lehen- als auch des Landrechts ist jedesmal die laufende
Zahl gleich nach der Ueberschrift roth beigefügt.
235.
München, ebendort, Cod. germ. 23, aus der alten herzog
lichen (Manuscr. Teutsch. St. 3 N. 18 B) beziehungsweise kur
fürstlichen (mit der Signatur 119, später 159) Bibliothek
stammend, auf Pergament in Folio wohl im ersten Viertel des
14. Jahrhunderts mit rothen Ueberschriften der Artikel ge
fertigt, welchen jedesmal von der gleichen Hand roth die be
treffende Zahl beigesetzt ist, und mit abwechselnd rothen wie
blauen Anfangsbuchstaben derselben, in Holzdeckcl mit gelbem
reich gepresstem Lederüberzuge gebunden. Job. Christof Freih.
v. Aretin, Beiträge zur Geschichte und Literatur vorzüglich
aus den Schätzen der pfalzbaierischen Centralbibliothek zu
München, I Stück 3, S. 94, Nr. 159. Schmeller a. a. O. Sp. 249.
v. Lassberg Nr. 91. Homeyer Nr. 454.
Auf ein Verzeichniss der Artikel des Land- und
Lehenrechts mit je roth er Beifügung der Zahlen von Fol. 1—6
Sp. 1 folgt von Fol. 6 Sp. 2 bis 101' Sp. 2 unter der rothen
Ueberschrift ,Ditz ist daz lant rech puch' das Landrecht
in 368 Artikeln, woran sich unmittelbar unter der rothen
Ueberschrift ,Daz ist daz lehen puech' bis Fol. 128' Sp. 1
das Lehenrecht in 127 Artikeln schliesst.
Berichte über Ilandschrifton de« sog. Soliwabcnspiegels. XII.
7
Daran reiht sich ohne Unterbrechung unter der rothen
Ueberschrift ,Daz sint chunich Rüdolfes saecze di er saezte
cze Wirczpurch czu dem concilio' der Reichslandfriede von
unser Frauen Abend des Jahres 1287 bis Fol. 135 Sp. 2.
Vgl. Rockinger L, woselbst S. 523—547—557 in I das
Verhältniss zum Drucke LZ veranschaulichen.
236.
München, ebendort, Cod. germ. 52. Auf Pergament in
Quart zweispaltig im 14. Jahrhundert ohne Ueberschriften der
Artikel lediglich mit rother römischer Zählung derselben von
wenigstens zwei Händen gefertigt, wovon die erste vom Be
ginne des Landrechts auf Fol. 5' Sp. 1 bis in die Mitte des
Art. 89 auf Fol. 30' Sp. 1 reicht, woselbst mitten im Satze die
zweite das Landrecht bis an den Schluss fortsetzt, während
das Lehenrecht weit kleiner und zierlicher vielleicht von der
letztberührten Hand geschrieben ist, niedersächsisch, aus der
kurpfälzischen Bibliothek zu Mannheim 1 stammend, in neuerem
Pappendeckelbande, Ruck und Eck in braunem Leder. Mitter-
maier, Lehrbuch des deutschen Privatrechts S. 66. Schmeller
a. a. O. Sp. 249. v. Lassberg Nr. 92. Homeyer Nr. 456.
Rockinger X S. 66.
Von Fol. 1—5 Sp. 2 findet sich unter den schwarzen
Ueberschriften ,Hir beghinnet sek dat registrum to dem keyser
rechte' und ,PIir beginnet dat registrum to dem lenrechte' das
Verzeicbniss der Artikel des Landrechts und der des
Lehenrechts, je mit rother Anfügung ihrer Zahlen. Mit der
zweiten Seite des Fol. 5 beginnt das Landrecht in 355 Ar
tikeln bis Fol. 83' Sp. 2, woselbst der lange Art. LZ 377 II
schliesst. Von der zweiten Seite des Fol. 84—103' Sp. 2 reicht
das Lehenrecht in 147 Artikeln.
Von anderer Hand folgen sodann noch bis an den An
fang des Fol. 104 Sp. 1 Bestimmungen' aus dem ,lünebörger
recht'.
237.
München, ebendort, Cod. germ. 53. Auf Pergament in
Quart zweispaltig wohl nicht weit im 14. Jahrhundert in Quin-
1 Vgl. Band CVXI S. 66.
8
VII. Abhandlung: L. v. Rocking er.
ternen gefertigt, welche je auf der zweiten Seite des letzten
Blattes schwarz mit den römischen kleinen Buchstaben von a
angefangen bezeichnet sind, und von deren nunmehr letztem
das letzte Blatt ausgeschnitten ist, mit grösseren farbigen Ini
tialen H und S beim Beginne des Land- und Lehenrechts,
mit rothen Ueberschriften der Artikel, deren Text selbst ab
wechselnd mit rothen und mehr ins Grünliche hinüber gefärbt
blauen Anfangsbuchstaben beginnt. Schmeller a. a. 0. Sp. 250.
v. Lassberg Nr. 93. Homeyer Nr. 457.
Diese Handschrift fängt ohne ein Verzeichniss der Artikel,
welches vielleicht, wie es den Anschein hat, auf einem nicht
besonders gezählt gewesenen Quinterne vorangegangen, aber
jetzt ausgeschnitten ist, sogleich unter der rothen Ueberschrift:
,Hic hebt sich an daz lantreht püch, vnd dar nah van lehe[n]-
reht mercht‘ mit dem Landrechte an von Fol. 1 Sp. 1—118
Sp. 1, an deren Schluss sich die rothe Ueberschrift ,Hie hebt
sich an daz Lehen puche‘ findet, welches unmittelbar auf
Sp. 2 beginnt, und mit den Worten in LZ Art. 78 b ,dise
chlage so diche so des mannes chlage an einen andern herren
ehvmt* auf Fol. 139' Sp. 2 abbricht.
Rockinger H S. 465/466, woselbst dann das Verhältniss
zum Drucke LZ und zu v. Maurer’s Ausgabe des vermeint
lichen Landrechtsbuches des Ruprecht von Freising in der
Spalte I S. 471—488—491 — 501 hervortritt.
238**.
München, ebendort, Cod. germ. 196. Drei Pergament
doppelblätter, vormals Umschläge von Rechnungen — aus den
Jahren 1653, 1655, 1657 —- der dem Hochstifte Regensburg
zugehörig gewesenen Pflege Wörth, wovon das erste Geschenk
des Grafen Hugo von Walderdorff auf Hautzenstein bei Regens
burg, während die beiden letzten schon früher aus dem Be
sitze des Dr. Karl Roth 1 zu München käuflich erworben worden
waren, in zwei Spalten zu je 30 und 32 Zeilen in Folio mit
rothen Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangsbuch
staben derselben in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
gefertigt. Rockinger S S. 448—452.
1 Vgl. Dr. Hyacinth Holland in der ,Allgemeinen deutschen Biographie*
XXIX S. 338/339.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
9
Das erste enthält ein Bruchstück aus dem Buche der
Könige alter Ehe. Vgl. Rockinger a. a. 0. S. 449—452.
Die beiden anderen — in Dr. Karl Roth’s Denkmälern
der deutschen Sprache vom 8. bis zum 14. Jahrhundert S. 96
bis 102 abgedruckt — enthalten Stücke aus dem Lehen
rechte, nämlich die Art. LZ (49b) 50a, 50b -f- 51, 52, 53,
54 a in zwei Artikeln, 54 b desgleichen, 55, 56 -j- (57); dann
(75), 76, 77 + 78 + 79, 80, 81 + 82, 83, 84, 85 a + 85 b.
Vergleicht man hiezu noch die aus der nämlichen Hand
schrift stammenden Reste der Nr. 378, so enthielt sie mit dem
Buche der Könige alter Ehe unser Land- und Lehenrecht.
Die erwähnten Stücke aus dem Lehenrechte sind wohl
dieselben, über welche Dr. Karl Roth in Mone's Anzeiger für
Kunde der deutschen Vorzeit 1837 Sp. 112 unter III die Mit
theilung machte: ,Sechzehn Foliospalten, jede von 30 Zeilen,
auf gelbem schmutzigen Pergament mit grosser Schrift des
14. Jahrhunderts fand ich auf Buchdeckeln und habe sie ab-
gelöstJ
239.
München, ebendort, Cod. germ. 207. Auf Papier in Gross
folioformat zweispaltig im 15. Jahrhundert mit rothen Ueber-
schriften und rothen wie im Land- und Lehenrechte abwechselnd
rothen und blauen Anfangsbuchstaben der Artikel gefertigt,
theilweise am Rande beschädigt und neuerdings ausgebessert,
aus der kurfürstlichen Bibliothek stammend, in neuem Pappen
deckelbande, Ruck und Eck in braunem Leder. Am oberen
Rande der Spalte 2 des ersten Blattes steht schwarz: Nr. 18a.
v. Aretin a. a. O. I Stück 3, S. 96, Nr. 309. Schmeller a. a. O.
Sp. 250. v. Lassberg Nr. 94. Homeyer Nr. 458.
Mit Fol. 1 beginnt unter der rothen Ueberschrift ,Hye
hebt sich an der kunig puch nach lenng ganntz vnd gerecht
vnd ganntzlich nach dem text gemacht' das Buch der Kö
nige alter Ehe bis Fol. 31' Sp. 2.
Das Fol. 32 füllt der ,Pawm der sipsal vnd frewntschafft'
in Bild und Erklärung; das Fol. 33 der ,Pawm der nifftlschafft'
ebenso.
Mit Fol. 34 beginnt unter der rothen Ueberschrift ,Hie
hebt sich an des heiligen kunges Karels lanntrech puch vnd
kayserliche recht gantz vnd gerecht vnd gut bewärt' nach
10
VII. Abhandlung: L. v. Kockinger.
einem vielleicht für ein Bild bestimmten leeren Raume von
nicht ganz der halben Seite das Landrecht bis Fol. 96 Sp. 1.
Auf dessen Spalte 2 folgt unter der rothen Ueberschrift ,Hie
hebet sich an des heiligen kayser Karels lehen recht puch
gerecht vnd gantz 1 das Lehenrecht, welches mit dem Fol. 108'
Sp. 2 im Art. LZ 95 mit den Worten ,jch gib ew das recht
das dise lewt all an mein lewt stat sein, so der' abbricht.
Vgl. Rockinger K, woselbst unter VI S. 182—190 das
Verhältniss zum Drucke LZ und zu der Ausgabe v. Berger’s
ersichtlich wird.
240.
München, ebendort, Cod. germ. 216. Auf Papier in
Folio zweispaltig von dem, wie es den Anschein hat, etwas
unstäten Deutscheuschulmeister Christof Huber zu Dingolfing
Eckenfelden und Landshut in den Jahren 1475—1477 1 fast
ganz mit rothen Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangs
buchstaben derselben gefertigt, mit Nachträgen, nach einer
Einzeichnung am Beginne des oberbaierischen Land- und Stadt
rechts des Kaisers Ludwig im Jahre 1733 im Besitze des
Chorherrn Georg Parzner zu s. Veit in Freising, in Ilolzdeckel
mit rothem Lederüberzuge gebunden, früher mit je fünf Eck-
und Mittclbeschlägen und zwei Schliessen versehen. Schmcller
a. a. O. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 95. Ilomeyer Nr. 459.
Nach dem bemerkten oberbaierischen Land- und Stadt-
rechte beginnt auf Fol. 78 das Land recht des sogen.
Schwabenspiegels in 365 Artikeln unter einem roh gemalten
Bilde des in einem Stuhle sitzenden Kaisers, der in der Rechten
das Schwert hält, in der Linken ein Wappen mit dem doppel
köpfigen goldenen Reichsadler auf schwarzem Grunde, der im
1 Am Sehhisse des sogen. Schwabenspiegels ist die Jahrzahl 1475 schwarz
bemerkt. Am Schlüsse des oberbaierischen Land- und Stadtrechtes steht
roth: an dem jar des sechs vnd sibenzigisten an sambeztag vor Oculi
der heiligen vasten Jesus. Auf der Innenseite des Hinterdeckels ist
roth eingetragen: Anno domini tausenndt vierhundert vnd jn dem sechs
vnd sibenzigisten jar an sand Lorenczen tag des heiligen marterers
sind die kaiserlichen recht vnd land ret ze Bairen auch lehenrech mit
sambt der stat recht von Munichen vollent worden zw Dingelfing teut-
scher schuelmaister. Am Schlüsse einer deutschen Rhetorik wie einer
Zusammenstellung deutscher Synonyma endlich steht die Jahrzahl 1477.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
11
Herzschilde die haierischen Wecken geführt haben dürfte, bis
Fol. 138 Sp. 1. Auf dessen Spalte 2, deren obere Hälfte wohl
wieder für ein Bild bestimmt gewesen, folgt unter der rothen
Ueberschrift ,Hie hebent sy an die lehen recht gar guet vnd
gantz 4 das Lehenrecht, gegen dessen Ende die Ueberschriften
nicht mehr eingesetzt sind, wie auch die rothen Anfangsbuch
staben fehlen, in 84 Artikeln bis Fol. 150' Sp. 2.
241.
München, ebendort, Cod. germ. 223. Auf Papier in
Folio in den Jahren 1464 und 1465 von Hans Meilinger aus
Wasserburg 1 mit rothen Ueberschriften der Artikel und fast
durchgehends rothen Anfangsbuchstaben derselben gefertigt,
im Jahre 1790 in der Bibliothek von Tegernsee, in Holzdeckel
mit gepresstem braunem Ledertiberzuge gebunden. Schmeller
a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 96. Homeyer Nr. 460.
1 Auf dem Blatte vor dem Landrechte steht roth: Anno domini nostri
Jesu Christi millesimo quadringentesimo sexagesimo quarto jn aduentu
eius feria 2 a post festum Lucie virginis jncepi hunc librum. Links und
rechts davon steht der Name: Johannes Meylinger.
Nach dem Landrechte sodann ist bemerkt:
Hye hat das kayserliche lanndrechtpuech ain ende.
Das vnns got alle zeytte sein götlichew gnad sende.
Anno domini 1465 feria 4 ta ante Inuocauit sew dominica in albis.
Herr Hanns Meylinger,
ein herr än als geuär.
Hat er aber nicht wolgeschriben,
so hat er doch dy müessigen weil verdriben etc.
Am Schlüsse des Lehenrechtes findet sich nach den rothen Versen:
Hye hat das puech ein ende.
Das vns got allen sein genad sende,
schwarz und roth unterstrichen Folgendes:
Das puech hat geschriben
vnd hat dy weil vertriben
ain herr an als geuär,
wolt got das also war,
mit namen her Hanns Meylinger
ze Wasserburg jn der stat.
Vnd ist verpracht
an mittwochen vor Letare
vnd nach sand Benedicten tag jm lxv jare,
12
VII. Abhandlung: L. v. Kockingcr.
Auf 8. 33 beginnt unter der rotken Ueberscbrift ,Das
register des kayserlichen lanndrecht puech' das Verzeichniss
der 378 Artikel des Landrechts mit rotker Voranstellung
der Zahlen bis S. 4 Sp. 2, und zwar ist nach Art. LZ 338 ,der
in der kirehen stilt' roth eingeschaltet: Die recht saczt pabst
Leo vnd der künig Karel sein prueder zu ainem concily ze
Rome, vnd auch anderew recht vil die ymmer mer von dem
capitel das da sagt von den keczeren vnd hernach an das
landt recht puech stent geschriben etc. Nach vier leeren
Blättern folgt von S. 53—233 Sp. 2 das Landrecht, nach
dessen Art. 338 wieder roth bemerkt ist: Item die recht saczt
babst Leo vnd der künig Karel sein prueder zu ainem con
cily ze Rome, vnd ander recht vil dye ymmermer von dem
capitel das da sagt von den keczeren vncz hernach an das
lannd recht puech stent geschriben. Von S. 235 bis zur ersten
Zeile von S. 239 Sp. 1 reiht sich unter der rothen Ueberschrift
,IIie hebt sich an das register der lechenrecht' das Verzeich
niss der 151 Artikel des Lehenrechts wieder mit rother
Voranstellung der Zahlen, und dieses selbst unter der rothen
Ueberschrift ,Hye hebt sich an das Lechenrecht puech' von
S. 243—312 Sp. 1.
Von S. 325—510 Sp. 2 folgt noch das oberbaierische
Landrecht des Kaisers Ludwig und das Stadtrechtsbuch von
Wasserburg.
Endlich schliesst von S. 513—681, von anderer Hand 1
sehr schön geschrieben, unter dem rothen Titel: ,Hie hebt sich
an das recht puech Belial genannt zu latein, das auszogen ist
aus dem decretal geistlicher recht, als dicz buech hernach ge
schriben durch die capittel auch durch die frag seiner be-
deuttung ytzlichs auslegt vnd ains dem anderen eben geleich
fragt vnd antwort' der deutsche Belial.
242.
München, ebendort, Cod. germ. 228. Auf Papier in
Folio durchlaufend — mit Ausnahme des zweispaltig ge-
1 Nach dem Schlüsse auf S. 681 Sp. 1 ist in Sp. 2 roth bemerkt: Anno
dominj m°. cccc 0 . lxv l ° nonagesima die may et die mercury mensis
supradictj finitus est über iste per Laurentium Erlichmann jn opidulo
Rosenhaim pro tempore ibidem existen[tem].
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
13
schriebenen Verzeichnisses der Artikel — mit rothen Uebcr-
schriften und rothen Anfangsbuchstaben derselben im Jahre
1465* gefertigt nach einer Einzeichnung auf dem jetzigen
Fol. 1 im Jahre 1596 ,Residentiae societatis Jesu Eberspergae‘
zugehörig gewesen, in Holzdeckel mit blauem gepressten
Lederüberzuge gebunden, an den vier Ecken des Vorder- wie
Hinterdeckels mit Messing beschlagen, früher mit je fünf
Buckeln und zwei Schliessen. v. Aretin a. a. 0. I Stück 3,
S. 93, Nr. 143. Schmeller a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 97.
Homeyer Nr. 461.
Von Fol. 1—7' Sp. 1 findet sich das Verzeichniss der
Artikel des Land- und Lehenrechts mit rother Beifügung der
je oben auf der ersten Seite eines Blattes roth angebrachten
Folienzahlen des Textes. Von Fol. 9—111' oder alt 1 — 103'
reicht das ohne besondere Ueberschrift beginnende Landrecht
in 380 Artikeln. Nach dem roth geschriebenen Uebergange
,Hie hat das lantrechtpuch ain ende, vnd hebt sich an das
lehenpuch, da alle lehenrecht sind geschriben die da gut sind
zewissenih schliesst sich, von Fol. 112—149' oder alt 1 — 38'
das Lehen recht in 152 Artikeln.
'243.
München, ebendort, Cod. germ. 236. Auf Papier in
Folio zweispaltig — mit Ausnahme des Verzeichnisses der
Artikel, welches durchlaufend geschrieben ist — von Rubein
von Marchlkofen im ehemaligen niederbaierischen Gerichte Teis-
bach im Jahre 1473 gefertigt, nach einer Menge von Ein
zeichnungen im letzten Viertel des 15. und am Anfänge des
16. Jahrhunderts dem Richter zu Straubing und zu Aiterhofen
bei Straubing Pangraz Krappmer' 2 zum Gigelberg, und nach
1 Nach der schwarzen Schlussbemerkung: Pinitum anno dominj millesimo
quadragentesimo sexagesimo quinto, feria tercia post diem sancti Jo
hannis ante portam latinam. In nomine dominj amen.
2 Eine Urkunde vom Mittwoche nach dem Tage des Apostels Jakob 1491
siegelte Pangratz Krappmer zum Gigelperg, vntterrichter zue Straubing.
Auch ist eine von ihm und dem Burggrafen zu Augsburg Wernher
Witzler besiegelte Urkunde über die Verleihung des domkapitlisch augs-
burgischen Unterprobsteiamtes in Straubing vom Freitage nach dem
Pfingsttage 1494 vorhanden, in welcher er als Pangratz Krabmer zum
Gigelberg vnnd derzeyt wonhäfftig zu Straubing erscheint. Weiter
14
VII. Abhandlung: L. v. Roclcinger.
solchen auf Fol. 268 und 269 aus den Jahren 1521—1531 dem
Georg von Lerchenfeld, der im Jahre 1529 als Landrichter zu
Kranzberg 1 bei Freising erscheint, gehörig gewesen, im Jahre
1696 im Besitze des Fürstbischofs Johann Franz von Freising
ans dem Geschlechte der Egkher, Freiherrn v. Kapfing, in
Holzdeckel mit gelbem reich gepresstem Lederüberzuge ge
bunden, früher mit zwei Schliessen. Docen in des Freiherrn
v. Aretin Beiträgen a. a. 0. IX S. 1119/1120. Schmeller a. a. 0.
Sp. 254. v. Maurer, das Stadt- und Landrechtsbuch Ruprechts
von Freysing, in der Einleitung S. 40—49, mit einer Schriftprobe
auf der Tafel in VI. Homeyer Nr. 462. Rockinger H S. 470.
Von Fol. 3 — 5 findet sich unter der rothen Ueberschrift
,Hie hebt sich an das register vber das erst rechtpuech maister
Rueprechts von Freysing vorsprech, vnd sagt zum ersten wie
got der herr dj menschenn in driualltiger wirdichait beschaffenn
hat, zum annderenn mal das wir fridtlichs lebenn sullenn habenn,
darnach' u. s. w. das Verzeichiss der Artikel des Land
rechts des sogen. Schwabenspiegels mit schwarzer Anfügung
der je oben zwischen den Spaltenlinien in der Mitte an
gebrachten schwarzen römischen Zahlen der Blätter des Textes,
von Fol. 6—54 Sp. 2 oder alt 1—49 Sp. 2 unter der rothen
Ueberschrift ,Das erst rechtpuech' das Landrecht selbst in
210 Artikeln mit der rothen Schlussbemerkung: Hier hat ein
enndt das erst tail des lanntrechtpuechs. nu hebt sich an das
annder tail. zum erstenn daz register.
Von Fol. 55—-56 reicht dann das Verzeichniss der Artikel des
Freisinger Stadtrechts des Vorsprechen Ruprecht, welches selbst
unter der rothen Ueberschrift ,Hie hebt sich an das annder
finden wir in einer Urkunde vom Samstage der ersten Fastenwoche
des Jahres 1503 unter den Sieglern Pangratzen Krapmer zw Gugelperg,
brobstrichter zw Straubing. Mit dem Jahre 1505 hören seine Aufzeich
nungen in unserer Handschrift auf.
Bereits im Jahre 1482 hatte er von einem Ottenhofer, vielleicht
dem Georg Ottenhofer von Ottenhofen in Oberbaiern, der urkundlich
als Hofmarksrichter in Ebersberg in den Jahren 1484 und 1487 erscheint,
auch die Nr. 7 erkauft.
1 Nach den berührten Einzeichnungen ist er es am Lichtmesstage des
Jahres 1529 geworden. Nach dem altbaierischen Pflichtbuche im allge
meinen Reichsarchive in München hat er den Banneid am Dienstage
nach Nikolaus dieses Jahres geschworen.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
15
rechtpuech von Fol. 56'—76 Sp. 2 folgt, woselbst sich am
Schlüsse die rothe Bemerkung findet: Hie habennt ein ennd dj
zvvai rechtpüecher maister Rueprecktz vorsprechenn zue Freysing.
Vgl. Rockinger H, worin S. 471—488 und 491—501 in
VII das Verhältniss zum Drucke LZ und zu v. Maurer’s Aus
gabe des vermeintlichen Landrecktsbuches des Ruprecht von
Freising zur Anschauung bringen.
Von Fol. 77—123 Sp. 2 folgt die goldene Bulle Kaiser
Karls IV. vom Jahre 1356 deutsch, und die übrigen Reichs
gesetze und anderen Rechtsbestimmungen, von anderer weniger
schönen Hand.
244.
München, ebendort, Cod. gerrn. 264. Auf Papier in
Folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und
rothen Anfangsbuchstaben derselben im 15. Jahrhundert ge
fertigt, im Jahre 1596 ,Residentiae societatis Jesu Eberspergae £
angehörig gewesen, in Holzdeckel mit rothein Lederüberzuge
gebunden, auf dessen Vorderseite ein weisser Papierzettel mit
dem schwarzen Titel ,Lant Recht Pueclk aufgeklebt ist, früher
mit je fünf Buckeln und mit zwei Sckliessen. Es scheint, dass
am Anfänge und am Ende eine Lage ausgeschnitten ist.
v. Aretin a. a. 0. I Stück 3, S. 93/94, Nr. 144. Schmeller
a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 98. Homeyer Nr. 463.
Die Fol. 1—4' Sp. 1 füllt unter der rothen Ueberschrift ,Hie
ist cze merkchen, wie man ein yegleich capittl dratt rinde jn
disem püclie nach der zaP das Verzeichniss der Artikel
des Land- und Lehenrechts. Daran schliesst sich von Fol. 4'
Sp. 2 unter der rothen Ueberschrift ,Hie hebt sich an das
lantrecht pück, vnde lernt wie man richten sol etc.' das Land
recht in 363 Artikeln bis Fol. 77 Sp. 2. Nach dem rotk ge
schriebenen Uebergange ,Ilie hat das lantrecht pück ein ende,
vnd hebt sich an das leben pücli, da alle lehen recht sind ge-
schriben die nucze und güt sind ze wissen' beginnt das
Lehenrecht selbst in 152 Artikeln auf Fol. 77' und schliesst
auf Fol. 107 Sp. 1 mit der rothen Bemerkung:
Hie hat das pficli ein ende.
Got pelivH den Schreiber der es geschriben hat vnd seiu hende
allezeit, froleiclien.
Nach paczsch.
VII. Abhandlung: L. v. Ro elf in gef.
16
Nach dem Art. LZ 338 ,der in der kirchen icht stilt £ findet
sich roth die bekannte Stelle: Dise recht saezt der babst Leo
vnd der Chwnig — im Verzeichnisse der Artikel heisst es:
vnd chwnig Karl —• sein brüder ze einem concilij cze Röme,
vnd ander recht vil dew ymmer mer stend von dem capitel
das da sagt da vor von den checzern huncz her nach an das
lehen püch.
245.
München, ebendort, Cod. germ. 287. Auf Papier in
Folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und
rothen Anfangsbuchstaben derselben nach einer rothen Be
merkung am Schlüsse auf Fol. 488' und 489 Sp. 1 im Jahre
1419 gefertigt, aus der alten herzoglichen (Manuscr. Teutsch
St. 3 N. 7) beziehungsweise kurfürstlichen (Sign. 104) Biblio
thek stammend, in Holzdeckeleinbande mit rothem Leder-
ilberzuge, früher mit je fünf Buckeln und mit zwei Schliessen.
v. Aretin a. a. O. I Stück 3, S. 93, Nr. 124. Schmeller a. a. O.
Sp. 250. v. Lassberg Nr. 99. Homeyer Nr. 465.
Die Fol. 1—60' Sp. 1 enthalten das Buch der Könige
alter Ehe, woran sich bis Fol. 143' Sp. 2 das der neuen
bis Konrad III. schliesst, beide daraus von Prof. Dr. H. F.
Massmann in des Dr. v. Daniels Land- und Lehenrechtbuch
Sp. 33—224 abgedruckt.
Von Fol. 144 an folgt das Land- und Lehenrecht,
ersteres in der Gestalt der alten Drucke in der Weise, dass
jedem der einzelnen Abschnitte das Verzeichniss der Ar
tikel ganz roth geschrieben vorangestellt ist. Das ,lantrecht
buch' reicht bis Fol. 228' oder richtig 328' Sp. 1, woran sich
,das edel vnd das rechte lehenbuch•' bis Fol. 288 oder richtig
388 Sp. 2 reiht.
Den Schluss bildet auf Fol. 388' und 389 oder richtig
488' und 489 als ,ain registrum aller registrum' roth geschrieben
ein Verzeichniss der Hauptstücke 1 mit Beifügung der
1 Es lautet unter Weglassung- der Folien:
Hie hebt sich an das kftnig büch.
Hie hebt sich an das büch der künig machabeorum.
Hie sol man hören wa sich dy rieh an dem aller ersten an hüben.
Hie hebt sich an das lantreclit büch.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
17
alten je oben auf der ersten Seite eines Blattes in der Mitte
rotli bemerkten Folien des Textes.
246 ***
Zu München, ebendort, befand sich nach Freih. von
Aretin a. a. 0. I Stück 3, S. 86 unter Nr. 18 b — vgl. zu
Nr. 18 a oben Nr. 239 — ein mangelhaftes Könige-und Rechts
buch in der Gestalt der vorigen Nr. 245. Homeyer Nr. 466.
[München, ebendort, Cod. germ. 320. Auf Papier in
Folio im Jahre 1441 gefertigt, aus dem Benediktinerkloster
Tegernsee hieher gelangt. Docen in des Freiherrn v. Aretin
Beiträgen a. a. 0. IX S. 1113—1115. Schmeller a. a.O. Sp.254.
v. Maurer, das Stadt- und Landrechtsbuch Ruprechts von
Freysing, in der Einleitung S. 19—25. Homeyer Nr. 468.
Diese Handschrift hat in das Freisinger Stadtrecht des
Vorsprechers Ruprecht von dort auf Fol. 179/180 zwischen die
Art. 104 und 105 den Artikel des kaiserlichen Landrechts LZ
319 I eingeschoben. Vgl. v. Maurer a. a. O. S. 358 in der
Note 21.]
247.
München, ebendort, Cod. germ. 335, aus der alten her
zoglichen beziehungsweise kurfürstlichen Bibliothek stammend,
auf Papier in Folio im Jahre 1435 vielleicht zu Wien 1 oder
Wie man richter wellen sol.
Disy wort sprach got selb wider Moyse vf dem berg genant Synay.
Nv valien wir wider an. von dem der naclites körn stilt.
Dis ist von haimsücliung.
Wie wit des küniges Strassen sollen sin.
Dem frömdes körn verstolen wirt.
Von der sippezale.
Was ain man sinem wibe ze morgen gab geben mag.
Den der richter ierret das er sin gut nit verkoffen mag.
Wie man wild iagen sol.
Von der e.
Von vogt dinge.
Von drier hand frier lüte.
Von jnsigeln.
Hie hebt sich an das edel lehen recht buch.
1 Wie sich einmal schon ans dem übrigen Inhalte schliessen lässt, vor
zugsweise österreichischen und Wiener Rechten, wie vielleicht insbe
sondere aus einer von der gleichen Hand zwischen die Hauptüberschrift
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CXX. Bd. 7. Abb. 2
18
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
nach einer Vorlage von da durchlaufend gefertigt. Schindler
a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 100. Homeyer Nr. 469.
Dr. Heinrich Maria Schuster, das Wiener Stadtrechts- oder
Weichbildbuch, S. 10/11 unter C'd. Rockinger L S. 522.
Auf ein von Fol. 80—85' der alten Zählung reichendes
Verzeichniss der Artikel folgt von Fol. 86—154' das Land
recht in 368 nicht nummerirten Artikeln, sodann auf ein von
Fol. 155 —157 stehendes Verzeichniss der Artikel bis Fol. 175
das Lehenrecht in 127 wieder nicht nummerirten Artikeln.
Vgl. Rockinger L, woraus von S. 523—547—557 in II
das Verhältniss zum Drucke LZ hervorgeht.
248.
München, ebendort, Cod. germ. 507. Auf Papier in
Grossfolioformat zweispaltig mit rothen Ueberschriften und
häufig auch roth eingesetzten Belegstellen aus den deutschen
Rechtsbüchern und den fremden Rechten im Jahre 1458 von
Friedrich Grünbeck in Beiingries 1 in Mittelfranken gefertigt,
aus der kurfürstlichen Bibliothek, in Holzdeckel mit reich
gepresstem gelben Lederüberzuge gebunden, früher mit zwei
Schliessen, wovon jetzt eine fehlt, v. Aretin a. a. O. I Stück 3,
S. 85/86, Nr. 5b. Schmeller a. a. 0. Sp. 255. v. Lassberg
Nr. 101. Homeyer Nr. 470; in seiner Einleitung zum Richt
steige Landrechts S. 17 unter Ziffer 56.
Abgesehen von den uns nicht berührenden Stücken 2 liegt
hier eine umfangreiche alphabetische Arbeit aus dem
,Lechen recht 4 und den Anfang desselben auf Fol. 157 der alten Be
zeichnung eingetragenen Bemerkung:
Anno etc. XXXV 0 an sand Giligen abent da schenkcht man wein
in der purkch ze Wyenn, vnd da derdruckt der per ain diern,
1 Nach einer Einzeichnung auf Fol. 447' Sp. 2 roth:
Conpletum est opus istud per me Fridericum Grünpecken jn
Peylngriesz anno domini M° CCCC 0 lviij 0 jn die Januarij martiris et
sociorum eius.
2 Es sind in Kürze folgende:
Von Fol. 449—449' Sp. 1 eine Art lateinischer und deutscher Modus
legendi in jure unter der rothen Bezeichnung: Hye leret man ain ausz-
riclitung der puchstaben, wer sy vernemen well, der such sy alhye nach
gescliriben.
Von Fol. 449' Sp. 1—463 Sp. 2 ,dy guidein pull 4 Kaiser Karls IV.
vom Jahre 1356 mit einem Verzeichnisse ihrer 23 Capitel.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
19
Sachsenspiegel, dem sogen. Schwabenspiegel, dem römischen
und kanonischen Rechte u. s. w. in folgender Weise vor.
Auf Fol. 1 beginnt unter der rothen Ueberschrift ,Das
ist das register vber das recht puch. do vindet man ynnen
vber all sach vnd materi manclierlay nach auszweisnng der
czal vnd nach dem ABC‘ das Verzeichniss der Haupt
abschnitte mit ihren Unterabtheilungen je unter rother
Anführung der Folien mit den auf ihnen zum Behuf der
leichteren Auffindung bemerkten Buchstaben von Acht bis
zum Zebent bis Fol. 26 Sp. 1.
Auf Fol. 27, nach alter Zählung Fol. 1, beginnt die Vor
rede des sogen. Schwabenspiegels LZ a—g einschliesslich;
daran reihen sich aus der Praefatio rliythmica des Sachsen
spiegels die ersten 12 Strophen beziehungsweise 96 Verse, in
Homeyer’s Ausgabe S. 123—127; weiter der Prolog desselben,
bei Homeyer S. 136/137; der Textus prologi, ebendort S. 138;
anderes, was Freiherr v. Lassberg a. a. 0. S. 63 verzeichnet.
Dann folgt das alphabetische Werk selbst mit dem Artikel
Acht u. s. w. von Fol. 33 = 7 der alten Zählung bis zu den
Zehenten und schliesslich der Zauberei auf Fol. 447 = alt 420.
Eine längere Zusammenstellung hierüber bat v. Lassberg a. a. O.
63/64 mitgetheilt.
249.
München, ebendort, Cod. gerrn. 510, aus dem Bene
diktinerstifte Mallersdorf in Niederbaiern stammend, auf Papier
in Folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und
rothen Anfangsbuchstaben derselben nach einer Bemerkung -
am Schlüsse ,an dem viii tag des sambtztag Margrete' des
Von Pol. 463' Sp. 1—467' Sp. 1 die ,Karolinn‘ von ,Kostnicz,
anno a natiuitate domini M° CCCC 0 xvij°, ij° nonas septembris, aposto-
lica sede vacante“.
Von Pol. 467' Sp. 1 ,Kayser Fridrichs gesecze 1 bis Fol. 495' Sp. 1.
Von Fol. 496—521' Sp. 2 unter der rothen Uebersebrift ,liber
talis liaiszt das puch von dem richter vnd von dem clager vnd von
dem antwurtter 1 der Richtsteig' Landrechts.
Nach noch anderem bildet den Schluss aus dem Jahre 1467: des
Bischofs Johann von Eichstätt Gerichtsordnung von Fol. 530'—535'
Sp. 1, und Verwandtschaftstafeln mit Erklärung.
2*
20
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
Jahres 1461 vollendet. Schmeller a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg
Nr. 102. Homeyer Nr. 471. Rockinger H S. 467.
Unter der rothen Uebersckrift ,I4ie hebent sich an dy
kayserliche recht' findet sich das Landrecht von Fol. 1
Sp. 1—119 Sp. 2, woran sich unter der schwarzen Uebersckrift
,I4ie hebent sich an dy lehen rechtt' von Fol. 120 Sp. 1—167'
Sp. 1 das Lehenrecht reiht.
Vgl. Rockinger H, woselbst S. 471—488—491—501 in
IV das Verhältniss zum Drucke LZ und zu v. Maurer’s Aus
gabe des vermeintlichen Landrechtsbuches des Ruprecht von
Freising veranschaulichen.
250.
München, ebendort, Cod. gerrn. 513. Auf Papier in
zwei Spalten — mit Ausnahme des Verzeichnisses der Artikel,
welches durchlaufend geschrieben ist — im Jahre 1436 1 ge
fertigt, in Holzdeckel mit rothem gepressten Lederüberzuge
gebunden, früher vorne wie rückwärts mit vier Eckbeschlägen
und einer Mittelverzierung, ausserdem mit zwei Schliessen ver
sehen , nach einer Einzeichnung auf der inneren Seite des
Hinterdeckels am 16. Dezember 1581 dem baierischen Regi-
mentsrathe Kaspar Rueland zu Landshut gehörig, der diese
Handschrift in seinem 85. Lebensjahre am 5. Mai 1598 dem
baierischen Kanzler Dr. Joachim v. Donnersberg 2 daselbst
schenkte, dann im Besitze des fürstbischöflich Augsburg’sclien
geheimen Rathes und Kammerdirektors Johann Leonhard von
Behl-, aus dessen Bibliothek sie nach einem Vermerke auf der
inneren Seite des Vorderdeckels vom 2. Oktober 1784 käuflich
der reichsstädtisch Augsburg’scke Rathsconsulent Dr. Johann
Heinrich Prieser erwarb, im Catalogus codicum manuscriptorum
qui extant in bibliotheca Prieseriana vom Jahre 1803 S. 4
unter Nr. 10 aufgeführt. Schmeller a. a. O. Sp. 250 und 254.
v. Lassberg Nr. 103. v. Maurer, das Stadt- und das Land-
1 In den Sclilussversen des Rechtsbuches des Ruprecht von Freising auf
Fol. 320' Sp. 2 lautet die hielier bezügliche Stelle:
Da man zalt von Cristi gepurt, das ist war,
viertzehenhundert vnd darnach in dem sechs vnd dreyssgisten iar.
2 Vgl. Karl Theodor Heigel in der Allgemeinen deutschen Biographie 4 V
S. 337/338.
Berichte über Handschriften des sog. Sclnvabenspiegels. XII.
21
rechtsbuch Ruprechts von Freising, in der Einleitung S. 25—40,
mit einer Schriftprobe auf der Tafel in V. Homeyer Nr. 472.
Von Fol. 197—202 Verzeichniss der ,capittel vnd
artickeln der weltlichen rechten wie man ein yegclich recht
richten sol £ je mit Angabe der Folien ihres Textes. Nach
7 leeren Blättern das Landrecht in 239 Artikeln von
Fol. 203—273' Sp. 2 oder 1—70' Sp. 2 alter rother je oben in
der Mitte angebrachter römischer Zählung. An seinem Schlüsse
steht in schwarzer Tinte, roth unterstrichen:
Hie hat das decret ein ennd.
Got allen kummer von uns wennd.
Vgl. des Näheren hierüber Rockinger in L, woraus von S. 471
bis 488 und 491—501 in VI das Verhältnis zum Drucke LZ
und zu v. Maurer’s Ausgabe des vermeintlichen Landrechts
buches des Ruprecht von Freising hervorgeht.
Sowohl zum Artikelverzeichnisse als auch zum Texte hat
Dr. Prieser am Rande die entsprechenden Zahlen der Artikel
der Druckausgabe des Jus provinciale alemannicum von Scherz
im zweiten Bande von Schilter’s Thesaurus antiquitatum teu-
tonicarum beigemerkt.
Dann folgt noch von Fol. 274—320' Sp. 2 beziehungs
weise 1—46 Sp. 2 der rothen römischen Bezeichnung das Stadt
rechtsbuch des Vorsprechen Ruprecht von Freising.
251.
München, ebendort, Cod. germ. 552. Auf Papier in
Folio durchlaufend — mit Ausnahme der in zwei Spalten ge
schriebenen Verzeichnisse der Artikel — mit rothen Ueber-
schriften und rothen Anfangsbuchstaben derselben im 15. Jahr
hundert gefertigt, aus dem Heiligkreuzkloster zu Augsburg
stammend, in Holzdeckel mit braunem theilweise mit Gold
gepresstem Lederüberzuge gebunden, früher je mit Beschlägen
an den Ecken und in der Mitte des Vorder- wie Hinterdeckels
und mit zwei Scliliessen versehen. Sclimeller a. a. O. Sp. 250.
v. Lassberg Nr. 104. Homeyer Nr. 474.
Die Fol. 1—7' enthalten die Verzeichnisse der Ar
tikel des Ganzen, sind aber nicht mehr vollständig.
Von Fol. 8—48 findet sich das Buch der Könige alter
Ehe. An dessen Schlüsse steht roth der Uebergang;
22
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
Hye hat der künig püch ain ennde.
Got vns sein gnade mit frewden seunde.
Vnd liebt sich an kaysers Karls lanndszrecht pttcli. amen.
Auf Fol. 48' ist ,der salig kaiser Karl 4 in Farben auf dem
Throne abgebildet, die Krone auf dem Haupte, den Reichs
apfel in der Linken, das Scepter in der Rechten, mit einem
zu den Füssen hingestreckten Löwen. Mit Fol. 49 beginnt
unter der rotken Ueberschrift ,Hie bebt sieb an des saligen
kaysers Karls recht puch 4 das Landrecht bis Fol. 122'. Nach
dem rothen Uebergange ,Hie hebt sich an das Lechen recht
pucld folgt dieses von Fol. 123—150'. Daran sekliessen sich
— vgl. Rockinger K S. 175/176 — die bekannten ,Articuli
generales 4 bis an das Ende der ersten Seite des Fol. 151.
Nach einem leicht mit der Feder hingeworfenen Bilde des
auf dem Throne sitzenden von den Kurfürsten umgebenen
Kaisers auf Fol. 151' beginnt auf Fol. 152 die goldene Bulle
Karls IV. mit früheren Reichsgesetzen 1 bis zum Jahre 1356,
wie beispielsweise in der Nr. 254 oder 260, bis Fol. 178.
Nach einem in Farben ausgeführten Bilde des zu Gericht
sitzenden Königs Salomon, welchem Moses und Belial ihre
Streitschriften darreichen, beginnt von Fol. 179 die deutsche
Bearbeitung des sogen. Belial bis Fol. 234', nicht mehr voll
ständig.
Vgl. Rockinger K, woraus von S. 182—190 in III das
Verhältniss zum Drucke LZ und zur Ausgabe v. Bergers
hervorgeht.
252.
München, ebendort, Cod. germ. 553. Auf Papier in
Folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und
rothen Anfangsbuchstaben derselben in der ersten Hälfte des
15. Jahrhunderts gefertigt, in Holzdeckel mit rothem Leder-
überzuge gebunden, früher mit je fünf Buckeln und mit zwei
Schliessen versehen. Schmeller a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg
Nr. 105. Homeyer Nr. 475. Rockinger F S. 302.
Von Fol. 1 reicht unter der rothen Ueberschrift ,Hie hebt
sich an das Lant Recht püch 4 das Landrecht bis Fol. 83
Sp. 1, woran sich ,ein gut herren lere 4 — vgl. Rockinger in
1 Vgl. v. Lassberg Nr. 104 unter E und F.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
23
F S. 289 bis 300 — bis Fol. 83' Sp. 2 schliesst. Mit Fol. 84
beginnen unter dem rotlien Titel ,Das sind aucb Entrecht' die
auch sonst — beispielsweise in den Nummern 102, 172, 189,
264, 265 — mehrfach erscheinenden Anhangsartikel —• vgl.
Roclcinger in F S. 310 und 318 bis 335 — bis Fol. 89' Sp. 2.
Von Fol. 90 folgt ,das Lehen Recht büch' bis Fol. 122' Sp. 2.
253.
München, ebendort, Cod. germ. 554. Auf Papier in
Folio durchlaufend ohne Ueberscliriften der Artikel mit rothcn
Anfangsbuchstaben derselben im 15. Jahrhundert gefertigt, aus
der Probstei s. Andreas und Mang zu Stadtamhof bei Regens
burg stammend, in Holzdeckel mit rothem Lederüberzuge ge
bunden, früher mit zwei Schliessen. Schmeller a. a. O. Sp. 250.
v. Lassberg Nr. 106. Homeyer Nr. 476.
Von Fol. 1—97' reicht das Landrecht. Nach einem
leeren nicht gezählten Blatte folgt von Fol. 98 bis an das Ende
der ersten Seite des Fol. 109 das Lehenrecht, welches da
im Art. LZ 42 c mitten im Satze mit den Worten ,vnd biutet
der herre dem man sein gut, er sol es zehant' abbricht.
254.
München, ebendort, Cod. germ. 555. Auf Papier in
Folio durchlaufend — mit Ausnahme des vorne stehenden
zweispaltig geschriebenen Verzeichnisses der Artikel — in der
ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts mit rothen Ueberscliriften
und rothcn Anfangsbuchstaben der Artikel gefertigt, in Holz
deckel mit schmutziggelbem Lederüberzuge gebunden, früher
mit je fünf Buckeln und mit zwei Schliessen versehen. Schmeller
a. a. O. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 107. Homeyer Nr. 477.
Die Fol. 1—5' Sp. 2 enthalten das Verzeichniss der
Artikel des Buches der Könige alter Ehe und des Land- wie
Lehenrechts.
Nach drei leeren Blättern beginnt von Fol. 6—55' das
Buch der Könige alter Ehe. Von Fol. 56 folgt ,künig Karls
Lanndrechtpüch' bis Fol. 141'. Nach der leeren ersten Seite
des nächsten nicht gezählten Blattes beginnt auf der zweiten
,kayser Karels Lehennrecht püch' bis Fol. 175. Daran
24
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
schliessen sich —• vgl. Roekinger K S. 175/176 — die ,Arti-
culi generales* his gegen das Ende des Fol. 175'.
Von Fol. 176—210 steht die goldene Bulle mit früheren
Reichsgesetzen 1 bis zum Jahre 1356, wie beispielsweise in der
Nr. 251 oder 260, und von Fol. 211'—212 Kunig Alfunsus Gericht.
Vgl. Rockinger K, worin S. 182—190 in II das Verhält-
niss zum Drucke LZ und zu der Ausgabe v. Berger’s zur
Anschauung bringen.
255.
München, ebendort, Cod. germ. 556, früher in der Bi
bliothek des Benediktinerstiftes s. Ulrich und Afra zu Aues-
bürg, auf Papier in Folio zweispaltig im Jahre 1429 2 gefertigt,
in Holzdeckelband mit gelbem Schafleder überzogen, früher
je vorne und hinten mit fünf Buckeln und mit zwei Schliessen
versehen. Der Innenseite des Hinterdeckels ist eine Urkunde
des Rathes von Augsburg über die Ungeldsbefreiung der
Weinschenkenzunft daselbst vom Gilgentage des Jahres 1397
aufgeklebt. Sckmeller a. a. O. Sp. 250. v. Lassberg Nr. 108.
Homeyer Nr. 478.
Auf Fol. 1—9' Sp. 2 findet sich ein Inhaltsverzeichniss
in fünf Distinctionen, wie gleich anfangs roth bemerkt ist, ut
illud quod queritur eo cieius potent jnveniri. Auf Fol. 10 nach
den roth geschriebenen Versen:
Der allmächtige got von hymielreich
vns sölliche synn vnd wicze verleycli
zerichten nach disem kaiserlichen buch,
damit wir Ion vnd nit den fluch
verdienen vnd ewige salikayt.
Des hei ff vns sein gotlich weyshayt. amen.
und unter der rothen Randbemerkung ,primo von des buchz
anefang jn gaistlicher lere‘ folgt das Landrecht in 369 Ar-
1 Wie gleich von dem Tage zu Mainz im Jahre 1356, dann des Kaisers
Friedrich II. von dem Tage zu Mainz im Jahre 1236, der Urkunde des
Königs Rudolf über die am Jakobstage zu Nürnberg in der Schotten
Münster erfolgte Beschwörung des Landfriedens vom Jahre 1281, König
Albrechts Satzung in dein gebotenen Hofe zu Nürnberg, Kaiser Ludwigs
des Baiers Laudfriedenssatznng zu Nürnberg vom Samstage nach Aus
gang der Osterwoche des Jahres 1323.
2 Fol. 121 Sp. 1: Anno domini in 1 cccc® xxviiij”“ feria 5'* ante pascam
scilicet jn ebdomada passionis einsdem domini nostri Jesu Christi tiniius
esf über iste etc. Pro «jno laudetur dens in eternnm. Explicit
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
25
tikeln bis Fol. 101' Sp. 2. Von Fol. 102—121 Sp. 1 das Lehen
recht von Art. 370—453. Ihre Ueberschriften sind von der
gleichen Hand wie der Text roth, während die Initialen, mit
Ausnahme des ersten II am Beginne der Vorrede, theils ein
fach roth und einfach blau, theils gemischt sind.
256.
München, ebendort, Cod. gerrn. 557, ans dem Kloster
Asbach in Niederbaiern stammend, auf Papier in Folio im 15. Jahr
hundert zweispaltig gefertigt. Am 4. Juli 1764 richtete über sie
der Akademiker Christian Friedrich Pfeffel von Kriegeistein
ein Schreiben an den Reichshofrath Heinrich Christian Frei
herrn v. Senkenberg, welches auch von diesem bald darauf im
Anhänge I zu seinen Visiones diversae de collectionibus legum
germanicarum S. 186—188 veröffentlicht worden ist, und in
der zur Feier des Namensfestes des Kurfürsten Max Josef III.
von der Akademie der Wissenschaften in demselben Jahre ge
haltenen Sitzung handelte er in seiner Rede ,von dem ehe
maligen rechtlichen Gebrauch des Schwabenspiegels in BaienF
ausführlicher hievon. Schmeller a. a. 0. Sp. 250. v. Lassberg
Nr. 109. Homeyer Nr. 479. Rockinger L S. 522 523.
Auf ein das Land- und Lebenrecht umfassendes Ver
zeichniss der Artikel folgt das Landrecht von Fol. 1'
Sp. 1—65 beziehungsweise nach der mit dem Lehenrechte neu
beginnenden Zählung Fol. 1 Sp. 1 in 385 Artikeln, woran sich
unmittelbar das Lehenrecht bis Fol. 21 Sp. 1 in 169 Ar
tikeln reiht.
Einen Abdruck dieses Textes, aber nicht nach dieser
Handschrift, sondern nach einer jungen Abschrift, vielleicht
Nr. 232 oder etwa auch Nr. 258 oder 259, hat Freiherr v. Frey-
berg in seiner Sammlung historischer Urkunden und Schriften
IV S. 505—718 veranstaltet. Vgl. hiezu Schmeller in den
Münchner gelehrten Anzeigen 1837 Sp. 246 wie 249—254;
Rockinger L, wox-in S. 523—547 —557 in IV das Vei-hältniss
zum Drucke LZ ztu - Anschauung bringen.
Eine Abschrift der gegenwärtigen Nr. 256 stellte seiner
zeit Abt Maurus von Asbach der baiei-ischen Akademie der
Wissenschaften zur Verfügung. Vgl. oben die Nr. 232.
26
VII. Abhandlung: L. v. ßockinger.
257.
München, ebendort, Cod. germ. 558. Auf Papier in
Folio zweispaltig im Jahre 1462 von Othmar von Gossau 1 bei
s. Gallen in dieser Schweizer Mundart gefertigt, aus der Biblio
thek der Jesuiten zu Augsburg. Schmeller a. a. 0. Sp. 250.
v. Lassberg Nr. 110. Homeyer Nr. 480.
Das Landrecht umfasst in dieser Handschrift von Fol. 1
Sp. 1—74' Sp. 1 nur 353 Artikel, worauf unmittelbar das
Lehenrecht bis Fol. 94' Sp. 2 in 125 Artikeln folgt.
Vgl. hiezu Rockinger L, woraus von S. 523—547—557
in III das Verhältniss zum Drucke LZ zu ersehen.
258.
München, ebendort, Cod. germ. 916, auf Papier in Folio
im Jahre 1782 von dem Hofbibliotheksekretär Josef Kramer
durchlaufend gefertigt, v. Aretin a. a. 0. I Stück 3, S. 86/87,
Nr. 36. Schmeller a. a. O. Sp. 251. v. Lassberg Nr. 111.
Homeyer Nr. 481.
Abschrift der Nr. 256. Rockinger L S. 521, 555 — 557.
259.
München, ebendort, Cod. germ. 916 a , wieder auf Papier
in Folio gegen Ende des 18. Jahrhunderts durchlaufend ge
fertigt. Schmeller a. a. 0. Sp. 251. v. Lassberg Nr. 112.
Homeyer Nr. 482.
Zweite Abschrift der Nr. 256. Rockinger L S. 521,
555—557.
1 Nach dem unmittelbar auf das Lehenrecht folgenden Landfrieden des
Königs Rudolf vom Jahre 1287 ist auf Fol. 100 bemerkt:
Der dis bisher geschriben hat
Otmar Gossow, des nam hie stat,
für den bittent och ir alle,
das im genad erwerb Santgalle
von dem allmaechtigen gott, daz er an sinem ende mitt sinem hailgen
wirdigen fronlichnam werd gespiset. amen.
An sant Gregorius tag nach der gebürt Christi thusent vier
hundert vnd jm zwai vnd sechtzigisten jar ze mittag ward dis büch
vsgeschriben.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
27
260.
München, ebendort, Cod. germ. 1139. Auf Papier in
Folio durchlaufend — mit Ausnahme der zweispaltig ge
schriebenen Verzeichnisse der Artikel — mit rothen Ueber-
schriften der Artikel und mit rothen und grünen wie anfangs
auch blauen Anfangsbuchstaben derselben im dritten Viertel
des 15. Jahrhunderts gefertigt, aus dem Prämonstratenserstifte
Schäftlarn stammend, in Holzdeckel mit rothem Lederüberzuge
gebunden, früher mit je fünf Buckeln und mit zwei Schliessen.
Von Fol. 1—8' Sp. 2 finden sich die Verzeichnisse der
Artikel des Ganzen.
Mit Fol. 9 beginnt das Buch der Könige alter Ehe
bis Fol. 61'.
Das Pergamentblatt 62 bietet auf der zweiten Seite das
in Farben ausgeführte Bild des Kaisers auf dem Throne, die
Krone auf dem Haupte, in der Linken den goldenen Reichs
apfel, mit der Rechten einem zu den Stufen des Stuhles knieenden
Herrn in grünem unten mit Pelz verbrämtem Gewände die
Fahne von Baiern-Pfalz hinreichend, während gegenüber eine
geharnischte Figur kniet, welche in beiden Händen ein grün
gebundenes Buch mit fünf Goldbuckeln hält.
Auf Fol. 63 beginnt ,kayser Karels Lanndtrecht buche'
in 350 Artikeln bis Fol. 159'. Von Fol. 160 folgt ,das Lehen
recht puch' in 145 Artikeln bis Fol. 194', woran sich die
,Articuli generales' bis Fol. 195' reihen.
Von Fol. 196—231' begegnet die goldene Bulle mit frü
heren Reichsgesetzen bis zum Jahre 1356 u. s. w. wie in den
Nrn. 251, 254.
Vgl. Rockinger K, woraus von S. 182—190 in IV das
Verhältniss zum Drucke LZ und zu der Ausgabe v. Berger’s
zu ersehen.
261.
München, ebendort, Cod. germ. 2148. Auf Papier in
grossem Folioformate durchlaufend — mit Ausnahme der Ver
zeichnisse der Artikel, welche zweispaltig geschrieben sind —
mit rothen Ueberschriften und rothen Anfangsbuchstaben der
Artikel im 15. Jahrhundert gefertigt, nach einer Einzeichnung
am unteren Rande des ersten Blattes im Jahre 1568 dem
28
VII. Abhandlung: L. v. Rocki ngor.
,Hanns Schilher Secretarius zu st. Haymeran jn Regenspurg'
gehörig gewesen, nach einer anderen am oberen Rande daselbst
am 31. Mai 1636 von dem ,Joann. Georg. Trenttwein 1 capita-
neus‘ besessen, von Johann Georg Lory 2 nach seiner Cornmen-
tatio I de origine et progressu iuris Boici civilis antiqui S. 49/50
in der Note unter Nr. III im Jahre 1747 oder am Anfänge
des folgenden in der Bibliothek des berühmten Wigulaus Xaver
Alois Freiherrn v. Kreittmayr 3 zu München gesehen, in starkem
Pappendeckelbande mit braunem Lederiiberzuge und Gold
pressung am Rücken. Schmeller a. a. 0. Sp. 251. v. Lassberg
Nr. 113. Homcyer Nr. 485.
Die Fol. 1-—11' enthalten die Verzeichnisse der Ar
tikel des ganzen Werkes, dessen Inhalt unter der rothen
Uebersclirift ,In dem gegnburtigen volumen oder puech sindt
geschriben vier hauppt puecher von den rechten, vnd mit nam‘
gleich an der Spitze folgendermassen bezeichnet ist:
von erst das lanndtrecht puech, dar jnne die gemain
lanndtrecht begriffen sind als die aus den kaiserlichen rechten
vnd annderer geschrift geczogn sindt;
das annder puech ist das leben puech;
das dritt ist das lanndrecht puech als es in der herren
von Mtinichn oberlanndt gehalltn wirdt;
das vierd sindt dy statrechten zu München.
Von Fol. 1—73 Sp. 1 der alten je oben in der Mitte der
ersten Seite eines Blattes roth angebrachten römischen Zählung
reicht das Landrecht des sogen. Schwabenspiegels. Von
Fol. 73'—102' Sp. 1 dessen Lehenrecht. Die Fol. 103—107'.
Sp. 2 sodann bieten noch die Anhangsartikel, wovon Rockin-
ger F S. 310 und 318—335 handelt.
Nach einem leeren Blatte folgt von Fol. 109—152 Sp. 1
Kaiser Ludwigs oberbaierisches Landrecht vom Jahre 1346,
1 Vielleicht gelangte an ihn diese Handschrift aus dem Besitze des
Dr. L. Treytwein, welcher in einer Urkunde des Chorstiftes in Strau
bing vom 15. Mai 1599 als der Rechte Doctor, fürstbischöflich Regens-
burg’scher Rath, domkapitlischer Syndicus, auch damals Notariatsver
walter u. s. w. erscheint.
2 Vgl. v. Eisenhart in der ,Allgemeinen deutschen Biographie* XIX,
S. 183—195.
3 Vgl. v. Eisenhart a. a. 0. XVII, S. 102—.115,
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
29
von Fol. 152'—177 Sp. 1 dessen oberbaierisches Stadtrecht
beziehungsweise das Stadtrecht von München.
262.
München, ebendort, Cod. germ. 3897. Auf Papier in
Folio im Jahre 1428 von Oswald Holer 1 gefertigt, mit Aus
nahme des zweispaltig geschriebenen Inhaltsverzeichnisses in
durchlaufenden Zeilen, in Holzdeckeln mit gepresstem weissen
Lederüberzuge und mit zwei Sckliessen versehen, früher in
die Bibliothek des Klosters Frauenzell, Cella s. Mariae, zwischen
Brennberg und Wörth in der Oberpfalz gehörig, nach einer
Einzeichnung aus dem Jahre 1838 im Besitze eines Dr. Karl
Widmann zu Regensburg.
Von Fol. 119 —125' Sp. 2 steht das Register über die
folgenden Bestandtheile. Fol. 126—171 oder 1—46 einer alten
gleichzeitigen schwarzen Zählung in der Mitte des oberen Randes
enthalten das Buch der Könige alter Ehe. Fol. 172—256'
beziehungsweise 47—131' des heiligen Königs Karl Land
rechtsbuch. Fol. 256'—286' beziehungsweise 131—162' Kaiser
Karls Lehenrechtsbuch. Fol. 162' und 163 die sogenannten
Articuli generales. Fol. 288—303 beziehungsweise 164—179
die goldene Bulle Karls IV., und sodann bis Fol. 318 be
ziehungsweise 194 den Mainzer Landfrieden und andere Reichs
gesetze bis 1323. Die Ueberschriften der Artikel dieser Stücke
sind roth, die Initialen derselben gleichfalls, nur die grösseren
am Beginne der einzelnen Stücke blau.
Vgl. Rockinger K, worin S. 182—190—206 in I das Ver-
hältniss zum Drucke LZ und zur Ausgabe v. Berger’s berück
sichtigen.
263.
München, ebendort, Cod. germ. 3944. Auf Papier in
Folio zweispaltig im Jahre 1424 beziehungsweise 1425 auf
Veranlassung des Laudenbacher Stiftsherrn Konrad ab dem
1 Fol. 318': Explicit über per manus Oswaldj Holer brixinensis dyoeeesis,
tune temporis scriptor dominorum de Starckemberg necnon domini Jo
hannis vom Tor zu Horenstain, anno domini millesimo quadringentesimo
vigesimo oetauo, in crastina sancti Martini.
30
VIT. Abhandlung: L. v. Uockingcr.
Werde für Rudolf und Johann N 1 geschrieben, im 16. Jahr
hundert nach einer Einzeiehnung auf der inneren Seite des
Hinterdeckels im Besitze der Gräfin Magdalena zu Montfort, 2
geborenen Gräfin von Oettingen, die auch ihren Lieblings
spruch ,Timete deum' über den Namen gesetzt hat, in IIolz-
deckel mit ursprünglich rothem, noch oben und unten sicht
barem, jetzt gelbem Lederüberzuge gebunden, früher mit zwei
Schliessbändern. Dem Vorderdeckel 3 ist aussen ein alter
Pergamentstreifen mit Aufschrift aufgeklebt, von dessen erster
Zeile jetzt nur mehr eine in die zweite herabreichende rothe
Schlinge mit rothem Ausgange in der Mitte, als ob es der
Rest eines G gewesen wäre, sichtbar ist, und schwarz: jn tutsch.
Die erste Hälfte des ersten Sexterns füllt ein Verzeicli-
niss der Artikel des Ganzen mit Verweisung auf die im
1 Nach der unmittelbar an das Lehenrecht geknüpften unter der rotlien
Aufschrift ,vom Stifter dis bftcliz 1 beginnenden Schlussbemerkung: Ich
Cdnrat ab dem Werde, tümherre ze Lutenbaeh, tun kunt allen den die
dis büch senhent oder liörent lesen, daz ich es hiez dar vmb scliriben:
wer sich nit verrichten wol künde von menger sache, der hure gern
dis blich lesen, wou ez beweret alle die sache die man bedarff zu welt
lichem gericht.
Finito libro sit laus et gloria Cristo. amen.
Dis büch wart volbracht do man zalt von gottes gebürt tusent
vierhundert zweinczig vnd vier — dieses Wort ist roth durchstrichen,
und darüber ein rothes v gesetzt — iar Rüdolffen vnd Hanssen. Die
letzten drei Worte sind roth geschrieben.
Expliciunt jura.
Vgl. Rockinger A in den dort angeführten Abhandlungen der
historischen Classe der Akademie der Wissenschaften in München XVIII
S. G62/GG3.
2 Nach der Stammtafel der Grafen von Montfort zu Tettnang älterer
Linie in der Geschichte der Grafen von Montfort und von Werdenberg
von Dr. J. N. v. Vanotti war sie die Gemahlin Ulrichs VI. Im Jahre
1520 erscheint sie urkundlich als Witwe, und starb am Freitage in der
Osterwoche des Jahres 1525.
3 Auf seiner Innenseite ist ein Stück eines auch noch den ersten Sextern
mit einem kleinen Streifen umhüllenden Pergamentauftrages des Offi-
cialen der Constanzer Curie an den Pfarrer in Seckingen in einer
Streitsache dos Canonikers Ulrich von Grieszham zu Rheinfelden als
Klägers und eines Schultheissen Nikolaus de Rinfelden wie seines
Sohnes Nikolaus als Beklagter, diese beiden wegen Contumacia als ex-
communizirt zu erklären, aufgeklebt. Datum in Nuwenburg, feria sexta
post fes[tum] beati Jacobi apostoli proxima, jndic.tione secuuila.
Berichte über Handschriften des sog. Scliwabenspiegels. XII.
31
Texte selbst je oben in der Mitte schwarz angebrachten römi
schen Zahlen. Mit der zweiten Hälfte des Sexterns beginnt ,der
Kling büch' alter Ehe von Fol. 1—55' Sp.2, deren beide letzte
Zeilen ,liie hept sich an dz laut recht püch ane dz recht' den
Uebergang zum Landrechte in 378 Artikeln von Fol. 56 —
116' Sp. 1 und 116' Sp. 1—149' Sp. 1 mit dem Schlüsse nach
Art. LZ 219 ,Hie ist das lantrecht büch vz‘ und der rothen
Ueberschrift ,Hye vahet an dz edel büch genant von lehen
reht' vor Art. LZ 220 bilden. Mit Fol. 149' Sp. 2 beginnt
unter der rothen Ueberschrift ,Hie hept an das edel lehen
büch, vnd ist das drit stuck von rechten lehen' das Lehen
recht in 153 Artikeln bis Fol. 181' Sp. 1.
264.
München, ebendort, Cod. germ. 3967. Auf Papier in
Folio zweispaltig mit je am oberen Rande in der Mitte an
gebrachter rother römischer Blattzählung mit rothen Ueber-
schriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben
von ,Joannes die czeit kyrchner czu Weysselstorff' im Jahre
1444 1 gefertigt, früher als C. XCII im Reichsstifte s. Emmeram
in Regensburg, von woher dem Reichshofrathe Heinrich Chri
stian Freiherrn v. Senkenberg die in seinen Visiones diversae
de collectionibus legum germanicarum im Anhänge I S. 188 bis
190 mitgctheilte Beschreibung zuging, in Holzdeckel mit
starkem weissen Lederüberzuge, der vorne andere Pressung
als hinten hat, über den Rücken bis je in die Mitte des
Vorder- wie Hinterdeckels, v. Lassberg Nr. 25, 130 im zweiten
Absätze. Homej'er Nr. 486. Rockinger F S. 301.
1 Am Schlüsse des Lehenrechts Fol. 102' Sp. 2 ist Folgendes schwarz und
[was in Klammern gesetzt ist] roth bemerkt:
Hie hat dicz buch ein ent.
Got vus seinen gütlichen segen sent.
Explicit, expliciunt.
Sprach dy katz czn dem hunt:
dy fladen sein dir vngesvnt.
[Anno domini etc.] Noch Crist gebnrt tawsent vierhundert vnd darnach
yn dem viervndvierczisten jar, an sand Peters abent. genant ketlien
feyer, so hat man daz buch geeilt., amen, [daz lone ]
[Von mir Johannes die czeyt kyrchner czu Weysselstorf gebesen.
Et cetera pfintscliuch j
32
VII. Abhandlung: L. v. Rockin gor.
Die Blätter 1—68' iSp. 2 füllt unter der rothen Ueber-
scbrift ,Hyhe hebt sicli das Lantreclit buch an' das Land
recht, woran sich unmittelbar unter der rothen Ueberschrift
,daz sint aucli lantrecht. ob der herre eyn kyrchen leyht' bis
Fol. 73' Sp. 1 die Zusatzartikel reihen, wovon Rockinger F
S. 318—335 handelt, und dann bis Fol. 74 Sp. 2 die ebendort
S. 298—300 erwähnte gute Herren Lehre. Den Schluss
dieser Spalte bildet der Uebergang zum Lehenrecht: Hye hebet
sich daz Lehen buch an, mit den gleichfalls roth geschriebenen
Versen:
Amen, solamen:
si deficit fenum, tune accipe stramen.
Von Fol. 74' endlich bis 102' Sp. 2 reicht das Lehenrecht
selbst.
Nach einem leeren Blatte folgt von Fol. 104—146 einer
neuen Blattzählung eine böhmische Chronik in deutscher Sprache.
Vgl. Bernhard J. Docen im Archive der Gesellschaft für ältere
deutsche Geschichtkunde III unter Ziffer V S. 349—351.
Das Verhältniss unseres Land- und Lehenrechts zum
Drucke LZ veranschaulicht Rockinger a. a. 0. S. 302—315
in 11—318—335.
265.
München, ebendort, Cod. germ. 4929. Auf Papier —
mit Ausnahme des Pergamentbogens, welcher die erste Lage
umfasst — in Folio in der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und rothen
Anfangsbuchstaben derselben gefertigt, nach einer Einzeichnung
auf der Innenseite des Vorderdeckels im Jahre 1770 dem Stadt
schreiber Jos. Bernhard Parth von Moosburg gehörig gewesen,
in Holzdeckel mit rothem Lederüberzuge mit theilweise noch
erhaltenen kleinen Messingbuckeln, früher auch mit zwei
Schliessen. Rockinger F S. 298—300.
Von Fol. 1 reicht ,das Lant Recht pucld bis Fol. 63'
Sp. 1, woran sich bis Fol. 64 Sp. 1 ,ein gut herren lere‘
reiht, worauf mit Sp. 2 unter der rothen Ueberschrift ,Das sind
auch landtrecht' die Anhangsartikel, von welchen Rockinger
in F S. 310 und 318—335 handelt, bis Fol. 68 Sp. 2 folgen.
Mit dessen zweiter Seite beginnt das ,Lehenrecht puch‘ bis
Fol. 93' Sp. 1.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
SS
Vgl. Rockinger F, woraus sich in der Spalte I S. 302—
315—318 das Verhältnis zum Drucke LZ ergibt.
266.
München, ebendort, Cod. germ. 4979. Auf Papier in
Folio durchlaufend im 15. Jahrhundert mitrothen Ueberschriften
der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben gefertigt,
in neuem Pappendeckelbande mit Ueberzug von marmorirtem
Papiere, vielleicht nur mehr ein Theil einer grösseren Hand
schrift.
Auf Fol. 3 beginnt unter der rothen Ueberschrift ,Hie
hebt sich an daz landrecht pücb, vnd lert wie man ain ygleich
sach richten sol‘ das Landrecht in 377 Artikeln bis Fol. 86',
woran sich die rothe Ueberschrift ,Hie hebt sich an das lechen
püech. Von Lechen recht' knüpft, welches in 90 Artikeln
von Fol. 87 —101/ reicht. Am Schlüsse steht schwarz: Hie
hat daz püech ein ende der statrecht vnd landtrecht vnd auch
lechenrecht, an sandt Thorotheetag geendet ist.
Es scheint, dass noch ein Artikelverzeichniss beab
sichtigt gewesen. AVenigstens beginnt in der ersten Spalte des
Fol. 102 unter der rothen Ueberschrift ,Hie hebt sich an daz
register des lantrech püech' ein solches, das aber nur mehr
den Anfang ,Ber in dem pann vnd in der aicht ist vber die
geseczten zeit j. Von dreyer liant frey lawtten j' enthält.
267**.
München, ebendort, Cod. germ. 5250/6 (a). Zwei Per :
gamentdoppelblätter in Quart, zweispaltig im 13. Jahrhundert
mit rothen Ueberschriften der Artikel und abwechselnd rothen
wie blauen Anfangsbuchstaben derselben geschrieben, je 29
Zeilen auf der Seite, aber auf dem zweiten Blatte mehr zu-
sammengedrängt.
Das eine Blatt enthält die zweite Hälfte des Art. LZ 86a
des Landrechts von den AVorten ,chan er daz, so hat er
di rehten wisheit. ob er daz übel lat vnd tut das gut' ange
fangen, und den Anfang von 87 a. Das zweite 101 bald nach
dem Anfänge von den AVorten ,fur, man veraehtet in niht.
vmb dehein chlage' an, 102, 103 bis zu den AVorten: sines
amptes reht niht. ein rihter sol ein rihter sin.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 7. Abli.
3
34
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
268 **.
München, ebendort, Cod. germ. 5250/6 (b). Zwei Per
gamentblätter, die inneren einer Lage, zweispaltig zu je 32 Zeilen
um die Mitte des 14. Jahrhunderts mit rothen Ueberschriften
der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben gefertigt,
aus Regensburg oder dessen Umgebung stammend, woselbst
sie als Bucheinband zu dienen hatten, daher die Vorderseite
des ersten und die Rückseite des zweiten sehr gebräunt und
theilweise abgerieben sind, vom Oberlieutenant Schuegraf da
selbst im Jahre 1851 abgelöst, dann im Besitze des Dr. Karl
Roth 1 zu München, der sie später um 30 Kreuzer abliess. Vgl.
seine kleinen Beiträge zur Sprach- Geschichts- und Orts
forschung II (Heft 6, 2. Anfl.), S. 47 unter d.
Sie enthalten aus dem Lehenrechte noch 5 Zeilen vom
Schlüsse des Art. L 48, dann Art. 49 a und b, 50 a und b,
51 a und b, 52 -(- 53, 54 a und b, 55 -j- 56 +57, endlich noch
6 Zeilen von Art. 58 bis zu den Worten: daz mag im niht
geschaden.
269**.
München, ebendort, Cod. germ. 5250/6 (c). Ein Per
gamentdoppelblatt in Folio, durchlaufend in je 42 oder 43 Zeilen
in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit rothen Ueber
schriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben
gefertigt, mit einer alten Zählung XX und XXIII in der Mitte
des oberen Randes, im Jahre 1631 Bucheinband, aus Regens
burg von Maurus Gandershofer, der es wohl von dem dortigen
Assessor am städtischen Handelsgerichte, Kräner, erhalten, am
14. September 1842 an Dr. Karl Roth 1 zu München überbracht,
welcher es später um 54 Kreuzer käuflich abliess. Vgl. a. a. O.
Heft 6 (2. Auf!.), Anhang S. I—IX, woselbst sie abgedruckt sind.
Sie enthalten aus dem Landrechte: LZ (Vorw. e),
Vorw. f + g, Vorw. h, Art. la +- (1 b), 2, (3); (15), 16, 17,
18 + 19 + 20, 21, (22).
269>/ 2 **.
München, ebendort, Cod. germ. 5250/6 (d), von den
Deckeln des Duplum 969 in Quart abgelüst. Bruchstücke einer
1 Vgl. Dr. Hyacinth Holland in der Allgemeinen deutschen Biographie 1
XXIX S. 338/339.
Berichte über Handschriften des sog, Schwabenspiegels. XTT.
35
Handschrift auf Papier in Folio, durchlaufend, mit rothen
Ueberschriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben der
selben, aus dem 15. Jahrhundert.
Sie enthalten folgende Artikel des Landrechts in der Ge
stalt der von Johann August v. Berger herausgegebenen Nr. 405:
LZ 33,i 34^2 35 (36 als zwei Artikel)/ 37, 38, 39, 40, (42).
(148)/ 149, 5 150, 155 b , 27.
270.
München, ebendort, Cod. germ. 5335. Auf Papier in
Folio durchlaufend — mit Ausnahme des in zwei Spalten ge
schriebenen Inhaltsverzeichnisses — wohl erst im letzten Viertel
des 15. Jahrhunderts gefertigt, in helles, aussen schön geglättetes
Schweinsleder in der Weise gebunden, dass über ihren Rücken
ein mit dunkelbraunem Leder überzogenes Holzblatt befestigt ist,
welches gegen oben und unten ein Lederknöpfchen zeigt, wäh
rend das Schweinsleder der hinteren Seite noch zum Umschläge
über das der vorderen bis zur Mitte reicht und gegen oben wie
unten mit feingedrehten Spagatschnürchen — von deren oberem
die Enden schon seit längerer Zeit abgerissen zu sein scheinen
— behufs besseren Verschlusses ohne Zweifel zum Einhängen
in die beiden Lederknöpfchen am Rücken versehen ist. Am
Anfänge des 17. Jahrhunderts trug der Besitzer dieser Hand
schrift — ob Dr. Johann Diemer? oder Dr. Paul Dins-
beck? oder Di - . Michael Piihelmair? oder wer immer — zu
Regensburg 15 in sie Verweisungen auf das sächsische Lantl-
1 Mit der Ueberschrift: Von gericlit vmb ain gut.
2 Wie der man des weibs mayster ist.
3 Der erste seliliesst in LZ 36b: selb drit das er den zinns von jm emphieng.
oder er pring es für mit poten der jms antwurt. so hat er sein gut pehabt.
4 Von LZ 148c an: ein sullen komen, also das du ainem yeglichen als
vil gebst als er dort het. do sasz Moyses vnd Eleazar nider vnd ander
weys lawte, vnd nam auch u. s. w.
5 Mit dem Schlüsse: dem mann gebenn, vnd ist er dannoch auf dem gut.
Wenn sich ain yeglich gellt oder zinns ergangen hat, das sayt dicz piiche
hernach.
6 In dem Vortrage in der historischen Classe der Akademie der Wissen
schaften zu München vom 9. November 1867 habe ich S. 421 auf den
Dr. Paul Dinsbek hingewiesen.
Im Hinblicke auf zwei im baierischen Reichsarchive hinterliegende
Testamente der Doctoren beider Rechte Johann Diemer und Michael
Pühelmair Hesse sich wohl auch an diese denken.
3*
36
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
recht 1 wie Bemerkungen aus der Nr. 215 und insbesondere der
Nr. 216 ein. Am 25. April 1833 erwarb sie von dem fürstlich
Freising’schen Hofrathe Franz von Paula Hoheneicher 2 zu
Werdenfels beziehungsweise Garmisch und Partenkirchen, später
an der Hof- und Staatsbibliothek zu München, um drei Kronen-
thaler der Ilofrath und Oberbibliothekar Heinrich Föringer 3 zu
München,' aus dessen Besitz sie in den Siebzigerjahren an
Der letztere bestimmte am 8. Februar 1590 in einem Alter von
59 — on eins sechtzig — Jahren in seinem mit eigener Hand geschrie
benen und mit seinem angebornen Insiegel bekräftigten letzten Willen
für seinen Sohn Benignus ausser Anderem, darunter aus seinem Silber
geschirre die grosse ,verguldte scheyhern, welche ihm vor Jaren sament-
lich die Erbarn frey vnd Reichstett auf gehaltenem Reichsztag anno etc.
76 alliie verehrt vnd geschenckht* hatten, folgendes: Dieweil mein Sohn,
Dr. Benignus Pühelmair, meines beruffs vnnd studij Juridicae facultatis
ist, vnd aber mit vberflüssigen Puechern der notturft nach noch nit
fursehen, das solchem nach die andern meine khinder vnd erben oder
Enigklilein demselben meinem Sohn Dr. Benigno alle vnnd iede meine
buecher so er zuuor nit hat in Juridica facultate sollen zu einem voraus
vnd vortheil volgen lassen, des Vertrauens, was vnd souil er solicher
buecher zuuorhin hat das er dieselben verners nit solt noch werdt der
billigkheit nach anbegeren, sonder dieselben neben vnd sambt andern
meinen vbrigen puechern so wol in Theologia alsz artibus vnd historijs
in gleiche theilung zwischen inen samentlichen freundtlich vnd billich
kliumen lassen u. s. w. Mag in der Sammlung dieser juristischen Werke
unsere Handschrift gewesen sein, keinesfalls können die im Februar 1609
in sie gemachten Einträge aus der Nr. 216 von Dr. Michael Pühelmair
stammen, da die Eröffnung des berührten Testamentes bereits am 3. August
1590 stattfand, sondern müssten dann von dem erwähnten Dr. Benignus
Pühelmair herrühren.
Mehr spricht wohl für Dr. Johann Diemer. Er verfügte in seinem
von ihm Unterzeichneten letzten Willen vom 10. März 1612: Meinem
Sohn Abrahamb, der Rechten Doctor, verschaff vnd vermache Ich zu
einem Voraus alle mit meinen selb eignen Händen geschribne sambt
den Gedruckhten durch mich selb Glossirten Buecheren. Doch hergegen
soll er die Ihenige Authores Juris die er selb zuuor bereit bekommen
in gemeine Erbschafft eintzuwerfen schuldig sein u. s. w. Die Unter
zeichnung des Testamentes dürfte nicht gegen die Möglichkeit der
Gleichheit der Schrift in den Einträgen in unserer Nr. 270 sprechen.
1 Vgl. Rockinger a. a. O. in der Note zu S. 11—13.
2 Vgl. über ihn Kunstmann’s Nachruf im siebenten Rechenschaftsberichte
des historischen Vereins von Oberbaiern, S. 60—77.
3 Vgl. die Lebenskizze desselben von Dr. Christian Iläutle im Rechen
schaftsberichte des historischen Vereins von Oberbaiern für die Jahre
1879 und 1880, S. 127—212.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
37
ihren jetzigen Lagerort gelangte. Homeyer Nr. 191. Rockinger
A S. 408—436; Iv S. 179.
Hienack bildet den Inhalt zunächst das Verzeichniss
der Artikel des Buches der Könige alter Ehe wie des
Land- und Lehenrechts, dann diese drei Stücke selbst
in der Weise, dass am Schlüsse des Landrechts die sogenannten
Articuli generales, worüber Rockinger K S. 175/176 zu ver
gleichen, stehen.
Das Verhältniss des Land- und Lehenrechts zum Drucke
LZ wie v. Berger’s ist bei Rockinger K S. 182—191 in Spalte
V und S. 199 —206 ersichtlich.
[München, ebendort, Cod. germ. 5715 = unten der]
Nr. 282.
[München, ebendort, Cod. germ. 5716 = unten der]
Nr. 273.
271.
München, ebendort, Cod. germ. 5922. Auf Papier durch
laufend ohne Ueberschriften nur mit rother je in der Mitte
angebrachter Zählung der Artikel mit rothen Anfangsbuch
staben derselben im 15. Jahrhundert gefertigt, nach Einzeich
nungen auf der ersten Seite im Jahre 1612 einem Jakob
Kknaupp 1 gehörig gewesen, am 1. September 1632 im Besitze
des ,Frater Angelus Weinman ordinis s. Francisci zu Regens
burg, dann in der Bibliothek des Minoritenconventes daselbst,
endlich aus der dortigen Stadtbibliothek im Jahre 1876 hieher
gelangt, in starkem Holzdeckelband ohne Ueberzug, oben am
Rücken mit einer Papieraufschrift: Liber Quodlibet, welche
Bezeichnung- sich auch von neuerer Hand oben am ersten
Blatte der Handschrift selbst nach dem Vermerke Khnaupp’s
findet. Auf einem dem Hinterdeckel innen aufgeklebten Stücke
einer Pergamenturkunde des 15. Jahrhunderts, welches sich
noch um die letzte Lage schlingt, ist noch zu lesen: dorzü sol
ir yegleicher ainen erbern mon geben, vnd sol Peter Haller,
1 Von ihm ist auf dem ersten Blatte am oberen Rande bemerkt: Sum ex
libris Georgij Jacobi Khnauppen. Anno 1612.
Sodann am unteren: Hoc tempore Fratri Angelo Weinman Or
dinis s. Francisci. Anno 1632, primo die septembris.
2 Vgl. Prof. Dr. Johann Friedrich Schulte, Geschichte der Quellen und
Literatur des canoniscken Rechts II, S. 480.
38
VII. Abhandlung: L. v. Kockinger.
burger zü Nürnberg ain gemainer sein .... da sol ez bey
beleihen, vnd wann sy bayderseytt den vorgenanten Haller
darumb pittent, so u. s. w.
Den Inhalt bildet die Gestalt des kaiserlichen Land- und
Lehenrechts, wovon Rockinger in P handelt. Die ersten
drei Blätter füllt der Eingang, theils lateinisch, theils deutsch,
welcher von S. 2 bis in die ersten sechs Zeilen der S. 6 das
Verzeichniss des ersten Theiles des Landrechts in sich
schliesst. Dann folgt dieser selbst bis Fol. 24'. An das
Verzeichniss seines zweiten Theiles auf zwei Blättern
und der ersten Seite des dritten reiht sich dessen Text von
der zweiten Seite bis Fol. 62' unter dem schwarzen Schlüsse
in rother Einfassung: Hie hat das ander teil des püches ein
end. Die nächsten zwei Blätter enthalten das ,Register des
dritten Teil des buchs' und von Fol. 65—83' diesen selbst,
nämlich das Lehenrecht, an dessen Ende schwarz steht: Et
sic est finis illius libri. Deo gracias.
272.
München, ebendort, Cod. germ. 5923. Auf Papier in
Folio zweispaltig von Christof Vetter in Höchstadt im Jahre
1459 1 gefertigt, früher im Convente der unbesehuhten Carme-
liten zu Regensburg, dann in der Stadtbibliothek daselbst, von
welcher er im Jahre 1876 hieher gelangte, in Holzdeckel mit
braunem gepressten Lederüberzuge gebunden, früher vorne
und hinten mit je fünf Buckeln oder anderen Verzierungen
versehen, mit zwei Messingschliessen, über dem Rücken ein
mal mit braunem Papier überpappt und jetzt mit weisser Oel-
farbe überstrichen und mit der schwarzen Aufschrift daselbst:
De Hochenstratt Landrecht der Layen 1492 MS.
Voran geht auf 25 Folien ohne Blatt- oder Seitenzählung
ein Verzeichniss der Artikel des Land- und Lehen
rechts unter der rothen Ueberschrift ,Ditz ist ain lant recht
buche der layen. wa von der man lesen wil, dz suche er an
dirr taffein vnder dem numero hin' je mit Beziehung auf die
1 Nach der rothen Schlussbemerkung auf Fol. 177 Sp. 2: Et sic est finis
istius libri per me Cristofferum Uetter de Hochenstat naccionis de
Vrach. Et finitus est iste über jn die sancti Leodegary sub anno jn-
carnacionis 1459 etc.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
39
oben in der Mitte mit arabischen Zahlen bezeichneten Folien
des Textes. Das Landrecbt reicht von Fol. 1—123 Sp. 2,
das Lehenrecht von Fol. 126—170 Sp. 2.
Von Fol. 123' bis nicht ganz zur zweiten Hälfte der
zweiten Spalte des Fol. 124 findet sich das Gedicht ,Es was
ayn rieh sündig man' u. s. w. mit dem Schlüsse: Hie ist ditz
bispil ussz. da sol ain yetlich man an gedencken. vnd was er
gott enthaisse guter dinge, das sol er laisten. Vgl. den Ab
druck aus der Nr. 85 in der Ausgabe des Freiherrn v. Lass
berg S. 18 — 19 in der Note. Deutschenspiegel Art. 29c in der
Ausgabe Ficker’s S. 49—52.
Von Fol. 124 bis nicht ganz zu einem Drittel der zweiten
Spalte des Fol. 125' folgen die Artikel 32, 1 36, 2 38 3 des
Deutschenspiegels.
Von Fol. 171—176 Sp. 1 findet sich ein interessanter
Aufsatz über die weltlichen und geistlichen Gerichte des Hoch
stiftes Wirzburg wie über das bambergische Rottbach und das
Landgericht zu Nürnberg mit einer besonderen Anspielung auf
das kaiserliche oder Reichsgericht zu Rothenburg an der Tauber
am Schlüsse.
Unmittelbar hieran reihen sich von Fol. 176 Sp. 1—177
Sp. 2 Judeneide.
Einen besonderen Reiz verleihen dieser Handschrift auch
noch Hinweise auf ihren eigenen Inhalt und Beziehungen zu
demselben, dann Verzeichnungen von diesen und jenen Ab
weichungen anderer Codices, weiter theihveise sozusagen Vor
schläge zu Aenderungen der Fassung, wohl in der Vorlage als
1 Unter der rothen Ueberschrift: Ob man oder frow on gescheffte stirbet
oder on erben.
2 In zwei Artikeln. Der erste unter der — nicht wie sonst rothen, son
dern nur roth eingefassten — schwarzen Ueberschrift ,Erbe c lautet:
Alle ttitsche land oder lüte mögen sich versuinen an jr erbe jnner
dryssig jaren, on der künig der das riclie haut vnd die Swaben etc.
Dann folgt unter der rothen Ueberschrift ,Von des richs vnd der Swaben
erbe‘ weiter: Das riche vnd die Swaben enmügen sich nymmer u. s. w.
bis: den Swaben geben, die uerdienten mit jr frömkeit, die wir hernach
wol sagen.
3 Unter der rothen Ueberschrift: Von vngebornen erben, als da ain wib
kind trayt nach jrs mannes tod.
40
VII. Abhandlung: L. v. Rockin ger.
Randbemerkungen befindlich gewesen, liier aber gleich un
mittelbar an den je treffenden Stellen dem Texte selbst ein
verleibt.
Was das erste anlangt, bestehen die zum Theile zahl
reichen Hinweise auf ihren Inhalt und Beziehungen zu dem
selben entweder
a) lediglich in der ganz allgemeinen Bezeichnung ,numero
isto' ohne eine weitere desfallsige Angabe, für welche allerdings
sozusagen regelmässig ein gewisser Raum leer gelassen ist, in
welchen wohl seinerzeit die je treffende Zahl noch eingesetzt
werden sollte oder jedenfalls leicht eingesetzt werden konnte.
So beispielsweise auf Fol. 16' Sp. 1 = LZ 34 am Schlüsse: wann
als das büche hie uor seit numero isto. Fol. 52' Sp. 1 = LZ
149 nach dessen Schlüsse: ob er dannoch uff dem gute ist.
wann sich ain yetliche gelt oder zins ergangen habe, daz seit
dis buche hie uor numero isto etc. Fol. 95 Sp. 2 = LZ 308
S. 131 Sp. 2: vnder yetlichem byschoue vnd abbt vnd abtissin
die gefürstet sind hand die dienstman stinderliche recht, da non
mag man jr aller recht nit wol vnderschaiden, als auch vorn
jnn dem buche numero isto berü[r]t ist. danne yetlicher habe
u. s. w. Fol. 115' Sp. 2 = LZ 374 I am Anfänge: jn sins
üatters pflege ist, on die siine die wir hie uor geschriben hän
numero isto, das ist des uatters mit rechte. Oder
b) sie beziehen sich auf nichts weiter als auf ein Blatt
der Handschrift. So bei der Einschiebung des Artikels ,Von
totlibe vnd wie brüder' zwischen LZ 25 und 26: Totlib ist
als du an dem nachuolgenden blat vindest. Fol. 38' Sp. 1 =
LZ 106 a: Wer in als vil achte klimmet als da obnen geschriben
an dem nächsten blat stet, der ist yetlichem richter. Fol. 127'
Sp. 1/2 = LZ Lehenrecht 7: das er jm hulde tüe vnd swere
als do vorn folio precedenti gesprochen ist. Oder
c) sie enthalten eine Anführung bestimmter Zahlen. So
auf Fol. 9 Sp. 1 nach dem Schlüsse von LZ 14: vnd da uon den
litten gelten, das ist da uon das es der bruder erarbait haut,
ist weder uatter noch muter noch swester da, so nemen es die
nesten erben, ayn ietlieh mensche ist erbe bisz es gerechnen
mag an die sibenden sippe, als och das büche hie uor numero 5
saget. Fol. 12 Sp. 1/2 = LZ 22 am Anfänge: wil ers ym
sicher machen, er sol jm schrifft dar über geben, ain hantuest,
Berichte über Handschriften des sog. Schwahcnspiegols. XII.
41
als hernach uon dem libding numero xij geschriben stet.
Fol. 58' Sp. 1 = LZ 172: an den höhern richter. das sollen
sy ttin als hie uor numero isto xxx gesprochen ist. Fol. 82'
Sp. 2 = LZ 254 am Schlüsse: vnd wert er sich, das stet jn
dem selben recht als hie uor numero isto lxiiiiii geschriben
stett etc. Oder
cl) sie bieten eine ganz unzweideutige Anspielung auf
diesen oder jenen Artikel. So auf Fol. 8 Sp. 1 = LZ 10:
Vnd stirbet ayn man, so ist man den erben wol schuldig was
man jm gelte[n] solte, daz man behaben mag als e recht ist,
ixt supra: mit welchem etc. Fol. 43' Sp. 2 = LZ 123b: wen
man zu künig weit, der sol sin recht wolbehalten han, recht
als hie uor numero isto geschriben stet von den richtern: in
welicher achte die sullent sin [so man] die kieset, jn der selben
achte sollen ouch sin die künige so man sie küset. Fol. 49'
Sp. 2 = LZ 142 gegen das Ende: vnd also uellet der dienst-
man ussz dem sechsten jn den sibenden. das sagt vns das
lehenbüch wol her nach numero isto: welliche recht die habent
die jn dem sibenden herschilt sind etc. Fol. 90' Sp. 2 ==
LZ 288 a am Schlüsse: mit siben mannen uolkumner lüte. hie
uor ist wol gesprochen numero isto, wer gezlig möge sin oder
nit. Fol. 95 Sp. 1 = LZ 307 a gegen das Ende: er sol ouch
faren für sinen lüttpriester, vnd sol des rate ouch haben etc.
der sol jm raten als an dem buche geschriben staut uon dem
aide da obnen. Dann sind
e) beachtenswerth ganz bestimmte Hindeutungen auf Ar
tikel, welche erst später folgen. So findet sich in dem Artikel
welcher = LZ 291, 292, 317 I, 318, auf Fol. 92 Sp. 1 noch:
Und ist das ayn frie frow jren aigen man zu jr layt etc. stat
ret.ro 1 numero isto x. — Es ensol ouch kain fremder man
fremds wib rügen, stat eciam retro 2 numero supra dicto. — Es
mag ain man sin wib wol riegen, vnd ain wib etc. stat retro 3
prenotato numero. — Vnd ist das ain cristen man by ainer
jiidin litt, stat prenotato loco.* — Vnd wil ain frier man sich
1 Nämlich auf Fol. 101' Sp. 1 nach dem Art. LZ 318. Er entspricht hier
dem Art. 319.
2 Auf Fol. 101' Sp. 2. Er entspricht dem Art. LZ. 319.
3 Ebendort, entsprechend dem Art. LZ 321.
4 Auf Fol. 101' Sp. 1 und Fol. 102 Sp. 1. Er entspricht dem Art. LZ 322.
42
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
selber an ain kirchen geben, stat prenotato loco.' — Welcher
fryer man sin gut also an ayn gotzlnissz git etc. prenotato loco-
stat. — Im Lekenrechte knüpft sieb ohne Ueberschrift und
ohne rothen Anfangsbuchstaben, aber in neuer Zeile auf Fol. 127'
Sp. 2 an den Art. LZ 7 an: Ynd haut ain man gut zu lehen
von aym herren das sein aigen ist, vnd wirt jm jn des richs
dinste gebotten, der man sol dem herren dyenen da uon als
ob er es uon dem riche hette. vnd solt man von dem riebe
stat retro 3 numero etc.
f) Abgesehen von diesen Erscheinungen stossen wir nicht
selten auf die Anführung anderer gleichbedeutender Ausdrücke,
meist mit ,vel ( oder ,seu‘ bemerkt. So auf Fol. 6 Sp. 1 beim
Art. LZ 3a gegen das Ende: nagel möge, wer nun sippzale
recht vnd endhafft raiten vnd zelen wil, der sol sy also
raiten als hie geschriben stet, vnd welliche kind uel sippschafft
sich zwischen dem koubt u. s. w. — Fol. 8 Sp. 2. LZ 11b:
freuelt an dem richter uel gerichte oder sinen fronbotten. —
Fol. 37 Sp. 2. LZ 103: vnser her Jesus Christus botte dem
rate uel juden also gut rede. — Fol. 46 Sp. 2. LZ 132b: Der
kunig sol kain uanleken oder manleken jn siner u. s. w. —
Fol. 74 Sp. 2. LZ 225: vnd ist das ain man uel ain diep ainem
man git dieplich güt, vnd jener u. s. w. —- Fol. 75 Sp. 2. LZ
229: vnd git er mir sin arbait seu habe dar an, oder ain
phenning dar uff, vnd das belibet u. s. w. — Fol. 81' Sp. 1.
LZ 253b: da sol man jn uordern uon gerichtes halben seu uon
geeichtes wegen. — Fol. 87 Sp. 1. LZ 266: des sol man jm Frist
seufryde geben dry uierzehen neckt. — Fol. 90 Sp. 2. LZ 285:
sy haben vnreekt vrtail gegeben seu funden, das sol man sy
beclagen uor dem höheren gerichte ml richter, daz ist der von
dem u. s. w. — Fol. 96' Sp. 2. LZ 308 am Schlüsse: hand die
herren es mit gewonhait dar zu bracht, daz sy es für recht
halten vel wellent han etc. — Fol. 99' Sp. 1. LZ 317 bald nach
dem Beginne: der sol sin gut wol anvangen vel anuallen mit
1 Auf Fol. 102 Sp. 1 und 2, entsprechend dem Art. LZ 323 a.
2 Auf Fol. 102 Sp. 2 bis Fol. 102' Sp. 2. Er entspricht dem Art. LZ 323b.
3 Nämlich auf Fol. 162' Sp. 2 bis 163 Sp. 1, entsprechend dem Art. LZ
129, mit dem Schlüsse: da uon ze dienen den dyenst als ditz büche
seyt hie uor numero isto. Dann in neuer Zeile: Wie die hern vnd wenne
sie dem küuig dienen süllen, das sagt ditz büch predicto numero etc.
Berichte über Hundschriften des sog. Schwabonspiegels. XII.
43
des richters vrlowb. — Fol. 101' Sp. 2. LZ 320 am Schlüsse:
vnd ouch sin hocbgesind mag sie ouch riegen mit jm vel mit
rechte etc. — Fol. 109' Sp. 2. LZ 358: allen Herren die lantte-
geding vel lantteding sullen gebietten uff dem lande, das sy es
u. s. w. — Ebendox-t: ob sie zii tagen körnen sint, zu uier vnd
zwaintzig jaren vel xxi jar. als ain herre u. s. w. — Fol. 115'
Sp. 1. LZ 370 am Schlüsse: hutt vnd hare abslahen an der
scharlott vel an der schreiet by dem höchsten etc.
g) Hier und dort begegnen auch nähere Erklärungen oder
Erläuterungen. So auf Fol. 21' Sp. 1 beim Art. LZ 47 am
Schlüsse: die erbent ir möge wol, scilicet patres, ob sy zu e
kinden sint gemacht, als hie obnen geredt ist etc. — Fol. 21'
Sp. 1. LZ 48: ob man die selben rowbs oder diepstal ander
stund, id est anderweit, zihet. — Fol. 109' Sp. 2. LZ 358: er
sin lantteding gebotten habe, als er, scilicet ipse dominus, dann
dar kummet, so sol er sinen fronbotten frögen, ob er das lantte
ding also gebotten habe als er jn hiessz. da sol er u. s. w. —
Hier mag auch noch eine Stelle aus Fol. 17 Sp. 1 zu LZ 36a
angeführt sein: so belibent brieff ymmer stete, ditz das haissent
hant uesten. nota liant uest ist als uil gesprochen als lang uest,
dar vmb das ain toter geziig dar an als uil hilffet als ain leben
diger. vnd hilffet ayn toter gezüg dar an als uil als ain leben
diger. wer ouch von layen u. s. w. Manchmal auch
h) scheint es gewissermassen auf eine Art Verbesserung
des Textes abgesehen, häufig durch ,vel sic' eingeleitet. So
auf Fol. 34' S. 2 beim Art. LZ 93: wer zu dem dinge nit
körnen sy zu der zitt, vel sic: zu rechter ding zitt, ob er jm
wetten solle. — Fol. 41 Sp. 1. LZ 114a: da sol der richter sin
botten, vel vnum nuncium, zu geben, das die hören wer an der
vrtail volköme uor dem künige. — Fol. 70' Sp. 1. LZ 207a:
kummet des andern gewer nit, der haut verloren, vnd kument
sy baide mit jren geweren, so sullen sy klimmen für den
richter, vnd richten vmb die gwern. vel sic: vnd die gweren
mit ain ander rechten, vnd wellichs gwer u. s. w. — Fol. 78
Sp. 1. LZ 243 nach dem Schlüsse: Wir sprechen, das kainer
richter gar sol nemen den lib vmb gwild noch vmb gefügel
noch vmb vische. et hoc in alijs uerbis: vmb vische vnd vmb
uogel vnd vmb gwild verwurcket nyemant sin lib gar. — Fol. 86'
Sp. 1. LZ 264: an jn gebrechen müge durch die starcke ueste
44
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
vnd bürge [die sie] band vnd durch die warhafften liite die sie
hand. vel sic: durch die warhafften lüt die alle zitt hy den fürsten
sullen sin. vel sic: durch die warhafften lüte die die fürsten alzit
sullen fiiren. des ist doch nit recht. — Fol. 88' Sp. 1. LZ 276c:
dem mussent sy antworten, vel sic: das ist da uon das sie uon
dem rechte sint geschaiden vnd uon der gemaind der cristenha.it
uor gaistlichem geeichte vnd uor weltlichem, vel sic: das ist da
uon das sie gesetzt sint uon dem rechte der cristenhait uor gaist
lichem gerichte vnd. weltlichem, vnd ist er in jr aim, es ist u. s. w.
— Fol. 89 Sp, 2. LZ 281: das der acker uor gericht behabt
sy, vnd er das wäre wais das der richter sin botten dar uff
geschicket vnd genem habe geantwürte mit gerichte, vel sic:
vnd jenem daruff fryde gehannen, so uerluset er u. s. w. —
Fol. 94 Sp. 1. LZ 304c: gebristet jm it, des sol jm der richter
wer uon genes gilt, vel sic: gebristet it, er sol jnn basz uer-
pf'enden, vnd sint die by ain ander u. s. w. — Fol. 100' Sp. 1.
LZ 317 S. 140 Sp. 2: vnd kumpt es an den dem der dieb
oder der rowber das gut da uon ersten gab, vel dem der dieb
oder der rowber syn gilt haut genommen, vnd hand die dieb
oder die rowber nit gutes u. s. w.
Sozusagen als eine Auswahl auch aus anderen Codices
unseres Rechtsbuches finden sich unter der Angabe ,alter' oder
,alir oder ,aliqui' Anführungen aus solchen. So auf Fol. 10'
Sp. 1 und 2 bei Art. LZ 18: sim wibe zu morgengabe ge
geben miige. alij addunt: on einer erben erlowp. vnd haut der
man nit erben die das ertrich an höre, ives daz gerichte denn sy,
dem tw die frowe das selbe, vel hec uerba. etc. vnd sol also rilmen
daz man das gilt icht bösere, sie sol es aber e die erben an
bietten nach frummer lüt chur was dar uff ist. vnd was die jr
haissent geben, das sol sie nemen. vnd haut der man nit erben
die daz ertrich an höre, wes daz gericht dann sy, dem thw die
froiv das selbe, des morgens an dem bette, oder so er mit jr
zu tisch geet, oder u. s. w. — Fol. 15' Sp. 2 LZ 30: vnd
wellichs er der aynes berette mit sin zwayen vingeren, oder
selb dritte; aliqui habent: ob er sy statt haut; so sol man jm
u. s. w. — Fol. 21 Sp. 2. LZ 45: es uersprechent dann die
erben ynner jar vnd tage, als mit gezugen recht ist. aliqui
habent: das es ir rechtes erbe sulle sin. vnd uersument sy das,
sy mügent u. s. w. — Fol. 25 Sp. 2. LZ 63 am Schlüsse und
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
45
64 am Anfänge: da sullen sy dem kinde uon gelten, oder dem
der die erben an claget. vnd gebrist an dem gute, die erben
sullen nit gelten von kaynem jren äygen gut. vere omnes alij
libri hie sic habent: das ist der kinde recht die vnder fön ff vnd
zwaintzig jaren sind, nu sprechen wir uon den die kän bisz sy
zu fünff vnd zwaintzig jaren köment. was die getan mit jren
pflegeren, das sol u. s. w. — Fol. 74 Sp.-2 LZ 225: e an dein
vierden tag, wil er, so haut ern für ayn diep. alij addunt, et
bene: also ob er jn dar vmb gefragt vnd er sy gelönet haut, vnd
beclagt er jn uor gericht, er musz u. s. w. — Fol. 79' Sp. 2
LZ 247 b gegen den Schluss: was er enpfangen haut, des
kindes gut sol er ainen pfenning nit behaben das er enpfangen
haut, da mit büsset er. aliqui addunt: das er es mit vnr echter
Züchtigung haut uertriben. lauffet es aber hin durch u. s. w. —
Fol. 83 Sp. 1. L 256: so sol sie zwo biderbe frowen besenden.
die sullen sie besehen an jr haimlichen statt, vnd sagent die
by jr tawffe, alter Uber habet: by jr aide, das sy lebendiges
u. s. w. — Fol. 84' Sp. 1. LZ 260 gegen Ende: siecht oucli
ain cristen ain juden, alij habent: ze tod, man richtet über jn
als er ain cristen erslagen bette. — Fol. 95 Sp. 1. LZ 307 a
gegen den Schluss, wes der man swert da er sinen lib, alij
addunt: [oder] sin gut, mit mag ledigen, vnd er anders u. s. w.
— Fol. 113 Sp. 1. LZ 367 am Schlüsse: das man sie also
lebendig solt brennen, jtem aliqui habent: lebendig begraben.
Insbesondere findet sich eine Anzahl solcher Anführungen
aus einer als ,antiquus über' bezeichneten Handschrift. So
auf Fol. 15' Sp. 1 beim Art. LZ 29: Wellick man uon ritter
licher art nit ist, antiquus habet: der haut des herschiltes nit,
vnd des herschiltes nit haut, der erbet doch u. s. w. —• Fol. 17
Sp. 2. LZ 36 b: des sol er jn über Zügen selb dritte biderber
lüte die das Sachen das er den zins uon jm enpfieng; antiquus
Über addit: vnd jm sines rechtes jach; oder der hotte den er jm
zu schinbotten gab; antiquus liber habet hic: da mite haut er
sin libding behöbet; so haut er sin gut behabt. vnd ist das 1 ayn
man, antiquus Uber: libding, gut gewinnet zu zwaien liben oder
zü aim, vnd benennet u. s. w. — Fol. 17' Sp. 2. LZ 366: wil
er das gut on werden, man sol es den herren uon erste en-
1 In (1er Handschrift steht: es.
46
VII. Abhandlung: L. v. Bockinger.
bietten. vnd wil er also uil dar vmb geben als ander ltite, so
gebe man yms. antiquus Uber habet: vnd man sols dem herren
nit nelier geben wann als aim andern, jtem: leuget der herre daz
es jm nit an gebotten sy, des sol man jn über zügen selb dritte
die es wärs wissent das jm an gebotten sy. wil er des nit, so
gebe ers wem er wolle, sin recht, u. s. w. •—- Fol. 19' Sp. 1. 2.
LZ 42: man sol aynen galgen richten zu der lantstrasse, vnd
sol jn dar an hencken. antiquus Uber addit: ander rouber sol
man enthopten. so die strauszrouber den strausszroub genement,
ist das sy gerüwet das sy den strausszroub genomen hand,
vnd gebent sy u. s. w. •— Fol. 22' Sp. 1. LZ 55: vnd haut
ander pfleger, wider der willen tut er es ouch wol. antiquus
Uber addit: vnd behebt sin lantrecht wol. also ob sy jr flaisch
zu ain ander hand gemischet. vnd ist das nit u. s. w. —
Fol. 22' Sp. 1. 2. LZ 55: vnd nymet sy ain man wider jr uatter
vnd muter vnd jr fründe willen, die e ist stete, antiquus addit:
als hie oben gesprochen ist. wil man es dem jungling u. s. w. —
Fol. 25 Sp. 1. LZ 63: vnd tut er it das jn nit gut ist, als sie
zu iren tagen kummen sint, antiquus addit: zü vierzechen jaren,
sy sprechent jn wol u. s. w. — Fol. 27 Sp. 1. LZ 68 b: in
wellic.hen rechte die muter jn der selben wile ist, in dem sint
ouch die kind. antiquus Uber addit [lijic: man sol dem kinde ye
das weger geben an der statt, wir haben von der schrifft, daz
nieman u. s. w. — Fol. 58' Sp. 1. LZ 172: es sol jr yetlicher
uff aim banclte sytzen. antiquus Über habet: sedes. vnd vrtail
vinden über ayn yetliche sache. — Fol. 60/61. LZ 177: haut
das kind manslacht getan oder wunden, man sol jm da wider
nicht tün, wann ain kind das vnder vierzehen jaren ist das
enmag sinen lip noch sins lips ain tail uerwürcken. antiquus
Über habet sic hic: haut das kind die wunden getan, man sol jm
dar leider tün als dar vor gesprochen ist. vnd wil es gut geben
so es über uierzehen jar Icummet, das sol man nemen also ob es
die schulde vnders vierzehen jaren tette. ein kind das sihen jar
u. s. w. — Fol. 62 Sp. 1 ist nach LZ 180 bemerkt: Item anti
quus liber habet hic eciam illud capitulum etc. Wer ain man
geuangen hat, der müsz antwurten sinem herren, ob er sin dienst-
man ist oder sin aigen, vnd sin wybe vnd sin Milden, vnd sinen
mögen, ob sy jn uor gerichtes beclagent die wile er jn siner ge-
fangnuse ist etc. -— Fol. 82 Sp. 1. LZ 253 b gegen Ende: vnd
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XU.
47
haut ayn ritter, antiquus Uber habet: ricMer, ain huse jn der
statt, vnd ist er der stat ze hilffe gewesen u. s. w. •— Fol. 82
Sp. 1 und 2. LZ 253 c: haut man aber den rowb nachgefolget
bisz für die bürg, so sol man syn ayde nit nemen. antiquus
Uber addit hie: Sünder die siillen bereden selb dritte, das es also
sy. die uerlegent dem bürgk herren sin zügen. — Fol. 97
Sp. 1. LZ 310: aym tagwercker zwen fulhin hantschuhe, anti
quus Uber habet: wullin, vnd ain mistgabel. — Fol. 98 Sp. 2
LZ 313 a: ditz gerichte sol man tun über herren vnd über arm
lütt, antiquus Uber habet: amptlüt. dis beweren wir u. s. w. —
Wieder der ,antiquus über' begegnet sodann in Verbindung
mit ,speculum‘ auch auf Fol. 21' Sp. 2 beim Art. LZ 49: dem
uertailt man sin erbe, antiquus Uber et speculum hob ent: ere,*
vnd ouch sin leben recht.
Ist in den bisherigen Andeutungen schon von mannig
fachen meist nur kleineren Fassungsverschiedenheiten die Rede,
so lassen sich auch einige grössere solche bemerkbar machen.
Etwa auf Fol. 12 Sp. 1 und 2 beim Art. LZ 22 am Anfänge:
er sol im schrifft dar über geben, ain hantnest, als hernach
uon dem libding numero xij geschriben stet.
uel sic:
Wil er im das sicher machen, er sol jm des ain hantfest
geben mit des byscliojfs oder ayns lagen fürsten oder ains closters
oder ainer stete oder der stete herren oder des lantrichters jnsigel.
Nota super ibi scriptum notabile vnum:
Es haben etliche stette das recht vnd gut gewonliait: wann
jr burger ayner dem anderen ein huse oder ander ligent gut
ze pfand für schulde jnn wil setzen, so setzt er jm die schuld
als ain zins usz dem huse etc. et hoc tenent Gamundie.
oder er sol für sin richter faren oder für sin herren, vnd sol
die zu gezüge nemen, vnd ander die da by jm sind, wil er es
aber jm u. s. w.
Auf Fol. 14 Sp. 1 und 2. LZ 26 am Anfänge: Wa zwen
man geborn sind zu ayner totlibe, da sol der elter tailen, der
junger sol welen. wa die süne zu jren jaren nit körnen sind,
da sol der aller eitest bruder sins uatters swert nemen ze tot-
1 In der Handschrift stellt: habent erbe, worauf ein dnrchstrichenes p
folgt, ere. Hat es vielleicht heissen sollen: ere pro erbe?
48
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
übe, vnd sol der kinde vogt sin vntz das sy zu jren jaren
komen sind: so sol er es denn den kinden wider geben, vnd alles
jr gut, er enkunne es jn den brecben wa ers gethan habe, oder
ob es uon vngelucke uerloren sy on sin schulde, vel sic: wa die
siine zu jren jaren nit liummen sint, jr ehester ebenbürtig swert-
mag nymet die totlib eyne, vnd ist der kind uogt dar an vntz sy
zü jren jaren kumen sin: so sol er es jn wider geben, er ist
ouch der wytwen fiirmunt etc. vt in litera, die wile sy u. s. w.
Auf Fol. 18 Sp. 1. LZ 37: daz musz er tön mit rechte
mit anderm gut, oder er sol jm geben das jm liber ist. uel
sic: vnd stirbet der die libdinge gelihen haut, vnd laut er gut
Kinder jm, ivere das erbt der sol denn den jr Upding ussz der
liant ist gangen gelten vnd als geben als es wert, ditz ist recht,
wan man sol nyeman betriegen. vnd ist der tot der die lipdinge
hin gelihen haut, vnd hat er gut hinder jm gelari, wer das
erbt oder haut geerbet, on leben, der sol den lüten jren schaden
nach rechte gelten, hette es der herre u. s. w.
Auf Fol. 19' Sp. 2. LZ 42 gegen das Ende: uerworffen
uon aller gezugschaft die die diser vntät schuldig sind die
hie uor genennet ist. uel sic: wirt er anderweit vmb sträszroub
begriffen beclagt, vnd mag man schub noch gezitg nit vber jn ge
hoben, so sol man sin recht nit nemen als ayns anderen Inder-
mans. man sol jm dry wal etc. vnd spricht man sy anderweit
an vmb die selben vntät, scilicet straszröb, vnd mag man sy
nit über komen vnd Überzügen mit dem schübe, so richtet man
sy als diczt büch saget, mag man sy so nit Überzügen noch
überkomen, so sol man jren ayd u. s. w.
Auf Fol. 58' Sp. 1. L 172: dem die vrtail funden ist ze
nütze, der lat sy nit abe so sy erfunden wirt. vel sic et bene:
so sy furbas gezogen wirt. sie enmag oucli der richter noch der
sy funden haut nit abe gelaussen one jenes willen dem sy ze
nütze funden ist.
Auf Fol. 69' Sp. 1 und 2. LZ 204 gegen den Schluss: er
musz büssen, on den todslag, als ob er die wunden selbs liett
getan etc. vel sic: tut das gwild den todslag, der man sol mit
pfenningen bussen als man by dem höchsten ain wunden büssen
sol, dem clager vnd dem richter. tut das gwilde den tottslag,
der man sol büssen etc. prius habetur, wer aber die hören
macht als sy sollen sin, so u. s. w.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
49
-Auf Fol. 76 Sp. 2. LZ 235: vnd spricht ain man dar an
on gerichte, vnd uert zu vnd vnder windet sich des gutz on
gericlitc, das haissen wir rowb etc. vel sic et clarius: ob er dar
uff ich nimmet, das sol man über jn richten als hie uor da obnen
jn dem nechsten vrtail stet, ob er dar uff icht nymmet, daz sol
man richten über jn als vber jenen den wir da obnen nanten.
nymet er aber nichts dar uff, so baut er doch u. s. w.
Auf Fol. 84 Sp. 1. LZ 260 gegen das Ende: ditz ist aber
nur recht wa ain jude freuelt. siecht oueb ain cristen ain juden,
alij habent: ze tod, man richtet vber jn als er ain cristen er-
slagen hette. das ist dar vmb gesetzt, das sy der kunige jn
fryde baut genomen. vel sic: siecht ain cristen ain Juden, man
richtet über jn als über ainen cristen. vnd leuget aber der cristen,
des müsz man jn vber zugen u. s. w.
Auf Fol. 86' Sp. 1 folgt nach LZ 264, wovon bereits oben
S. 43/44 die Rede gewesen, noch folgendes: Item daz capitel mit
anderen Worten also. Man sagt das fürsten vnd bürge fride
sullen haben den man an jnnen gebrechen milge. das ist uon den
uerkoufften lüten die allezit mit den fürsten sullen faren. des ist
doch nit. sy sind halt billich jn dem fryde, wann sy sullen den
Inten güten fryde machen etc.
Auf Fol. 96 Sp. 1 und 2. LZ 308 S. 132 Sp. 2: semliche
lüte, da Jacoben der segen wart, da uon weren sine geswister-
git sin aigen. noch envinden wir jn der alten schriffte yt, das
yeman des andern aigen were. vel syc: wir vinden ouch jn
vnserm lantrechte, das sych nyeman ze aigen gegeben mag, wider
reden es sin milge, als hie uornen numero isto (x) wol ouch be-
rii[r]t ist. 1 wir haben vrkundes mer. got geschuff u. s. w.
Eine eigenthümliche Einschiebung endlich bietet uns
Fol. 21 Sp. 1 und 2 zwischen dem Art. LZ 45: ob sy uor
mauls da mit nit band getan das recht waz. das eygen dem
kunglichen gwalte.
Wie es die erben uersprechen mügen etc.
Zihen es die erben nit ussz der kunglichen gewalt bynnen
jar vnd tag [mit] irme ayde, sy uerliessent das mit jme. es be-
1 Nämlich auf Fol. 91' Sp. 2 = LZ 292. Vnd wil ouch sich ain frie ze
aigen ge[be]n, das uersprechen sin m8,g wol baide uon vatter vnd von
mfiter, vnd als sie es einste wider redent, so mag er sich nymmer me
ze aigen geben.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 7. Abh. 4
50
VIT. Abhandlung: L. v. R o c k i n g e r.
nenne jn dan ehafft nott, das sy fürkommen mügen. die ehafft nott
sol man aber bewissen als nott ist etc.
Aber uersprechen etc.
Sie sullen es ussz zihen mit lantrichters brieffen, vnd da mit
zu houe varen, vnd sweren das er rät vnd tat unschuldig sy an
synes uatter bräche, vnd daz er des unter richs achte nif me uer-
schulden wolle, das jme gott also helfe vnd alle sin hailigen. so
behöbet er das gtit etc.
Aber uersprechen.
Es uersprechen dann die erben ynner jar vnd tage u. s. w.
mit dem Schlüsse: es letze sie dann ehafft nott das er nit für
komen mügen. die ehafften not sol man bewisen als recht ist.
273*.
München, ebendort, Cod. germ. 5716. Diese Handschrift,
auf Papier in kleinem Q.uartformate von einer sauberen Hand
des 15. Jahrhunderts in durchlaufenden Zeilen gefertigt, aus
dem Augustiner-Chorherrenstifte Herren-Chiemsee stammend,
dann im königl. allgemeinen Reichsarchive, in dessen Ueber-
gabsverzeichnisse an den jetzigen Standort Nr. 500, hat zahl
reiche Lücken, die übrigens zur Zeit ihres Einbindens — sie
hat noch einen alten, mit dunkelrothem Leder überzogenen
Holzdeckelband, vorne und hinten mit je fünf kleinen an den
Ecken und in der Mitte angebrachten Messingbuckeln versehen
— bereits vorhanden gewesen, indem die Reste des letzten
Sexternes gerade wie die noch vorfindlichen Ueberbleibsel des
ersten in ein hier den Vorsatz und dort den Nachsatz der
ganzen Handschrift bildendes Pergamentblatt gefügt sind.
Rockinger B S. 195—198.
Auf das Verzeichniss der Artikel folgt das Land
recht bis zu den Worten des Art. LZ 313 ,man sol in nicht
enphahen, vnd sol in nicht hören' etwas nach der Mitte der
ersten Seite des Blattes 124. Sogleich mit der nächsten Zeile
beginnt das Lehenrecht bis zum Schlüsse des Absatzes a
des Art. LZ 51 S. 187 Sp. 2.
Das Verhältniss der Artikel gegenüber dem Drucke LZ
ergibt sich aus der Mittheilung Rockinger’s a. a. O. S. 198—
218—233. Den Wortlaut in den im Bande CXVIII, Abh. X,
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
51
S. 20/21 in der Note 1 aufgezählten Probestellen tlieilt Haiser
,Zur Genealogie der Schwabenspiegel-Handschriften' II, unter
B a 8 mit.
274.
München, königl. Hof- und Staatsbibliothek, Cod. lat.
8153. Auf Papier in Quart mit rothen Ueberschriften und rothen
Anfangsbuchstaben der Artikel im 15. Jahrhundert gefertigt,
aus dem Benediktinerstifte Mallersdorf in Niederbaiern stam
mend, in Holzdeckel gebunden, über deren Rücken bis in die
Mitte der Vorder- wie Hinterseite ein gelber gepresster Leder
bucheinband mit der schwarz aufgedruckten Signatur SRR
1613 gezogen ist. Homeyer Nr. 489. Vgl. oben in der Nr. 6
die Verweisungen auf Schmeller und Rockinger D.
Von Fol. 82—150' findet sich die aus der Nr. 171 im Jahre
1356 hergestellte lateinische Bearbeitung des sogen.
Schwabenspiegels vom Bruder Oswald aus dem Bene
diktinerstifte Anhausen an der Brenz in Würtemberg.
Vgl. oben Nr. 6. Nach dem ,Prologus in librum judiciorum
provincialium' beginnt das Landrecht selbst auf Fol. 82'—138.
Nach dem Prologus secundi libri auf Fol. 138' und etwas
über die Mitte von Fol. 139 folgt das Lehenrecht selbst bis
Fol. 150'. Am Schlüsse steht schwarz: Expliciunt jura pro-
vincialia.
Daran ist noch folgender Absatz geknüpft: Idcirco sit
pax legenti, salus audienti, benediccio scribenti, eterna vita
intelligenti, laus Deo patri omnipotenti cum filio spirituque
sancto regnanti in seeula seculorum. amen.
275.
Zu München, ebendort, im Cod. lat. 8378, seit dem
Jahre 1606 der Bibliothek des Conventes des Eremitenordens
des heil. Vaters Augustin zu München angehörig gewesen, finden
sich auf der zweiten Seite des vorletzten Blattes 304 von einer
Hand aus der Mitte der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts
unter anderen deutschen und lateinischen Einzeichnungen nach
den auf ein ,Bein huss' gerichteten Versen:
Got rieht nauch dem rechten.
Hie ligeut die herren bi den knechten
all her nauch. vnd merkend da bi,
4*
52
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
wer herr oder knecht si.
Herr, gib in die ewigen ruw.
Daz ewig lieclit lucht in dar zu.
die vierzehn Enterbungsgründe des Art. LZ 15 des Land
rechts des sogen. Schwabenspiegels: Ain kind mag sin vetter-
lich erb verwurken in fiertzehner lay wiss nauch keyserlichen
rechten. Des ersten ob ain sun sinem vatter sin u. s. w. mit
dem Schlüsse: Datum Nürenberge, xij die mensis aprilis anno •
domini M° CCCC xxvj 0 .
276.
München, ebendort, Cod. lat. 8882. Auf Papier in Folio
zweispaltig, von Fol. 213—253' Sp. 1 mit schwarzen Ueber-
schriften aber ohne Anfangsbuchstaben der Artikel im 15. Jahr
hundert gefertigt, aus dem Convente der Franziskaner zu
München stammend, in Holzdeckel mit braunem Lederüberzuge
gebunden, früher mit je fünf Buckeln und mit zwei Schliessen.
Homeyer Nr. 488. Vgl. oben in der Nr. 6 die .Verweisungen
auf Schmeller und Rockinger D.
Von Fol. 213—250' Sp. 1 findet sich das in Nr. 274 be
rührte Werk des Bruders Oswald — hier ,Osward' geschrieben
■— von Brenz - Anhausen mit einer Menge erläuternder
Randbemerkungen. Nach dem ,Prologus in libro iudiciorum
prouincialium id est lantrecht buch' folgt dieser ,liber prouin-
cialium iudiciorum id est Lantrecht büch' selbst von Fol. 213
Sp. 2 —243 Sp. 1. Mit dessen Sp. 2 beginnt der Prologus
secundi libri bis Fol. 243' Sp. 1. Von dessen Sp. 2 bis in die
ersten Zeilen des Fol. 249 Sp. 2 das Lehenrecht selbst,
ohne den bei Nr. 274 bemerkten Schluss.
Hieran reiht sich von Fol. 249' Sp. 1 —250' Sp. 1 das
Verzeichniss der Artikel des Land- wie Lehenrechts,
und dann von Fol. 250' Sp. 2 —253' Sp. 1 ein alphabetisch
eingerichtetes Inhaltsverzeichniss mit Verweisungen auf
die ganz unten am Rande der ersten Seite jeden Blattes an
gebrachten schwarzen arabischen Zahlen mit deren zur leich
teren Auffindung beigesetzten Abtheilungsbuchstaben.
277.
München, ebendort, Cod. lat. 11775. Auf Papier in
Quart durchlaufend je abwechselnd mit blassrothen und den
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XU.
53
sonst gewöhnlichen rothen Ueberschriften und Anfangsbuch
staben der Artikel im 15. Jahrhundert gefertigt, aus dem Chor
herrenstifte s. Salvator zu Polling in Oberbaiern stammend, in
Pappendeckelband mit schwarzem Papierüberzuge, früher mit
zwei Schliessen. Homeyer Nr. 487. Vgl. oben in der Nr. 6 die
Verweisungen auf Schmeller und Rockinger D.
Diese Handschrift enthält das in den Nrn. 274 und 276
berührte Werk des Bruders Oswald von Brenz-Anhausen.
Drei vorgebundene Blätter enthalten ein von einer späteren
Hand des 15. Jahrhunderts, welche auch die ganze Handschrift
durchfoliirt hat, geschriebenes Verzeichniss der Artikel
mit Angabe der treffenden Blätter des Textes. Von Fol. 4
folgt nach der Vorrede der ,Liber provincialium judiciorum
id est Lantrechtpuclb bis Fol. 71, an dessen Schlüsse roth
steht: Explicit libellus de judicys prouincialium jurium, et
dicitur wlgari modo lantrecktpuch. Mit Fol. 71' beginnt unter
der rothen Ueberschrift ,Sequitur über feodorumf die Vorrede
des Lehenrechts und dieses selbst bis Fol. 86', ohne den
bei Nr. 274 bemerkten Schluss.
[In der Bibliothek des berühmten Wiguläus Freiherrn
V. Kreittmayr zu München sah im Jahre 1747 oder 1748
Johann Georg Lory nach seiner Commentatio I de origine et
processu juris boici civilis antiqui § 43 Note e unter III die]
Nr. 261.
[München, königliches allgemeines Reichsarchiv. Aus
seinen Beständen sind an die königliche Hof- und Staats
bibliothek abgegeben worden die] Nrn. 273 und 282.
278.
München, königliches allgemeines Reichsarchiv, unter
dem Bestände ,Landrecht 1 Nr. 2, auf Pergament in Grossfolio
durchlaufend in der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts ge
fertigt, in starke Holzdeckel gebunden, welche mit rothem
Leder überzogen und auf dem Vorder- wie Hinterdeckel je
an den vier Ecken und in der Mitte mit zierlich gearbeiteten
dicken Messingbeschlägen gegen die zu grosse Abnützung des
Einbandes geschützt sind, früher mit zwei Lederschliessen ver-
54
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
sehen, von welchen jetzt eine weggerissen, wohl seinerzeit in
der Stadt Forchheim 1 in Gebrauch gestanden.
Auf drei Quaternen, von deren erstem das erste Blatt
leer gelassen, von deren letztem zwei Drittel des vorletzten
Blattes und das letzte ausgeschnitten sind, findet sich- ein
alphabetisches Inhaltsverzeichniss über das Land-
und Lehenrecht unter der rothen Ueberschrift: Das ist das
register des rechtes buchs, beginnend mit: Abseczen mag man
kunige vnde fürsten cclxxxxij, schliessend mit: Zwir mag man
gesworen gelteren ain jar zusprechen cclxxxij.
Von dem nächsten Quaterne an, von dessen erstem Blatte
die erste Seite leer gelassen ist, bis S. 184 einer neueren Blei
stiftzählung, folgt das Landrecht, woran sich von S. 186 bis
264 das Lehenrecht reiht.
Das Landrecht beginnt ohne besondere Ueberschrift und
ohne die Initiale H, für welche beide aber der Raum leer ge
lassen ist, sogleich mit der bekannten Vorrede. Die Ueber-
schriften der Artikel sind roth je mit ihrer betreffenden Zahl
bis S. 178 eingesetzt, und hören von S. 179 an mit der für den
Art. 366 auf, während im angeführten Inhaltsverzeichnisse für
die noch folgenden die betreffende Zahl regelmässig angefügt
ist. Die rothen Anfangsbuchstaben der Artikel selbst lassen
bereits mit LZ 4 aus.
Das Lehenrecht hat weder Ueberschriften der Artikel,
noch rothe Anfangsbuchstaben des Textes von diesen, sondern
nur — wie im Landrechte von S. 179 ab — die hiefür leer
gelassenen Räume.
Man hat es hier, wie bereits seinerzeit bemerkt worden ist,
mit einer Abschrift des sogen. Schwabenspiegels der Nr. 16 zu thun.
1 Die beiden letzten Blätter, S. 266—269, füllen von der Hand des ,Hein-
rieus Hell de Nurenberga notarius 1 die recht die ein zenttgreffe zu der
stat vnd zu dem gerichte zu Voreheim, vnd auch die recht dy die stat
zu Voreheim zu dem czentgreuen, zu dem gerichte der zentt, vnd zu
der raarck hin wider hat.
An ihrem Schlüsse ist Folgendes bemerkt: Disze obgeschribne
rechte sind gar von alten vnd vil langen joren herkomen, jn einem
anderen buche beschriben gewest. Vnd dorumb das sich dasselbig buch
vor alter abgenuezt vnd geergert hat, sein sulche vorgeschribne recht
von wortten zu wortten ausz dem selben alten abgenuezten buch jn
disz buch geschriben worden.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. Xll.
55
219**.
München, ebendort, früher Umschlag einer ,Pollicey
Ordnung der Statt Höchstett, erneuert im Jar 1582' im Ar
chive vom nahegelegenen Neuburg an der Donau, Pergament
doppelblatt in Kleinfolio aus dem 14. Jahrhundert in zwei
Spalten zu 35—37 Zeilen mit rothen Ueberschriften der Ar
tikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben. Vgl. Dr. Karl
Roth’s kleine Beiträge zur deutschen Sprach- Geschichts- und
Ortsforschung IV (Heft 20) S. 219/220.
Das Bruchstück fällt in das Lehenrecht, und enthält
dessen Art. LZ 26—41, in dessen Absatz b es mit den Worten
,die leigen bedürfen' abbricht. Es ist von Roth a. a. 0.
S. 210—219 mitgetheilt.
Da die beiden Blätter von der ursprünglichen Hand mit
den römischen Zahlen V und VI versehen sind, hat diese
Handschrift entweder das Landrecht nicht enthalten, oder es
ging ihm — wie in der Nr. 234 — das Lehenrecht voran.
279 V,.
München, ebendort. Zwei Pergamentdoppelblätter in
Folio zweispaltig im 14. Jahrhundert mit rothen Ueberschriften
der Artikel und abwechselnd rothen wie blauen Anfangsbuch
staben derselben gefertigt, mit einer Bemerkung am unteren
Rande der letzten Seite ,Vonn mir Lucasz mairr v. K.' aus
dem Jahre 1555, dann als Einbanddecken von Protokollen und
Lehenbüchern des Marktes und der Probstei Pfeffenhausen'
im alten niederbaierischen Gerichte Rottenburg aus den Jahren
1597—1608 verwendet, am 18. Oktober 1888 von dem könig
lichen Kreisarchive in der Trausnitz zu Landshut eingesendet.
Sie enthalten unter einer an den betreffenden Orten bei
den Ueberschriften der Artikel von derselben Hand besonders
beigefügten Zählung von ,Kapiteln' die Art. LZ des Land
rechts 361, 362, 2 363a, 363b, 364, 365, 366, 2 367, 368, 369,
1 Das erste Blatt hat die Aufschrift: Peffenhauszer Prothocol in Grund-
herrlichen Sachen de anno 1607. 1608.
Das zweite am oberen Rande: Lehenfahl büch Peffenhauszen von
1599 bisz 1606; am unteren: Lehenbüech Marckhts vnnd Brobstei
Peffenbausen 1597 bisz 1606.
2 Der sich dez Reichs gucz vnderwindet ze vnrecht. lxxxxj Capitl.
3 Der den bernden pawm verdirbt, lxxxxij Capitl.
56
VII. Abhandlung: L. v. R-ocki nger.
370, 374 ohne das letzte Wort; die Art. des Lehenrechts
(51), 52, 53, 54, 55, 1 56, 57, 58, 59, 60, (61) ungefähr zur
Hälfte, die Schlussworte von (150b), 151a, 151b, 152, 153a,
153b, 2 154, 3 159 mit dem Schlüsse: genad, das wir das recht
also minnen in diser werlt vnd das vnrecht also chrenchen,
das wir das ewig reich besiczen. des helf vns der vater vnd
der sun vnd der heilig gaist vnd vnser liebe fraw Maria vnd
alles himelisch her. amen.
Unmittelbar daran schliesst sich unter der noch in der
selben Zeile beginnenden rothen Ueberschrift ,Hie hebent sich
an die recht vnd die gesacz der. stat ze Pazzaw, als si der
ernwirndig vnd hochgeporn pischolf Wernhart gemacht vnd ge-
seczt hat, als di hernach geschriben stent' in anderthalb Spalten
der Anfang des bekannten Passauer Stadtrechts oder auch
Bernhardinischen Stadtbriefs vom 2. Juli 1299, do von Christes
geburd worn tusent jar driuhundert jar an ein halbez an unser
Yrowen tag der erern, mehrfach gedruckt, wie aus dem sogen.
[Otto von] Lonsdorf’schen Codex des Hochstiftes in den Monuin.
boica XXVIII, Th. 2, S. 511—515, aus dem Originale im Stadt
archive von Passau in Dr. Alexander Erhard’s Geschichte dieser
Stadt I S. 106—114.
280.
München, ebendort, nach einer Verzeichnung im Reper
torium des Archives oder der geheimen Registratur zu Sulz
bach in der Oberpfalz von 1707/1708 Fol. 487 unter den
,Landes- und Stadtordnungen, Freiheiten und Polizeisachen'
Nr. 24. Auf Papier in Folio in zwei Spalten mit rothen Ueber-
• Schriften der Artikel und rothen Anfangsbuchstaben derselben
im Jahre 1472 gefertigt, in neuem Pappendeckelbande. Diese
Handschrift ist am Anfänge wie am Schlüsse mangelhaft, und zwar
wohl bereits seit länger, indem die Foliirung von 1—23, dem
ersten Blatte einer Chronik, woselbst sie aufhört, von der Hand
des seinerzeitigen pfälzischen Archivars Georg Gottfried Roth ist.
Jetzt beginnt die Handschrift im Art. LZ 8 des Lehen
rechts mit den Worten: [Be]hem. Ein ytlich man sol dem
1 Ob ein lehen eins herren eigen ist. xiij Capitl.
2 Von widersagen, xxxj capitel.
3 Dieser Artikel schliesst schon: er mag auch dheinen vorsprechen nemen
swie nider er ist., das ist douon das er des herschiltes nicht enhat.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspicgels. XII.
57
reich dyenen mit u. s. w. Es schlicsst am Ende von Fol. 22'
mit den Woi’ten: Hie hat daz lechen rech püch ein ende. Got
vnsz sein gnacl send.
Sogleich auf Fol. 23 folgt unter der rothen Ueberschrift
,Cronica' mit dem Beginne , Hye hebt sich an die Cronica, vnd
sagt gar aygenlich von den kaysseren vnd leimigen, wie lange
ytlicher geregnyert hat in seinem reiche' eine für Gmund ver
fasste kurze Chronik 1 hauptsächlich von (Julius Cäsar und Au-
gustus, beziehungsweise) Pipin und Karl dem Grossen bis auf
König Ruprecht von der Pfalz. 2 An ihrem Schlüsse steht rotli:
Hie hat sich daz puch Cronica ein ende. Got wel vns sein güt
liche gnad senden. Tausent CCCClxxii. Petrus Hersperger.
Auf der zweiten Seite des Schlussblattes dieser Chronik
steht das Verzeichniss der Artikel über ,daz leben recht
puch vnd sagt gar eygenlich wie man leben leyhen sol £ auf
drei und einer halben Seite, durchlaufend geschrieben. Das
letzte Blatt dieses Quinternes ist leer.
Von dem nun auf einem neuen Sexterne beginnenden
Landrechte ist das erste Blatt bis auf eine am Anfänge
stehende grössere rothe Initiale A leer. Die folgenden vier
und die erste Seite des nächsten füllt das Verzeichniss der
Artikel, durchlaufend geschrieben, mit den rothen Zahlen der
selben, mit dem Schlüsse: Daz reigister dez lantrech püchs
hat ein end: Maria, die sey bey vnserm end. Auf dem fol
genden Blatte beginnt das Landrecht selbst unter der rothen
Ueberschrift: Ilye hebt sich an daz kayse[r]lich recht pucht als
es die bäbst kayser vnd auch der kung gemacht vnd bestetigüt
haben vnd als auch yrew pucher sagend. Es gehört der Fa
milie an, wovon Rockinger in P handelt. Die erste wieder
rothe Ueberschrift lautet: Hye sagt daz püch dz ersten wo
sich daz römische reich von ersten erhaben habe. Den Schluss
bildet Art. LZ 377 II: Daz ist uon der e, was ein menschen
behaben oder gescheiden mag. Daran schliesst sich endlich
1 Sie beginnt: In gotes namen, amen. Disse Cronica ist gemacht meinen
heren von Gmund augspurger pistums au ff daz aller kurczes vmb daz
man von langer rede wegen nicht vrdrucze werde dar junen zu lessen
u. s. w.
2 Der Schluss lautet: Er het auch geren den pishoff von Mencze gestraffet;
aber es starb der kunig zu balde.
58
VII. Abhandlung: L. v. Rocki nger.
roth: Hye hat das lantrecht puch ein ende. Anno domini
m° cccc° lxxii, ipsa feria secunda rogacionum per me Petrum
Herrnsperger cappelanum in Boisingen. Et presens über per-
tinet Cristoffero de Lacu.
Auf dem nächsten Blatte folgt, wieder von derselben
Hand, die bekannte deutsche ,Ord[n]ung eines yg'lichen rechtes'
mit der Anweisung ,wie man die höffe verleihen soü ohne
ihren Schluss.
Soweit es sich um das Land- und Lehenrecht handelt,
hat sich eine Abschrift in Quart im Jahre 1863 der Bericht
erstatter gefertigt.
281.
München, ebendort, in Schweinsleder geheftet, auf der
Vorderdecke mit einer alten Papiernummer 224, nach einem
Vermerke des früheren Reichsarchivars v. Samet auf einem
besonderen vorliegenden Blatte: aus dem königlichen Haus
archive respect. der Verlassenschaft des sei. Herrn Geh. Raths
v. Krenner 1 Nr. 9. Ein auf Papier in Folio zu Ingolstadt von
Johann Gentzinger aus Neuburg an der Donau am 11. No
vember 1446 aus den Aktenstücken der herzoglichen und
städtischen Kanzlei angelegtes Urkundenmusterbuch oder wie
er selbst es bezeichnet ,Form von etlichen briefen vnd ge-
schrifften nach der herrn von Bayrn gewonhaitt' vom zweiten
Jahrzehnt des 15. Jahrhunderts bis in das bemerkte Jahr, mit
weiteren Einträgen aus den Jahren 1447 und 1448 wie noch
anderen späteren Einschaltungen. Johann Nepomuk Gottfried
v. Krenner, Anleitung zu dem näheren Kenntnisse der baieri-
schen Landtage des Mittelalters, S. 202—211 in der Note.
Rockinger, die Folgen der Theilungen Baierns für seine Landes
gesetzgebung im Mittelalter, in den Abhandlungen der histori
schen Classe der Akademie der Wissenschaften XI, Abth. 2,
S. 160—162.
Diesem Werke sind neun gleichfalls von Johann Gen
tzinger geschriebene, je oben in der Mitte der Vorderseite von
einer Hand des 15./16. Jahrhunderts arabisch foliirte Blätter
vorgebunden, deren erste sechs und letzte drei je eine Lage
bilden, von deren zweiter das Schlussblatt nunmehr ausge-
1 Vgl. v. Oefele in der Allgemeinen deutschen Biographie“ XVII, S. 123/124,
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels XII.
59
schnitten ist. Sie enthalten eine wohl im Jahre 1439 gemachte
Aufzeichnung einer Reihe von Artikeln über rechtliche Gegen
stände aus dem bekannten Mainzer Landfrieden vom Jahre
1235, dem kleinen Kaiserrechte, dem sogen. Schwabenspiegel,
und anderem.
Der Inhalt der ersten sechs Blätter ist von Roc.kinger
a. a. 0. im Anhänge S. 173—178 mitgetheilt.
Den der noch folgenden drei Blätter auf nicht so weissem
Papiere bilden die Art. LZ 15, 55, 186, 354 des sogen.
Schwabenspiegels in der Fassung wie folgt.
Mit wie ain kindt seins vatter vnd seiner muter erb verwurckt,
stet im landrechtpiich.
Es mag ain kindt seins vatter vnd seiner müter erb ver-
wur cken mit xiiij dingen.
Das ain ist. Ob ain sun bey seins vatter weib ligt süntt-
lich mit wissen, die des suns stitff muter ist, die sein vatter
elich oder lediclich hat oder hat gehabt, damit hat er ver-
worcht alles das erb das er von vatter oder von muter warttendt
ist. Das erczugen wir mit Dauit in der kunig puch, do der
schon Absolon bey seins vatter frundin lag sundtlich mit wissent.
Damit verworcht er seins vatter huld vnd sein erb.
Das ander ist. Ob ain sun sein vater fächt vnd in ein
slusst wider recht, vnd stirbt er in der vancknusz, der sun
hat auch sein erb verlorn.
Das dritt, ob ain sun seinen vatter an spricht vmb so ,
getane ding die dem vatter an den leib gent, es sey dann ain
sach dauon das lannd verderben mbcht oder da der furst von
verderben mocht des das landt ist.
Mit disen drein dingen verwurckt sich ain vatter gen
seinem sun, das er bey seinem lebendigen leib von seinem
gfit schaiden müsz. Vnd trit der sun an des vatter stat, so
sol er dem vatter sein notdurfft geben vnd nach den em vnd
er gelebt hat.
Das vierd, ob ain sun seinen vatter an das wang ge-
slagen hat, oder wie er in geuarlichen geslagen hat.
Das funfft, ob er in ser vnd innderlich geschollten hat,
wann got selbs also spricht in den zehen gepoten: ere vater
vnd muter, so Jengest du dein leben auf ertrich. Seit nn ain
60
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
kindt sein lanckleben damit verwurckt ob es den vater vnrecht
an reit, so hat es auch sein erb mit recht verworcht ob es
vatter oder muter schillt oder siecht.
Das sechst, ob ain sun auf sein vatter klagt er hab im
so getane dinck getan die dem vatter grossen schaden tun
mochten an ere oder an gut oder an dem leib, vnd er in des
nit vber zugen mag.
Das sibent, ob der sun ain dieb oder sunst ain pöszwicht
mit sogetanem leben da ain yeglich man sein recht mit ver-
luset, oder ob er wissentlich mit den selben leuten wonet die
das selb leben an in habent.
Das acht ist, ob ain sun sein vatter geirrt hat so er an
dem tott pett leit vnd gern seiner sei hail schuffe, oder ob er
sunst siech leit vnd des vorcht hat er sterbe, vnd slvisst der
sun zue, vnd lat die pfarrer noch die bnuler noch anders
niemand zu im mit dem er seiner sei ding schaffen sollt durch
seiner sei hail, der hat damit sein erb verworcht.
Das newnt ist, ob der sun zu ainem spilman wirt wider
des vatter willen, das er gut für ere nimpt vnd der vatter ain
ere man ist gewesen das er nie gut für ere nam oder nimpt.
Das zehent ist, ob ain sun Seins vater bürg nit werden
wil vmb zeitlich gelt.
Das ainlift, ob der sun den vater von vancknusz nit losen
wil vnd er es wol getun mag.
Das zwelfft, ob ain vatter vnsinnig wirt von siechtumb
oder von weihen Sachen das ist, vnd das in der sun in der
vnsinne nit bewart.
Das drewczehent, ob ain sun seinem vatter sein gut mer
dann halbs vertut mit vnfüre.
Das xiiij, ob ain tochter vngeraten wirt das sy man zu
ir leit on irs vatter willen die weil sy vnder zwainczig iarn
ist. Kompt aber sy vber zwainczig iar, so mag sy ir ere wol
verwurcken, ir erb aber nicht. Das ist dauon, wann man ir
vnder zwainczig iarn sollt geholffen haben.
Wenn jungling weib genemen mugen.
Wenn ain jungling ze vierczehen iarn kompt, so nimpt
er wol ain elieh weib on seins vatter willen. Vnd hat er ander
pfleger, wider der willen tut er es auch wol. Also ob sy bey
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiogels. XII.
61
einander sind gelegen, der jungling vnd die junckfraw. Ynd
ist des nickt geschehen, so mag man sy wol sundern. So die
junckfraw kompt zu irn tagen, das ist ze zwelff iarn, vnd
nimpt sy ainen man wider ir vatter vnd ander ir frunde willen,
die ee ist stat. Wil man sein dem junglingen nit gelauhen,
so sol er sein alter ercziugen als vor geschriben stett.
Nota. Vnser herr hat die ee selber geheiligt geseczt vnd
gepoten zu hallten durch Moysen als er spricht in dem sechsten
pot: du sollt nicht ee prechen. Matheus vj t0 : du sollt nicht
eprecken. Matheus xviiij capitulo: du sollt nicht eepreclien.
Matheus vj t0 , Marcy vij°: ir habt gehört das gesprochen ist
zu den alten: du sollt nit eeprechen oder vnkeusch treiben.
Aber ich sag ew das ain yedlicher der da sicht ain weib vnd
ir begert der hat vnkeusch mit ihr verprackt in seinem kerczen.
Luce xvj°: welker sein weib lat vnd ain andre haim furt, der
sendet das eeprechen auf sy. Vnd ob das weib irn man lassen
wil vnd ain andern nimpt, die wirt ain hurerin.
Nu stet geschriben in dem landrechten wie ain vatter sein sun
von im sundern sol.
Der vatter sol sein sun von jm sundern als er funffvnd-
zwainczig jar alt ist mit als vil gucz als er gelaisten mag also
das im das merer tail beleih. Vnd tut er des nicht gern, der
sun nottet ins mit recht wol mit seinem richter. Vnd hat der
vatter nit wann ain kindt, er geit im mit recht nit wann das
funfft tail seins guts. Vnd hat er mer kindt dann ains, so
tailt er mit recht das im drew tail beleibent, vnd den kinden
die zway tail.
Stet in dem landrechten, ob ain vater seine kindt enterben wil.
Vnd wil ain vater sein sün oder sein töckter durch sein
posen willen seins gucz enterben, vnd wil darüber hantt vesst
machen, das mag mit recht nicht gesein. Sy brechent im die
handtvesst wol mit recht, sun vnd tochter, wann sy es nit ver-
burckt habent. Idabent sy es aber verwurckt, so tut es der
vatter wol mit recht.
Sind aber die kindt nit zu irn tagen körnen so der vatter
das geschafft tut, das enschadet den kinden nicht. Als der
jungling kompt ze xiiij iarn, vnd die magd ze xij iarn, so
62
VIT. Abhandlung: L. v. Rockinger.
versprechent sy ir gut. Vnd ist der vatter tot ze dea iarn so
sy zu irn tagen komentt, in welhem gericlit das gut ligt das
sy da an klagent, der selb richter sol sy irs gucz gewalltig
machen.
282.
München, ebendort in der Handschriftensammlung
Nr. 206 a gewesen, jetzt in der Hof- und Staatsbibliothek Cod.
germ. 5715, aus dem Nachlasse des Benediktinerpaters Seba
stian (Nikolaus) Günthner 1 in Tegernsee und Akademikers in
München. Vier geheftete Lagen, beziehungsweise 17 Blätter,
Papier in Quart, ohne Umschlag, von einer Hand des vorigen
J ahrhunderts.
Unter der Ueberschrift ,Ordo capitulorum speculi suevici
de anno 1447 ex bibliotheca Lunaelacensi, pro ducibus Bava-
riae superioris scriptk ein Verzeichniss der Ueberschriften
der Artikel mit den Anfängen und dem Schlüsse der
selben aus der Nr. 399. Nur der Artikel ,Welich den
kunig welln sullen‘ etc. ist ausserdem noch auf einem be
sonderen Blatte ganz eingelegt.
Auf der letzten sonst leeren Seite ist die Handschrift als
in Quart mit der Signatur 466 des Klosters Mondsee in Ober
österreich bemerkt.
Auch in dem aus dem Benediktinerstifte Tegernsee stam
menden Cod. germ. 223 — oben Nr. 225 — lindet sich aut
S. 324 ,ex codice speculi allemanici Mondseensi saec. XV, cui
titulus: Königs Carl Rechtbuch etc. Sig. 466 in 4‘ der Anfang
des Erlasses des Herzogs Ludwig wegen unbilliger Weisung
und Zeugschaft, der sich die Leute in den Gerichten verfangen
haben, eingetragen.
283 ***.
Zu München, ebendort, befand sich bis in das Jahr
1833 eine Handschrift des kaiserlichen Land- und Lehen
rechts, worüber nähere Kunde mangelt.
Es stellte nämlich am 20. Juni 1833 das Präsidium der
Regierung des damaligen Rezatkreises das Ansuchen, zur Auf
klärung geschichtlicher Nachrichten über die seinerzeitige
Reichsstadt Rothenburg an der Tauber — wahrscheinlich für
1 Vgl. v. Oefele in der ,Allgemeinen deutschen Biographie* X, S. 178.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
63
den Behuf der Studien des Professor Dr. Heinrich Wilhelm
Bensen 1 hierüber — ein im baierischen allgemeinen Reichs
archive vermuthetes ,Rothenburger Land- und Lehenrecht aus
dem 14. Jahrhunderte' mitgetheilt zu erhalten. Bei dem Mangel
irgend welcher Anhaltspunkte wurde nur vermuthungsweise
,ein altes Rechtbuch' dahin übermittelt. Der wirklich im Re
pertorium des ehemaligen Rothenburger Archives gleich unter
Tit. I ,Generalien, Rechts-, Gerichts- und Urfehdenbücher'
unter Ziffer 2 aufgeführte ,alte Codex mscr. des Land- und
Lehenrechts' kann das freilich nicht gewesen sein, da dieser
nie in das Reichsarchiv gelangt ist, sondern im Kreisarchive
für Mittelfranken hinterliegt, unten die Nr. 294. Auch äusserte
sich gerade Bensen selbst am 22. September 1833 nach seiner
Einsichtnahme der Handschrift aus dem Reichsarchive:
Ob das Landrechtsbuch sich auf Rothenburg direct
bezog, scheint mir sehr zweifelhaft. Der Verfasser, Oswald
Mezger, wird hier nirgends genannt, auch finden sich
keine genauen Beziehungen auf Rothenburger Statuten.
Es scheint mir daher eines von den Landrechts
büchern, die irgend ein rechtskundiger Mann nach dem
Muster des Schwabenspiegels zur Benützung und Berathung
der Schöppen zusammenschrieb, ohne dass man annehmen
dürfte, die einzelnen Gesetze seien stets rechtskräftig
gewesen.
Die Nachforschungen der Regierung von Mittelfranken,
auf verschiedene Zuschriften des Reichsarchives vom 4. Juli
1866, 10. April 1867, 19. Juni 1868, zuletzt 19. Mai 1884 ver
anstaltet, haben nicht zu dem Ergebnisse des Wiederhabhaft
werdens geführt. Die fragliche Handschrift soll sich weder
bei der Regierung selbst noch auch in der Bibliothek des
historischen Vereines von Mittelfranken zu Ansbach haben auf
finden lassen.
[Der geh. Haus- und Staatsarchivar, jetzt Direktor des
baierischen allgemeinen Reichsarchives, Prof. Dr. Ludwig
v. Rockinger in München schenkte der Bibliothek der histori
schen Classe der Akademie der Wissenschaften daselbst die |
Nrn. 229—231 einschliesslich.
1 Vgl. v. Wegele in der ,Allgemeinen deutschen Biographie* II, S. 341/342.
64
VII. Abhandlung: L. v. Rocki n ger.
[Dr. Karl Roth in München besass die] Nr. 238 wie die
Nrn. 268 und 269.
284.'
München, Stadtarchiv, Cod. Nr. 14. Diese ebenso schöne
als ausserordentlich werthvolle Handschrift, auf Pergament in
Folio nach mehrfachen Anzeichen wohl eigens für das Stadt
gericht von München vor dem sogen. Rudolfinum 1 oder dem
berühmten Freiheitsbriefe des Herzogs Rudolf vom 19. Juni 1294
durchlaufend mit rothen Ueberschriften der Artikel und ab
wechselnd rothen wie blauen Anfangsbuchstaben derselben ge
fertigt, mit einem besonderen lateinisch gefassten alphabetischen
Verzeichnisse der Hauptgegenstände ohne Zweifel von einem
der Münchner Stadtrichter oder Stadtschreiber versehen, auch
in amtlichen Aufzeichnungen um das Jahr 1315 2 benützt und
aller Wahrscheinlichkeit nach sodann bei der Abfassung des
oberbaierischen Stadtrechts des Kaisers Ludwig in der Mitte
der Dreissigerjahre des 14. Jahrhunderts beigezogen, besteht
ans dreizehn je am unteren Rande der Rückseite des Schluss
blattes einer Lage mit schwarzen römischen Zahlen bezeich-
neten Quaternen, von deren erstem das erste Blatt dem Vorder
deckel innen aufgeklebt ist, wie von dem letzten das Schluss
blatt dem Hinterdeckel. Der Einband besteht aus sehr starken
Hoizdeckeln, welche mit jetzt gelbbraunem Leder überzogen
und auf dem vorderen noch mit drei und auf dem hinteren
mit vier Eisenbuckeln versehen sind, während weiter das zum
völligen Einschlagen der Plandschrift selbst- bestimmte, am
1 Aus den Originalurkunden des Stadtarchives mitgetheilt in dem Ur
kundenbuche zu des Bürgermeisters und Stadtoberrichters Michael
v. Bergmann ,beurkundeter Geschichte* von München Nr. 14 S. 9—12,
in den Monura. boica XXXV Th. 2 Nr. 12 S. 14—19, in den Quellen
zur haierischen und deutschen Geschichte VI Nr. 197 S. 44—52.
2 In den dahin fallenden Tlieil der Beste von Stadtrathsbeschlüssen all
gemeiner Geltung, als Consules bezeichnet, und Zunftsatzungen bis in
die Mitte des 14. Jahrhunderts im jetzigen Cod. 7 des Stadtarchives —
vgl. Franz Auer’s Stadtrecht von München u. s. w. in der Einleitung
S. 57 unter Ziffer 40, des Freiherrn Ludwig v. der Pfordten Studien zu
Kaiser Ludwigs oberbaierischem Stadt- und Landrechte S. 48/49 unter
Ziffer 26 — sind zwei Artikel des Landrechts unserer Handschrift nicht
allein wortwörtlich eingeschrieben, sondern sind ihnen auch sogar die
römischen Zahlen beigesetzt, welche sie in der Handschrift haben.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XU.
65
unteren Rande angebrachte freie gelbe Leder noch ganz wie am
hinteren Seitenrande wenigstens noch theilweise vorhanden,
das am oberen Rande ursprünglich vorhanden gewesene aber
jetzt mangelt, aber die vier zum festen Verschliessen auf allen
Seiten angebrachten rotben Lederbänder — je eines oben und
unten, zwei an der Seite — mit Messingbeschlägen noch er
übrigen. Vgl. Lorenz v. Westenrieder’s ,akademische Rede
über das Rechtbuch des Ruperts von Freysing' 1802 S. 10.
v. Lassberg Nr. 115. Homeyer Nr. 491.
Nach einem leeren nicht gezählten Blatte beginnt mit
einem äusserst niedlich ausgeführten Bildchen in der Initiale
H das Landrecht, von dessen Art. 107 ,wa man den kunc
kiesen sol' nicht ganz die erste Hälfte Westenrieder a. a. 0.
S. 31/32 mittheilt, von Fol. 1 bis in die fünfte Zeile des Fol. 84
neuerer Bleistiftzählung. Der Schluss lautet da in der vierten
und fünften Zeile theils roth und theils schwarz, wovon die
rothen Worte hier in Klammern stehen:
[Hie hat daz 1 lantreht] buch ein ende.
[Got] vns [sinen] segen [sende],
amen.
In dem leer gewesenen Raume dieser Seite ist der im Texte
fehlende Artikel ,Swer unreht gut koufet, wie der mit dem
geuaren sol' = Art. LZ 57 von anderer Hand beigeschrieben.
Auf der Rückseite beginnt unter der zierlichen auf Goldgrund
ausgeführten Initiale S das Lehen recht, welches sich bis
Fol. 121' fortsetzt. Der Anfang des Artikels ,Von vngeberde
in lehen rekte' ist von Westenrieder unter der falschen Zahl
458 anstatt 464 a. a. 0. S. 32 mitgetheilt, der Schlussartikel
489 ganz S. 44. An den Rand der einzelnen Artikel sowohl
des Land- als auch des Lehenrechts sind die laufenden Zahlen
römisch ohne Ausscheidung beider Theile von 1—-489 schwarz
mit feinen rothen Strichen bemerkt, so dass hievon 335 auf
das Landrecht treffen, wobei der nachgesetzte Art. LZ 57 —
anfänglich gezählt, aber dann doch wieder ausgelassen — nicht
mitgerechnet ist.
Von Fol. 122 an schliesst sich in je drei Spalten ein eng
geschriebenes lateinisches alphabetisches Verzeichniss
1 Dieses ursprünglich ausgelassene Wörtchen ist schwarz übergeschrieben.
Sitzungsber. d. phil.-hisfc. CI. CXX. Bd. 7. Abh. 5
66
VII. Abhandlung: L. v. Rockinger.
der Hauptbetreffe mit jedesmaliger Beifügung der vorhin
bemerkten an den Rand gesetzten Artikelzahlen bis gegen den
Schluss der zweiten Spalte des Fol. 124 an.
Einen Einblick in die Artikelfolge des Granzen gibt die
Verzeichnung Westenrieder’s a. a. 0. S. 37—41—44.
Eine vollständige Abschrift in Folio hat sich im Jahre
1864 der Berichterstatter gefertigt.
[Für das Stadtrecht von München, welcher Stadt Kaiser
Ludwig IV. an erster Stelle sein vorhin berührtes oberbaieri-
sches Stadtrecht zufertigen liess, sei hier auf die Verzeichnisse
von Handschriften desselben verwiesen, welche unter ,Ober-
baiern' berührt sind.]
285.
München, Bibliothek der Ludwig-Maximilians-Universität,
Cod. mscr. 204, aus der Universitätsbibliothek zu Ingolstadt
nach Landshut und von da hieher gelangt, von einer zierlichen
Hand des 14. Jahrhunderts auf sehr gutem Papier in Klein
folio zweispaltig mit rothen Ueberschriften der Artikel und —
die Initiale des Judeneides auf Fol. 40' wie die Hauptinitiale
des Lehenrechts auf Fol. 53' sind roth und blau — mit rothen
Anfangsbuchstaben derselben, je am unteren Rande der Vorder
seiten der Blätter von gleichzeitiger Hand mit grossen rothen
römischen Zahlen bis 79 einschliesslich versehen, in neuerem
Pappendeckeleinbande mit Rücken von rothem Glanzpapiere,
auf welchem oben .Lehen-Recht' und unten Z mit einer Zahl
steht, wie es den Anschein hat, 300. Ignaz Dominik Schmid
capell. ad s. Catherinae sacellum academ. in seinem Kataloge
der Handschriften der Universitätsbibliothek von Ingolstadt,
jetzt in der Universitätsbibliothek zu München Mscr. 387, auf
Fol. 25 unter Kr. 388.
Die ersten Blätter fehlen, so dass jetzt das Landrecht
von 371 Artikeln erst mit den Worten ,dem der do gelten sol,
er hat sein gut behabt' des Art. LZ 5 b beginnt bis Fol. 56'
Sp. 1, woselbst noch gross geschrieben der Uebergang ,Hie
hebt siech an daz lehenbuch, daz awch chunich Karel gemachet
hat. Chrugelfut' zum Lehenrecht 1 steht, welches dann in 217
Artikeln von Sp. 2 bis Fol. 79 Sp. 2 folgt. Am Schlüsse steht:
1 Vgl. hiezu auch oben die Nr. 29.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
67
Finiui totum.
Infunde, da michi potum
et conmedere.
[München, ebendort, Cod. mscr. 205, auf Papier in Folio
zweispaltig im 15. Jahrhundert gefertigt, in Holzdeckeln mit
braunem gepressten Lederüberzuge. Das in dieser Hand
schrift nach vorausgehendem Verzeichnisse der Artikel auf den
Fol. 138' Sp. 2—145' Sp. 2 folgende ,Lantrecht von deme pa-
biste vnd von dem keyser' von Fol. 146—195' ist nicht das
Landrecht des sogen. Schwabenspiegels, sondern das des
Sachsenspiegels in 351 roth gezählten Artikeln mit rothen Ueber-
schriften, wovon die Art. 349 und 350 = Homeyer’s Zählung
III 91, worauf noch ohne Ueberschrift, auch im Verzeichnisse
der Artikel nicht erwähnt, als 351 schliesst: Wjrt ein man ge
laden der do suchtende siech ist also daz her czu dinge nicht
körnen enmak, dye weile daz her also kranc ist, mag her Vor
boten syne seuche, vnd bleibet ane buse vnd ane gewette. wil
abir iener der en geladen hat u. s. f.]
286.
München, ebendort, Cod. mscr. 206, vielleicht ursprüng
lich in Ingolstadt 1 gefertigt, aus der Universitätsbibliothek da
selbst nach Landshut gelangt, im Jahre 1409 auf Papier in
zwei Spalten von einem Paulus 2 geschrieben, in Holzdeckel-
1 A>is den Pergamentstreifen welche vom Buchbinder in der Mitte der
einzelnen Papierlagen zu deren Befestigung eingeheftet wurden, sind
Reste einer Urkunde vom 30. Oktober 1406 zu erkennen, und zwar
ausgestellt in opido nostro Ingolstat eystetensis diocesis, nostro sub
secreto.
2 Am Schlüsse des Ganzen lesen wir roth:
Mor | f super 1 f scrip 1 f li 1 f poci ]
> te ! ! norum ! [ tor ! > bri < > atur.
Sor ] [ malig J [ rap J [ li J [ mori J
Explicit über per manus Pawli etc.
Finitus est in vigilia sancti Thome appostoli anno domini M°
quadringentesimo nono.
Si caput est currit,
sibi iunge ventrem: volabit.
Adde pedem, conmede,
et sine rentre bibe.
68
VII. Abhandlung: L. v. Rock in gor.
band mit gelbem Schweinsleder überzogen, auf der Vorder- wie
Rückseite mit je fünf Messingbuckeln und mit einer Scbliesse.
Scbmid a. a. 0. auf Fol. 25' unter Nr. 413.
Von Fol. 1—5 Sp. 2 Verzeichniss der Artikel des
Land- und Lehenrechts, an dessen Schlüsse roth steht: Hie
hebt sich an daz lantrecht puch, vnd lert wie man richten
süll. Von Fol. 5'—76 Sp. 2 beziehungsweise Fol. 1—71 der
alten rothen je oben in der Mitte angebrachten römischen Be
zeichnung das Landrecht, nach welchem roth bemerkt ist:
Hie hat das lantrechtpuch ein end: vnd hebt sich an das lehen
puch, da eile lehen recht sind geschriben die nutz vnd gut
sint ze wissen. Von Fol. 76' Sp. 1—101 Sp. 2 beziehungsweise
1—25 das Lehenrecht.
287.
München, ebendort, Cod. mscr. 487, nach einer unter
der verklebten inneren Seite des Vorderdeckels zum Vorschein
gekommenen Einzeichnung 1 früher dem Georg Rebliahn von
Augsburg gehörig, aus der Universitätsbibliothek zu Ingolstadt
nach Landshut gelangt, auf sehr gutem Papiere im Jahre 1379 2
in zwei Spalten gefertigt, mit einem erst im 15. Jahrhundert
geschriebenen jetzt vorangebundenen Artikelverzeichnisse ver
sehen, in Holzdeckelband mit rothem Lederüberzuge, früher
je mit fünf Buckeln und mit zwei Schliessen, über den Rücken
mit der Aufschrift: Lant- Lehen- Ehehaft- vnd andere Rechten
der stat Augspurg, anno 1379. Schmid a. a. 0. auf Fol. 25'
unter Nr. 414. Lory commentatio I de origine et processu
juris boici civilis antiqui § 43 Note e unter IV. v. Lassberg
Nr. 14. Homeyer Nr. 490.
Fol. 1—-7 Sp. 1 Verzeichniss der Artikel des Land-
und Lehenrechts,, wie bemerkt aus dem 15. Jahrhunderte,
wahrscheinlich erst nach Verlust des ursprünglichen nachträg
lich eingefügt. Fol. 8—99 Sp. 2 oder 1—92 der alten je oben
in der Mitte roth angebrachten römischen Zählung das Land
recht. Fol. 99'—117' Sp. 2 das Lehenrecht, dessen letztes
Blatt, wie es scheint, zu Verlust gegangen, während der auf
1 Tt.em daz büch ist Jorgen Rephon von Augspurg.
2 Am Schlüsse steht roth: Anno domini M° c°c°c° lxxix finitus est iste
über. Deo laus et gloria Christo etc.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels. XII.
60
demselben noch befindlich gewesene Schluss des Textes in zwei
Zeilen von späterer Hand an das Ende der Sp. 2 des Fol. 117'
gesetzt ist.
Dann folgen noch von der ursprünglichen Hand nach
einem Register von Fol. 118—-124 Sp. 2 die ,ehaftin vnd aelliü
recht die disiu stat — nämlich Augsburg — von ir hersclieft
her hat bracht* von Fol. 125—238 Sp. 1 beziehungsweise der
alten rothen römischen Bezeichnung 1 — 109 Sp. 1.
288**.
München, ebendort. Zwei Bruchstücke einer schönen
Pergamenthandschrift des 14. Jahrhunderts in Folio, von Prof.
Dr. Konrad Hofmann gefunden. Vgl. den Bericht der Sitzung
der philosophisch - philologischen Classe der Akademie der
Wissenschaften vom 13. Mai 1865 S. 315 und 316.
Der kleine Längenstreifen enthält ein Stück vom Schlüsse
des Art. LZ 348 und vom Anfänge des Art. 349 des Land
rechts, und sodann vom Schlüsse des Art. 353 und vom An
fänge des Art. 354 ohne die Einschiebung aus der Hunkofer-
schen Handschrift.
Das oben abgeschnittene Folioblatt gehört dem Lehen
rechte an und umfasst Stücke der Art. LZ 8—12 einschliesslich.
289.
Münster, akademische Paulinerbibliothek, Nr. 29. Auf
Pergament in Folio in zwei Spalten wohl im Jahre 1449 ge
schrieben, niederrheinisch, nach einer Einzeichnung auf dem
ersten leeren Blatte von einer Hand des 15. oder 16. Jahr
hunderts ,Wessell van den Loe‘ gehörig gewesen. Endemann
in seiner Einleitung zum kleinen Kaiserrechte S. 46/47 unter
Ziffer 32. Homeyer Nr. 494; in seiner Einleitung zum Richt
steige Landrechts S. 18 unter Ziffer 59. Rockinger Q S. 422
bis 426, 436—441.
Von dem Inhalte dieser Handschrift 1 berührt uns das auf
dem ersten Quatcrne nach einem drei Blätter füllenden Ver-
1 Vgl. Steffenhagen in den Sitzungsberichten der phil.-hist. Classe der
kais. Akademie der Wissenschaften in Wien, Bd. CXIV, S. 348/349 in
Ziffer 84.
70 VII. Abh.: L. v.Kock in gor. Bor. über Handscbr. d. sog. Schwabenspiegels. XII.
zei'chnisse der Artikel des Landrechts des sogen.
Soliwabenspiegels am folgenden unter ringsherumlaufenden
farbigen — wohl erst später angebrachten — Randverzierungen
mit der gleichfalls bunten Initiale B beginnende Land recht
bis auf die Rückseite des ersten Blattes des neunten Quaterns
(m) Sp. 1 Zeile 8.
Dasselbe — in 381 oder 382 Artikeln — leidet an einer
wohl durch falsche Lage der Bogen der Stammhandschrift
hervorgerufenen theilweisen Störung der richtigen Reihenfolge
der Artikel von LZ 174 an bis 197, welche sich auch in an
deren mehr oder weniger hieher einschlagenden Handschriften
findet. Vgl. Rockinger a. a. 0. S. 443—449.
[Der kurpfälzische Landschreiber Erasmus Munch zu
Heidelberg hat Familienaufzeichnungen aus den Jahren 1464
bis 1467 gesetzt in diej Nr. 164.
[Professor P. Martin Kiem, Conventual des vormaligen
Benediktinerstiftes Muri, besitzt die] Nr. 185.
VIII. Abhandlung: v. Kreraer. Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
VIII.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
vorzüglich nach arabischen Quellen
von
Alfred Freiherrn v. Kremer,
wirk!. Mitgliede der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
III. und IV.
m.
Götter und Geister im arabischen Volksglauben.
Der alten Götter Verehrung hat der Islam ein Ende ge
macht, und zwar so gründlich, dass die Nachrichten hierüber
äusserst spärlich sind. Im Glauben und im Geiste des Volkes
aber, in seinen Bräuchen und Gewohnheiten hat sich dennoch
viel mehr davon erhalten, als man bisher vermuthet hatte.
Das Volk hat ein zähes Gedächtniss in solchen Dingen
und es gibt keine unvermittelten Sprünge in der Cultur
geschichte, sondern Alles, was ist, steht bewusst oder un
bewusst unter dem Einflüsse dessen, was früher gewesen.
Nicht blos die Geistesthätigkeit jedes Einzelnen trägt den
Stempel seiner Ahnen, sondern auch die Völker in ihrer Ge-
sammtheit werden, ohne es zu ahnen und oft ohne sich hierüber
Rechenschaft geben zu können, in ihrem Denken, Thun und
Empfinden von der Erbschaft der Vergangenheit vielfach und
oft mit unwiderstehlicher Macht beherrscht.
Im Vorhergehenden 1 sind ein paar solcher Vermächtnisse
besprochen worden; denn die Ansichten über die Heiligkeit
des Brotes und Salzes, über Blut und Seele sind uralte
Schöpfungen des Volksgeistes, die noch bis in die Gegenwart
sich erhalten und noch immer ihre Macht nicht ganz verloren
1 X und II dieser Studien.
Sitzungsber. i. phil.-hist. Ci. CXX. Bd. 8. Abh.
I
2
• VIII. Abhandlung: v. Kremer.
haben. Bei der folgenden Untersuchung über die religiösen
Ideen der Araber, über ihre Götter- und Geisterwelt, wird es
sich zeigen, dass auch hier, trotz Islam und Koran, Vieles noch
Geltung hat, was in die frühesten Zeiten des Heidenthums
oder, wie die Araber sagen, in die Epoche der Unwissenheit
zurückreicht. 1
Das, was wir an Nachrichten hierüber besitzen, ist frei
lich sehr mangelhaft; denn, wie dies jeder neuen Religion eigen
ist, so suchte auch der Islam die Spuren des Früheren nach
Möglichkeit zu vertilgen. Glücklicher Weise ist dies nicht
vollständig gelungen. Manche Bruchstücke haben sich erhalten,
welche, mit Vorsicht geprüft und geordnet, immerhin ein Bild
des Culturzustandes jener Zeit zu entwerfen gestatten.
So berichtet ein zum Islam bekehrter Heide wie folgt
über die gottesdienstlichen Gewohnheiten des Heidenthums:
1 Professor J. Wellhausen hat in seinen Skizzen und Vorarbeiten, III. Heft,
Reste des arabischen Heidenthums, Berlin 1887, vieles hierauf Bezüg
liche zusammengestellt, hiebei aber die grossen Traditionssammlungen
nicht benützt. Daher einige Lücken und Unrichtigkeiten dieser im
Ganzen vortrefflichen Arbeit. Wellhausen’s Urtheil über den Werth
des Kitab al’asnam von Ihn al-Kalby kann ich nur mit Vorbehalt
theilen. Diese Quelle ist die reichste, aber nicht die reinste. Ihn al-
Kalby, sowie sein Vater ICalby, geniessen keinen guten Ruf. Letzterer
wird als ganz unverlässlich in seinen Traditionen bezeichnet. (Ibn Hazm
Kortoby: Almilal walnihal, Manuscript der Hofbibliothek, fol. 191 verso;
dann Dahaby: 'Ibar, zum Jahre 146; dasselbe Urtheil gibt Kädy 'Ijäd
im Sifä II, kism 3, bäb 1 ab und zwar in den schärfsten Ausdrücken.)
Mit seinem Sohn, Ibn al-Kalby, steht es nicht besser. Schon der ge
wiss gut unterrichtete Verfasser des Agäny (IX, 19, 20) weist ihm eine
grobe Unwahrheit nach und nennt ihn einen Lügner, was aber doch
nicht hindert, dass er ihn öfters citirt. Er ist eben der Einzige, welcher
ausführliche Nachrichten über das arabische Alterthum gibt. Diesem
Beispiele müssen auch wir folgen, und das verwerthen, was er gibt;
aber mit Vorsicht. Das Kitftb al’asnäm halte ich für echt, obgleich Ibn
Challikän, welcher die beiden Kalby’s sehr hochstellt (Nr. G45, 786), es
in dem Verzeichnisse der Schriften nicht anführt. Man vergleiche
übrigens noch: Agftny XIX, 58, 86, 98, 127, 131, 163; XX, 7, 23, 132,
144, 145, 160. — Ein massvoller Skepticismus ist bei wissenschaftlicher
Forschung unentbehrlich. Auch die Arbeiten der Vorgänger darf man
nicht ganz unbeachtet lassen. Hätte W. dies gethan, so würde es ihm
nicht passirt sein das Gedicht Zohair, 20, für echt zu halten. Vgl.
Wellhausen: Reste etc. S. 196, 202, dazu Kremer: Culturgeschichte
II, 358, Note und Ahlwart: Bemerkungen über die Echtheit etc. S. 64.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
3
,Wir beteten die Steine an; fanden wir einen besseren, so
warfen wir den alten weg und nahmen den andern; fanden
wir keinen passenden Stein, so nahmen wir ein Häufchen
Erde, brachten ein Schaf und molken die Milch darauf, dann
verrichteten wir, die Stelle umschreitend, unsere Andacht (tof-
nä bihi). £1
Es liegt hier etwas absichtliche Entstellung des Heiden
thums vor, denn man liebte es, den früheren Cultus als mög
lichst kindisch und einfältig darzustellen, aber die Thatsache
der Steinverehrung, sowie der Darbringung von Milchlibationen
ist gewiss richtig.
Ein anderer alter Erzähler gedenkt einer heidnischen
Cultstelle in ’Otaidä’, wo auch eine grosse, bei den periodischen
Wallfahrten stark besuchte Messe abgehalten ward, und er
setzt hinzu: ,Dort standen Felsblöcke, um welche die An
dächtigen feierlichen Umzug hielten und zu denen sie pilgerten/ 2
Nach alten Ueberlieferungen verehrten die Araber vor
dem Islam verschiedene Götter, die Einen beteten die Sonne,
die Anderen den Mond und die Idole an. 3
Verschiedene Stämme hatten ihre eigenen Idole (tawägyt),
so die Stämme Gohainah und ’Aslam; in jedem Stamme eines: sie
wendeten sich an dieselben bei Entscheidung von Streitigkeiten. 4
Solche Stammesgottheiten werden bei verschiedenen
Stämmen namhaft gemacht. Ausser diesen gab es noch Idole,
die von ganzen Gruppen von Stämmen verehrt wurden und
denen eigene Cultstellen geweiht waren, zu welchen gewall-
fahrtet wurde.
Die ältesten sind zweifellos die Götter der Steinzeit: Steine
oder Felsblöcke. Die angesehensten hierunter sind folgende:
Allät und Al'ozza. Die Erstgenannte ward in dem Städt
chen Tai'f in einem unförmlichen Steinblock verehrt, der noch
jetzt an Ort und Stelle gezeigt wird. 3 Ihrem Culte huldigte
1 Bochäry: Kitab olmagäzy: bäb wafdi bany hanyfah.
2 Jäkut: III, 705; Sprenger: Alte Geographie von Arabien 355, 356.
3 Bochäry: Kitab ol’ adän : bfib fadl il-sogud.
4 1. 1. Kitäb tafsyr il-Kor’an: Surat olnisäL Nach einer anderen Tradition
wird auch noch der Stamm Hiläl Ibn f Amir Ibn Sa'sa'ah genannt. So
‘Askaläny im Fath ol-bäry zu dieser Stelle.
5 Ch. Doughty: Travels in Arabia deserta II, 516. Es ist ein Granitblock
von ungefähr 20 engl. Fuss Länge.
1*
»
4
VIII. Abhandlung:: v. Krem er.
besonders der Takyf-Stamm. Nach aller Wahrscheinlichkeit
ist der Name Allat identisch mit der Alilat des Herodot, welche
er mit der griechischen Urania vergleicht. Sie wird gewöhn
lich bei Heiden zusammen mit Al'ozza genannt.
Diese ist die Kaukabta der Syrer, welche von ihnen mit
der Aphrodite und Astarte verglichen wird. Der gewöhnliche
Schwur der Mekkaner war: bei Allat und Al'ozza. Sie hatte
mehrere Cultstellen, von denen die zu Nachiah und Boss ge
nannt werden. 1 Man verehrte sie in einem Felsblock. In Taif
zeigt man sie in einem solchen, der an 20 englische Fuss lang
ist, von demselben grauen Granit wie Allät. 2 Die Echtheit
bezweifle ich.
Beide Namen lassen keinen sichern Schluss zu und Allat
bedeutet die Göttin und bezieht sich vielleicht auf die Sonne, 3
Al'ozzk bedeutet: die Erhabenste und bezieht sich vermuthlich
auf den Morgenstern.
Die dritte grosse Steingottheit heisst Almanat. Sie ward
gleichfalls in einem Felsblock verehrt, der auf dem Hügel
Moshallal lag, dicht bei dem Dorfe Iyodaid, das nicht weit von
Mekka entfernt ist. Der Stamm Hodail, sowie die Bewohner
von Jatrib (Medyna) sollen ihrem Culte besonders ergeben
gewesen sein. Man hat in ihr die Schicksalsgöttin erkennen
wollen und soweit solche blos auf etymologische Gründe ge
stützte Behauptungen überhaupt zulässig sind, scheint dies
wahrscheinlich. 4
Dies sind die drei grossen Göttinnen der Higäz-Stämme.
Beschränkter war der Kreis einiger anderer Götzensteine.
Fals hiess ein rother Fels in der Mitte des sonst schwarzen
Berges 'Aga’ im Lande des Tajji’-Stammes; Sa'd war der Name
eines hohen Felsriffes in der Nähe der Seeküste bei Gidda;
1 Nach Jäkut ist Boss nicht Ortsname, sondern bedeutet so viel als
Tempel. Mo'gam III, S. 665, Z. 16. Wellhausen: Reste u. s. w. S. 33ff.
2 Doughty: II, 515.
3 Baethgen: Beiträge zur semitischen Religionsgeschichte. Berlin 1888,
S. 99 ff. sieht in Allat die Mondgöttin. Wellhausen, S. 29 und 36 ff.
4 Hiefür tritt Th. Nöldeke ein. Die Wörter: manijjah, manun, die offen
bar von derselben Wurzel stammen, sprechen hiefür. Die Araber wollen
den Namen von der Wurzel mnj ■= ’aräka, effundere ableiten und mit
dem Vergiessen des Blutes der Opferthiere erklären. Sarh almowatta’:
II, 219-, Kitäb olhagg: gämi f olsaj.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichtc.
5
Galsad hiess ein weisser Steinblock, der irgendwo in Hadra-
maut verehrt ward. Schliesslich sei noch Dulchalasah genannt,
ein weisser Quarzblock, worauf eine Art Krone gearbeitet ge
wesen sein soll; bei Tabalah, sieben Tagreisen von Mekka,
schon auf südarabischem Gebiete und also schon in eine andere
Culturzone gehörig. Es stand dort ein Tempel, der denselben
Namen führte und später auch die südarabische Kaaba genannt
ward. Allein der Charakter des Idols ist zweifelhaft, denn
die Nachricht, dass der Stein theilweise bearbeitet war, wider
spricht der alten Anschauung, dass über einen Götterstein kein
Eisen sollte fahren. Das Heiligthum stand im Gebiete des
Chat'am-Stammes. Auf Mohammeds Befehl ward der Tempel
verbrannt und der Stein zertrümmert. Der Götzenstein selbst
oder ein Stück davon diente später als Thorschwelle der Moschee
von Tabalah. Das Idol hatte besonders der Verehrung der
Weiber der beiden Stämme Daus und Chat'am sich zu erfreuen,
welche dahinströmten, sei es um ihre Wünsche der Gottheit
vorzutragen, sei es um den Tempelfesten beizuwohnen. 1
1 Jäkut II, 462 Z. 23 und 463 Z. 20. Die Worte: tastakko ’aljäto nisä’i
bany dausin 'alä dylchalasah — und in anderer Lesart: tastafiko
haula .... können verschieden aufgefasst werden: ,die Hinterbacken
der Weiber von Daus stiessen zusammen auf dem (Steine) Dulcha
lasah oder: .... zitterten, bebten um den (Stein) Dulchalasah.
Erstere Lesart lässt vermuthen, dass sie an dem Steine sich rieben oder
sich darauf setzten. Eine ganz ähnliche Sitte, die noch in Persien be
steht, bespricht Dr. Polak in seinem ausgezeichneten Buche: Persien etc.
Leipzig 1865, I, S. 222: Die heirathslustigen Mädchen und Wittwen
knacken mit dem Gesässe auf den zwölf Stufen einer Moschee in Is-
tahan je eine Nuss auf und singen dabei eine Strophe um ihrem
Wunsche Ausdruck zu geben. Gibt man aber der Lesart tastafiko den
Vorzug, so könnte man schliessen, dass die Weiber um den heiligen
Stein tanzten. Mein verehrter Freund Dr. Sprenger aber tlieilt mir
brieflich mit, dass dieselbe Tradition im Taisyr sich findet mit der
Lesart: tadtaribo. Er combinirt mit dieser Stelle die Verse S. 462,
Z. 19, wo ’onbuba zu fassen wäre als euphemistisch gebraucht für farg
= vulva, worauf allerdings das Verbum jo'äligo passt, so dass der Vers
bedeuten würde: ,Die Banu 'Omämah (die Schirmvögte des Tempels)
wurden in Walijjah hingeschlachtet, allzusammen, als jeder von ihnen
gerade auf einem Weibe lag 1 . Es scheint also dass der Dienst der
Dulchalasah nicht die Sittlichkeit förderte. Vgl. Baethgen : Beitr. S. 106,
Wellhausen: Reste S. 42.
6
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Endlich gehört in die Reihe dieser Götzensteine der noch
heute verehrte, sogenannte schwarze Stein der Kaaba; der
eigentliche Nationalfetisch der Mekkaner und der umwohnenden
Stämme. Erst später kam Hobal hinzu, dessen Bild in dem
Gemache der Kaaba, unmittelbar über dem Erdloche stand,
in welches die dem Tempel gespendeten Weihgeschenke ge
worfen wurden. Hobal war in Menschengestalt dargestellt und
vor ihm pflegten die Loospfeile gezogen zu werden. Schwer
ist es jedoch den innern Widerspruch zu erklären, welcher
darin liegt, dass neben dem heiligen, schwarzen Stein, dem
Nationalfetisch, noch ein offenbar jüngerer Gott in Menschen
gestalt in der Kaaba sich findet. Mir scheint nur folgende
Erklärung möglich: nämlich, dass Hobal die bildliche Dar
stellung derselben Gottheit war, für deren Sitz man den
schwarzen Stein hielt. Dieser war anfangs der alleinige Gegen
stand der Verehrung, später gesellte sich hiezu die ihres
Bildes. Der Islam entfernte letzteres und stellte die ausschliess
liche Verehrung des Fetischsteines wieder her. Ein besonderes
Ansehen über die Mauern der Stadt hinaus hatte Hobal ohne
bin nicht genossen. Selbst die Mekkaner schworen nicht bei
Hobal und nur in der Schlacht von ’Ohod ist ihr Feldruf:
Hobal hoch! Nach einer vereinzelten Nachricht (Ibn Hisam,
S. 51) soll Hobal aus Syrien importirt worden sein.
Noch eines Steines haben wir zu gedenken, der zwar
schon ausserhalb des eigentlichen, echtarabischen Gebietes
liegt, aber trotzdem vollkommen arabisches Gepräge zeigt.
Es ist dies der Steingott Dusares. Das Heiligthum des
selben stand in Petra, der Hauptstadt der Nabatäer im Sinai-
Gebiete. Dort sah man in einem reich ausgeschmückten
Tempel einen unbehauenen Steinblock auf goldener Unterlage,
der mit dem Blute der Opferthiere begossen ward. In diesem
Steine verehrte man den Gott Dusares, d. i. Dionysos. 1
Aber auch im alten Bostra in der Hauranitis, einer schon
früh von Arabern besiedelten Landschaft ward Dusares ver
ehrt, und gewiss fehlte auch der heilige Stein nicht. 2
1 Wellhausen: Reste etc. S. 45 ff.
2 Näheres über die weite Verbreitung des Dusares-Cultus bei Baethgen:
Beiträge zur semitische» ßeligionsgeschichte. Berit» 1§88, S. 92 ff.
Studien zur vergleichenden Culturgeschickte.
7
Diese Verehrung von Steinen, die man als Götterbehau
sungen ansah, ist weitverbreitet und uralt. Bei den verschie
densten Völkern ist sie zu beobachten: bei den alten Urein
wohnern Indiens, hei den amerikanischen Rassen (Dakota), auf
den westindischen Inseln des Stillen Öceans (Fidschi, Hebriden)
und an vielen anderen Orten. 1 Es mag bei den wilden Stämmen
der Stein, als das Härteste und Unvergänglichste, als der
Stoff, der ihnen zu Waffen und Werkzeugen diente, Bewun
derung erweckt und vielleicht Verehrung auf sich gezogen
haben; oder es mögen gewisse Steine als vom Himmel herab
gefallene Donnerkeile abergläubische Furcht den Menschen
eingeflösst haben, da sie dieselben als ein Geschenk höherer
Wesen betrachteten.
So erwiesen die Orchoinenier den Steinen grosse Ehr
furcht, indem sie sagten dieselben seien dem Eteokles vom
Himmel herab gefallen. 2 Die Pharaeer (in Achaia) verehrten
viereckige Steine, deren jedem sie den Namen eines Gottes
beilegten. 3 In Hyettos war ein Tempel des Herakles, worin
der Gott ganz nach alter Sitte durch einen rohen (unbehauenen)
Stein dargestellt war. 4 Auf Euboea stand ein Steinblock zu
Ehren der Artemis. Vor dem Tempel von Delphi sah man
einen Stein, auf den die Leute täglich Oel gossen und an
jedem Festtage rohe Wolle legten. 6 Der Spötter Lucian macht
sieh lustig über einen frömmelnden römischen Würdenträger,
welcher, sobald er einen mit Oel bestrichenen oder bekränzten
Stein sah, sofort davor andächtig sich verbeugt und sein Gebet
verrichtet. 6
Bei den Ursemiten scheint dieser Steincultus die früheste
Aeusserung der religiösen Idee gewesen zu sein. So errichtete
Jacob des Morgens von dem Steine, auf dem sein Haupt nacht-
über geruht hatte, ein Denkmal, goss Oel darüber und nannte
dieselbige Stelle Bethel d. i. Gotteshaus (Genes. 28, 18). In
späterer Zeit that man dasselbe, doch weniger einfach: so baut
Josua dem Ewigen, dem Gotte Israels, einen Altar auf: dem
Berge 'Ebal .... einen Altar von unbehauenen Steinen, über
1 Tylor: Anfänger der Cultur II, 161. Lubbock. 2 Pausanias IX, 38.
3 1. 1. VII, 22, 4. 4 1. 1. IX, 24, 3. 5 1. 1. X, 24, 6.
6 Lucian: Alexander von Abonöteichos 30. Weitere Beispiele bei Hylor:
II, 166.
8
VIII. Abhandlung: v. Krem er
die kein Eisen gefahren war (Jos. 8, 30, 31). Diese Stelle ist
desshalb beachtenswert!], weil ausdrücklich gesagt wird, dass
kein Eisen zur Bearbeitung der Steine gedient hatte. Das
hätte sie nämlich entweiht; denn der Cultus bewahrte als merk
würdigen Atavismus die Heilighaltung des rohen Steines und
die Scheu vor dem Eisen; desshalb blieb auch bei gewissen
rituellen Handlungen das Eisen ausgeschlossen und war dabei
nur der Gebrauch von Steinmessern gestattet (Jos. 5; 2, 3, 7).
Denn das Eisen sah man offenbar als eine Neuerung an, die
der Cultus von sich wies. Aus demselben Grunde waren auch
im alten Aegypten für gewisse rituelle Verrichtungen nur Stein
messer gestattet. 1
Auch die Phönieier hatten ihre heiligen Steine, die sie
BaiiüTca nennen und von denen Sanchuniathon sagt, dass sie
vom Himmelsgott beseelte Steine seien. Diese Baetylien ent
sprechen in Sinn und Wort dem Bethelsteine Jacobs. Es wohnt
ihnen ein Gott oder ein Geist. Denselben Ausdruck finden
wir bei den alten Südarabern, die ja im Alterthum mit den
Phöniciern in lebhaftem Verkehr gestanden sein müssen. Man
findet nämlich dort angeblich als Ueberreste aus der Zeit der
ältesten Bewohner (tasm, gadys) sogenannte: Betyle (batyl)
d. i. viereckige, thurmähnliche Bauwerke, offenbar Cultstätten
der Vorzeit. 2
Es ist gestattet hieraus den Schluss zu ziehen, dass in
ältester Zeit auch in Südarabien dieselbe Verehrung heiliger
Steine herrschte, wie bei den nordarabischen Stämmen noch
in geschichtlicher Zeit. Erst später gestaltete sich der süd
arabische Cultus in Folge einer ganz anderen Culturentwicldung
zum Bilderdienst. Die nordarabischen Stämme aber blieben
dem alten rohen Aberglauben der Vorzeit treu, welcher in der
Verehrung der Steine und dem Dienste von Fetischen und
Hausgöttern bestand.
Ich finde im modernen Orient einen Brauch, der nach
meiner Ansicht ein Rest jener Steinzeit ist. Es besteht näm
lich in Syrien und Aegypten die Volkssitte, dass Reisende zum
Zeichen ihres Besuches oder ihres, wenn auch nur ganz kurzen
1 Herodot II, 86. Bei Einbalsamirung der Leichen.
2 JJaradäny ed. D. H. Müller, S. 140. Auch Jäkut I, 490,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
9
Aufenthaltes an irgend einer Stelle ein paar Steine in Form
einer kleinen Pyramide Zusammenlegen. Solche Steinhäufchen
sieht man überall an den Hauptverkehrsstrassen und Wall
fahrtsorten. Das Volk nennt sie shahid, d. i. Zeuge; denn sie
zeugen dafür, dass Jemand an dem Orte sich aufgehalten hat.
Dieser Brauch ersetzt im Oriente die europäische Unsitte, durch
Einschreibung des Namens überall sich verewigen zu wollen.
Der Araber lässt seinen namenlosen shähid zurück und zieht
des Weges.
Ausser den Stammesgöttern hatte in Mekka fast jede
Familie ihre Hausgötter. 1 Sie mögen sich nicht viel unter
schieden haben von den Fetischen der Wilden; vermuthlich
waren sie rohe Figuren aus Stein oder Holz, wie der Haus
fetisch des ‘Abbäs Ibn Mirdäs, den er, als er ihm sein Ver
trauen entzogen hatte, ruhig verbrannte. In Mekka muss eine
förmliche Industrie bestanden haben, die mit der Verfertigung
und dem Verkaufe von solchen Idolen sich beschäftigte. 2
Auch gewissen Bergen und Hügeln scheint man Ver
ehrung gezollt und sie, als den Göttern geweiht, besucht zu
haben. Mit Sicherheit lässt sich leider nur wenig sagen. Den
Berg ’Atwah, auf welchem der Tempel Rijäm sich befand,
kann man kaum hiezu rechnen, da er schon auf südarabischem
Gebiete liegt und also einer andern Culturzone angehört. Das
selbe gilt auch von dem Hügel Madhig, auf welchem der
Tempel Dulchalasah stand, das gemeinsame Heiligthum der
Sippe von Stämmen, welche den Namen Madhig führen, sei
es nun, dass der Hügel nach ihnen benannt ward, oder sie
von jenem die Benennung erhielten. Der Berg Sha'ban bietet
ein gutes Beispiel für solchen Namenstausch; denn von ihm
soll der Stamm Sha'ban den Namen erhalten haben. 3
Dass man die Berge als etwas Ewiges, Unveränderliches
mit Staunen und Ehrfurcht ansah, scheint zweifellos und ent
spricht auch ganz der ältesten, einfachen Naturauffassung. Für
solche Eindrücke war der Volksgeist sehr empfänglich und der
alte Dichter Labyd drückt dies aus, wenn er die Berge als
1 Ibn Hisäm, S. 303. 2 Wellhausen: Mohammed in Medina, S. 350.
3 Wüstenfeld: Register zu den genealog. Tabellen, siehe: Madhig und
Sha'ban.
10
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
die Ewigen (alcbawälid — Mo'allakah v. 10, ed. Arnold, auch
in dem Dywän S. 108, v. 5) bezeichnet.
Ziemlich klar tritt der Charakter einer heiligen Andachts
stelle hervor bei der Anhöhe ’Aläl; 1 weniger bei dem Mekka
in nächster Nachbarschaft überragenden Berg Abu Kobais, dem
eine legendenhafte Bedeutung zukommt. 2 Von ihm soll der
schwarze Stein der Kaaba stammen. In einem alten Ge
dichte zum Lobe von Mekka werden als heilige Stellen, ausser
Marwah und Safä, noch angeführt die Berge: Taur, Tabyr
und Hirä’. Von diesen verdanken der erste und letzte, wie
es scheint, vorzüglich der mohammedanischen Legende ihre
Berühmtheit, aber Tabyr wird schon im Heidenthume genannt,
wo die Pilger mit dem Rufe: ,ashrik Tabyr kaimä noghyp
ihren Rückmarsch nach Minä antraten. 3
Der Name Tabyr ist zweifellos eine altsemitische Be
zeichnung für einen vereinzelt emporragenden Bergkegel und
entspricht ganz dem hebräischen tabur (“i"ü): Nabel; ein
solcher Berg ward als Nabel des Landes angesehen 1 und galt
im hohen Alterthum als Göttersitz, wie ,der Berg des
Nordens, wo die Götter tagen'. (Jesaia, 14, 13.)
Jedenfalls erhellt aus dem Gesagten, dass eine grosse
Geneigtheit bestand, Berge und Hügel zu pcrsonificiren und
als heilige Stätten zu betrachten, wo man den Himmlischen
näher sei.
'• Wellhausen: Reste u. s. w. S. 76; Jäkut: ’Aläl; die Aussprache so
nach Gauhary. Jetzt heisst die Anhöhe Gabal alralimali (Berge der Er-
barmung) und gilt noch immer als heilige Stelle. Näheres bei Burton:
Pilgrimage to Eimedina and Mekka III, 257.
2 Mosämarät: Ibn al'araby. Kairo 1282. I, S. 290 (Cap. dikro mä kyla
'alä lisän ilharämaini). Der Name Abu Kobais wird dadurch erklärt,
dass ein Mann dieses Namens auf dem Berge gewohnt haben soll.
Natürlich ist dies spätere Erfindung.
3 Erglänze, o Tabyr, auf dass wir hinabziehen (nach Mekka).
4 Vermuthlich hängt hiemit auch der Name des Berges Thabor zusammen,
den wir in der griechischen Umschreibung Traßiipiov oder ’Axaßiipiov
finden und selbst auch Rhodos in der Form Atabyris (Pindar Olymp.
VII, 78), auf welchem ein Tempel des Zeus Atabyrios stand. Diod. Sic.
V, 59; Strabo, XIV, 655. Vgl. Baudissiu: Studien zur semitischen Re
ligionsgeschichte II, 248 ff.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
11
Ganz bestimmt tritt cler rituelle und religiöse Gedanke
bei den zwei Hügeln Safa und Marwah im Stadtbezirke von
Mekka hervor.
Dass beide schon vor dem Islam als heilige Stätten be
trachtet wurden, erhellt aus den Traditionen mit voller Sicher
heit. Nach einer sehr gut verbürgten Nachricht 1 waren Marwah
und Safa zwei Cultstätten des Heidenthums, die man desshalb,
als der Islam siegte, meiden zu sollen glaubte. Die Bewohner
von Medyna (Aus und Chazrag) hatten, als sie noch Heiden
waren, die Gewohnheit, zur Göttin Almanät auf dem Hügel
Moshallal zu pilgern. Nachdem sie aber die Andacht bei der
Alwanät verrichtet hatten, pflegte man sich zu den beiden
Hügeln Safa und Marwah zu begeben, um dort zu beten. Nach
anderen Berichten hingegen 2 hielt man es nicht für recht,
wenn man zur Almanät gepilgert war, noch Safa und Marwah
zu besuchen. Als nun der Islam kam, entstanden Zweifel
darüber, ob man, wie früher im Heidenthum, noch die beiden
Hügel besuchen dürfe oder nicht. Um diesen Bedenken ein
Ende zu machen, verkündete der Prophet folgenden Koran vers
(Sur. 2, 153): ,Fürwahr die Safa und die Marwah sind
Cultusstätten Gottes, und wer zur Kaaba pilgert oder
die kleine Wallfahrt ('omrah) verrichtet, dem ist es
keine Sünde, wenn er sie verehrt.' — Aber nach einer
anderen Lesart lautet der letzte Theil: ,wenn er sie nicht
verehrt.'
Ich lasse hier den Text der Tradition folgen: Mälik 'an
Hisam ibn 'Orwah 'an ’abyhi innaho käla kolto li'äisata omm
ilmu’minyna wa ’anä jauma’idin hadyt olsanni ’ara’aiti kaulal-
lähi tabaraka wa ta'älä ’inn alsafä walmarwata min sa'äirillähi
faman hagg albaita ’aw-i'tamara falä gonäha 'alaihi 'an jat-
tawwafa bihimä fama 'alalragoli sai’on ’in lä jattawwafa bihimä
fakälat 'äisato kallälan kana kamä takulo lakänat falä gonäha
'alaihi ’an lä jattawwafa bihimä.
Man sieht also, dass der Prophet keineswegs ein beson
deres Gewicht darauf legt, dass man die alten Cultorte be-
1 Bei Bochäry und Moslim.
2 Tradition bei Moslim.
12
VIII. Abhandlung: v. Kremer.
suche, aber untersagen will er es auch nicht, da es sieh offen
bar um eine alte, eingewurzelte, volksthlimliche Sitte handelte. 1
Es sollen später auf den zwei Anhöhen die ehernen
Bildnisse der Isaf und Nailah aufgestellt worden sein, die aber
nach dem Siege der neuen Religion umgestürzt und herab
geworfen wurden. 2
Aus dem Vorhergehenden ergibt sich, dass der sogenannte
Höhendienst, die Verehrung von Bergen und Anhöhen, die man
für Sitze der Götter hielt, und wo man opferte und räucherte,
nicht blos in der ältesten Form des hebräischen Cultus er
scheint, sondern bei den Arabern sich noch bis in weit spätere
Zeiten behauptet hat.
Auch manche Oase, die durch Palmenreichthum und
Wasserfülle sich auszeichnete, galt als den Göttern geweiht.
Diodor erzählt uns von einem solchen heiligen Hain, wo auch
ein Altar aus hartem Steine stand, bedeckt mit alten, un
verständlichen Schriftzeichen. Den Dienst dieses Heiligthums
besorgten ein Mann und eine Frau, die für Lebzeiten die
Priesterwürde bekleideten. Alle fünf Jahre fanden Festver
sammlungen statt, zu denen die Bewohner der Umgebung von
weither zusammenströmten und im Heiligthume des Gottes
Festhekatomben von wohlgenährten Kameelen opferten. :i
Aber auch der Baumcultus, der bei den Hebräern, wie
bei so vielen anderen alten Völkern sehr verbreitet war, be
stand bei den arabischen Stämmen. So verehrte man in der
Entfernung weniger Meilen von Mekka einen alten Samorah-
Baum (Mimosa) als Sitz der Göttin Al'ozzä, die wir früher
unter den Steingottheiten aufgeführt haben. Unter der Benen
nung ,dät ’anwaP d. i. die Spendenbehangene, ist ein anderer
heiliger Baum bekannt und in der Landschaft Negrän stand
eine Palme, der man Weihgeschenke darbrachte. Und noch
bis in die Gegenwart haben sich deutliche Reste dieses uralten
1 Alles nach der wichtigen Stelle im Sarh almowatta’. Kairo 1280, B. II,
S. 218 (gämi' olsa'j). Auch nach Bochäry ist der Besuch der beiden
Hügel nicht geboten, sondern nur eine aus dein Heidcnthum herüber
genommene Sitte (Bocli.: Kitäbo tafsyr olkor’än zu Sur. 2).
2 So im Sarh olmowatta’ nach Baihaky und Nasä’y.
3 Diod. Sic. III, 42, 43; Strabo XVI, 4, 18 (776, 777). Vgl. Wellhausen,
S. 47.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
i?,
Baumcultus erhalten. Jetzt bezeichnet der Araber solche Bäume
als ,von Geistern bewohnt'. Sie nicht ehren oder gar beschä
digen bringt Unglück. Ein wohlhabender Tuäly, der über-
müthiger Weise einen solchen Baum in Gaww in Brand steckte,
ging bald darauf mit der ganzen Familie elend zu Grund. So
berichtet neuestens der treffliche Ch. Doughty. 1 Solche Bäume
nennt man manhal (pl. manähil); meistens sind sie in der
Wüste, theils Bäume, theils auch vereinzelte Sträucher. Kommen
die Beduinen auf ihren Wanderungen vorbei, so pflegt ein
Kranker ein Schaf daselbst zu opfern oder eine Gais, mit
deren Blut er den Baum und den Boden besprengt; das
Fleisch theilt er unter seine Freunde aus, lässt aber auch einen
Theil zurück an den Aesten oder Zweigen hängend. Dann
legt sich der Kranke nieder um zu schlafen, in der Erwartung,
dass die Melä'fkah (die Engel) auf ihn im Traume herabsteigen
und ihm die Gesundheit bringen würden. Sollte aber ein
Gesunder es wagen daselbst zu schlafen, so würde er als ge
brochener Mann aufwachen. Im Gaww sind zwei Manähil,
das eine ist ein Sarhah-Strauch und das andere eine immer
grüne Eiche (richtig wohl Terenbinthe botm oder tirwah). Die
Geisterbäume sind behängen mit alten Fetzen und bunten
Lappen, Glasperlen und ähnlichem Plunder. 2 Solche Bäume
sind auch in Aegypten und Syrien ausserordentlich häufig an-
zutreffen. Ich nenne nur den Baum ,omm alsharämyF auf der
Insel Rödah bei Kairo.
So finden wir wieder ein Stück uralter heidnischer Sitte
noch in voller Lebenskraft: denn diese Verehrung heiliger
Bäume ist altsemitisch und war schon bei den Hebräern üblich.
Man begrub geliebte Todte am Fusse oder im Schatten der
selben, man opferte den Göttern daselbst und hielt auch Volks
versammlungen ab.
Die arabischen Beduinenstämme haben uns also, wie auch
hier wieder ganz deutlich sich zeigt, die älteste und ursprüng
lichste Form der religiösen Gewohnheiten der semitischen Vor
zeit fast unverändert erhalten in der Verehrung von Steinen,
Bergen, Hainen und Bäumen, die man von Göttern oder Geistern
1 Doughty: Travels etc. I, 449.
J Doughty I, S. 4*18-—450. Vgl. Balädory ed. de Goeje, S. 322, Z. 20.
14
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
bewohnt glaubte und desslialb verehrte. Doch im Verlauf der
Zeiten, in Folge der höheren Culturentwicklung, des zuneh
menden Verkehres mit fremden Völkern, entstanden neue An
schauungen, Mythen und Göttersagen und hiemit zogen auch
neue Göttergestalten ein, die sich theils durch ihre Form, theils
durch ihren Namen und Cult als entlehnt und dem arabischen
Geiste fremd zu erkennen geben.
Die Araber 1 der geschichtlichen Zeit haben dies noch
recht gut gefühlt und führen unter der Bezeichnung ,Götter
der Zeitgenossen Noah’s 4 eine Anzahl solcher vor, die
zwar allerdings durchaus nicht vorsiindflutlicher Natur, aber
allerdings fremdartige, nicht nordarabische Götter sind, und
auch gewiss einer weit späteren Epoche angehören als die
alten Steingottheiten.
Die arabische Sagengeschichte erzählt, dass die Zeit
genossen Noah’s aus Holz geschnitzte Götterbilder hatten. Als
nun die Sündflut kam, schwemmte das Wasser sie fort und
schliesslich blieben sie am Gestade des Meeres in der Nähe
von Gidda liegen. Dort fand man sie auf und die das Tihä-
mat (Tiefland) bewohnenden Stämme, zu denen diese Bild
nisse gelangten, so berichtet die Legende, hätten sie angebetet.
Die Namen dieser vorsündflutlichen Götter sind wie
folgt: Wadd, Sowä', Jaghut, Ja'uk und Nasr.
Wadd hatte sein Bild in Dumat algandal und er war
angeblich als männliche Gestalt dargestellt in Ober- und Unter
kleid, mit umgehängtem Schwerte, Bogen und Pfeilköcher,
einen Speer mit Fahne haltend. 1
Sowä' ward besonders vom Hodailstamm verehrt und
stand in Rohät im Gebiete vom Janbo', nicht fern von Medyna.
Jaghut befand sich auf dem Hügel Madhig in Jemen
und ward von den Madhigstämmen verehrt, die bei diesem
Hügel zum gemeinsamen Schutze sich verbündeten. Auch die
Einwohner der südarabischen Stadt Gorash huldigten dem
Jaghut, so dass er als Localgott dieser Stadt (Jaghut Gorash)
bezeichnet wird. 2 Sein Cult war weit verbreitet im Süden, wie
im Norden. 3
1 Aber diese Einzelnheiten scheinen spätere Zugabe zu sein.
2 Ibn Hisain, S. 52. 3 Vgl. Wellhausen: Reste u. s. w. S. 17 ff.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
15
Ja'uk ward ebenso, wie sein Vorgänger in Südarabien
verehrt, von den Cbaiwän, einem Zweige des Hamdänstammes
und deren Nachbarn und zwar war seine eigentliche Cult-
stätte im Dorfe Chaiwan. 1
Nasr ist gleichfalls südarabisch, war Stammesgötze der
Himjaren und sein Name kommt wirklich auf liimjarischen
Inschriften vor. Näheres über die Art seiner bildlichen Dar
stellung ist nicht bekannt.
Ueber diese Götter ist eine Aeusserung des Ibn 'Abbäs
erhalten, die ich hier folgen lasse: ,Die Idole, welche von den
Zeitgenossen Noah’s verehrt wurden, verbreiteten sich später
unter den Arabern, und zwar hatte der Stamm Kalb den
Götzen Wadd in Dumat algandal, Sowä' gehörte dem Stamm
Hodail, Jaghut dem Stamme Ghatyf in Gauf (andere Lesart
Gorf), Ja'uk dem Stamme Hamdän, Nasr aber dem Stamme
Himjar (und zwar) den Nachkommen des Dulkalä'. Es waren
alle diese, deren Namen oben angeführt wurden, gottesfürehtige
Männer von den Zeitgenossen Noah’s. Als sie aber starben,
da verleitete der Satan ihre Stammesangehörigen auf den Orten,
wo jene sich aufzuhalten pflegten, Denkmale aufzustellen und
dieselben nach ihnen zu benennen. Sie thaten es, aber ohne
sie anzubeten. Jedoch als diese gestorben waren und die
Weisheit geschwunden war, da wurden sie angebetet/ 2
Hiezu lässt sich noch Einiges aus alten Quellen nach
tragen: 3 Die genannten fünf Götzen werden als Kinder des
Seth, des Sohnes Adams, bezeichnet (nach Sohaily im Werke:
ta'ryf). Nach 'Orwah Ibn Zobair sind sie leibliche Söhne
Adams, dasselbe versichert auch 'Omar Ibn Shabbah (im Kitäb
Makkah), nach einer guten Q,uelle (Ka'b alkorazy). Nach Ibn
Ishak ward Wadd in Dumat algandal von dem Stamme Kalb
Ibn Wabrali Ibn Koda'ah verehrt; Sowä' stand in Rohät in'
1 So nach Fäkihy und Ibn Ishak im Fath olbäry fy sarli ilbochäry. Kairo
1301. B. X, S. 512.
2 Bochäry: Ititäbo tafsyr ilkor’än: zu Surah 71, 22. Wellhausen: Beste
n. s. w. S. 11 ff.
3 Ich schöpfe aus dem Werke Hadj olsäry lifath ilbäry fy sarli ilbochäry
von Ibn Hagar al'askaläny (st. 852 H.) ; Kairo 1301, XIV Bände.
ft
IG
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Higäz in der Küstengegend, Jaghut gehörte dem Morädstamme,
dann dem Stamme Ghatyf Ihn Moräd.'
So viel erhellt hieraus, dass diese Götter in Menschen
gestalt verehrt wurden, sonst würde man sie gewiss nicht als
Kinder oder Enkel Adams bezeichnet haben. Ihre Namen
sind echt semitisch; aber das Nordarabische reicht nicht aus,
um sie alle zu erklären: Jaghut bedeutet: er hilft, er rettet,
also Retter, Helfer (awxr ( p); Ja'uk: er hält zurück, er wendet
ab, also Schützer, Abwelirer (dcp.uvxwp); Wadd und Sowä' bleiben
unklar. Hingegen ist Nasr das Sternbild des Geiers, und zwar,
wie auch bei den Nordarabern das Sternbild zweifach ist, näm
lich der aufgehende und untergehende Geier, so finden wir es
auch auf sabäischen Inschriften in der doppelten Form des
Geiers des Ostens und des Geiers des Westens. 2
Fassen wir nun zusammen, so lässt sich mit Sicherheit
sagen, dass Jaghut und Ja'uk dem südarabischen Culturgebiete
angehören. Von Wadd ist dasselbe kaum zu bezweifeln, denn
die Kalbiten in Dumat algandal waren eine südarabische Co-
lonie; der Ort selbst liegt an einer grossen von Süden nach
Norden führenden Handelsstrasse: es herrschte daselbst bis in
die Zeit Mohammeds eine kinditische Familie und die Kindah
sind zweifellos südarabischen Ursprungs. Wadd muss also eine
südarabische Gottheit sein, wofür auch das häufige Vorkommen
auf sabäischen Inschriften den Beweis liefert. 3
Ueber Sowä' lässt sich nur so viel sagen, dass auch hier
fremdländischer, und zwar südarabischer Ursprung wahrschein
lich ist, da das Idol nahe an der Seeküste stand, also wohl
von aussen zur See hergekommen war. 4
Nasr ist zweifellos südarabisch.
Nach dem Gesagten ist es in hohem Grade wahrschein
lich, dass alle diese Götter südarabische Importwaare sind, die,
1 Ein alter Vers bei Ibn Hisäm S. 52 zeigt, dass Wadd weiblich ge
dacht ward.
2 Vgl. Baethgen: Beiträge zur semitischen Religionsgeschichte. Berlin
1888. S. 128.
3 Vgl. Epigraphische Denkmäler aus Arabien, von D. H. Müller, Denk
schriften der kais. Akademie der Wissenschaften in Wien, 1889, S. 5,19.
Baethgen: Beitr. S. 124 ff.
4 Wellhausen, S. 15.
Studien zur vergleichenden Cultnrgeschichte.
17
sei es durch die Handelskarawanen, sei es durch Ansiedler
oder Schiffsleute aus dem höher civilisirten Jemen, zu den
nordarabischen Stämmen gelangten.
Nebst diesen zwei Gruppen — 1. Götter der Vorzeit, in
Steinen, Bergen und Bäumen verehrt und 2. Götzenbilder, aus
fremder Cultur entlehnt — sind in den Schriften der Philo
logen und Chronisten, noch mehr aber in alten Inschriften
zahlreiche Namen arabischer Götter erhalten, über deren Be
deutung wir nur sehr wenig wissen. 1 Vieles davon mag gleich
falls fremden Ursprungs und von den arabischen Stämmen nur
angenommen worden sein, oder auch blos eine ganz locale
Geltung bei dem einen oder andern Stamme erlangt haben.
Um nur ein Beispiel anzuführen, nennen wir den Götzen Mo-
harrik (d. i. Verbrenner), welcher von den Bakr Ibn Wail und
den anderen Raby'ah-Stämmen verehrt worden sein soll: jedes
Lager, d. i. jede Unterabtheilung des Stammes, musste ihm
jährlich einen Knaben abliefern, der, wie es scheint, verbrannt
wurde. Nun ist es aber zweifellos, dass schon in sehr früher
Zeit ein beträchtlicher Theil der Raby'ah- Stämme aus dem
Hochlande (Negd) auswanderte gegen Norden und in Mesopo
tamien seine Wohnsitze nahm. 2 Da mögen sie denn mit vielem
anderen auch fremde Götter angenommen haben, denn es darf
nicht unbemerkt bleiben, dass Brandopfer eigentlich bei den
Arabern nicht üblich sind. Ein solcher fremder Gott ist offen
bar Moharrik. Der Stammgott der Bakr Ibn Wäil, die mit
den Raby'ah in engem Zusammenhänge standen und auch in
Mesopotamien sich angesiedelt hatten, hiess ’Awäl oder ’Owäl. 3
Gewiss findet sich viel Uraltes und Echtarabisches unter diesen
Götternamen. So ist z. B. der Name Manäf sicher alt und
echt. Unter den Koraishiten, sowie den Hodail kommt der
Name 'Abd Manäf, d. i. Knecht des (Gottes) Manäf vor. Was
für ein Gott das war, erfahren wir aber nirgends. Wahr
scheinlich ist er den alten Steingöttern beizuzählen und mag
1 Wellhausen: Reste etc. hat die Wichtigsten zusammengestellt.
2 Strabo bezeichnet sie mit dem Namen Rhambaeer. Ihr König führt den
echtarabischen Namen Alchaedamus. Strabo XVI, 2, 10 (263).
3 Wüstenfeld: Register, S. 110. Nach Agäny XX, 23 verehrten die Ijäd,
später auch die Bakr Ibn Wäi’l, den Gott Dul-Ka'baim (hach Ibn
alkalby).
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CXX. Bd. 8. Abk. 2
18
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
einen hochragenden Felsen bezeichnet haben. Wenigstens
spricht hiefür die Etymologie. 1 Aber diese bietet keine volle
Sicherheit.
Schliesslich ist noch ein Wort zu sagen über die Ver
ehrung der Sonne, des Mondes und der Gestirne. Eine hierauf
bezügliche Tradition ist bereits früher (S. 4) angeführt worden.
Es scheint in der That keinem Zweifel zu unterliegen, dass
denselben eine gewisse Verehrung erwiesen wurde, was aber
einen gleichzeitigen Cnlt von localen Gottheiten durchaus nicht
ausschliesst. Der Eigenname 'Abd Shams, d. i. Knecht des
Sonnengottes, spricht deutlich genug. Auch in Südarabien war
der Sonnencult zuhause und findet in den sabäischen Inschriften
seine Bestätigung. 2
Nach den Lexikographen führte die Sonne den Namen
al’ilähah, d. i. die Göttin. Ueber die Verehrung des Mondes
liegt nichts Näheres vor. Hingegen brachte man dem Morgen
sterne Opfer dar. 3 Und der Cultus der Al'ozza hängt eben
falls mit dem Sterndienste zusammen. Dasselbe gilt von der
südarabischen Gottheit Nasr.
Ich halte diesen Cult für sehr alt, und gewiss ist er nicht
jünger als der von heiligen Steinen und Bäumen. Bei einem
Nomaden- und Hirtenvolk ist es ganz natürlich, dass es den
Himmelskörpern seine besondere Aufmerksamkeit zuwendete
und deren Gunst durch Opfer zu gewinnen suchte. Man
glaubte, dass der Einfluss gewisser Sterne Regen bringe —
für den Nomaden und seine Herden die grösste Wohlthat.
Mohammed tadelt diesen Aberglauben mit grosser
Strenge, indem er sagte: ,Wer da spricht: wir erhielten
Regen durch die Gnade Allahs, der ist ein gläubiger An
hänger von mir und ein Ungläubiger für die Gestirne; aber
wenn einer spricht: das Gestirn so und so hat uns Regen ge
bracht, der ist ein Ungläubiger für mich, aber ein Gläubiger
für die Gestirne/ 4
1 Nwf, hoch sein, emporragen.
2 Mordtmann und Müller: Sabäische Denkmäler, in den Denkschriften
der Wiener Akademie, 18S3, S. 55 ff. Baethgen: Beitr., S. 88.
3 Wellhausen: Reste etc. S. 37, 173.
4 Bocliäry: Kitäb olmagäzy, bäbo gazÄtil-hodaibijah.
Studien zur vergleichenden Cultuvgescliichte.
19
Man hat auch geglaubt, bei den alten Arabern Spuren
der Verehrung heiliger Tliiere nachweisen zu können.
Um diese Behauptung zu stützen, werden verschiedene
Beweise vorgeführt. Wir wollen sie in Kürze prüfen.
Vorerst wird hervorgehoben, dass zahlreiche Stämme nach
Tbieren den Namen führen; so haben wir Stammesnamen, wie
folgende: Löwen, Panther, Hunde, Schlangen, Eidechsen u. s. w.
Man wollte nun in diesen Thieren, nach deren Namen die
arabischen Stämme sich Kinder des Löwen, des Panthers (banu
’asad, banu namir) u. s. w. nannten, den Totem dieser Stämme
erkennen. Mit diesem Worte bezeichnen bekanntlich die nord
amerikanischen Indianer ein Thier (Bär, Wolf, Fuchs, Biber
u. s. w.), von dem sie glauben, dass es mit ihrem Stamme in
einem gewissen, geheimnissvollen Zusammenhänge, in einer Art
Wahlverwandtschaft stehe. Wenn der Bär der Totem eines
Stammes ist, so betrachtet sich der ganze Stamm als ein
Bärenstamm; die Mitglieder dieses Stammes glauben, dass der
Bär mit ihnen in verwandtschaftlichem Verhältnisse stehe und
enthalten sich desshalb den Bären, als ihren Totem, zu tödten
oder sein Fleisch zu essen. Das Totemthier ist gewissermassen
geheiligt und wird oft als göttlich verehrt. 1 Alle Jene, deren
Totem dasselbe Thier ist, betrachten sich als verwandt und
zum selben Stamme gehörig.
Dieselbe Idee soll nun auch für die arabischen Stämme
gelten, und zwar wird als Beweis hiefür auf die Thiernamen
verwiesen, welche für ganze arabische Stämme sowohl, als auch
für einzelne Personen äusserst häufig Vorkommen. Ich werde
später an geeigneter Stelle zeigen, dass diese Benennung der
Personen nach Thieren durchaus nichts mit den Totems zu
thun hat, sondern auf sehr natürliche Weise sich erklären lässt.
Ich will schon hier darauf die Aufmerksamkeit des Lesers
lenken, dass solche Thiernamen im primitiven Völkerleben auch
auf ganz anderen Gebieten sich finden, wo von Totem und
ähnlichen indianischen Eigenthümlichkeiten keine Rede sein
kann. In der alten nordischen Sage kommen Benennungen
nach Thieren sehr oft vor; da finden wir Eigennamen wie:
1 Robertson Smith: Kiusliip and marriage in early Arabia. Cambridge
1885. S. 186 ff.
2*
20
VIII. Abhandlung: v. Kreme r.
der Eber, der Widder, der Wolf, der Bär, der Hund, der
Aar, der Rabe, der Habicht. 1 Dass aber gleichzeitig ein Cultus
dieser Thiere hiemit verbunden gewesen sei, ist im Wider
spruch mit der ganzen skandinavischen Denkart. Es wäre das
gerade so irrig, als wollte man behaupten, dass alle Deutschen,
die den Familiennamen: Bär, Fuchs, Wolf, Habicht, Adler,
Hahn u. dgl. tragen, ursprünglich einem Totem-Stamme an
gehörten.
Der Beweis aus den Thiernamen ist also entschieden un
statthaft.
Aber die alten Araber sollen gewissen Thieren eine be
sondere Verehrung erwiesen haben. Wenn dies durch zweifel
lose Thatsachen dargethan werden könnte, so würde die
Totem-Theorie hiedurch allerdings noch nicht bewiesen, aber
doch annehmbarer gemacht.
Welche Gründe werden nun vorgebracht, um bei den
Arabern einen Thiercultus oder doch die Verehrung von einigen
Gottheiten in Thiergestalt zu beweisen?
Man versichert uns, der Löwe sei in Gestalt eines Löwen
gottes verehrt worden. 2 Dass dies wirklich der Fall war, soll
durch häufige Verwendung des Löwennamens zur Bezeichnung
von verschiedenen arabischen Stämmen wahrscheinlich gemacht
werden. Es ist nun richtig, dass ein arabischer Stamm den
Namen ’asad (Löwe) führt, dass andere denselben Namen mit
kleinen Aenderungen (’asd, ’azd) oder gleichbedeutende Namen
führen, aber nach dem oben Gesagten genügt dies keineswegs,
um die Totem-Theorie zu stützen.
Das hat wohl auch der gelehrte Vertheidiger derselben
gefühlt, und desshalb führt er noch ein vermeintlich ent
scheidendes Argument vor: es wird nämlich dafür, dass der
Gott Jaghut in Löwengestalt verehrt worden sei, der ge
lehrte Zamachshary citirt, der in seinem Commentar zum
Koran (zu Surah 71, 23) in der That obige Nachricht über
den Gott Jaghut überliefert. Aber welches Gewicht soll man
dieser Angabe beilegen, wenn man weiss, dass der genannte
Autor diese Mittheilung ohne Bezeichnung verlässlicher Quellen
1 Weinhold: Altnordisches Leben. S. 272. Berlin 1856.
2 Robertson Smith, S. 192.
Studien zur vergleichenden Culturgeschiclitc.
21
macht, und dass ausserdem viel ältere Nachrichten vorliegen,
welche von der Löwengestalt des Jaghut nicht blos nichts
wissen, sondern geradezu das Gegentheil beweisen, indem sie
auf das unzweifelhafteste darthun, dass Jaghut in Menschen
gestalt dargestellt wurde. 1
Zur weiteren Bekräftigung seiner Hypothese fürt Robert
son Smith noch den Namen 'Abd ol’asad, Sklave des Löwen
(Gottes), an; jedoch dieser Eigenname, der nur äusserst selten
vorkommt, braucht durchaus nicht so aufgefasst zu werden,
sondern hat nach aller Wahrscheinlichkeit die Bedeutung ,Sklave
des (Stammes) al’asad oder al’asdJ 2
Die ,weitverbreitete Verehrung des Löwengottes',
von der Robertson Smith spricht, 3 ist also in Wirklichkeit
vollkommen unhaltbar und ohne jede thatsächliche Begründung.
Auf eben so schwachen Füssen stehen die weiteren Be
weise für die Heiligkeit anderer Thiere.
Der Steinbock (badan) soll auch ein Totem-Thier sein,
weil ein Stamm sich darnach benannte, und demgemäss soll
der Steinbock verehrt worden sein. Als Beweis hiefür wird
auf eine Nachricht bei Arrian (Anal. VII, 20, Strabo XV, 3, 2)
hingewiesen, die gar nichts Anderes besagt, als dass auf einer
120 Stadien von der Euphratmündung entfernt liegenden Insel
ein Tempel der Artemis stehe, und dass daselbst Ziegen und
Hirsche sich aufhalten, die der Göttin geweiht sind, also frei
sich herumtreiben und von keinem Jäger getödtet, sondern nur
der Göttin geopfert werden dürfen.
Ebenso schlecht steht es mit der Verehrung des Kameeles,
und wenn Robertson Smith sagt, dass es in gewissen Culten
(in certain worships) ein heiliges Thier war: ,dafür gäbe es
viele Beweise' — so ist er diese schuldig geblieben. Die ein
zige Stelle, wo von der Verehrung eines schwarzen Kameels
die Rede ist, 1 muss als zweifelhaft angesehen werden und findet
nirgends eine Bestätigung.
1 Vgl. oben S. 16.
2 Vgl. den Namen 'Abd bany-lhashäs, ein Spitzname des Dichters Sohaim.
Vgl. Agäny XX, 2; dann auch die Redensart: 'abd aswad libany-l’asad.
'Ikd alfaryd von 'Abd rabbih. Kairo 1293. II, S. 51.
3 Kinship and mariage etc. S. 193.
1 Agäny: XVI, 48. 29.
22
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Man wird also den Thiercultus bei den Arabern als un
begründet zurückweisen müssen. Hiemit fällt natürlich auch
der Totemismus; über die abergläubische Scheu, mit welcher
man gewisse Thiere betrachtete, über die Mythen und Fa
beln, zu denen sie den Anlass gaben, werden wir später
sprechen, und auch da wird es sich wieder zeigen, wie von
einem eigentlichen Thiercultus bei den Arabern keine Rede
sein kann.
Eine Bemerkung drängt sich uns noch auf, bevor wir
diese altarabische Götterwelt verlassen. Die zahlreichen Namen
von Göttern gehört durchaus nicht ein und derselben Epoche
an, sondern sie wechselten im Laufe der Zeiten; alte wurden
verdrängt und durch neue ersetzt, oder der eine Volksstamm
wendete sich einem neuen Gegenstände der Verehrung zu,
während der andere im früheren Glauben verharrte. Aus
ländische Einflüsse machten sich geltend, brachten neue Vor
stellungen oder verbanden sich mit alten, volksthümlichen
Bildern und erzeugten neue Zwitterschöpfungen. Jedoch immer
blieb ein gutes Stück alter, volksthümlicher Religion erhalten.
So reicht die Verehrung der grossen Göttinnen des Steincultus,
Allat, Al'ozza und Alumnat, wohl in eine sehr ferne Zeit
zurück; desgleichen vermuthlich auch der Gestirndienst, die
Verehrung heiliger Bäume, Berge und Haine.
Aber zahlreiche andere Gottheiten erlagen und ver
schwanden: so finden wir auf demselben Hügel Madhig, wo
Dulchalasah in alter Zeit gestanden hatte, später das süd
arabische Idol Jaghut, und dieselben Stämme, welche früher
den ersteren verehrt hatten, strömten nun zum Bilde seines
Nachfolgers. Als Idol des Stammes Bakr Ibn Wäil wird ein
mal Moharrik genannt, dann ’Owal (’Awäl) und an dritter
Stelle Dulka'bain, falls nicht in den Berichten selbst ein Irr
thum sich eingeschlichen hat, kann man demnach annehmen,
dass der Stamm seinen Gott mehrmals gewechselt hat.
Die Verehrung der Götter war einfach und von barbari
scher Rohheit. An den heiligen Stellen verrichtete man
gewöhnlich durch uralte Sitte geregelte Ceremonien, man ver
sammelte sich daselbst, stellte sich im Kreise herum auf,
umwandelte in gemessenem Schritte mehrmals die heilige
Stelle (tawäf), schlachtete Opferthiere und begoss mit dem
Studien zur vergleichenden Cnlturgeschichte.
23
strömenden Blute den heiligen Stein. Zum Schlüsse schor
man sich das Haar. 1
Dieser Cultus hat sich bis heutigen Tages in der Kaaba
noch in allem Wesentlichen unverändert erhalten, mit einigen
äusserlichen, formellen Aenderungen, die Mohammed vorschrieb.
So verrichtete man im Heidenthum die übliche Um
wandlung der Kaaba gänzlich unbekleidet, oder wer zahlen
konnte, lieh sich von der Tempelbruderschaft der Koraishiten
(Horns) gegen Bezahlung Kleider aus.' 2 Jetzt ist nach Mo
hammeds Satzung das Pilgergewand (ihräm) an die Stelle dieser
alten Uebung getreten. Die Haare bestrich man in alter Zeit
mit Gummiwasser und gestaltete sie auf diese Art zu einer
festen, zusammenhängenden Masse (talbyd), welche das Haupt
gegen die Sonnenstrahlen schützte und gegen das Ungeziefer
verwahrte, 3 denn der Wallfahrter musste während der ganzen
Zeit des mekkanischen Festes unbedeckten Hauptes bleiben.
Der Zug nach ‘Arafat, der im Laufschritt stattfindende
weitere Marsch nach Mozdalifah, das Steinwerfen bei der
Gamrah, die grosse Opferschlächterei bei Mink und endlich
die Haarschur, dann die Sitte nach Besuch der Kaaba, bei
den zwei Hügeln Safä und Marwah zu beten — das Alles
sind rein heidnische Gebräuche, die der Islam einfach mit
kleinen Abweichungen beibehalten hat.
Die Schlachtung der Opferthiere erfolgt ganz nach alter
heidnischer Sitte, indem die Halsschlagadern des Thieres durch
schnitten wurden, wie dies auch bei den Hebräern und Griechen
geschah, so dass das Blut reichlich herausströmt, wobei statt des
Namens der heidnischen Gottheit nun nach Mohammeds Gebot
1 Gänzlich verschieden von den Gebräuchen des Heidenthums ist hin
gegen das von Mohammed eingeführte Gebet mit seinen Prosternationen,
welches wahrscheinlich eine Nachahmung der religiösen Andachts
übungen der Manichäer oder der christlichen Secten des Ostjordanlandes
ist. Ich habe an anderem Orte hierüber gesprochen (Culturgeschicht-
liche Streifzüge auf dem Gebiete des Islams IX, Note 3) und füge hier
nur noch die Bemerkung bei, dass nach Gazzäly (Ihjä’ HI, 433; Kitäb
dämm ilkibr) die Prosternation (sogud) und die Verbeugung (roku c ) als
eine des freien Mannes unwürdige Demüthigung von den heidnischen
Arabern angesehen ward. Vgl. Balädory S. 97.
2 Bochäry: Kitäb olhagg: bäb olwokuf bi'arafah.
3 Mowatta’: H, 245; Kitäb olhagg: altalbyd,
24
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
der Name Allah ausgesprochen wird, um es der Gottheit zu
weihen. Ebenso ist es heidnische Sitte, die der Islam nicht ab
geschafft hat, die Opferthiere, die zur Schlachtstätte getrieben
werden, mit einer Binde am Halse zu schmücken, um sie gegen
den bösen Blick zu schützen, oder ihnen zu demselben Zwecke
zwei alte Sandalen anzuhängen. 1 Nur die Sitte, ihnen blutige
Striemen auf beiden Seiten mit dem Schwerte aufzuritzen, um
sie als Opfer zu zeichnen, hat Mohammed abgeschafft, nicht
etwa aus Humanitätsrücksichten, sondern weil er die Thiere
nicht durch das Blut wollte verunreinigt und entweiht sehen.
Die ganze grossartige Opferschlächterei, wo alljährlich
auf der Ebene von Mink viele tausend Hammel und Schafe
abgeschlachtet werden, ist echt heidnisch, im Islam eigentlich
zwecklos und ohne jede innere Berechtigung. Denn die blu
tigen Opfer hatten nur einen Sinn in der alten, heidnischen
Zeit, wo man die Göttersteine mit Blut begoss und den Göttern
nichts Wohlgefälligeres und Leckereres darbringen zu können
vermeinte als den Lebenssaft: das Blut. Aber seitdem diese
alten blutdürstigen Götter der Urzeit gestürzt worden waren
und an ihre Stelle Allah anerkannt wurde, hatte dieser alte
Brauch jede Berechtigung verloren. Im Gegensätze zum Heiden
thum hatte der arabische Prophet das Blut für verunreinigend
erklärt. Der Gottesbegriff des Islams ist entschieden unter
christlichem Einfluss entstanden: - Gott ist ,der Barmherzige*
(rahmän) und ist nicht lüstern nach Blut, seine Tempel und
Altäre dürfen nicht mit Blut beschmutzt werden, weil es die
selben verunreinigen würde.
Und dennoch opferte man ganz in alter Weise fort. So
gross ist die Macht der alten Gewohnheit, dass nicht blos die
alten, heidnischen Opfer dem neuen Gotte dargebracht wurden,
sondern dass sogar das blutige Opfer als eine fromme, gott
gefällige Handlung zu gelten nicht aufhörte. Hieran änderte
es nichts, wenn man diesen Widerspruch dadurch abzuschwächen
glaubte, indem das Fleisch der Opfer zu Speisen der Armen
verwendet ward. Der innere Gegensatz bleibt nichtsdesto
weniger gleich unvermittelt und unversöhnlich.
5 1. 1. II, S. 175. 226; Kitab olhagg.
2 Sprenger: Das Leben Mohammed’s II, S. 181 ff, 202.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
25
Nichts hat mehr als diese Sitte der blutigen Opfer zur
Verwilderung des Volksgeistes beigetragen. Nichts kennzeichnet
deutlicher den Islam als eine barbarische Religion, die ganz
und gar dem rohen Gottesdienste der ältesten Zeit entspricht.
Nichts hat mehr den Hang zum Blutvergiessen wach erhalten,
als diese religiöse Vorschrift der blutigen Opfer. Ja so sehr
hat sich die Gewöhnung daran im Volksgeiste eingewurzelt, dass
es in allen mohammedanischen Ländern allgemeine Sitte ist, bei
jedem, selbst dem geringfügigsten Anlasse ein Lamm oder einen
Hammel als Opfer zu schlachten. Man schlachtet zur Sühne
für ein Vergehen, man opfert, um ein Gelübde zu erfüllen, oder
um ein nicht eingehaltenes zu sühnen, zum Danke für Rettung
aus einer Gefahr und so fort bei anderen unzähligen Anlässen.
Dabei hat sich der alte Gedanke, dass man der Gottheit opfert,
gänzlich verflüchtigt. Man schlachtet das Lamm oder den
Hammel und verzehrt das Fleisch mit den Verwandten und
Freunden. Jeder bemittelte Mohammedaner hat in seinem
Leben so und so vielen Thieren die Gurgel abgeschnitten, und
man kann daher mit Recht sagen, dass die blutigen Opfer den
Islam zu der allerrohesten unter den grossen Religionen stempeln.
Eine andere echt heidnische Einführung besteht im Islam
unverändert fort. Es ist die Unverletzlichkeit des Weichbildes
von Mekka. Gerade so wie im Alterthum um den Tempel
sich ein ausgedehntes Weihgebiet, ein Temenos, erstreckte, wo
die dem Heiligtkume gespendeten Thiere sich aufhiclten und
von niemand behelligt werden durften, so hat der Tempel von
Mekka noch bis heute sein die Stadt sammt ihrem Weichbild
umfassendes Weihgebiet, wo, mit Ausnahme einiger schädlicher
Thiere, kein Wild getödtet, kein Baum gefällt, keine Pflanze
geknickt werden darf. Die mohammedanischen Theologen haben
in ihrem bigotten Rigorismus in der Erläuterung und Ent
wicklung dieses Grundsatzes das Aeusserste geleistet: nicht
einmal eine Laus im Haare darf der Pilger im Weihgebiete
von Mekka tödten (Damyry) ohne sich einer Sünde schuldig
zu machen. Zur Busse für solche Vergehen ist ein ganzer
Tarif aufgestellt worden, worin genau bestimmt ist, ob man
einen Hammel oder ein Schaf zur Sühne schlachten müsse,
wie viele Arme man mit Almosen zu betheilen oder zu speisen,
wie lange man zu fasten habe u. s. w.
26
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Noch mehr Ueberreste des alten Heidenthums aber haben
sich im Glauben, in den Sitten und Gewohnheiten des alltäg
lichen Lebens erhalten.
Besonders ist es der Glauben an Geister und Dämonen,
der in die ältesten Zeiten zurückreicht und noch immer fortlebt.
An erster Stelle ist des Geisterglaubens zu gedenken, der
eigentlich mit den alten Volksideen und mit dem heidnischen
Cultus so innig zusammenhängt, dass er sich gar nicht davon
trennen lässt.
Ueberall sah man Geister, aber besonders stellte man sich
dichte Wälder, mit üppigem Baum- und Pflanzenwuchs be
deckte und hiedurch unzugänglich gemachte Sumpfgegenden
oder auch wilde, einsame Gebirge, wohin nur selten ein Wan
derer den Fuss setzt, als Aufenthaltsorte und Wohnstätten der
Geister vor. In einer alten, volkstümlichen Erzählung heisst
es, dass zwei der angesehensten Männer von Mekka von den
Geistern getödtet worden seien, weil sie den Hain von Korajjah 1
in Brand gesteckt und daselbst den Boden zu bebauen sich
erkühnt hatten. Die Geschichte wird folgendermassen er
zählt: ,Sie zogen an Korajjah vorüber: aber dort, wo jetzt
Korajjah steht, war damals ein dichter Wald, so undurchdring
lich, dass man nicht daran denken konnte, hineinzugelangen.
Sie fassten desshalb den Entschluss, ihn in Brand zu stecken,
um den auf diese Art ausgerodeten Grund zu bebauen. Sie
legten denn Feuer an, und wie die Flammen hoch empor
loderten, hörte man in dem Dickicht mächtiges Gejammer und
Geheul, dann flogen weisse Schlangen daraus empor, die vor
dem Brande sich zu retten suchten.'
Bald darauf — so fügt der alte, gläubige Erzähler
hinzu — starben Beide. Das Volk schrieb ihr rasches Ende
der Rache der Geister zu; wir werden, minder poetisch, aber
gewiss richtiger, hierin eine Wirkung der Malaria und der an
jenen Orten herrschenden Fieber sehen. 2
Die Vorstellung, dass die Schlangen dämonisch seien,
dass Geister sich oft in Schlangengestalt zeigen, ja dass die
1 Ueber diesen Ort vgl. Sprenger: Alte Geographie von Arabien, S. 237.
2 Agäny VI, 92.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
27
Schlangen Genien seien, ist bei den Arabern, wie bei vielen
andern Völkern, sehr verbreitet.
So galt auch der Berg Dila' als Aufenthaltsort der Genien.
Es waren eigentlich zwei Berge, die durch ein breites Thal
getrennt waren. Sie lagen in der Nähe des alten Weihgebietes
von Parijjah, das später als Staatsgehege diente. 1 Und zwar
behauptete man, dass der eine Berg von Genien bewohnt
werde, die den Islam angenommen hätten und den Menschen
befreundet seien, während die Bewohner des andern Berges
ungläubig geblieben und den Menschen feindlich gesinnt seien. 2
Zwischen den gläubigen und ungläubigen Genien bestand grosse
Feindschaft. Ein Beduine will Zeuge eines Kampfes zwischen
den beiden Parteien gewesen sein. Seine Erzählung lautet: er
sei an einem heissen Tage in dem Thale zwischen den beiden
Bergen gewesen; da habe er sich plötzlich von dichten Staub
wolken umgeben gesehen, die vor und hinter ihm sich einher
wälzten, obgleich vollkommene Windstille herrschte; aus diesen
seien dann heftige Windstösse losgebrochen, die gegeneinander
stürmten und miteinander rangen; nach einer Weile verzog
sich der Staub, die Windstösse wurden schwächer und wichen
zurück, zuerst in der Richtung des Berges der ungläubigen
Genien, dann in der entgegengesetzten Richtung. Er begab
sich nun an die Stelle, wo er den Staub am dichtesten sich
tummeln und den Wind am heftigsten hatte wütlien gesehen,
und da fand er den Boden bedeckt mit todten und halbtodten
Schlangen. Das waren die ungläubigen im Kampfe gebliebenen
Ginnen. 3
Das ist echte, altarabische Volksdichtung. Der Prophet
fand sich nicht veranlasst, dieser Ansicht entgegenzutreten,
denn er theilte sie selbst. Desshalb verbot er es ausdrücklich,
1 Tiimä darijjah: es war in alter Zeit einer Gottheit geweiht.
2 Es erinnert diese Sage an den Doppelberg 'Ebal und Garizim, von
welchem man annehmen muss, dass er ebenfalls als Wohnstätte der
Geister angesehen wurde und zwar von guten und bösen; denn nach
der biblischen Erzählung sollen auf Moses Befehl bei Eintritt in Kanaan
auf dem Garizim Segenssprüche, auf dem 'Ebal aber schreckliche Flüche
und Verwünschungen ausgesprochen werden (Deut. 11, 30; 27, 11—13;
vgl. Jos. 8, 33).
3 Jakut; Mo'gam voqe; dila',
28
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
die Hausschlangen zu tödten, denn sie seien Geister, Genien
und unter ihnen gehe es viele, die sich zur wahren Religion
bekannt und den Islam angenommen hätten. 1
In einer alten Tradition wird folgender Vorfall erzählt:
Ein junger Mann, der erst kurz verheiratet war, kehrte mit
Erlaubniss des Propheten von einem Kriegszuge nach Medyna
zurück, um sein Weib zu begriissen. Er fand sie zwischen
der Thür ihres Gemaches mit erschreckter Miene, und wie er
hineintritt, sieht er auf ihrem Bette zusammengeringelt eine
Schlange liegen. Ergrimmt durchbohrt er sie mit seinem
Speere, den er mit der Schlange darauf im Hofraum in die
Erde pflanzte. In Todeszuckungen wand sich die Schlange
bis sie verschied, aber gleichzeitig stürzte der junge Mann todt
zu Boden. 2
Der Vorfall ward dem Propheten berichtet, der dazu
sagte: ,In der Stadt sind Ginnen, die den Islam angenommen
haben. Seht ihr sie (in Schlangengestalt), so gewähret ihnen
drei Tage Frist: zeigt sich nachher wieder etwas von ihnen,
so tödtet es, denn es ist dann der Satan. 3
Der dämonische Charakter der Schlange wird also durchaus
anerkannt und nur der Unterschied zwischen guten und bösen
Geistern gemacht, die in Schlangengestalt erscheinen. Die
Auffassung der Hausschlange als eines guten, schützenden
Wesens findet sich auch in dem alten, deutschen Volksglauben
von der Hausschlange oder Hausotter. Sie wird fast in allen
deutschen Gauen von der Schweiz bis nach Niederdeutschland
gerne gesehen, man darf sie nicht tödten, sonst widerfährt
dem Hause grosses Unglück; wo man die Hausotter schlecht
behandelt, flieht jeder Segen den Haushalt. 4
Ueberhaupt herrschte bei den Urarabern so gut, wie bei
andern Völkern, der feste Glauben, dass der Mensch von
Geistern umgeben sei, sowohl von gutgesinnten, die ihm helfen,
1 Mowatfa' IV, 207—209. Baudissin: Studien zur semitischen Keligious-
geschichte I, 279.
2 Th. Nöldeke: Zeitschrift für Völkerpsychol. von Lazarus und Steinthal
1860, I, S. 412 ff.
3 Sarh-ol-mowatta’ IV, 207—209 mä gä’afy katl ilhajjät.
1 J. Lippert: Christenthum, Volksglaube und Volksbrauch. Berlin 1882.
S. 493.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
29
als von bösen, die ihm schaden wollen. Die letzteren hielt
man für zahlreicher.
Am Allerseelentage wirft der deutsche Bauer für die
Seelen Speisestücke auf den Herd und sprengt ihnen Milch. 1
Auch der alte arabische Volksglaube lässt die Geister lüstern
nach Milch sein, die sie gerne naschen, wenn sie in unbedeckten
Gefässen stehen gelassen wird. 2
Auch gewisse Naturerscheinungen fasste man im Sinne
des Geisterglaubens auf; so sah man die Sand- und Wasser
hosen als Geister an. 3
Schon lange vor dem Islam entstanden aus diesem Geister
glauben gewisse Naturmythen. Das beste Beispiel hiefür ist
der altarabische Name, womit der Regenbogen bezeichnet wird,
nämlich: kaus kozah, d. i. der Bogen des Kozah. Nun ist
es aber sehr wahrscheinlich, dass Kozah der Name desselben
Gottes sei, den man auf den Inschriften in der griechischen
Umschreibung KoJs findet. Es ward also die Naturerscheinung
mit der Aeusserung einer höheren Macht in Zusammenhang
gesetzt, die man in dem Gotte Kozah sich darstellte. 4
Ein anderes Beispiel der Personificirung von Natur
gewalten und Elementarerscheinung ist das Wort sä'ikah, wo
mit das Strafgericht des Himmels in Gestalt eines zerschmet
ternden Donnerkeils bezeichnet wird. Das Wort kann seiner
Wurzel nach ursprünglich nur die Bedeutung: ,die Donnerin'
gehabt haben, denn es ist eine Participialform von einem
Verbum gebildet, das im Hebräischen und auch im Arabischen:
dröhnen, tosen, schreien bedeutet; davon übertragen vom
Donnern: mit Krachen einschlagen, zerschmettern; und in der
Participialform sä'ikah ,die Zerschmetterin', also vielleicht in
1 1. 1. S. 665 ff. 2 Arab. Lexica: voce hdr.
3 Tylor: I, 288, 289. Der Name für Staubsäule ist zauba'ah und ein
Dämon, oder ein ganzes Geschlecht von Dämonen wird so genannt.
4 Tuch: Zeitschrift d. D. M. G. III, 193ff. Ich habe lange gezvveifelt, ob
nicht statt kaus kozah zu erklären als Bogen des Wolkengottes Kozah,
es einfach aufzufassen sei als Wolkenbogen, kaus kaza', denn kaza'
heisst Wolke, also: Wolkenbogen. Hiefür scheint zu sprechen, dass
kaus kazy' in den Wörterbüchern gleichgesetzt ist mit kaus kozah.
Die griechische Form Koje entspräche am besten dem arabischen kazy',
doch mit der Vocalisation kozai'. Aber diese Form lässt sich in der
Literatur nicht naehweisen.
30
YIII. Abhandlung: v. Krem er.
der ältesten Auffassung eine Göttin, die den vernichtenden
Donnerkeil schleudert. 1 Es sind dies alles Personificationen
von Naturgewalten, die selbstständig handelnd eingeführt werden,
ganz so wie Iyozah, der Regengott, entschieden persönlich ge
dacht wurde.
Ebenso entspringen ganz den Eindrücken des Naturlebens
und der Wüstenscenerie unzählige andere Geister- und Spuk
gestalten. Besonders ist es der nächtliche Zug durch die
Wüste, wobei dem unsichern Mondschein, oder dem noch
trügerischeren Sternlicht, die unheimlichen Schatten der Felsen
und Sträucher, das unerklärbare Geräusch der Thierwelt, das
Rauschen des Windes, zu den Fabeln von den Ghulen, den
Wüstendämonen, den weiblichen Wüstengeistern (sa'la), den
Elfen, den Irrwischen (kotrob) u. s. w. Anlass gaben.
Diese Phantasiegestalten verdienen desshalb hervorgehoben
und beachtet zu werden, weil sie fast alle in uralte, vorislami
sche Zeit zurückreichen und ein sehr oft benütztes Thema der
alten, vormohammedanischen Dichter sind. 2 Aber noch bis
heute wirken diese alten Vorstellungen von einer äusserst zahl
reichen und mannigfach gegliederten Geisterwelt im Volke
lebendig fort. 3
Mit besonderer Vorliebe werden die Geister als Hüter
verborgener Schätze gedacht. So erzählen die Beduinen, dass
auf dem IIowärah-Felsen, welcher in der Ebene von MedäYn
die Landmarke bildet, unter einer Steinplatte ein grosser
1 Das Verbum !=sa'k in der IV. Form und der Bedeutung 1 ,mit dem Donner
keil vernichten 4 , kommt schon in einer minäischen Inschrift von 'Olah
vor. Vgl. D. H. Müller: Epigraphische Denkmäler etc. S. 40. Im Koran
hat das Wort die mythische Bedeutung ganz verloren und bedeutet
nur mehr Donnerkeil, zündender Blitzstrahl. Aber für den ursprüng
lichen Sinn findet sich bei den alten Lexikographen ein Beleg, indem
eine Erklärung gegeben wird, dass sä'ikah den Engel bezeichne, welcher
die Wolken treibt und alles worauf er stösst verbrennt (Lane: Lexicon).
Auch in manchen andern Wörtern dürften Reste ursprünglicher Mythen
bildung stecken, aber mit Wahrscheinlichkeit lässt sich nichts Bestimm
teres darüber sagen. Ich führe beispielsweise das Wort sa r ub Tod an,
und manun, das dieselbe Bedeutung hat. Ersteres bedeutet eigentlich
,der Trennende 4 und das zweite vielleicht soviel als ,Geschick, Ver
hängnisse
2 Vgl. Culturgeschichte II, S. 256 if., 344.
3 Vgl. Spitta: Contes arabes. Leide 1883.
Studien zur vergleichenden Culfcurgescliichte.
31
Schatz liege, der von einem 'Afryt bewacht wird. Wenn aber
der Schatz gehoben würde, so müsste grosses Unheil über die
Menschen kommen; die Könige der Erde würden miteinander
Krieg führen und die Beduinenstämme sich gegenseitig im
Kampfe aufreiben. 1 In Geryeh, eine Tagreise nördlich von
Tebuk soll nach dem Volksglauben ebenfalls ein Schatz liegen;
ein Beduine erzählte darüber wie folgt: in der Nähe (des
Dorfes) ist ein Sandsteinkliff und darin ein Thorweg einge
hauen, der in einen Corridor führt, mit Kammern auf beiden
Seiten. Aber hinter dem Thor, das von einem Schwarzen mit
gezogenem Schwerte bewacht ist, liegt ein grosser Schatz: alle
Freitage rollen die Goldstücke heraus und rollen auf dem Boden
der Wüste herum bis zum Sonnenuntergang. 2
Man sieht an diesem Beispiele wie die Volksphantasie
nur einer ganz einfachen äusseren Unterlage bedarf, um durch
ihre Thätigkeit die Sache auszumalen und auf der nüchternen,
dürren realen Thatsache eines alten Felsengrabes ein ideales
Luftschloss aufzubauen. Und dieser Glauben an Schätze und
hütende Geister ist überall im Orient verbreitet.
Als ich in Beirut die Stelle als General-Consul für Syrien
bekleidete, kam ein kleiner Gutsbesitzer aus Hamäna, einer
ungefähr acht Stunden von Beirut in dem gleichnamigen höchst
malerischen Felsenthal gelegenen Ortschaft, zu mir und bot
mir antike Münzen zum Kauf an; es war nichts Werthvolles
darunter; trotzdem nahm ich die ganze Partie, um mit dem
Mann in Verbindung zu treten. Es lag in seinem ganzen
Wesen etwas Geheimnissvolles, das mich anzog und die Neu
gierde erregte. Bald wurden wir bekannter, und da sah ich,
dass er an der fixen Idee litt, er sei grossen Schätzen auf der
Spur, und um sie zu heben, bedürfe er der Beihilfe eines
Europäers, der die Zeichen richtig zu deuten verstünde, die
er gefunden habe.
Ein Hirt aus seinem Dorfe, so erzählte er mir, trieb täg
lich seine Kühe in ein entferntes einsames Felsenthal. Da fiel
es ihm auf, dass seine Herde immer in dem Thal um ein Stück
mehr zähle; aber bei der Heimkehr fand er wieder nur die
1 Doughty: Travels in Arabia Deserta I, 170 ff.
2 1. 1. I, 497.
32
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
frühere Anzahl. Da passte er denn recht auf und sah nun,
dass, wenn er gegen Sonnenuntergang mit der Herde nach
Hause zog, eine schöne Kuh sich absonderte und seitwärts
wendete. Er folgte ihr über unwegsame Felspfade bis zu
einer Höhle; dort ging die Kuh hinein, und als er auch sie
betrat, sah er plötzlich vor sich eine Frauengestalt, die vor
ihm durch eine eiserne Pforte in die Felswand hineinschritt.
Wie er ihr aber nacheilen wollte, schloss sich die Thüre.
Diese Pforte, meinte der brave Mann aus Hamäna, habe
er selbst gesehen, und er sei bereit, sie mir zu zeigen, wenn
ich ihm behilflich sein wollte, die darin verborgenen Schätze
zu heben. Ein Weib aus seinem Dorfe sei, so erzählte er
weiter, zufällig dort vorbeigekommen und habe die Thüre offen
gefunden: drinnen aber standen grosse Körbe, gefüllt mit Gold
stücken; das kleine Kind, welches sie auf dem Arme trug,
langte nach den blanken, glänzenden Münzen und holte eine
Handvoll davon heraus; aber als das Weib auch zugreifen
wollte, schloss sich sofort das Eisenthor.
Auch an anderen Orten, sagte er, habe er sichere An
zeichen gefunden, Inschriften, in den Stein gemeisselte Ge
stalten und Zeichen; doch um die Schätze zu heben, müsste
man diese Zeichen zu entziffern verstehen, und das sei nur ein
Franke im Stande.
Mir flössten diese Angaben wenig Vertrauen ein, und ich
hegte starken Zweifel an der Zurechnungsfähigkeit des Mannes.
Doch kam er zuletzt mit einer Nachricht, die mehr Aufmerk
samkeit verdiente. Auf seinem eigenen Grundstücke, etwas
abseits vom Dorfe, hatte er beim Durchwühlen der Erde ein
altes Grabmal gefunden, in geringer Tiefe; eine schwere
Marmortafel deckte es zu, und darauf stand eine Inschrift mit
goldenen Lettern. Das schien nun allerdings recht viel ver
sprechend, obwohl die Goldlettem etwas bedenklich waren.
Schon machte ich den Plan eines Rittes nach Hamäna und
träumte von der Entdeckung des Grabmales irgend eines
phönicischen Rentiers, der hier in der ländlichen Einsamkeit
das Zeitliche gesegnet hatte und sammt seinen Schätzen und
mit einer langen phönicischen Grabinschrift daselbst beigesetzt
worden war — da nöthigten mich unerwartete Umstände zur
raschen Abreise nach der Heimat, und ich musste scheiden
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
33
von dem schönen Gebirgslande es dem Manne von Hamäna
überlassend, seine Schätze selbst zu heben.
Aber das eigentliche Land des Geisterglaubens und der
Schatzmythen ist Aegypten. Dort erschien in Kairo vor einigen
Jahren ein Volksbüchlein, das zum häuslichen Gebrauche be
stimmt ist und nicht nur vorschreibt, wie man sich den Haus
geistern gegenüber zu verhalten habe, sondern auch, welche
Amulete, welche Zaubersprüche anzuwenden seien, um sich
gegen jeden Geisterspuk zu schützen. 1
Ich glaube am besten zu tliun, wenn ich hier einige
Auszüge folgen lasse.
Vor Allem, heisst es, muss man sich in Acht nehmen
bei Passirung eines gegen Osten gelegenen Thorweges, 2 dass
man nicht auf eines der Kinder der Geister tritt, denn in
diesem Falle thun sie Einem leicht etwas Böses an. Am besten
schützt man sich dagegen durch einen Talisman. Wenn ein
Kind gähnt oder niest, so ist dies dadurch verursacht, dass
ein Ginny (ein Geist) es angehaucht hat, oder dass das Kind
von einer Karynah gestreift worden ist.
Wenn eine Frau aus Versehen oder Unachtsamkeit einen
Stein in ein unbewohntes Gemach wirft, 3 sich darin wäscht
oder gar einen Speisetisch der Ginnen umstösst und ein Ginny
ertappt sie dabei, so wirft er ihr drei Steinchen nach: das
erste auf den Kopf, das zweite auf den Rücken, das dritte
auf die Beine; das bringt ihr Abspannung, Kopfweh und Herz
beklemmung. Das Mittel dagegen ist, dass man die sieben
Tahatyl - Worte auf sieben Sykomorenblätter schreibt, jedes
Wort auf ein Blatt; dann rollt man sie zusammen und ver
scharrt sie unter dem Thorwege. Ausserdem schreibe man
ihr ein Amulet, das sie am Halse trage. Man kann aber auch
folgendermassen verfahren: die Worte werden auf sieben grüne
Sykomorenblätter geschrieben, ein Blatt wird, nachdem es be
schrieben ist, in 11/, Roj;l Salz gelegt und dann (mit diesem)
1 Es führt den Titel: Kitäb alharf bilhakym Harmas. Lithographie aus
Castelli’s Druckerei (ohne Angabe des Jahres).
2 'Atabah sharkijjah S. 2, 11, 23.
3 Vgl. Tylor: Anfänge der Cultur I, S. 106.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 8. Abb. 3
34
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
unter cler Hausthorschwelle vergraben, während mit den anderen
Blättern die Patientin sich räuchert. 1
Für die Amulette schreibt man verschiedene Koranstücke
auf (Sur. 7, 30, dann den Vers Sur. 2, 256).
Die Ginnen halten sich mit Vorliebe an dunklen, ein
samen Orten auf, unter den Thorwegen, zwischen Gräbern,
in einem Backofen (Tannur). 2 Geht man mit einem Kinde
an einer solchen Stelle vorbei, so ist es leicht möglich, dass
ein Ginny es anbläst; dann weint das Kind, verliert seine
Farbe und beginnt zu kränkeln (S. 26). Desshalb soll man
nie einen solchen Ort betreten, ohne vorher laut auszurufen:
dastur! (d. i. mit Verlaub), damit die Ginnen es nicht übel
nehmen.
Wird ein Kind durch die Berührung eines Ginny krank,
so lässt man es reines Salz lecken (S. 11). Wenn jemand zu
einem Wasser geht, um sich darin zu reinigen, und er vergisst
den Namen Gottes auszusprechen, besonders wenn es Sonntag
ist, so schlägt ihn der Geist des Wassers mit einem Leibes
schaden (S. 12). 3
Besonders ist es ein weiblicher Geist, eine böse Fee, die
den Beinamen die ,Kindermutter (omm-alsibjän)' führt, welche
leicht den Kindern schadet durch Berührung oder Anhauchung
(S. 14). Der Glauben an diese Fee ist aber nicht etwa blos
auf Aegypten beschränkt, sondern auch in Mekka ist die
,Kindermutter' der Schrecken der Familien, sie ist dort gleich
falls unter dem Namen omm alsibjän bekannt, wird aber auch
Karynah, d. i. Seele genannt. Sie stiftet im Hause gar manches
Unheil, sie ist Schuld daran, wenn die Mutter nicht genug
Milch für ihren Säugling hat. 4 Neu ist dieser Aberglaube
keinenfalls, denn schon bei einem älteren Schriftsteller (Damyry)
wird dieser Unholdin gedacht, und unter derselben Benennung.
Er meint, es sei darunter eine Art Hausgeist (täbi'ah min alginn)
1 Die Tahatyl-Worte sind nichts anderes als die siebenmalige Wieder
holung mit kleinen Veränderungen des Zauberwortes hat = hatyl, S. 3.
2 Im deutschen Volksaberglauben ist der Aufenthalt der Hausgeister der
Herd. Wuttke, S. 229 (Nr. 409).
3 Die Nennung des Sonntags deutet auf christlichen Ursprung. Der Geist
des Wassers wird Tawwäf almfi’ genannt.
4 Snouck Hurgronje: Mekka II, 124.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichto.
35
zu verstehen. Eine klare Vorstellung hievon konnte man sich,
wie leicht begreiflich, nicht machen und einige meinten daher
die Eule hierunter zu verstehen, die denselben Beinamen
.Kindermutter' führt. Es wird sogar eine Erzählung angeführt,
dass schon der Prophet gelehrt hätte, wie man es zu machen
habe, um ein neugebornes Kind gegen die Bosheiten der Un
holdin zu feien. Natürlich war das Mittel eine fromme Formel. 1
Der oben angedeutete Zusammenhang mit der Eule legt
es nahe, in dem omm-alsibjän eine Form des alten Hexen
glaubens zu sehen. Schon bei Ovid in den Fasti (VI, 131 ff.)
werden die Eulen (striges) genannt, welche dem neugebornen
Kinde das Blut aussaugen. 2 Diese Strix ist die italienische
strega (Hexe). Die Ginnen zeigen sich oft in Gestalt von
Hunden oder Katzen, und wirft man ihnen, um sie zu ver
scheuchen , einen Stein nach, so wissen sie sich zu rächen
durch allerlei Schabernack, den sie zufügen. 3 Desswegen sieht
man auf den Bazaren orientalischer Städte, wie die Kaufleute,
welche in ihren Buden sitzend ihr Mahl verzehren, ab und
zu den Hunden oder Katzen, die sich dort aufhalten, einen
Bissen zuwerfen; denn diese Thiere könnten Ginnen sein, die
man sich nicht zu Feinden machen darf.
Diese abergläubischen Vorstellungen sind aber nicht etwa
vereinzelt, sondern sie sind auf dem ganzen Gebiete der
mohammedanischen und arabischen Culturwelt verbreitet.
Häuser, die von Gespenstern bewohnt sind, nennt man
,maskun‘. 4 Gewöhnlich ist es, ganz so wie im europäischen
Volksglauben, ein Schatz, den der Geist zu bewachen hat und
an den er gebannt ist, so dass er erst, wenn er gehoben ist,
zur Ruhe kommen kann. 5
In Häi'l, der Hauptstadt von Negd, herrschen ganz die
selben Ideen über die Ginnen. Die Ahl-alard, die Geister, die
unter der Erde wohnen, machen die Leute krank und die
1 Damyry: Hajat alhaiwän, Artikel: bumah.
2 Vgl. Gubernatis: Die Thiere in der indogermanischen Mythologie, S. 497
(Deutsche Ausgabe). Auch Hopf: Thierorakel und Orakelthiere. Stutt
gart 1888. S. 103.
3 Kitab alharf, S. 17 bis hieher nach diesem Büchlein.
4 Snouck Hurgronje: Mekka II, 128.
5 1001 Nacht, Lane II, S. 618.
3*
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
36
Besessenen schlagen sich selbst oder fallen schäumend zur
Erde. Geisteraustreiben ist daher ein Handwerk wie ein
anderes. Man meint fest ihnen mit Beschwörungsformeln bei
kommen zu können. Lange Zeit hindurch unbewohnt gebliebene
Bäume hält man, wie in Aegypten, für Aufenthaltsstätten der
Geister. Viele behaupten, sie mit eigenen Augen gesehen zu
haben in ihren fremdartigen und grauenhaften Gestalten. All
gemein ist die Sitte, zum Schutze gegen die Ginnen sich Talis
mane und fromme Sprüche (higäb) schreiben zu lassen, die
man als Amulete trägt. 1
In Mekka herrscht die Sitte, wenn in einem Hause eine
Erkrankung stattfindet, durch Räucherung mit Mastix oder
ähnlichen stark riechenden Stoffen den Versuch zu machen,
die bösen Geister auszutreiben. Wirkt dies nicht, so muss ein
frommer Gottesgelehrter, der selbst den Teufel nicht fürchtet,
herhalten, welcher aber nicht wie bei uns, mit Weihwasser
dem Bösen zusetzt, sondern einen Talisman schreibt, der
gewöhnlich in ein paar Koransbrocken oder einem Zauber
spruch besteht; das hiemit beschriebene Papier wird verbrannt
und der Kranke muss die Asche in Wasser aufgelöst trinken. 2
Oder die talismanische auf Papier oder ein Teller geschriebene
Formel wird abgewaschen und das Spülwasser dem Patienten
eingegeben.
Starke Gerüche hielt man immer für sehr geeignet, Geister
zu vertreiben: die Logik des Aberglaubens ist in diesem Falle
sehr leicht zu errathen. Gerüche wirken unsichtbar, aber trotz
dem sehr empfindlich; also müssten sie auch, so folgerte man,
auf die Geister, die gleichfalls unsichtbar sind, ihre angenehme
oder unangenehme Einwirkung geltend machen. Man glaubte
also durch recht starke, unangenehme Gerüche sie verscheuchen
zu können. Dass dieser Gedanke uralt ist, dafür fehlt es nicht
an Beweisen: so empfiehlt schon Serenus Samonicus als Schutz
mittel gegen die strix atra, welche die Kinder bedrängt —
sie ist also identisch mit der früher besprochenen omm-alsibjän
— Knoblauch, dessen durchdringender Geruch sie vertreibe. 3
1 Doughty II, 2, 3.
2 Snouck Hurgronje: Mekka II, S. 121.
3 Gubernatis: Die Thiere etc., S. 497, der hier wieder seine Quelle an
zuführen vergisst.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
37
Auch gegen Schwefeldampf halten die Geister nicht Stand. 1
Aber selbst den Orangenduft vertragen sie nicht: so glaubte
man steif und fest, dass die Ginnen ein Zimmer, worin eine
Orange sich befindet, nicht betreten. 2
Ebenso wie durch starke Gerüche werden sie vertrieben
durch lautes Geräusch, das ja auch unsichtbar wirkt und
deshalb wie der Geruch die Geister trifft. Das unangenehmste
und stärkste Gei’äusch ist das durch Metall hervorgebrachte:
deshalb gilt Eisen als ein probates Mittel gegen die Geister,
die davor grosse Furcht haben. * So verscheucht auch im
europäischen Volksglauben Eisen die Feen und Elfen. 4 Schon
im griechischen Alterthum hielt man dafür, dass die Geister
die Flucht ergreifen, wenn sie das Geräusch von Erz und
Eisen hören. Der Spötter Lucian macht auf das leichtfertige
Mädchen Chrysis den Witz, dass sie, statt wie die Geister vor
dem Geräusch des Metalles zu entfliehen, sofort sich einstelle,
wenn sie irgendwo Silberstücke klingen höre. 5
Bei den Arabern galt schon in alter Zeit Eisen oder
Stahl als nützliches Amulet, und ein alter Literat (Ta'aliby
st. 429 oder 430 H.) sagt: Vier Dinge sind gut für Ringe: der
Rubin, wegen des innern Werthes, der Türkis, als Glück be
deutend, der Karneol, weil vom Propheten empfohlen, und das
chinesische Eisen (Stahl) als Amulet (hirz). G
Aber wenn die Geister trotz alledem zu lästig wurden
und mit den gewöhnlichen Mitteln sich nicht verscheuchen
Hessen, musste der Pfaffe helfen und mit Gebeten und Ver
wünschungsformeln den Geistern den Standpunkt klar machen.
1 Doughty II, 191.
2 Damyry: I, 242; Artikel: ginn.
3 Lane: 1001 Nacht, I, S. 34. Deshalb legte man der Leiche, wenn
man sie aufbahrte, ein Messer und etwas Salz auf die Brust. Hiedurch
glaubte man dämonische Einflüsse fernzuhalten. Vgl. 1001 Nacht, IV,
171 (ed. Habicht).
4 Tylor: Anfänger der Cultur I, S. 140. Ob er Recht habe, wenn er dies
so erklären will, dass Feen und Elfen desshalb das Eisen scheuen, weil
sie selbst Geschöpfe der Steinzeit seien, lasse ich unerörtert.
5 Julian: Philopseudes, 14, 15.
6 Bard olakbäd fylVdäd, Ausgabe von Constantinopel, 1301, S. 129. Der
Name des Türkises ist glückbedeutend, weil fyruzeh, Türkis, zugleich
,glücklich, erfolgreich* bedeutet.
38
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Ein Bewohner von Bagdad kam einst zu dem im Gerüche
besonderer Heiligkeit stehenden Scheich 'Abdalkadir Gyläny,
der noch jetzt in hohem Ansehen steht, und flehte ihn um
seinen Beistand an, denn ein Ginny habe ihm seine Tochter,
ein jungfräuliches Mädchen, von der Terrasse seines Hauses
entführt. Der Heilige gab ihm hierauf folgende Belehrung: er
möge noch dieselbe Nacht auf die Ruinenstätte von Karch 1
sich begeben, am fünften Schutthügel auf die Erde sich setzen,
dann mit den Worten: Im Namen Gottes und im Aufträge
'Abdalkädirs! -— einen Kreis um sich ziehen; dann würden
um Mitternacht die Geister in Schaaren dort vorüberziehen
in ihren verschiedenen grauenhaften Gestalten; aber er möge
darob nicht in Furcht gerathen; gegen Tagesgrauen erst
würde der König der Geister, umgeben von einer Schaar
seiner Trabanten, vorüberkommen und ihn um sein Begehren
fragen; dem solle er dann antworten: der Scheich 'Abdalkadir
habe ihn gesendet und zugleich solle er die Geschichte seiner
Tochter erzählen.
Er that, wie ihm der heilige Mann aufgetragen hatte.
Da sah er die Schaaren der Geister nacheinander vorbeiziehen,
ohne dass jedoch einer den Kreis betrat, in welchem er sass.
So ging es fort, bis der Geisterkönig kam, hoch zu Ross und
umgeben von seinem Gefolge. Vor dem Kreise hielt er an
und frug: Was ist dein Begehr, o Menschenkind? — Der aber
antwortete, wie der heilige Scheich ihm befohlen hatte. Da
stieg der König ab, küsste zur Ehre des Heiligen die Erde
und Hess sich ausserhalb des Kreises nieder. Dann hörte er
die Geschichte des Mädchenraubes an und als er sie bis zu
Ende vernommen hatte, befahl er den Schuldigen sofort her
beizuschaffen. Alsbald war er gefunden und zusammen mit
dem Mädchen herbeigeführt. Wesshalb, sprach der König zu
ihm, hast du das Mädchen geraubt, trotz des Schutzes des
Heiligen? — Sie hat mich zur Liebe entzündet! lautete die
Antwort. Da stellte der König das Mädchen dem Vater zurück
und liess den Verbrecher sofort hinrichten. 2
1 Vorstadt von Bagdad.
2 Damyry: I, 241, voce: ginn. Wie verbreitet und volksthümlich solche
Sagen sind, zeigt eine Vergleichung der obigen Erzählung mit der bei
Doughty II, 188—189,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
39
So lautete diese Geistergeschichte, die in manchen an
die Sage von dem nächtlichen Heereszuge erinnert, obgleich an
einen inneren Zusammenhang nicht zu denken ist. Jedenfalls
ersehen wir aus der Erzählung, dass wir es mit Geistern zu
thun haben, die gute Rechtgläubige sind, denn bekanntlich
versicherte der arabische Prophet oft, dass ein grosser Theil
der Ginnen sich zur wahren Religion bekehrt und ihn als
Gottgesandten anerkannt habe. Dies waren die gläubigen
Ginnen, während die anderen als Ungläubige und Feinde des
Menschengeschlechtes galten. Diese sind es, die nicht blos den
Menschen in jeder Weise nachstellen, sondern die sogar an
den Pforten des Himmels zu horchen sich erkühnen, um die
göttlichen Geheimnisse zu erlauschen, wo sie von den Engeln
ertappt werden, welche sie mit feurigen Sternen beschmeissen
und in die Flucht schlagen.
So sagte ein Dichter:
Wie ein Stern, der einen 'Afryt lauschend ertappt
Und mit flammender Garbe ihm folgt und versengt,
Dem Reiter gleich, dem der Sturm den Turban gelöst,
Den er nachschleppt, als von dannen er sprengt.
wa kaukabin ’absara-l'afryta mostarikä
lilsam'i fankadda jodny chalfaho lahabah
kafärisin halla ’i'säron 'imämataho
fagarraha kollaha min chalfihi 'adabah. 1
Diese bösen Geister sind aber sehr verschieden von den
altarabischen Dämonen, und man merkt es ihnen an, dass sie
christlicher oder jüdischer Herkunft sind: denn die ersteren
kümmerten sich, wie die alten Heiden selbst, wenig um den
Himmel und seine Geheimnisse. Es ist auch in der That der
Gedanke aus fremder Quelle geschöpft: die an den Pforten
des Himmels lauschenden Geister sind nichts anderes als die
angeli desertores oder proditores, welche nach der bei den
Kirchenlehrern öfters uns begegnenden jüdischen Vorstellung
die göttliche Wahrheit diebisch und verrätherisch an die
Menschen gebracht haben sollen. Es ist dies der Gedanke,
den Clemens Alexandrinus vertritt, wenn er von dem dämo
nischen Ursprung der Philosophie spricht, denn sie sei nicht
1 Makkary, Bulak, II, S. (JG2.
40
VIII. Abhandlnng: v. Krem er.
gesandt vom Herrn, sondern gestohlen worden,- indem die
griechischen Philosophen sich die Wahrheiten, die sie lehren,
aus den Propheten der Hebräer genommen und sich angeeignet
hätten. Clemens denkt sich als unmittelbaren Vorsteher des
Volkes Gottes den Logos, als die Vorsteher der übrigen Völker
aber unter dem Logos stehende geringere Engel, welche nach
der gewöhnlichen Ansicht als abgefallene Geister oder Dä
monen gelten. 1
Diese Eindringlinge in den Kreis des arabischen Volks
glaubens sind leicht daran zu erkennen, dass sie gewöhnlich
mit dem Namen: shaitän bezeichnet werden, der aus den
jüdischen Glaubensvorstellungen stammt. Für den Mohamme
daner ist jeder böse Dämon ein shaitän. Dass dieser Begriff
schon geraume Zeit vor Mohammed durch die zahlreichen
jüdischen Niederlassungen in Arabien daselbst verbreitet worden
war, dürfte keinem Zweifel unterliegen. 2 Es war dies allerdings
ein höchst überflüssiger Einfuhrsartikel, denn die arabische
Sprache hat genug eigene Worte, um dasselbe auszudrücken,
aber schliesslich kam das Fremdwort in arabisirter Form in
den allgemeinen Gebrauch, 3 und zwar bei dem Propheten und
im Koran für ungläubige Dämonen, im Gegensätze zu den
Engeln und gläubigen Ginnen.
Hingegen ist es ein allerdings sehr fragliches Verdienst
des Gottgesandten von Mekka, aus dem christlichen Ideen
kreise den echten Teufel, den Diabolus, in der Form Iblys,
des Höllenfürsten, in den Koran und in die Glaubenslehre des
Islams eingeführt zu haben. 4
Es gab also nun ausser den altarabischen Dämonen und
Geistern, die im Volksglauben und in der Dichtung ihre alte
Stelle behaupteten, noch eine andere Classe von gläubigen
1 Baur: Vorlesungen über die christl. Dogmengeschichte. Leipzig, 1865.
I, 225 ff.
2 Eine volksthümliche Benennung desjenigen, der ein schiefes, verzerrtes
Gesicht oder eine Hasenscharte hat, war nach Gahiz ,der Geohrfeigte
des Satans 4 ilatym olsaitan. Ta'äliby: Latäif olma'ärif ed. de Jong, S. 26.
3 An der Echtheit der Banu Shaitän, die Wellhausen gelten lässt, kann
ich nicht glauben.
4 Das Wort erscheint im Koran immer ohne Artikel als Eigenname,
während shaitän als generischer Name den Artikel annimmt.
Studien zur vergleichenden Cultnrgeschichte.
41
Ginnen, welche mit der neuen Religion ihren Einzug hielten.
Es ist eine sehr bunte und äusserst gemischte, wenn man aber
auf den Stammbaum sieht, sehr feine Gesellschaft. Ausser
Iblys und den Shaitans haben aber nur wenige dieser neuen,
unarabischen Gestalten grössere Verbreitung gefunden. Ich
will nur des Erzengels Gabriel gedenken, der dem Propheten
seine Inspirationen bringt, dann 'Izrä’yls, des Todesengels,
aber selbst dieser ist nicht hoffähig geworden und fand keine
namentliche Erwähnung im Koran, die nur dem Gabriel in
der Form Gibryl zu Theil geworden ist.
Die meisten andern Schöpfungen dieser Art haben aber
kaum eine über die Räume der theologischen Schulen hinaus
sich erstreckende Verbreitung erlangt und sind nie recht volks
tümlich geworden.
Hingegen sind zwei Engelpaare zu grösserer Berühmtheit
gelangt. Ich nenne zuerst Monkar und Nakyr, welche den
Verstorbenen im Grabe einem Verhöre unterziehen und es ihm
je nach Verdienst leicht oder schwer machen. Diese Idee ist
dem Talmud entlehnt, der selbst wieder hier unter dem Ein
fluss des Parsismus steht. 1 Das freundliche Gegenstück hiezu
sind die beiden Schutzengel, die jeden Menschen alle Tage
seines Lebens hindurch begleiten und seine Thaten verzeichnen;
desshalb auch die beiden .Behüter - ' oder ,Aufbewahrer' (hafi-
zani) genannt. 2 Nach dem Koran jedoch ist die Zahl nicht
bestimmt und wird nur von mehreren gesprochen. 3
Diese Idee ist christlichen Ursprunges. Zuerst ist sie bei
Hermas zu finden. Er spricht von zwei Genien, welche den
Menschen durchs Leben begleiten, von welchen der eine gut,
der andere böse sei. Mit besonderer Vorliebe hing Origenes
an der Lehre von den Schutzengeln. Aber sie wurde von der
im Jahre 541 Chr. in Constantinopel abgehaltenen Synode
verdammt. 4
Sehr oft geschieht der Schutzengel Erwähnung in der
arabischen Literatur, so bei Abul-'alä Ma'arry:
1 Wahl: Koran, S. 525. Vgl. Buxtorf: Lexik. Talmud, voce IS3H. Z. d.
I). M. G. XXI, S. 564.
2 Vgl. Koran, Sur. 82, V. 10, 11.
3 Nach den Commentaren sollen es sieben sein. Wahl: Koran, S. 465.
4 Baur: Vorlesungen über Christ,1. Dogmengeschichte T, 1, »S. 550, 1, 2, S. 20.
42
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
,Mich ängstigt der Gedanke an die letzte Abrechnung und
mich bethört die Hoffnung, dass bis dahin noch lange sei. Und
zu meiner Rechten, sowie zu meiner Linken sitzt mir als Begleiter
ein treuer Beschützer (hafizon ka'ydo).' 1
In der Todesstunde erst sollen sich die beiden Engel in
ihrer sichtbaren Gestalt zeigen. Hat der Mensch Gutes ge-
than, so beloben sie ihn, während sie im entgegengesetzten
Falle ihm seine Sünden vorwerfen. 2 Nach dem Mystiker Ibn
al'araby sind diese zwei Engel Tag und Nacht beschäftigt, des
Menschen Worte und Handlungen aufzuzeichnen. 3 Und in dem
Shifä’ des Kädy Tjad, einem sehr angesehenen Werke, wird
eine von 'Abdallah Ibn Mas'ud hergeleitete Ueberlieferung an
geführt, laut welcher der Prophet gesagt haben soll: Jedem
von euch hat Gott einen guten und einen bösen Spiritus fa-
miliaris (karynatan min alginni wa karynatan min almalaikah)
beigesellt.
Ein gläubiger Mohammedaner, welcher einer schweren
Versuchung glücklich entronnen ist, betet morgens beim Er
wachen wie folgt: ,0 Herrgott, du weisst, dass mir diese Nacht
verflossen ist, ohne dass ich etwas Böses gethan, und ohne
dass die Schutzengel mir eine Sünde eingeschrieben haben.' 4
Alles das geht wohl zurück auf die Koranverse, Sur.
82, 10 ff.: ,Wahrlich über euch (sind gesetzt) Behüter, edle
Schreiber; sie wissen, was ihr thut.'
Auch im Judenthum findet sich dieselbe Idee. 5
Aber dieser Glauben an schützende Geister, die den
Menschen umgeben, während böse Dämonen ihm nachstellen
und ihn zu bethören suchen, geht noch viel weiter in die
Vorzeit zurück. Schon bei ganz wilden und rohen Stämmen
findet man diese Ideen im Keime. Ueberall wittern sie Geister
und Gespenster, die bald sie schützen, bald bedrohen. Dass
man sie nicht mit den Angen sehen, nicht mit den Händen
1 Ma'arry: Dywän, Keim 'ydo. Wellhausen, S. 192, bespricht das Wort
ka'yd und bezieht sich in Betreff der Schutzengel auf Koran, Sur. 50, 6,
wo der Druckfehler 6 zu berichtigen ist in 16.
2 Gazäly: ’lhjä IV, S. 578; Kitäb dikr almaüt.
3 Sa'räny: Aljawäkyt walgawahir II, 64, 209.
4 Tazjyn ol’aswäk, MS. der Hofbibliothek, fol. 167.
5 Jost: Gesell, d. Judenthums II, 106.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
43
greifen konnte, erschütterte nicht im mindesten den blinden
Glauben. Im Gegentbeile: man fand sogar Mittel, ihre An
wesenheit zu beweisen. Nach dem Talmud sind wir überall
umgeben von Teufeln und Dämonen, und um sich von ihrem
Dasein zu überzeugen, braucht man nur Asche neben dem
Bett auszustreuen. Am Morgen finde man dann in der Asche
die Spuren der Geister in der Form von Hühnertritten. 1
Schon im arabischen Alterthum war der Glaube an
Geisterscheinungen sehr verbreitet. Man erzählte sich von
gewissen Menschen, dass sie einen Geist, einen Spiritus fami-
liaris, zum Begleiter hätten; ein solcher Geist hiess tabi‘, Be
gleiter, und der, dem er beigesellt war: matbu', begleitet; er
schien ihm nur ab und zu ein Geist, so hiess man diesen ätin
d. i. Besucher, eigentlich: einen Kommer; oder: ra’yjj, das
auch für eine Traumgestalt gilt. Hört man aber nur einen
Ruf oder eine Stimme, so nannte man einen solchen Geist:
hätif, d. i. Rufer. Für alle diese verschiedenen Arten von Er
scheinungen sind die Beispiele in der alten arabischen Lite
ratur äusserst häufig.
Mit diesem allgemeinen Glauben an Geister hängt die
Lehre von den guten Geistern, den Schutzengeln, zusammen,
daher ist dieselbe Idee nachzuweisen bei den verschiedensten
Völkern; von den rohesten bis zu den gebildetsten, von den
Araucanern, r den Negern, den Mongolen, bis zu dem griechischen
Dichter Menander, der jedem Menschen einen guten Genius
zuerkennt, und zum Dämon des Sokrates. Man sah in ihnen
gewissermassen die zweite Seele des Menschen; desshalb führt
der Genius im Arabischen geradezu den Namen karynah
oder Doppelseele.
Neben dem guten Dämon konnte natürlich der böse nicht
fehlen; so sagt der Kakodaimon des Brutus zu ihm: bei Phi-
lippi sehen wir uns wieder: ich bin dein böser Geist.
Von dieser Idee bis zu den christlichen Schutzengeln des
Hermas und Origines ist kein weiter Sprung; und wenn nach
einem Ausspruche Mohammeds ein himmlischer Geist (malak)
und ein böser Dämon (ginny) jeden Menschen begleiten, so
ist das im Grunde genau dasselbe.
1 Tylor II, 199, Talmud, Tractat Berachot,
44
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Schliesslich müssen wir noch des Todesengels gedenken,
der die Phantasie der Rechtgläubigen lebhaft beschäftigte.
Diese aus der jüdischen Sage entlehnte Gestalt hat man zu
einer fast mythenhaften Figur ausgebildet. Der Anblick des
Todesengels wird als überaus grauenhaft geschildert. 1 Nach
den Einen ist er ein schwarzer Mann mit struppigem Haar und
schwarzem Gewände, welchem aus Mund und Nase Flammen
und Rauch hervorsprühen. In solch furchtbarer Erscheinung
zeige er sich aber nur den Bösen, während er den Frommen
als schöner Jüngling nahe.
Das alte arabische Heidenthum kannte' solche An
schauungen nicht, denn es lebte nur im Genüsse der Gegen
wart und in der Erinnerung der Vergangenheit. Für abstracte,
metaphysische Speculationen hatte es wenig Sinn, desshalb ist
auch der ganze Mythenkranz, der den Todesengel umgibt,
als Entlehnung aus fremdem Culturkreise anzusehen.
Hingegen ist der mit dem Geisterglauben so enge ver
knüpfte Begriff von Hexen und Zauberern viel älter und lässt
sich dessen Vorkommen schon lange vor Mohammed und dem
Islam kaum bezweifeln. Sobald man von der Wirklichkeit von
Geistern und übernatürlichen Wesen überzeugt war, konnte sich
auch leicht die Ansicht verbreiten, dass gewisse Menschen es
verstünden mit denselben sieh in Verkehr zu setzen und deren
Beistand und Unterstützung zu gewinnen. Dass dem so war
und dass man an Zauberer und Hexen glaubte, dafür bietet
schon das classische Alterthum zahllose Beweise. Während
aber später im Islam die Zauberer die Hauptrolle spielen,
sind es in der alten arabischen Dichtung besonders die Hexen,
die Zauberinnen, welche mehr in den Vordergrund treten. Es
ist schwer zu sagen, wesshalb den Weibern dieser Vorrang
zuerkännt wird. Aber es scheint mir, dass die Erklärung hie-
für ziemlich nahe liegt. Bei allen wilden Völkern verblüht die
Frau ausserordentlich schnell, und sowie die Jugendzeit vor
über ist und das Alter seine Rechte geltend macht, wird das
Weib abschreckend hässlich. Die rohe Behandlung alter Weiber
bei den wilden Völkern macht sie bösartig, rachsüchtig und
1 Gazäly: Ihjä IV, Ö74—579. Geschichte der herrschenden Ideen des
Islams, S. 271.
Studien zur vergleichenden Culturgescliiclite.
45
zänkisch. Die Greisin wird auf diese Art bald zur wahren
Megäre, zur Hexe. Nur die Cultur veredelt das Weib und
umgibt es selbst im höheren Alter noch mit Anmuth und Würde.
Bei den Naturvölkern musste also von selbst mit dem
Bilde des alten Weibes der Begriff des Hässlichen, Verab-
scheuenswerthen sich verbinden und hieraus ging im Volks
geiste die Hexe, die Zauberin hervor.
In den alten arabischen Gedichten ist von Hexen die
Bede, welche die Waffen verzaubern xmd unbrauchbar machen,
indem sie darauf blasen oder hauchen. 1 Auch im Koran wird
dieses Blasen der Hexen erwähnt und noch beigefügt, dass
sie Knoten knüpfen und auf diese blasen (Sur. 113). Desshalb
werden sie als Knotenbläserinnen besonders bezeichnet. 2
Durch dieses Anhauchen glaubte man eine besondere
Wirkung zu erzielen. Daher wird auch von den Ginnen, den
Hausgeistern, und besonders der Unholdin omm - alsibjän,
welche die kleinen Kinder krank macht, immer der Ausdruck
,anhauchen, anblasen' gebraucht (S. 33), wenn man sagen will
sie hätten jemand behext oder mit Siechthum geschlagen. Und
diese Bemerkung gibt auch den Anhaltspunkt zur Erklärung
dieses sonderbaren Brauches, der aus einer Beobachtung des
Thierlebens sich ergibt. Die Thiere, und besonders die wilden,
pflegen nämlich, wenn sie geschreckt sind oder den Angriff
eines Feindes erwarten, zu schnauben. So thut das Pferd,
welches sich vor einem Gegenstand scheut, die Katze, die
plötzlich einem Hunde gegenüber sich befindet, pfaucht ihn
an, ebenso auch der Löwe, der Panther, die Wildkatze und
zahlreiche andere Thiere. Dieses Schnauben oder Pfauchen ist
nichts anderes als eine Art des Anhauchens oder Anblasens
und zugleich der Ausdruck des Zornes oder der Furcht vor
einem Feinde. Man kann hiemit gewisse unwillkürliche Be
wegungen des Menschen im Zustande der Erregung vergleichen,
wie das Rollen der Augen, das Zähneknirschen, das Ballen
der Fäuste, die unter dem Eindrücke der Gereiztheit sich
1 Wellhausen, S. 140.
2 Auch gewisse Kunststücke machten sie; so nahmen sie einen Palm
zweig, legten ihn ins Wasser und er ging unter. Dann erhob die Hexe
die Hand und er schwamm auf der Oberfläche. Ajäny IV, 48, 3, 5.
Vgl. auch VIII, 53.
46
Vlir. Abhandlung: v. Ki eme r.
unwillkürlich einstellen. Bei den Menschen im wilden Zu
stande mögen ähnliche Aeusserungen einer heftigen Gemüths-
erregung noch viel schärfer und mannigfaltiger hervorgetreten
sein als in dem gegenwärtigen mehr oder weniger civilisirten
Zustande. Hiezu könnte man auch das Pfauchen rechnen.
Neben dieser stark darwinistischen Erklärung ist aber noch
eine andere zulässig, die ich für mindestens ebenso gut halte.
Es ist dies folgende: die wilden Menschen gingen, wie bei so
vielen anderen, so auch in diesem Falle, bei den Thieren in
die Lehre: sie beobachteten bei ihnen dieses Anpfauchen gegen
den Feind und schrieben demselben eine besondere Wirkung
zu und ahmten es nach. 1
Ist diese Erklärung richtig, wie ich kaum bezweifle, so
zeigt die arabische Hexe, welche ihre Feinde anpfaucht und
auf die Zauberknoten bläst, die sie geknüpft hat, einen be
sonders alterthümlichen, archaistischen Charakter: denn sie
hat uns einen sehr merkwürdigen Zug aus der vorhistorischen
unbewussten Mimik des wilden Menschen erhalten.
Schon desshalb verdient die arabische Hexe besondere
Beachtung.
Was nun ihre Wirksamkeit und Macht anbelangt, so ist
dieselbe eine sehr mannigfaltige und wie sich von selbst ver
steht, meistens bösartige, doch nicht immer und in allen Fällen.
Besonders verstehen die Hexen sich darauf, die Zukunft
zu verkünden. Manches alte Weib, das von dem Islam als
1 Es hat sich dieser eigentümliche Brauch im Islam erhalten. Bei dem
Lesen des Korans halten einige Gelehrte das Pusten oder Blasen
(naft) nach rechts und links (um die Dämonen zu verscheuchen) für
zulässig. Der Prophet selbst ging so weit, es zu empfehlen,- indem er
sagte: wenn Jemand im Traum etwas AViderwärtiges sieht,, so blase er
beim Erwachen dreimal und rufe Gott an, dass er ihn davor behüte.
Bochäry: Kitäb oltibb: Cap. Bäb olnaft. Man vergleiche hiezu den
Commentar des 'Askaläny: Hadj olsäry lifath ilbäry fy s'arh ilbochäry
X, S. 177, 178. Hielier gehört wohl auch die in der katholischen Kirche
bei gewissen Ceremonien übliche Anhauchung des Gläubigen durch den
Priester und hieraus wieder erklärt sich die im deutschen Volksaber
glauben vorkommende Idee, dass das Anhauchen mit gleichzeitigen
geheimnissvollen Worten, besonders bei Kindern, eine heilende und
schützende Wirkung habe (Wiirtemberg). Wuttke: Deutscher Volks-
aberglaubeu, S. 80 (Nr. 121).
Studien zur vergleichenden Culturgesclxichte.
47
Orakelpriesterin eines Götzen galt, mag daher später zur ein
fachen Hexe gestempelt worden sein.
Ich will nur ein Beispiel aus heidnischer Zeit hier an
führen. Es ist dies die Begegnung des südärabischen Helden
königs As'ad Kämil mit den drei Hexen. Derselbe erwacht auf
dem Berge Ahnum aus tiefem Schlaf. Da sieht er drei Weiber,
die eine reicht ihm einen Becher mit Blut gefüllt. Er leert
ihn. Dann ruft ihn die zweite an und auf ihr Geheiss schwingt
er sich auf den Rücken einer Hyäne. Diese aber wirft ihn ab.
Da kommt die jüngste der drei, pflegt ihn und versucht
es schliesslich, ihn zur Minne zu entflammen. Aber er besteht
auch diese Probe. Da sprechen die drei Hexen zu ihm: ,0
As'ad! dich soll der Sieg begleiten in Allem, was du beginnest!' 1
Hier in dieser alten Sage ist die Hexe noch vorwiegend
Wahrsagerin, aber später, unter dem Einflüsse des Islams wird
sie bösartiger; sie unterrichtet Leute in der Zauberkunst, bringt
sie aber hiedurch um ihre ewige- Seligkeit. Folgende Erzählung
ist hiefür höchst bezeichnend:
Ein Weib, das von ihrem Manne verlassen worden war,
geht zu einer Hexe und bittet sie, ihr zu helfen. Diese erklärt
sich bereit, ihr Anliegen zu gewähren, wenn sie thun werde,
was sie ihr anbefehle. Dies verspricht sie. Die Hexe holt sie
nun des Nachts ab; die beiden besteigen zwei schwarze
Hunde, welche die Hexe mitgebracht. Sie reiten in Sturmes
eile durch die Nacht, bis sie nach der Stadt Babel gelangen.
Das Erste, was sie da sehen, sind zwei an den Füssen auf
gehangene Männer. 2 Diese richteten an sie die Frage, was sie
hier zu suchen gekommen seien. Das Weib entgegnete, sie
1 Kremer: Ueber die südarabische Sage, S. 79, 80. Der Ritt auf einer
Hyäne bedeutet im Traume die Erlangung der Herrschaft. Vgl. Da-
myry sub voce: dabo*; und Artemidor: Oneirocritica II, 120, 273.
2 Es sind dies die beiden gefallenen Engel Härut und Märut, die im
Koran (2, 96) genannt werden, von welchen daselbst erzählt wird, dass
sie die Zauberei kannten und sie an Jene mittheilten, welche freiwillig
hiezu bereit sich fanden. Hiefür wurden sie in Babel eingekerkert.
Nach de Lagarde: Gesammelte Abhandlungen, S. 15, wozii man ver
gleiche: Spiegel: Eranische Alterthumskunde II, 40 entsprechen die
Namen Härut und Märut, den beiden Genien der Pehlewy-Sage: Ame-
retät und Haurvatät. Ueber ihre Zauberkünste lese man Bochäry:
Kitäb oltibb: bäb olsihr.
48
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
wolle die Zauberei lernen. Beide warnten sie darauf, dem
Glauben nicht zu entsagen. Allein sie bestand auf ihrem Vor
haben. Da sagten die beiden gefallenen Engel zu ihr: Geh’
zu jenem Backofen und pisse hinein! 1
Dies versuchte sie zweimal, aber immer, wenn sie wollte,
kam sie ein geheimes Grauen an. 2 Sie kehrte zurück und
jene fragen sie, ob sie etwas gesehen habe und als sie es ver
neinte, sagten sie zu ihr, sie habe nicht gethan, was ihr be
fohlen war. Beide ermahnten sie nochmals von ihrem Vorhaben
abzulassen. Aber sie weigert sich, geht das dritte Mal zum
Backofen und pisst hinein.
Da kam es ihr vor, als ob ein in Eisen gekleideter
Reitersmann aus ihr hervorginge, der sich zum Himmel empor
schwang, bis er ihren Äugen entschwand.
Sie eilte zurück zu den zwei Engeln und erzählt ihnen,
was sie gesehen; die aber sagen zu ihr: Der Reitersmann,
den du gesehen, das war dein Glauben (’ymän), welcher dich
verlassen hat!
Da wandte sie sich verzweifelt zur Hexe, welche ihr
zur Herreise behilflich gewesen war, und sagte ihr: Bei Gott!
nichts haben sie mich gelehrt und nichts mir mitgetheilt! Die
alte Hexe jedoch sagt ihr: Du brauchst jetzt nur etwas zu
wünschen und es geht in Erfüllung; nimm diesen Weizen, säe ihn
und sage dann: sprosse! und er wird sofort sprossen. Und so ge
schah es auch. Dann sagte sie: Treibe Aehren! und es geschah.
Hierauf sprach sie: Aehren entkörnt euch! und es geschah. Dann
liess sie die Aehren zu Mehl werden und das Mehl zu Brot.
Das Weib sah das alles, ohne jedoch eine Freude daran
zu haben und sie bereute, was sie gethan (denn sie hatte ihr
Seelenheil, ihren Glauben, verloren). 3
Es fehlt in dieser Geschichte, die spätestens aus dem
11. Jahrhundert unserer Zeitrechnung stammt, 4 kein einziges
1 Man vergleiche hiemit das über die Verehrung des Brotes Gesagte.
Abhandlung I.
2 Sie war sich nämlich bewusst, einen schweren Frevel zu begehen.
3 f Ara'is d. i. Kisas ol’anbijä von Ta'laby; Cairo, 1282, S. 54, 55, Cap.
Kissat Härut wa Märut.
4 Der Verfasser starb um 430 H. (1039 Chr.). Aber er schöpft aus viel
älteren Quellen.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
49
der bezeichnenden Merkmale des Hexenbildes, wie es im
europäischen Volksglauben allmälig zur stehenden, allgemein
gütigen Formel geworden ist: das Reiten durch die Nacht auf
einem schwarzen (also dem Bösen geweihten) Thiere, das Voll
bringen einer frevlerischen Handlung — in unserem Falle die
Verunreinigung des Ofens, worin das Brot gebacken wird —
dann der Verzicht auf das Seelenheil (also im europäischen
Sinn die Hingabe an den Teufel) und schliesslich die hiedurch
erlangte Zauberkraft.
Diese auffallende Familienähnlichkeit zwischen morgen
ländischen und europäischen Hexen nimmt später noch mehr
zu. So .finden wir in den Erzählungen der 1001 Nacht die
Hexen folgendermassen vorgeführt: ,Ich lag noch zwischen
Schlaf und Wachen, da sah ich vier Weiber: die eine ritt
auf einem Besen, die zweite auf einer Amphore, die dritte auf
einer Ofenschaufel, die vierte auf einem schwarzen Hund/ 1
Hier haben wir das leibhaftige Conterfei der europäischen
Hexe, auf ihrem Lieblingsgaule: dem Besen, reitend.
Desshalb werden bei den Maifeuern, um die Hexen aus
zutreiben, im Erzgebirge ebenso wie im Voigtlande in Deutsch
böhmen, wie auch in Tirol durch angezündete Besen und
andere Feuer die Hexen ausgetrieben. Auch die Tschechen
verbrennen getheerte Besen. 2
Also überall fällt das Leibross der Hexen, der Besen,
zum Opfer des unschuldigen Autodafe’s. Er ist gewisser-
massen ein Fetisch, mit dem Hexe in Zusammenhang steht.
Der Besen hat daher eine gewisse, geheimnissvolle Bedeutung;
er steht ja am Feuerherd, dem Sitze der Hausgeister oder der
Seelen, 3 mit dem Besen fegt man aber auch die ungelegenen
Seelen aus dem Hause. 4 So ist es in katholischen Gegenden,
sobald die Charwoche endet und zum ersten Male wieder die
Glocken läuten, Brauch der Hausfrauen, sofort die Besen zu
erfassen und alles auszufegen, insbesonders aber unter den
Betten alles hervorzukehren: denn in der Charwoche haben
1 1001 Nacht, ed. Habicht, XII, S. 304. Vgl. Spitta: Contes Arabes,
S. 141 (XI, 7).
2 J. Lippert: Christenthum, Volksglaube etc., S. 632. Wuttke §. 89.
3 Lippert: 1. 1. S. 569.
4 ibid.
Sitzungsber. d. phil.-hist. Ci. CXX. Bd. 8. Abb.
4
50
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
nach katholischem Aberglauben die Geister den freiesten Spiel
raum: diese müssen schleunigst entfernt, also hinausgefegt
werden. 1 Aus demselben Grunde, um nicht behext zu werden,
lassen im Waldeck’schen junge Eheleute bei ihrem Eingang
in das Haus Axt und Besen über die Schwelle legen. 2
Merkwürdiger Weise begegnet man ähnlichen Beispielen
auch im Oriente. Wenn Jemand von der Familie abreist und
man fegt hinter ihm mit dem Besen, so kehrt er nicht mehr
zurück. Dies ist ägyptischer Volksglaube. 3 Und eine ägyp
tische Hausregel, die ich aber nicht erklären kann, ist, dass
der Besen angebrannt sein müsse, wenn man bei Nacht aus
fegt. 4 Auch in Goethe’s Zauberlehrling spielt der Besen eine
gewisse geisterhafte Rolle, die sich erst dann ganz deutlich als
Rest eines antiken Aberglaubens erkennen lässt, wenn man
die Quelle kennt, aus welcher Goethe den Stoff zu seinem
Gedichte genommen hat, nämlich die Geschichte, welche Lucian
im Philopseudes (35) erzählt, wo von einem Zauberer berichtet
wird, der durch eine magische Formel den Besen zuerst zu
einer Sclavin macht, welche die häuslichen Geschäfte besorgt,
und sie dann wieder durch eine andere Formel zum Besen
werden lässt. 5
Man mag aus diesen Beispielen ersehen, dass der Zu
sammenhang zwischen der Hexe und dem Besen durchaus
1 J. Lippert: Christenthum, Volksglaube etc. S. 465, 615.
2 1. 1. S. 393.
3 Kaljuby: Nawädir, ed. Nassau Lees, Calcutta 1856. S. 186.
4 1. 1.
5 Ein ähnlicher Aberglaube, wie der hinsichtlich des Auskehrens mit dem
Besen hinter Einem, der das Haus verlässt, ist folgender: wird hinter
Einem, der abreist, ein Wasserkrug zerbrochen, so kehrt er nicht mehr
zurück (Kaljuby: Nawädir, S. 186). Ganz dieser Idee entspricht es,
wenn die brandenburgischen Bauern hinter dem Sarge, vbr der Thür
des Hauses, einen Eimer Wasser ausgiessen, um den Geist zu ver
hindern, in das Haus zurückzukehren. Tylor: Anf. d. Cultur II, 26.
Etwas Aehnliches kommt auch bei den Persern vor: tritt Jemand eine
grosse Reise an, so wird hinter ihm, bei seinem Ausgang aus dem
Hause, Wasser gesprengt und zugleich ein Spiegel vorgehalten, wodurch
man ihm Gesundheit und eine glückliche Reise anzuwünschen glaubt
(H. Brugsch: Aus dem Orient. Berlin, 1864. II, S. 97). Durch das
Vorhalten des Spiegels fängt man sein Bild und hält es fest und ver
meint auf diese Art seine glückliche Rückkehr zu sichern.
Studien zur vergleichenden Culturgeschiclite.
51
nicht zufällig, sondern auf ähnliche Ideen zurückzuführen ist,
die bei verschiedenen Völkern herrschen.
Eine nicht minder hervorragende Stellung im Volksaber
glauben nehmen die Zauberer ein. An ihre Macht hat man
von jeher geglaubt, und der Prophet selbst zögerte nicht, als
Ursachen seiner öfters ihn quälenden krankhaften Zustände
eine Bezauberung zu vermuthen.
Besonders scheint es, dass im Jahre 624 Ch. vorüber
gehende Geistesstörungen bei ihm auftraten, die sowohl er als
seine Frauen für die Folge einer ihm angethanen Behexung
ansahen. 1 Er bildete sich oft ein, Dinge gethan zu haben,
ohne dass es wirklich der Fall war. Dabei hatte er Träume
und Sinnestäuschungen; hievon hat Bochäry in seiner grossen
Traditionssammlung ein sehr beachtenswerthes Beispiel auf
genommen. Es soll ‘Ai'shah, die bevorzugte Frau Mohammeds,
erzählt haben, dass er einst, als er bei ihr war, wiederholt
Gott angerufen und ihr dann gesagt habe, es seien soeben
zwei Männer zu ihm gekommen und der eine sei ihm beim
Haupte, der andere zu den Füssen gesessen, und da habe der
eine zum andern gesagt: Was fehlt dem Mann? Der andere
aber antwortete: Er ist behext! Und wer that es? fragte der.
Jener antwortete: Labyd Ibn al’a'sam hat es gethan. Und auf
welche Art? Durch einen Kamm, ein (Stückchen) Werg und
den Bast der Fruchtkapsel einer Dattelpalme. — Und wo sind
sie (versteckt)? — In dem Brunnen Darwän.
Mohammed begab sich dann selbst zu dem bezeichneten
Brunnen und liess ihn zuschütten. Als er zurückkam, sagte er
zu Äi'shah: ,Das Wasser war so (roth), als wäre es ein Henna
absud, und die Kronen der Dattelpalmen (die um den Brunnen
standen) schienen mir, als seien sie Köpfe von bösen Dämonen.' 2
Man ersieht hieraus ganz deutlich, dass er noch unter
dem Eindrücke des heftigen Schreckens stand, den er wegen
der vermeintlichen Bezauberung empfand.
Dass in der Zeit- des Heidenthums man ähnlich fühlte,
ist nicht zu bezweifeln. Der Kähin, der Priester, der zugleich
oft die Orakelsprüche verkündete, war zugleich Heilkünstler
1 Sprenger: D. Leben Moh. III, S. 60.
2 Bochäry: Kitab oltibb: bäb olsihr.
4*
52
VIII. Abhandlung: v. Kremer.
uncl Zauberer. Es erhellt dies schon daraus, dass heilen, ärzt
lich behandeln und bezaubern in der alten Sprache durch das
selbe Wort (tabba) bezeichnet werden. Als nun der Islam
kam, verschwand der heidnische Priester, der Orakelmann,
und nur der Zauberer blieb zurück. Aber selbst bis in unsere
Zeiten herrscht ungeschwächt im Oriente der Glauben an die
Zauberei und ihre Wirksamkeit. 1
Fast ebenso verbreitet ist eine andere Vorstellung, die
noch zu besprechen übrig bleibt und in dem Geiste des Volkes
feste Wurzeln gefasst hat. Es ist die Mythe von den Wer
wölfen, deren Ursprung nach allem Anschein in das höchste
Alterthum, in vorgeschichtliche Zeit zurückreicht. Sie findet sich
im Morgenlande ebenso wie in Europa bei den germanischen
Völkern, aber auch bei den romanischen und slavischen.
Es beruht diese Idee auf der Ansicht, dass die Seele
etwas vom Körper Unabhängiges sei, das auch ohne denselben
fortbestehen könne. 2 Dieser Gedanke verbindet sich dann mit
einer gleichfalls dem wilden Menschen sehr einleuchtenden
Voraussetzung, dass die Seele des Menschen in den Körper
von Tliiercn fahren oder einen solchen Körper annehmen, ja
auch unter Beibehaltung des menschlichen Leibes die Eigen
schaften von Tliieren annehmen könne.
Bei gewissen Stämmen Indiens, nicht arischer Herkunft,
also alten, vor der Einwanderung der Arier angesiedelten Ur
einwohnern herrscht der Glaube, dass gewisse Menschen zu
Tigern werden, und zwar könne dies auf zweifache Weise ge
schehen: entweder behalten sie die Menschengestalt, werden
aber wild wie Tiger, oder sie verwandeln sich wirklich für
einige Zeit in Tiger. Ebenso glaubt man, dass Zauberer die
Fähigkeit besitzen, in Tiger sich zu verwandeln, und dass sie
in dieser Gestalt auf Raub ausgehen. Auch bei den Abiponern
kommt derselbe Gedanke vor. Bei den afrikanischen Neger
stämmen zweifelt man nicht, dass Menschen in Hyänen sich
verwandeln. In der Kanuri-Sprache voirBornu wird aus ,bu)tu'
Hyäne ein eigenes Thatwort ,bultungin‘ in eine Hyäne sich
verwandeln, gebildet. Die in Abessynien wohnenden Buda, ein
1 Näheres hierüber in meiner Culturgeschichte II, S. 263 ff.
2 Vgl. II, Blut und Seele S. 33.
Studien zur vergleichenden Culturgescliichte.
53
Pariastamm, der als Eisenarbeiter und Töpfer seinen Erwerb
sucht, soll die Gabe des bösen Blickes und zugleich die Fähig
keit besitzen, sich in Hyänen zu verwandeln. 1 Im Ashango-
lande meint man, dass Menschen in Leoparden sich verwandeln
können. Auch im klassischen Alterthum fehlt es nicht an Bei
spielen: so erzählt Petronius Arbiter die Geschichte eines ,ver-
sipellis', eines Menschen, der sich verwandeln kann, der als
Wolf verwundet ward und als Mensch dieselbe Wunde zeigt.
Die Griechen hatten ein eigenes Wort für einen solchen
Menschen und nannten ihn Xoy.ivGptoxo?.
Es soll dieser Volksaberglauben bei den Griechen durch
die Menschenopfer veranlasst worden sein, die bei dem Feste
des lykäischen Zeus gefeiert wurden und angeblich bis ins
zweite christliche Jahrhundert sich erhielten. Im Volke fabelte
man, es würden die zerschnittenen Stücke des Opfers von den
Opfernden gekostet, und wer von dem Mensclienfleiscli ge
kostet habe, der würde in einen Wolf verwandelt und müsse
als solcher flüchtig hin und her irren, und erst, wenn er durch
zehn Jahre sich des Mensckcnfleisckes enthalten habe, erhalte
er seine frühere Gestalt wieder. 2
Unter den europäischen Völkern war derselbe Glaube an
in Wölfe verzauberte Menschen allgemein.
Bei dem Saho-Volk in Nordostafrika begegnen wir gleich
falls dem Werwolf. 3 Es ist liier die Mutter, die ihre Kinder
auffrisst, eine Wendung, die auch sonst nicht selten ist in alten
Märchen. Wie volksthümlich dieser Aberglauben war, geht
daraus hervor, dass man noch immer denselben lebendig in
der Phantasie des Volkes findet.
In Beirut redet man mit Schrecken von einem Thiere, das
man shyb nennt, und welches ein Zwitterding zwischen Wolf
und Leopard sein soll. 4 Ich halte es für die dortige Form des
Werwolfs. Denn Seetzen 5 führt unter dem Namen Shybeh gleich
falls ein Thier an, das er als fabelhaft bezeichnet und mit der
1 Tylor: Anf. der Cultur I, 305 ff.
2 Schoemann: Griecli. Altertliilmer II, 224; Pausan. VIII, 2, 6.
3 Reinisch: Saho-Sprache I, 167.
4 Burkhardt: Syria S. 534.
5 Seetzen: Reisen in Syrien, Palästina u. s. w., herausgegeben von Prof.
Kruse. Berlin 1854, I, S. 273.
54
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
,Sa'luah‘ (lies: sa'lowwah) oder G inni jjeh gleich setzt. Ein
Berichterstatter Seetzen’s wollte auf einer Reise durch das
Bergland Sharäh das schreckliche Wesen gesehen haben. Nach
seiner Beschreibung schien es eine wirkliche Person; er sah
nur einen von struppigem Haar starrenden Kopf, ungeheure,
aufgesperrte Augen und lange, schlaff herabhängende Brüste.
Sein Pferd erschrak heftig wie er selbst bei dem Anblicke.
Eilig ritt er von dannen, und als er später einem Araber
(Beduinen) begegnete, dem er sein Abenteuer erzählte, sagte
ihm dieser, das sei die Shyheh gewesen.
Seetzen nennt noch ein anderes angeblich fabelhaftes
Thier, nämlich: Kelb mes'ur, das wie ein Wolf sein soll, und
das von Leichen sich nährt. Wenn ein Mensch von ihm ge
bissen werde, so belle er und wolle alle heissen; schliesslich
sterbe er. Hiezu bemerkt Seetzen: ,Dies scheint ein toller
Wolf zu sein/ unser Werwolf.
Auch Ch. Doughty, der letzte und hervorragendste Er
forscher Arabiens, hat dort von der Sa'lewwah, d. i. (alt
arabisch) sa'lä, erzählen gehört. Er schildert sie wie folgt:
this salewwa is like a woman, only she has hoof-feet as
the ass. 1
Hiemit stimmt das Bild der Shyheh vollständig überein.
Es zeigt sich also, dass diese ebenso wie die Sa'lowwah iden
tisch ist mit der in der arabischen Märchenwelt oft genannten
Ghule.
Diese Unholdin ist ein Weih, in welchem die gespenstische
und menschliche Natur nicht genau sich unterscheiden lässt,
es hat Menschengestalt, kann aber natürlich auch die eines
reissenden Thieres annehmen; es ist lüstern nach Menschen
fleisch und ist demnach eine Art Werwolf.
Im Geiste des Volkes ist die Ghule ein hässliches, altes
Weib mit lange herabhängenden, schlaffen Brüsten. Der letzte
charakteristische Zug erscheint auch in den neuesten ägypti
schen Volksmärchen, wo es heisst: ,und die Brüste hingen so
1 Doughty: Travels etc. I, S. 54. Die Eselsfüsse gibt auch Darayry als
bezeichnend für die Ghule. Haj&t al-haiwän II, S. 214: sub voce gul
gegen Ende des Artikels. Vgl. Ma^oudi: Prairies d’or ed. Barbier de
Meynard III. 315.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
55
schlaff herab, dass die Ghule, um in ihrer Arbeit nicht be
hindert zu sein, sie über die Achsel warf. 1
In den Märchen der 1001 Nacht zeigt sich die Ghule als
schöne, junge Frau, die erst in der Nacht, nachdem sie ihrem
Gatten einen Schlaftrunk beigebracht hat, ihre wirkliche Ge
stalt annimmt; oder sie erscheint dem einsamen Reitersmann
in der Wüste als ein junges Mädchen, das weinend am Wege
sitzt und' ihn flehentlich bittet, sie mitzunehmen. Er lässt sie
mitleidig hinter sich aufsitzen und erkennt sie erst später als
Menschenfresserin.
Beachtenswerth ist es, dass in einem Punkte die arabische
und die europäische Sage übereinstimmen. Nämlich, wenn die
Hexe oder der Werwolf verwundet worden sind, und sie kehren
in ihre menschliche Gestalt und frühere Lebensweise zurück,
so erkennt man sie an der Wunde. 2
So sehen wir eine Volksmythe der arabischen Vorzeit
fortleben bis in unsere Tage, und zwar im Ganzen mit nicht
wesentlichen Veränderungen: ein neuer Beweis, mit welcher
Zähigkeit das Volk an gewissen einmal aufgenommenen und
gewohnheitsmässig fortgepflanzten Einbildungen festhält. Ghule
und Sa'lowwah sind entschieden heidnische, nicht mohamme
danische Gestalten, und trotzdem nehmen sie in der Phantasie
des Wüstenbewohners unbedingt einen viel grösseren Platz ein,
als der durch den Islam erst popularisirte Teufel und alle
anderen mythischen Bilder, die der Koran aus seinen trüben,
jüdischen und judenchristlichen Quellen schöpfte und den. alten,
heidnischen Bildern der Volkssage entgegen zu setzen versuchte. 3
Mit dem Glauben an Geister und Gespenster hängt der
Manen- oder Todtencultus enge zusammen. Denn beide be
ruhen auf der Vorstellung, dass es unsichtbare Wesen, Seelen
ohne Körper gebe, die mit dem Menschen in vielfachen Be
ziehungen stehen. Wenn man schon die Seele des Verstorbenen
als einen Vogel sich dachte, der erst zur Ruhe komme, wenn
sein Rachedurst gelöscht sei, so konnte man gewiss mit dem
Gedanken vertraut werden, dass die Ruhe des Todten von der
1 Spitta: Contes arabes, S. 132.
2 1001 Nacht ed. Habicht XII, S. 305, 306j Wuttke: Deutscher Volks
aberglauben S. 118 (§. 185).
3 Vgl. meine Culturgeschichte II, 258 ff.
56
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Erfüllung gewisser ihm zu erweisender Dienste und Ehren
bezeugungen abhängig sei, dass man nur auf diese Art gegen
seinen Zorn und seine Rache Sicherheit linden könne. Es wird
also wohl richtig sein, wenn erzählt wird, dass die alten Araber
in der Zeit des Heidenthums auf den Gräbern ihrer Lieben
Kameele schlachteten. Auch Pferdeopfer werden erwähnt, aber
dagegen spricht die Thatsache, dass diese im Alterthume in
Arabien ganz fehlten, und als sie dahin verpflanzt worden
waren, gewiss zu theuer und zu selten waren, um öfters zu
solchem Zwecke verwendet zu werden. Es dürften also meistens
Kameele, Schafe oder Ziegen geschlachtet worden sein.
Noch jetzt ist es nicht ungewöhnlich, dass der Beduine
am Jahrestage des Todes seines Grossvaters ein Opferthier
schlachtet. 1 Jetzt wird es verzehrt, im Alterthum aber scheint
es von vermöglichen Leuten mittelst Durchhauung der Sehne
am Hinterfusse gelähmt ('akr) und dann auf dem Grab ge
lassen worden zu sein. Hiemit ist nicht zu verwechseln der
Brauch, eine Kameelstute (balijjah) am Grabe anzubinden und
dort ohne Frass und Trank langsam verschmachten zu lassen. 2
Von dem Dichter Zijäd al'agam wird ein Bruchstück an
geführt, wo er zu Ehren eines Verstorbenen sagt:
Zieh ich an seinem Grabe vorbei, so schlachte ich ihm (’a'karo laho)
Und besprenge des Grabes Seiten mit dem Blute. 3
Das ist echt arabisch und stimmt ganz zu dem früher
über das Besprengen der heiligen Steine mit dem Opferblute
Gesagten.
Ganz in demselben Sinne sagt ein Dichter, auf den Tod
des Hosain, des Enkels des Propheten, anspielend:
Und wenn es sich ziemt, o Sohn des Propheten, am Grab eines
Edlen zu schlachten Rosse und Kameele,
So ist dein Grab cs werth, dass ringsum edle Männer und herr
liche Prauen geopfert würden. 4
Es ist daher kaum zu bezweifeln, dass bei der Bestattung
manches alten Häuptlings ausser dem Blut der Kameele auch
1 Doughty: I, 452.
2 Vgl. den Vers des Tirimmah bei Lane: Lexikon ad vocem.
3 Isfahäny: Mohädarät. II, 307.
4 Isfahäny: 1. 1. II, 307,
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
57
das von Sclaven und Sclavinnen in die Grube hinab geflossen
sein mag. Alles richtete sich natürlich auch hier nach Stand
und Vermögen. Jedem ward von den Hinterbliebenen, je nach
ihren Mitteln, der Tribut der Liebe und Verehrung entrichtet
und alles gethan, um ihnen die dunkle Ruhestätte angenehm
zu machen. So hielten es schon im Alterthume die Aegypter,
die ihren Todten nicht bloss Einrichtungsgegenstände, Schmuck
sachen, Spielzeug u. s. w., sondern sogar Unterhaltungsschriften
mitgaben. 1
Bei den Griechen und Römern war dies auch der Fall.
Lucian sagt: wie Viele haben nicht Pferde und Buhlerinnen
oder Mundschenken mitgetödtet: dann Kleider oder Schmuck
sachen mitverbrannt oder mitbegraben, als wenn die Todten
davon einen Nutzen oder Gewinn hätten. 2 Noch bezeichnender
ist eine Stelle im Philopseudes, 3 wo die verstorbene Gattin er
scheint und ihrem Gatten Vorwürfe darüber macht, dass er
die eine ihrer goldgestickten Sandalen nicht verbrannt und
somit ihr nicht mitgegeben habe. — Der auf der Insel der
Kirke verunglückte Gefährte des Odysseus erscheint diesem
als Schatten im Hades und ersucht ihn, seine Rüstung und
Waffen zu verbrennen (damit er im Hades doch seines Wehr
schmuckes sich erfreuen könne). 4 Beim Tode des Hephaestion
lässt Alexander auf dem Scheiterhaufen ausser den Waffen
auch das bei den Persern hochgeschätzte Gewand mitver
brennen. 5 Bei der Leichenfeier Caesars legten die Spielleute
und Schauspieler die Gewänder ab, die sie von früheren
Triumphzügen her hatten und warfen sie zerrissen in die
Flammen; ebenso die Veteranen ihre Waffen, die Matronen
die Schmuckgegenstände, sowie die goldenen Kapseln und
Prätexten ihrer Kinder. 6 — Bei den Germanen wurden die
Waffen, oft auch das Ross des Kriegers mit ihm verbrannt. 7
1 Eine solche auf einer Sandsteinplatte geschriebene, die man in einem
ägyptischen Grabe fand, hat neuestens G. Maspero bekannt gemacht.
MÄmoires de 1’ Institut d’ Egypte. Cairo 18S9, II, S. 1 ff.
2 Lucian: de luctu. 14. 3 Lucian: Pliilop. 27.
4 Odyssee XI, GO—78.
5 Aelian: Var. Hist. VII, 8.
0 Sueton: Caesar 84.
7 Tacitus: Germania 27.
58
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Auch im alten Scandinavien wird das Ross des todten Kriegers
ihm ins Grab mitgegeben. 1
Ganz so hielten es auch die alten Araber. So zerbrechen
die Weiber über dem Grabe des in der Schlacht Gefallenen
den Kessel und seine Schüssel, 2 eine Sitte, die uns beweist,
dass auch bei ihnen der Glaube herrschte, man könne dem
Todten beliebige Gegenstände, die ihm angenehm oder nütz
lich waren, in das Schattenreich nachsenden, indem man sie
tödtet, d. i. zerbricht oder vernichtet. Das ist die Ansicht der
wilden Völker, welche den Menschenopfern am Grabe, sowie
allen Todtenopfern zu Grunde liegt. 3
Der arme Beduine, dem man Kessel und Schüssel nach
sendet, der König, dem man Rosse, Sclaven und Beischlä
ferinnen hinschlachtet, geben Zeugniss von demselben Ge
danken der liebevollen Opferwilligkeit und Freigebigkeit zum
Besten des Todten.
Die arabischen Beduinen konnten nicht so viel Ver
schwendung und Luxus entfalten wie die alten Culturvölker.
Aber sie zeigten doch dieselbe gute Absicht, indem sie die
Grube, wo ihre Theuren ruhen sollten, mit dem wohlriechenden
Gestrüppe ’idchir auspolsterten und mit harmal die Leiche be
deckten, damit der Todte weich liegen und die Erde ihn nicht
drücken möge. 1 Und der Brauch, über dem Grabe Kameele
zu schlachten und das Fleisch an Arme zu vertheilen, hat sich
auch im Islam erhalten. 5
Man glaubte, dass eine solche Handlung dem Todten im
Jenseits zum Vortheil gereiche. Es ist dies im Grunde ge-
1 Weinhold: Altnordisches Leben, S. 495.
2 Hamäsah, S. 173, Z. 12. Der Vorfall gehört in die Zeit des Chalifen
'Otmän. Die Redensart: horyka gafnatolio, d. i. seine Schüssel ward
ausgeleert (vgl. Lane: Lexieon), deutet darauf, dass man auch Speise
opfer darbrachte, indem man das Gefäss auf dem Grabe ausleerte.
3 Tylor. I, 451—454.
4 Wäkidy ed. Kremer, S. 260, 271, 301. Boehäry: alganä'iz: bäb ol’idchir-
walhasys fylkabr.
5 Damyry I, 219 voce: gazur. 'Amr Ibn al'äsi sagt vor seinem Tode:
,wenn ihr mich begrabt, so schüttet über mir die Erde auf und bleibt
um mein Grab herum stehen, bis die Kameele geschlachtet sind und
ihr Fleisch vertheilt ist 1 .
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
59
nommen derselbe Gedanke, den Lucian verspottet, 1 der aber
noch immer in einem grossen Tkeile der Welt seine Herr
schaft nicht eingebüsst hat, dass gewisse wohlthätige oder
rituelle Handlungen dem Verstorbenen im jenseitigen Leben
zum besonderen Nutzen gereichen.
Eines der gewöhnlichsten Geschenke an die Verstorbenen
war im Alterthuine die Libation, das Trankopfer. Es war dem
arabischen Heidenthum nicht ganz unbekannt, 2 aber dennoch
wohl nur mehr in den städtischen, von der höheren Cultur der
Nachbarländer angekränkelten Kreisen.
Ganz vollkommen entspricht es der antiken Denkart,
dass man die Gräber ehrte und heilig hielt, dass man sie
besuchte und dabei der darin Ruhenden gedachte, ja dass man
an diese Grüsse und Ansprachen richtete. Eine alte Sitte war
es auch auf die Grabhügel ein paar Palmreiser zu stecken,
um das Grab zu beschatten, 3 und der Prophet selbst miss
billigte diese Sitte nicht. Es wird nämlich in der Tradition
von ihm erzählt, dass er einst an zwei Gräbern vorbeiging
und da gesagt habe: ,in diesen zwei Gräbern liegen zwei, die
gestraft werden, aber nicht wegen schwerer Schuld: der eine
trieb Ohrenbläserei, der andere aber bedeckte sich nicht, wenn
er Wasser liessh Dann nahm er einen frischen Palmreiser,
brach ihn entzwei, und steckte ein Stück auf jedes der beiden
Gräber, indem er sagte: vielleicht wird ihnen Erleichterung
zu Theil, so lange die Reiser nicht vertrocknet sind'. 4
Dem frischen Zweige wird also eine gewisse, wohlthätige
Wirkung zugeschrieben.
Aber auch Zelte schlug man auf über den Gräbern, um
sie zu beschatten. Der spätere Islam missbilligte es, aber
trotzdem hat sich die Sitte bis jetzt erhalten. Im heidnischen
Cultus war überhaupt die Verehrung der Gräber so allgemein,
dass Mohammed sich bestimmt fand, so lange der Islam noch
1 De luctu 9.
2 Wellhausen, S. 161, 162. Im 'Al'ikd alfaryd wird erzählt, dass ein Mann
aus dem Stamme 'Abdolkais auf den Gräbern seiner Kinder Trank
spenden darbrachte. 'Ikd II, S. 64, Kitäb oljatymah (nasab Raby'ah
Ibn Nizär).
3 Bochäry: alganäiz : bäb olgarydi 'alälkabr.
4 Bochäry 1. 1. und auch bäbo ’adäb ilkabr.
60
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
keine reckten Wurzeln gefasst hatte, den Gräberbesuch ganz
zu untersagen, erst später gestattete er ihn. 1 Später gestaltete
sieb allmälig der Gräberbesuch und besonders der Besuch des
Prophetengrabes zu einer Art von religiösen Pflicht. 2 Eine
andere heidnische Sitte suchte Mohammed ganz zn unterdrücken,
indem er die Todtenklage, das Zerreissen der Kleider und
ähnliche leidenschaftliche Aeusserungen des Schmerzes als
heidnische Sitte streng verbot. 3
Aber die Widerstandskraft der menschlichen Natur und
die Macht der Gewohnheit waren stärker als sein Wort. Der
alte Brauch erhielt sich nahezu unverändert.
So ist ein gutes Stück alten Heidenthums herübergetragen
worden bis in unsere Zeiten.
Die wiederholten Verbote blieben gänzlich wirkungslos.
So verbot ein ägyptischer Statthalter (Mozäkim Ihn Chäkän
um das Jahr 253 H.) die Sitte hei Todesfällen und Leichen
begängnissen die Kleider zu zerreissen, das Gesicht zu schwär
zen und den Bart zu scheeren; 4 aber ohne besonderen Erfolg.
Man blieb dabei zum Zeichen des oft nicht einmal echten
Schmerzes, die Gewänder zu zerfetzen, und selbst Thüren und
Wände der Wohngemächer mit schwarzer Farbe zu be
schmieren, 5 ja man ging in der Unsitte sogar so weit, dass
man die sämmtliche Hauseinrichtung, Geschirr, Vasen u. s. w.
zertrümmerte und das Sterbehaus förmlich verwüstete. 6
Ein neuerer Reisender erzählt, dass in San'ä, in Jemen,
bei dem Tode des Hausherrn es üblich sei durch drei Tage
alle Teppiche, Strohmatten, Polster, Matrazen und sonstigen
Einrichtungsstücke seines Wohngemaclies umzustürzen. 7 Und
ganz dieselbe Sitte herrscht in Kairo. 3
Es liegt nahe diese Gebräuche in Verbindung zu setzen
mit der in vielen Ländern bestehenden Scheu vor der Seele
1 Mowatta’ II, 349. Cap. iddichar lohuni il-’adähy.
2 Ihjä II, 285; IV, 608. Sifa II, 86.
3 Bochäry: alganäiz.
4 Abulmahäsin Ibn Tagrybardy Annales ed. Juynboll I, S. 773.
5 Hamadäny: Rasä'il S. 569.
6 1001 Nacht ed. Habicht IV, S. 378. Kremer: Culturgesehichte II, 251.
1 Manzoni: Elyemen. Roma 1884, S. 214.
8 Lane: Manners and customs etc. II, S. 309, Cap. XV.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
61
oder dem Geiste des Verstorbenen. Man will nicht, dass sie
im Hause bleibe, denn ihr Ort ist bei der Ruhestätte des
Leichnams: desshalb werden die Fenster und Thüren geöffnet
(Deutschland, Siebenbürgen), man stürzt alle Töpfe um, damit
die Seele sich nicht darinnen verberge (Thüringen), man weht
die Seele mit Tüchern zum Fenster hinaus (Erzgebirge) u. s. w.
Aber auch das Zurückkehren ins Haus soll ihr abgeschnitten
werden: man kehrt und fegt hinter dem Sarge, wenn er
hinausgetragen wird (Nord- und Mitteldeutschland); oder man
schüttet Wasser aus hinter dem Sarge (Mark Brandenburg,
Ostpreussen, Franken, Thüringen, Oberpfalz, Baiern, Waldeck);
kein Stück der Wirthschaft bleibt ungerückt und ungefegt, es
wird gewissermassen das ganze Haus umgestürzt. 1
Trotz all dieser Uebereinstimmungen kann ich mich doch
nicht entschliessen dieselben mit den arabischen Trauerhräuchen
in Verbindung zu bringen. Die Aehnlichkeit ist allerdings
sehr gross, aber ein eigentlicher Seelencultus, eine höher aus
gebildete Manenverehrung, wie sie bei der arischen Völker
gruppe besteht und bei den Griechen und Römern am deut
lichsten hervortritt, lässt sich bei den Arabern und wie ich
glaube, bei den Semiten überhaupt nicht sicher nachweisen,
und aus diesem Grunde halte ich die Ausschreitungen in den
Trauerbezeugungen, namentlich das Umstürzen und Zerstören
der Hauseinrichtung, für spätere, vermuthlich mit dem zuneh
menden Luxus und der Verfeinerung des Lebens in den
arabischen Ländern, besonders in den grossen Städten ver
breitete Unsitte.
Lippert: Christenthum u. s. w., S. 386 ff.
VIII. Abhandlung: v. Kremer.
6 2
IV.
Allerlei Aberglauben.
Allgemein bei ganz verschiedenen Völkern verbreitet und
bis in die Gegenwart noch bestehend ' ist die Ansicht, dass
gewisse Menschen durch ihren Blick schaden können. Es ist
dies der böse Blick. Bei den Semiten bestand dieser Aber
glauben schon im Alterthume, obgleich erst in den talmudi-
schen Schriften davon ausdrücklich die Rede ist; bei Griechen
und Römern war er allbekannt. 1 Der Syrer Heliodor, in seinem
Romane ,Aethiopica‘ gibt sich die Mühe den bösen Blick durch
eine wissenschaftliche Theorie erklären zu wollen. Er thut
dies in ganz orientalischer Weise: ,Wenn Jemand das Schöne
mit Neid ansieht, meint er, so erfüllt er die Luft um sich mit
schädlicher Beschaffenheit und schleudert einen Gifthauch auf
jene, die sein Blick trifft, und derselbe dringe wegen seiner
Feinheit bis zu den Knochen und dem Marke 1 .
Diese Erklärung von der Wirkung des bösen Blickes ist
nicht gut zu begreifen, wenn man nicht die Theorie des Sehens
kennt, auf der sie beruht. Dieselbe muss sehr alt sein, ob
gleich ich nur einen arabischen Schriftsteller anführen kann,
welcher, wahrscheinlich nach den Schriften der griechischen
Naturforscher davon spricht. In seiner Abhandlung über die
Optik erklärt Ibn alhaitam das Sehen auf wissenschaftliche
Weise, fügt aber ausdrücklich hinzu, dass nach Ansicht der
früheren Mathematiker vom Auge der Sehstrahl ausgehe und
dadurch, dass er den Gegenstand trifft und gewissermassen
ihn beleuchtet, die Wahrnehmung vermittle. 2 Es ist dies ge
rade das Entgegengesetzte der naturwissenschaftlichen Theorie.
Aber gewiss hätte eine so irrige Ansicht nicht die im Alter
thum allein herrschende werden können, wenn nicht der im
Oriente weitverbreitete Glauben an den bösen Blick schon im
1 Plut. quaest. symp. V, 7. Plin. Hist. Hat. VII, 2; Gellius IX, 4, 8.
Vgl. Jahn: Ueber den Aberglauben des bösen Blickes; in den Berichten
•der Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 1855, S. 28 ff.
2 Vgl. Baarmann: Ibn alhaitam. Z. d. D. M. G. XXXVI, S. 195 ff. Be
sonders S. 213., Auch die indische Theorie des Sehens stimmt ganz
hiemit überein, wie mir Hofrath Bühler mittheilt.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
63
voraus eine unbefangene, auf den Tliatsaehen beruhende Er
kenntnis des wahren Sachverhaltes erschwert hätte. Man war
nämlich fest überzeugt, dass das Auge gewisser Leute eine
gewisse, geheimnisvolle Kraft besitze und hiedurch allen jenen
Gegenständen, die deren Blick anzogen und fesselten, Unheil
und Verderben bringe. Man war fest überzeugt, dass der
Gesichtsstrahl, der aus dem Auge auf einen solchen Gegen
stand schiesse, denselben zu vernichten im Stande sei. Es ist
dies die Fabel vom Basiliskenblick ins gewöhnliche Leben
übertragen.
So wird erzählt, dass besonders schöne Männer, wenn
sie die grossen Handelsmessen der Araber besuchten, nur mit
verhülltem Antlitze sich zeigten, weil sie besorgten, die Blicke
der Weiber auf sich zu ziehen und hiedurch geschädigt zu
werden. 1 Hingegen hatten Jene nichts zu besorgen, deren
Anblick abstossend wirkte oder die durch irgend ein Mittel
sich dagegen verwahrten, ja sogar absichtlich sich entstellten.
So heisst es in einem alten Gedichte: 2
Sie macht sich auf die Wange ein Tüpfelchen mit schwarzer Schminke
aus Furcht vor dem bösen Blick.
Aus demselben Grunde wird in Aegypten bei den Bauern
hochzeiten auf die Braut Salz gestreut und ihr Gesicht schwarz
und roth betupft. 3
Der Grund war immer derselbe: ,von dem bösen Blick
bleibt das unversehrt, was Widerwillen erregt, aber es schädigt
jene Gestalten, welche es zur Liebe reizen/ 4 Desshalb wurden
schöne Knaben eingesperrt gehalten und durften nicht früher
öffentlich sich zeigen, als bis ihnen der Bart wuchs. 3 Aus
demselben Grunde hängt man Kindern gerne Halsketten um,
die aus aneinander gereihten kleinen, weissen Muscheln (wada')
gemacht sind; ebenso schmückt man mit solchen Muscheln die
Kopfhalfter der Reitthiere, zum Schutze gegen den bösen Blick
nicht weniger als zum Schmucke. Ein alter Dichter nennt ein
1 Agäny VI, 33.
2 Von Abul'atäliijah, Agäny XIV, S. 57.
3 Kremer: Aegypten I, 59.
4 Ma'arry: Sakt alzand, Ausgabe von Kairo I, 36.
5 1001 Nacht, Lane II, 255. Geschichte des 'Aly Abulsämät.
64
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Götterbild ,das muschelbehängte' (dät ohvada'). 1 Dass dieser
Brauch ein sehr alter ist, scheint kaum zu bezweifeln, und
schon der Prophet soll gesagt haben: ,Wer eine Wada'muschel
sich anhängt, dem neigt Gott sich nicht zu 2 — man ta'allaka
wada'atan falä wada' alläho laho —. Den Kameelen pflegte
man auch aus demselben Grunde aus Sehnen oder Darmsaiten
geflochtene Halsringe anzulegen, was der Prophet als heid
nische Sitte verbot. 3 Und noch jetzt ist es allgemeine Sitte
in Syrien und Aegypten, den Pferden den Hauer eines Wild
schweines umzuhängen.
Als Schutzmittel gegen den Blick empfahl man die An
wendung von Amuleten, welche man um den Hals trug. 4 Aus
drücklich empfahl Mohammed gewisse Beschwörungsformeln. 5
In späterer Zeit galten für solche Fälle als besonders wirksam
gewisse Stücke des Korans (Sur. 109 und 112). 6
Verstärkte Wirkung gewinnt der böse Blick, je höher
die Begierde oder der Neid gesteigert wird, der in dem Blicke
seinen Ausdruck findet. Desshalb gilt die Regel, wenn die
Mahlzeit aufgetragen ist, die Diener, ebenso auch die Hunde
und Katzen, welche jeden Bissen mit gierigem Auge verfolgen,
aus dem Speisesaale zu entfernen, oder schon vorher sie ab
zufüttern, bis sie gesättigt sind. Man bezieht hierauf einen
Ausspruch des Propheten, der da lautet: ,Wer da isst, während
ein Geschöpf mit gierigen Augen zusieht, den wird ein Siech
thum treffen, gegen das es keine Arznei gibt.' 7
Enge zusammenhängend mit diesem Aberglauben ist der
von der unheilvollen, Unglück bedeutenden Natur ge
wisser Menschen: es ist dies gleichfalls eine alte volkstüm
liche Anschauung, die schon den Römern sehr geläufig war
und im Oriente, wie auch in Italien und anderen südeuropäi
schen Ländern, noch immer sehr verbreitet ist. Die Italiener
nennen einen solchen Menschen: jettatore d. i. Unglücks-
1 Tägol'arus sub voce: wd'.
2 1. 1.
3 Mowatta’ IV, 148: mä gä'a fy uaz' ilma'älik walgaras min al'onok.
4 Kämil des Mobarrad ed. Wright S. 329, 330.
6 Mowatta’ IV, 152.
6 Sakt alzand I, S. 37.
• 7 Matäli’ olbodur, Kairo 1300, II, S. 39, Cap. 30.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
65
menscli, Pechvogel. Wer mit ihm zusammentrißt oder nur
ihm begegnet, der kann sich darauf gefasst machen, dass ihm
in kürzester Frist etwas Widerwärtiges zustosse. Ein solcher
Mensch wird als ein unheilvoller bezeichnet. 1 Ein gutes Bei
spiel bietet der geschwätzige Barbier in der Geschichte der
1001 Nacht, der aus lauter Fürsorge für seinen Kunden den
selben von einer Unannehmlichkeit in die andere stürzt. 2 Einem
solchen Unglücksvogel zu begegnen, besonders des Morgens,
war ein sehr bedenkliches Anzeichen von nahem Unglück: so
erzählt ein Literat, dass ein Perserkönig, als er zur Jagd aus
zog, am Wege einen Mann von hässlichem und besonders ab-
stossendem Aeussern traf, und da er diese Begegnung als
schlechtes Vorzeichen ansah, in Zorn gerieth und mit einer
tüchtigen Tracht Prügel fortjagen liess. Aber die Jagd fiel
gegen alles Erwarten günstig aus. Auf dem Rückwege be
gegnete derselbe Mann wieder dem Könige und stellte ihn
nun zur Rede, wesshalb er ihn so schnöde behandelt habe.
Jener aber entgegnete: es sei einfach desshalb geschehen,
weil er nach allgemeinem Vorurtheil als Unglück bedeutend
es betrachtet habe, ihm am Morgen zu begegnen; denn dieser
Glaube sei ja eine bekannte Sache. 3
Auch die Begegnung am frühen Morgen mit einem häss
lichen alten Weibe, einem alten Eunuchen oder einem Ein
äugigen gilt für bedenklich. 4
Die Italiener haben ein Mittel, sich gegen eine solche
Influenza zu schützen: man schliesst nämlich die Hand und
streckt den Zeigefinger und den kleinen Finger gerade aus.
Das bricht, so glaubt man, den Zauber.
Schicksals winke und Vorzeichen sind derjenige
Gegenstand, der eine fast noch grössere Bedeutung im Volks
glauben beanspruchen kann. Auch reichen diese Ideen gegen
1 Mas’um. Vgl. Agäny XI, 160, Z. 9: auch altarabisch natyh, in der spii-
teren Sprache: manhus oder manhus olka'b.
2 1001 Nacht ed. Habicht II, S. 212.
3 Fäkihat olcholafä. Mosul, S. 357, Cap. 8.
4 So hält auch der Bergmann in Cornwallis es für unglücklich, wenn er
bei der Einfahrt in den Schacht ein altes Weib oder ein Kaninchen
sieht. Tylor I, 120. Einem Eunuchen begegnen galt auch bei den
Griechen als unglückliches Vorzeichen. Lucian XXXV. Enauch 6.
Sitzungsber. d. phil.-bist. CI. CXX. Bd. 8. Abh. 5
60
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
ferne Zeiten zurück, clie weit älter sind als der Islam. Denn
schon in der heidnischen Zeit galt der Vogelflug als Zeichen
von Glück oder Unglück ganz im Sinne des altrömischen Au-
guriums. Desshalb war der gewöhnliche Wunsch, den man
den Neuvermählten darbrachte: ,mit Heil und Kindersegen und
glücklichem Augurium (bilrafa’i walbanyn waltäi'r almahmud)';
so sagte man auch zu einem, dem man Erfolg wünschte: ,Ziehe
hin unter glücklichem Vogelzeichen' ('alaltair ilmaimun). 1
Man meinte die Zukunft aus den Bewegungen der Vögel
deuten zu können, ihr rascher Flug verkündete Glück und
Erfolg, der langsame das Gegentheil; 2 dann aber auch die
Richtung des Fluges, nach rechts oder links bedeutete Gutes
oder Schlechtes: daher das Wort Vogel (tair) selbst in über
tragener Bedeutung für Glück oder Unglück gebraucht wird. 3
Auch der Schrei der Vögel galt als wichtig, das Krächzen
des Raben verkündete nahes Unheil, 4 auch seine Bewegungen
hatten ihren verborgenen Sinn: wenn ein Rabe die Erde aus
scharrte, so sah man hierin ein höchst ernstes Zeichen. 5
Je allgemeiner im Heidenthum dieser Glauben an Zeichen
war, desto entschiedener sprach sich der Stifter des Islams
gegen die Augurien aus und verdammte sie als heidnische
Sitte. Aber der alte Aberglauben bestand dennoch fort. Als
Aly am Morgen des Tages, an dem er die Todeswunde erhielt,
das Haus verliess, schrieen ihm die Enten entgegen und hörten
nicht auf, so dass man sie fortjagen musste. Man betrachtete
dies als ein Unglücksomen. 6
Nicht blos die Vogelzeichen, auch die Bewegungen
anderer Thiere galten als Schicksalswinke. Gazellen, die von
links nach rechts laufen, gelten als ein böses Omen. 7 Für un-
1 Agäny XVII, S. 53, Z. 9. Das Wort tfü'r, Vogel, kommt in übertragenem
Sinne im Koran vor in der Bedeutung von: Schicksalsloos, Bestimmung.
Koran 7, 138—17, 14, — 27, 48—36, 18.
2 KA.mil des Mobarrad, S. 181, Z. 11.
3 Tag al'arus s. v.
4 Agäny XI, S. 45; Hamäsah, S. 103; Culturgesch.il, 252.
5 Agäny VIII, S. 41. Die Kunst, solche Auspicien zu deuten, hiess Zagr
und der Stamm Lihb erfreute sich hierin eines grossen Rufes.
6 Ibn Atyr III, S. 326.
7 Agäny VIII, S. 41, Ma^oudi: III, 341.
Studien zur vergleichenden Cultnrgeschichte.
67
glücklich hielt man es, wenn ein Vogel, eine Gazelle oder ein
anderes Wild gerade entgegen kam (nätib, nätyh, 'ätis, käbih,
vgl. Lexica). Ebenso galt es für bedeutungsvoll, ob das Wild
einem die rechte oder linke Seite zukehrte (sänih, bärih) oder
ob es von rückwärts herankam (ka'yd): also wie der deutsche
Ausdruck lautet: der Angang desThieres war das Entscheidende.
Schon im griechischen Alterthum finden wir ganz über
einstimmende Ideen:
Während er also sprach, da flog ihm ein Habicht zur Hechten.
Odyss. XV, 524.
.... Und dennoch flogen im Weggeh’n glückliche Vögel
Ihm rechtsher ....
Odyss. XXIV, 311.
.... doch ihnen erschien von der Linken ein Vogel.
Odyss. XX, 242.
Jedenfalls war der Vogelflug stets das Massgebende und
Hauptsächliche, denn für alle ähnliche Zeichendeutung, sei es
nun aus dem Vogelfluge, sei es aus den Bewegungen anderer
Thiere, gilt derselbe Ausdruck: augurium (arabisch: tijarah),
ganz so wie auch im Lateinischen das Wort nicht blos von
dem Vogelflug, sondern auch von anderen als Schicksalswinke
angesehenen Thiererscheinungen angewendet wird. So be
trachtet es Plautus als ein besonders günstiges Zeichen (au-
spicium), dass er beim Verlassen des Hauses ein Wiesel sah,
welches eine Maus mit Ausnahme der Beine fortschleppte. 1
Zweifellos ist es jedoch, dass der Glauben an die Be
deutung der Vogelzeichen der ältere und verbreitetere ist. 2
Denn wir treffen ihn bei den verschiedensten Völkern, bei den
Maori (Australien: Eule, unglücklich; Habicht, glücklich), ebenso
bei den Kalmücken, bei den Alt-Calabar-Negern (Königsreiher)
u. s. w. Ebenso gilt bei vielen Völkern dieselbe Ansicht wie
bei den Arabern, dass die Richtung des Vogelfluges das Ent
scheidende sei; fliegt er rechts vorbei, so ist das Zeichen gut,
1 Plautus: Stich. III, 2, 6.
2 Eine sehr vollständige Zusammenstellung der Augurien in allen Welt-
theilen — denn fast bei allen wilden Völkern sind sie nachweisbar —
gibt das Buch: Thierorakel und Orakel thiere in alter und neuer Zeit,
von Dr. L. Hopf. Stuttgart, 18SS.
5*
68
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
wenn links, so gilt es bei den meisten Völkern als böse. 1 Die
linke Seite ist überhaupt bei den Morgenländern unglücklich
im Gegensätze zur rechten. Mit dem linken Fuss zuerst auf
stehen gilt als unglückliches Omen, bei den Arabern geradeso
wie noch jetzt bei uns und ebenso das Anziehen des Schuhes
zuerst auf den linken Fuss. 2 Es ist daher die Hegel, dass man
die Schwelle der Moschee stets mit dem rechten Fusse voran
zu überschreiten habe. 3
Ein anderes sehr allgemein verbreitetes Mittel, die Be
schlüsse des Geschickes im Voraus und sicherer zu erfahren,
als dies durch das Verständniss und die Auslegung der Au-
gurien geschehen konnte, glaubte man in den Loosen und
den Loosorakeln zu finden.
Ob dieses Loosen echt arabische Sitte oder eine fremde
Entlehnung sei, lässt sich nicht entscheiden. Schon im zoroa-
strischen Gesetze war es in gewissen Fällen gestattet. 4 Bei
den alten Hebräern war es ebenso gebräuchlich wie bei den
Griechen und Römern, ja auch bei den alten Germanen
(Tacitus, Germ. 10).
. Die Araber bedienten sich hiebei der Pfeile, die aus
einem Köcher gezogen wurden, deren jeder seine bestimmte
Bedeutung hatte. Dieses Loosorakel hatte, wie es scheint,
einen gewissen heiligen Charakter, denn man befrag die Loose
in der Kaaba und wohl auch in anderen Tempeln. Hievon
machte man Gebrauch bei Entscheidung über Krieg und
Frieden, bei Beutevertheilung und sonstigen schwierigen Fällen
oder Streitigkeiten. 5 Später ward dieses Loosen zu einer Art
Gesellschaftsspiel, indem man über die Vertheilung eines Ka-
1 Tylor: Anfänge der Cultur I, 120, 121.
2 Meine Culturgeschiehte II, 256. Vgl. Ihjä’ IV, 117; Byruny: Chronologie
S. 219, Z. 4; Tylor I, 85; Wuttke, S. 131 (204).
3 Schon bei den Griechen herrschte dasselbe Vorurtheil hinsichtlich der
unglücklichen Bedeutung der linken Seite. Bei Artemidor, Oneiro-
critica III, 24 heisst es: Im Traume die Kleider von links oder sonst
auf eine ungewöhnliche Weise Umwerfen, bedeutet, dass man Spott
und Hohn zu erwarten habe. Hann 25: Linksläufig schreiben bedeutet
(im Traume), dass man etwas Verschmitztes thut.
4 The book of Arda-Viraf ed. Haug, S. 148, 149.
5 Freitag: Einleitung in das Studium der arabischen Sprache, S. 154, 170.
Wellhausen: Beste u. s. w., S. 127.
Studien zur vergl eichen den Culturgeschiclite.
69
meeles spielte, oder, besonders in Zeiten von Hungersnotb,
Kameele verlooste, die der verlierende Theil an die Armen zu
vergeben hatte. 1 Im Koran (Sur. II, 216) wird es ausdrücklich
als heidnische Sitte verboten mit den Worten: ,Sie befragen
dich über den Wein und das Loosspiel. Sprich: In beiden ist
ein grosser Frevel und auch ein Vortheil für das Volk, aber
ihr Frevel ist grösser als der Nutzen.'
Für andere alte Gewohnheiten war der Prophet nach
sichtiger. So gestattet er ausdrücklich die Beachtung der mit
dem Namen fa’l bezeichneten Omina, und er selbst hielt
darauf. 2 Manche verstehen unter der Bezeichnung fa’l ein
günstiges, glückliches Omen im Gegensätze zu dem unglück
lichen: tijarah. Da dieses Wort der Ausdruck für das alt
arabische Augurium aus dem Vogelfluge ist, während das
Wort fa’l eher den Eindruck eines Fremdwortes macht, so
dürfte dieses als eine jüngere Idee, vielleicht von den Fremden
entlehnt, anzusehen sein. 3 Dafür spricht auch die Unbestimmt
heit des Sinnes dieses Wortes, das zwar gewöhnlich ein
günstiges, aber auch manchmal ein ungünstiges Omen bedeutet.
Im Allgemeinen kann man sagen, dass mit dem Worte fa’l die
Schlussfolgerung bezeichnet wird, die jemand aus einer ganz
zufälligen, oft ganz unwichtigen, aber mit seinem Gedanken
gang in einem gewissen inneren Zusammenhänge stehenden
Erscheinung zieht. Ein Kranker hört auf der Strasse einen,
der sälim (incolumis) ruft. Nun ist salim ein sehr gewöhnlicher
Eigenname, aber da die Bedeutung zugleich: heil, unversehrt
ist, so sieht der Kranke hierin ein fa'l für seine baldige
Genesung.
Mit dem Laufe der Zeit brachte man ein gewisses System
in diese abergläubischen Ideen und verschaffte sich solche
Zukunftswinke, sobald man sie nur wünschte. Der Koran ward
nun als Orakelbuch benützt, indem man, wenn es galt, einen
wichtigeren Entschluss zu fassen, das Buch auf Gerade wohl
1 Landberg: Primeurs arabes I, S. 29.
2 Ibn Hisäm, S. 559.
3 Im Koran kommt das Wort nicht vor. Auch Gauhary weiss liiefür
keinen Vers eines alten Dichters, sondern nur solcher nach dem Islam an
zuführen. Das äthiopische fäle ist offenbar entlehnt aus dem Arabischen.
70
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
aufschlug und den nächstbesten Vers, den das Auge traf, las;
sein Inhalt galt dann als entscheidend für oder gegen (tafä’ul). 1
Diese Art, das Schicksal zu befragen, ist noch jetzt in
mohammedanischen Ländern sehr üblich und man hat dafür
einen eigenen Ausdruck (isticharah).
Schliesslich ist noch besonders der Träume zu gedenken,
in denen man mehr als in allen anderen den Wink und das
Walten höherer Mächte zu erkennen vermeinte. Wie alle
anderen alten Völker, so legten auch die Araber den Er
scheinungen, die im Schlafe sich einstellen, eine besonders
hohe Bedeutung bei. Wenn man ein Orakel von einer Gott
heit holen wollte, so pflegte man im Tempel zu schlafen und
im Traume offenbarte sich der Rathschlag der Gottheit; gerade
so wie bei den griechischen Orakelstätten in Asklepios zu
Epidauros, des Kalchas und Podaleirios in Apulien am Vor
gebirge Garganus und so auch an anderen Orten. Man pflegte
sich in diesen Heiligthümern auf dem Felle des Opferthieres
zum Schlafe niederzulegen und erwartete so die Heilung vom
Siechthum oder die Erleuchtung durch einen Traum.
Bei den Arabern finden wir eine ganz ähnliche Sitte,
denn in der südarabischen Höhle Haue} Kowwir, offenbar
einer alten Cultstätte, musste man zuerst eine schwarze Ziege
schlachten, sich mit den Eingeweiden und dem Blute be
schmieren und dann in das Fell gewickelt zum Schlafe nieder
legen, nachdem man vorher den Wunsch, welchen man hegte,
im Geiste festgestellt hatte. 2
Solche heidnische Dinge vertrug der Islam nicht für die
Länge und suchte sie zu verdrängen, was in der That zum
grossen Theile gelang, wenn auch Reste des alten Aberglaubens
noch nachzuweisen sind. 3 Dass früher aber solche Bräuche in
verschiedenen Orten herrschten, ist nicht zu bezweifeln. Doch
hinderte auch die neue Religion es nicht, dass man den
Träumen eine sehr grosse Bedeutung zuschrieb. Die ersten
prophetischen Erleuchtungen des Propheten von Mekka sollen
1 Vgl. Gorar alchasäi's u. s. w. S. 63, Cap. II, Abschnitt 2.
2 Culturgeschichte II, S. 263; Jäkut II, 357.
3 Vgl. III, S. 60.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
71
im Traume ihm zu Theil geworden sein. Desshalb that er
auch den Ausspruch: .Der Traum ist der vierzigste Theil der
Prophetie/ 1 Träume kommen von Gott, war die allgemeine
Ansicht, 2 wie Homer sie von Zeus (Ilias I, v. 64) entstammen
lässt. Nur machten die Araber hiezu den Vorbehalt, dass
schlechte, wollüstige Träume (hohn) vom Satan hervorgerufen
werden. In solchem Falle war es Regel für jeden Mohamme
daner, auf die linke Seite auszuspucken und mit einem
frommen Spruche an Gott sich zu wenden, 3 oder dreimal
links zu hauchen, um die Dämonen zu verscheuchen. 4
Wie aber im Traume jene Gedanken sich gewöhnlich
einstellen, mit denen man sich im wachen Zustande befasst,
so war es auch äusserst häufig, dass der Prophet frommen
Leuten im Traume erschien, und solchen Träumen schrieb man,
wie leicht begreiflich, eine besondere Wichtigkeit zu und
hütete sich, daran zu zweifeln. 5
Ueberhaupt entfernte man sich durchaus nicht von der
antiken Auffassung der Träume als Aeusserungen höherer
Mächte.
Im Heidenthum mag die geschäftsmässige Traumdeutung
besonders von den Käliins, den Priestern der verschiedenen
Götter, geübt worden sein; Mohammed trat hierin ganz in ihre
Fussstapfen und pflegte gern die Träume seiner Freunde und
Anhänger zu erklären. Sein Verfahren hiebei war, soweit wir
es beurtheilen können, von kindlicher Einfachheit im Vergleich
zu den späteren manchmal äusserst spitzfindigen und ge
künstelten Erklärungen. So träumte er einmal, dass ihm eine
Schale Milch gereicht worden sei, und als er sie austrank,
fühlte er sich erfrischt wie nie zuvor. Diesen Traum deutete
er folgendermassen: die Milch, welche er zu sich nahm und
die ihn mit einem solchen Gefühl des Behagens erfüllt habe,
sei die Erkenntniss ('ihn). 6 Ein anderes Mal schien es ihm im
Schlafe, als würden die Menschen ihm vorgeführt und sie
1 Bochäry: bäb olta'byr.
2 1. 1. bäb olru’jä min alläh.
3 1. 1. bäb olrü’jä’ ilsälihoh.
4 1.1. bäbo man rä’alnabijja.
5 1. 1.
G Bochäry: bäb olta'byr: Cap. bäb ollaban, Cap. bäb olkadah fylnaum.
72
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
waren in Hemden gekleidet, die den Einen bis zu den Brust
warzen reichten, den Andern nicht einmal so weit; dann aber
kam 'Omar vorbei und sein Hemd war so lang, dass er es
nachschleppte. Er deutete den Traum so, dass er sagte, das
Hemd'sei die Frömmigkeit (dyn). 1 Die Fussfessel im Traume
deutete er als die Standhaftigkeit und Ausdauer. 2 Zwei goldene
Armketten, die ihm angelegt werden, welche aber verschwinden,
sobald er sie anhaucht, bezog er auf die Erscheinung zweier
ihm Concurrenz machender Gegenpropheten ('Anisy und Mo-
seilimah). 3 Ein schwarzes Weib mit zerzaustem Haar, das aus
Medyna nach dem Dorfe Mahja'ah geht, erklärte er für die
Seuche, welche Medyna verlässt, um in jenem Orte aufzutreten. 4
Mit solcher Traumauslegung beschäftigte sich Mohammed
gern, und er pflegte nach dem gemeinsamen Morgengebete
seine Freunde zu fragen, was sie geträumt hätten, und liess
sie ihre Träume erzählen. 5
Im vollen Gegensätze zu dieser bildlichen und symbo
lischen Auffassung der Träume steht eine andere, nicht lange
nachher zur Geltung gelangte Auslegung, deren Grundsatz der
ist: dass der Traum durch das Gegentheil dessen, was man
sieht, zu erklären sei, dass also gerade das Gegentheil des
Geträumten der Wirklichkeit entspreche. Diesem Gedanken
gibt der Dichter Ausdruck, indem er sagt: ,Vielleicht ist die
Welt nichts anderes als ein Traum, der durch das Gegentheil
dessen, was wir empfinden, zu erklären ist/ 6
Ueberraschend ist es, eine so gekünstelte Auslegung wie
diese auch bei verschiedenen wilden Stämmen zu finden, so bei
den Kamtschadalen, den Sulu und anderen niederen Rassen, nicht
minder aber auch in den europäischen Traumbüchern. 7 Bei
uns in Oesterreich, wo Traumbücher bei der noch immer un
genügend gebildeten und zum Theile sogar noch im mittelalter
lichen Aberglauben gefangen gehaltenen Landbevölkerung sehr
1 Bochäry: Cap. alkamys fylmanam.
2 1. 1. Cap. alkaid fylmanam.
3 I. 1. Cap. idä tär alsai’ fylmanam; alnafch fylmanam.
4 1. 1. Cap. almar’at-olsaudä 1 .
5 1. 1. Cap. ta'byr olru’jä ba'd salat ilsobh.
c Abul'alä’ Ma'arry: Lozum. Reim: baro.
7 Tylor: Anfänge der Cultur I, 121 ff.
Studien zur vergleichenden Culturgeschiclite.
73
verbreitet sind, pflegt man noch immer dieselbe Methode der
Deutung der Träume a contrario zur Anwendung zu bringen.
So glaubt man, das Abbrennen des Hauses im Traume bedeute
Glück, Weinen im Traume zeige auf Freude u. dgl. m.
Es wäre ein vergebliches Bemühen, alle diese Wider
sprüche aufklären und die Arbeit des menschlichen Geistes
in all die venvickelten Irrgänge des Aberglaubens verfolgen
zu wollen, um den ursprünglichen Grund dieser Albernheiten
zu erforschen. Bei den Arabern können wir nur eines mit
Sicherheit nachweisen: nämlich, dass die symbolische Erklärung
die ursprüngliche ist und dass jene a contrario die spätere,
wahrscheinlich fremdländische ist. Es scheint, dass die Schrift
des Artemidoros über die Träume, mit welcher die Araber
durch Uebersetzungen bekannt wurden, hiefür die Quelle ist.
Auch persische Traumbücher mögen mitgeholfen haben; wenig
stens das Buch des Persers Gämäsp über die Traumdeutung
scheint fast ebenso grosses Ansehen genossen zu haben wie
die Schrift des Artemidoros, 1 von welcher wir arabische Aus
züge daraus finden, die mit dem griechischen Texte sehr gut
übereinstimmen. 2
All diese verschiedenen Zeichen zu deuten, besonders
jene, deren Yerständniss schwieriger war, wie dies bei Träumen
oft der Pall sein musste, war Aufgabe erfahrener Männer.
Diese mussten wohl zunächst in jener Classe gefunden werden,
die für besonders berufen galt, die Zukunft zu erforschen, sei
es, dass sie sich durch näheren Verkehr mit den Göttern aus
zeichnete, sei es durch grössere Erfahrung in den überirdischen
Dingen. Hiezu waren also an erster Stelle die Kähins, die
Priester der verschiedenen Götter, berufen. Der arabische
Kähin ist das Urbild des späteren hebräischen Koben. 3 In der
1 Vgl. Filirist ed. Flügel S. 25:>. Vgl. Z. d. D. 7ü. Ge«. XVII, S. 227: über
die Literatur der Oneirokritik.
2 So bei Damyry (Hajat olhaiwän, Artikel: chöffas): der arabische Text
lautet: (Die Fledermaus) .... Artemidoros sagt: sieht man sie im
Traume, so bedeutet das Stillstand der Geschäfte u. s. w. Vgl. Artem. III,
45. Ebenso stimmen Artem. III, 11 und Dam. II, 423, Artikel: horr, dann
Dam. II, 100, Artikel: täwus, und Artem. IV, 56, dann Artem. II, 20
und Dam. I, 261, Artikel: hida’ah.
3 Die beiden Wörter sind identisch und ursprünglich bedeuteten sie gewiss
auch dasselbe: den Fetischmann, Geisterbeschwörer und Wahrsager.
74
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
ältesten, vorgeschichtlichen Zeit, wo Araber und Hebräer noch
in derselben Uncultur lebten, wo ihre religiösen Hebungen in
der Verehrung gottbeseelter Steine, heiliger Bäume bestand,
wo sie Menschenopfer brachten und das Blut auf die heiligen
Steine gossen, waren die Kähins gewiss bei den Einen und
bei den Andern nur Wärter der heiligen Stellen, sie mögen
die Opferceremonien geleitet, die Orakelsprechung vermittelt,
Schicksalswinke und Zeichen gedeutet, die Weihgeschenke
entgegengenommen und behütet, auch Streitigkeiten geschlichtet
und bei Eidesschwüren oder Bündnissen die Vermittler gemacht
haben. Dass sie bei Heiraten die priesterliche Weihe ertheilt
hätten, ist gänzlich ausgeschlossen, denn hiebei war im arabi
schen Alterthum keine religiöse oder priesterliche Mitwirkung
üblich. 1 Aber die Stämme Israels traten bald in eine höhere
Culturepoche ein; die Berührung mit den höher gebildeten
Nachbarvölkern, mit den Aegyptern vorerst, dann mit den
Syrern und Babyloniern, rissen sie aus der alten Rohheit des
Nomadenlebens und förderten eine selbstständige nationale
Cultur. Hiemit gestaltete sich auch der alte Kali in zum Priester
um und es entstand ein förmlicher Priesterstand, der bald die
herrschende Classe war, die Führung des Volkes übernahm
und schliesslich eine Theokratie gründete, die den Staat ins
Verderben stürzte. Bei den Arabern aber blieb alles unver
ändert, der alte Cult der heiligen Steine bestand fort und
auch die Kähins blieben, was sie von Anfang gewesen, sie
waren: Wahrsager und Orakelpriester.
Im Laufe der Zeiten ward aus dem alten Fetischmann
ein berufsmässiger Prophet. Die von Vater auf Sohn über
tragenen Erfahrungen, die hiedurch gewonnene geschäftsmässige
Fertigkeit im Rechtsprechen, im Wahrsagen, im Zeichendeuten
und Traumauslegen verschaffte Einzelnen grösseren Ruf zuerst
unter den zunächstwohnenden, allmälig auch bei entfernteren
Stämmen. Immer aber ist das Bild des altarabischen Kähin,
wie es in den alten Sagen gegeben wird, ungleich wilder, archai
stischer geformt als das des hebräischen Kfdien, des geschulten
Tempelpriesters.
1 Wellhausen, S. 155, behauptet ohne genügende Beweise das Gegentheil.
Vgl. Agäny XIX, 121. (Heirat ohne priesterliche Weihe.)
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
75
An Orakelstätten, wo der Kähin nickt blos als Dolmetsch
der Gottheit waltete, sondern zugleich Recht sprach und
Streitigkeiten schlichtete, fehlte es nicht. Eine Anzahl Stämme
werden genannt, die solche hatten. Dass die Priester dabei
ihre Taxen und Sporteln einhoben, ist zweifellos. Darauf zielt
auch wohl das alte Sprichwort: ,Was der Dieb übergelassen,
das nahm der Wahrsager/ 1
Bevor wir hier weiterschreiten, müssen wir einer Classe
von Tempeldienern gedenken, die man bisher als die eigent
lichen Priester ansah, was zu dem Irrthume führte, dass man
den Kähin nicht als Priester, sondern nur als Seher gelten
lassen wollte. 2 Es ist das Wort sädin, das die Person, und
sidänah, welches das Amt bezeichnet. Beide stehen immer in
Beziehung mit einem Tempel oder einer heiligen Stätte. Nach
den ältesten Lexikographen ist der sädin eines Tempels der
jenige, welcher die Aufgabe hat, den Eintritt zu gestatten oder
zu verwehren, ' der den Tempel bewacht oder behütet und
nicht blos den Tempel, sondern auch irgend eine andere heilige
Stelle. So ist schon früher gesagt worden, 3 dass das heilige
Feuer (när alhulah) seine eigenen Sädins hatte. Dieses Amt,
die sidänah, war in gewissen Geschlechtern erblich, dieselben
galten als Eigenthümer des Heiligthums, meist sind es adelige,
hochangesehene Leute aus dem vornehmsten Theile des Stammes,
Nachkommen des Stifters, welche dieses Ehrenamt bekleiden. 4
Sie sind aber nicht Priester, sondern Schirmvögte, Schutzpatrone
des Heiligthums. Am deutlichsten zeigt sich dies in dem Bericht
des Ibn alkalby 5 über das Heiligthum des Tajji-Stammes, wo
1 Meid. II, S. 727.
5 Wellh., S. 132.
3 Abhandlung I.
4 Wellh., S. 129. So ist der Stammvater des Geschlechtes der Sädins des
Idoles Wadd zugleich der Stifter des Tempels und führt davon den be
zeichnenden Namen: 'Amir olagdär, d. i. der Mauererbauer*, so ist der
Stammvater der Sädins des Idoles Fals ein Mann Namens Baulän und
von demselben wird ausdrücklich berichtet, dass er der Erste war, der
diesen Cult begründete. Vgl. Wüstenfeld: liegister S. 265, 66; Jäkut: III,
612, Z. 15.
5 Der gewiss eine seiner verlässlichsten Erzählungen ist, denn Kalby stützt
sich hier auf die Berichte der ,alten Herren 4 des Tajji’-Stammes und Fals
war dessen Nationalheiligthum. Vgl. Agäny XIX, 127.
76
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
der Sadin, d. i. der Schirmvogt die Rechte des Tempels ver-
theidigt, nicht der Priester.' Deshalb nennt auch ein alter
Dichter, von der Kaaba sprechend, dieselbe ,die wohlbeschirmte
(mosaddanah)h 2 Und in der That, diesem Tempel fehlte es
nicht an Schirmvögten. Das edle Geschlecht, das, nach seinen
Urahnen, den Namen 'Abd aldär, d. i. Diener des Tempels'
führte, hatte seit unvordenklichen Zeiten das Recht der Sidanah
oder Hi gab ah des heiligen Hauses, in ihrem Besitze befand
sich der Schlüssel und die Nachkommen desselben Geschlechtes
üben bis zum heutigen Tage dasselbe Recht aus. Von keinem
der Mitglieder wird je berichtet, dass eine priesterliche Würde
hiemit verbunden war, aber wohl waren sie alle Schirmvögte,
Schutzherren des mekkanischen Heiligthums nach altererbtem
Rechte, das auch Mohammed anerkannte. 3
Das soeben Gesagte genügt, um den Unterschied zwischen
den Priestern (kahin) und den Schirmvögten (sadin) deutlich
zu machen.
Aber nicht blos Kähins, deren Weisheit und Wahrsage
kunst in hohem Ansehen stand, gab es, sondern auch Priesterinnen
(kähinah), welchen oft nicht geringere Ehrfurcht gezollt wurde.
Die Wahrsagerin Zarka’ von der Landschaft Jamämah. warnte
ihr Volk drei Tage vorher vor dem Anmarsch des feindlichen
Heeres; 4 eine andere Zarkä', Tochter des Zohair, war die
Wahrsagerin der Ko<ja'ah-Stämme; 5 Saudä’, Tochter des Zohrah
Ibn Kilab, war die Kähinah der Koraishiten. 6
1 Wellh., S. 48, übersetzt natürlich sadin mit Priester und verwischt hie
durch den Sinn.
2 Hamäsah, S. 646, Z. 4 v. u.
3 Ibn Kotaibah K. alma'ärif S. 24. Vgl. hiezu Ibn Ilisäm S. 80, woraus man
sieht, dass mit dem Patronat auch das Recht eine Fahne zu führen,
verbunden war: ein deutliches Zeichen, dass der Patron verpflichtet war,
auch mit den Waffen die Rechte des Heiligthums zu vertreten. Im
Tkd olfaryd II, S. 45 (Kitäb oljatymali) findet sich ein langes Citat aus
Ibn olkalby, woraus Folgendes hervorgehoben zu werden verdient: die
Nachkommen des 'Abdoldär hatten das Recht, die Fahne (des Tempels)
zu führen, dann kam ihnen die Sidanah (das Patronat) und die Higäbah
(die Tempelhut) zu. Auch das Rathhaus (dar alnadwah) soll in der Ob
hut derselben Familie gewesen sein.
4 Meid. Prov. Ar. ed. Frey tag I, S. 192.
5 Agäny XI, 161.
0 Damyry: II, 432, Artikel warkä’, nach Sohaily.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
77
Eine charakteristische Eigentümlichkeit dieser Seher
und Seherinnen ist es, dass sie, bevor der prophetische Geist
ihnen die Zunge löste, in einen ekstatischen Zustand gerieten
(Takahhana kähinohom, Aghäny VIII, 66) 1 und dann ihre
Aussprüche in gereimter Prosa und in gewählter, rätselhafter
Rede verkündeten. Dieser eigentümliche, prophetische Styl
war so allgemein bekannt, dass die Ivoraishiten, als Mohammed
seinen Koran stückweise zu verkündigen begann, sofort ihn
einen Kähin nannten, denn er hatte seine Verzückungen und
seine gereimte Rede war ganz im Style der altarabischen
Wahrsager. 2 Uebrigens war der Glauben an Wahrsager, Seher
und Zauberer so allgemein und so unerschütterlich, dass Mo
hammed selbst nicht daran zweifelte. Nach mehreren überein
stimmenden Berichten that er folgenden Ausspruch: ,Die Wahr
sager sind nichts wert (laisu bisai’in).' Aber als man ent-
gegnete, dass sie doch manchmal auch die Wahrheit sprächen,
sagte er: ,Ein solches Wort der Whhrheit erhalten sie von
ihrem (dienstbaren) Dämon; aber hiemit vermengen sie hundert
Lügen.' 3
Er glaubte selbst an Wahrsagung und Sehergabe. Das
zeigt sich sehr deutlich in seinem Verhalten gegenüber einem
von ekstatischen Anfällen heimgesuchten, ungefähr zwölf Jahre
alten Judenknaben, namens Ibn Sajjäd. Er sucht ihn auf, lässt
sich in ein Gespräch mit ihm ein, vermeidet es, ihm zu
widersprechen, und befragt ihn über die Art seiner Visionen.
Ein anderes Mal, als der Knabe gerade in solchem Zustande
sich befindet, schleicht er, hinter den Stämmen der Palmen
sich versteckend, heran, um etwas von des Knaben Worten
zu vernehmen, bevor dieser ihn gesehen habe. Und als dessen
Mutter ihn weckt und der Knabe zu sprechen aufhört, macht
ihr Mohammed Vorwürfe darüber, dass sie ihm die Gelegenheit
genommen habe, der Rede des Knaben zu lauschen. 4
1 Wellh., S. 131 hat diesen Ausdruck nicht gut verstanden.
2 Sprenger: Das Leben Mob. II, 89.
3 Bocliäry: kitäb ola’dab. Cap. kaul olragol: laisa bisai’, dann: vorletztes
Capitel des kitäb oltanhyd.
4 Sprenger: 1. 1. III, S. 31. ßoekäry: kitäb ola’dab: Cap. kaul olragoli
lilragoli-clisa’.
78
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Der alte heidnische Glauben an die Gabe der Wahr
sagung bestand also so kräftig fort, dass der Stifter der neuen
Religion es nicht über sich brachte, dagegen aufzutreten, ob
gleich er in dem nervenkranken Judenknaben einen Concur-
renten erkannt haben mochte.
Niesen und Gähnen. Zu jenen Zeichen, von denen
man den Schluss auf bevorstehendes Glück oder Unglück
ziehen zu können glaubte, rechnete man auch das Niesen
und Gähnen.
Es gehört zu den grössten Seltsamkeiten, welche die ver
gleichende Culturgeschichte verzeichnet, dass der mit dem
Niesen und Gähnen verbundene Aberglauben eine so allge
meine Verbreitung hat. Wir finden ihn bei den Sulu, in
Guinea, in Alt-Calabar in Afrika, dann bei den polynesischen
Stämmen (Neuseeland, Samoa, Tonga-Inseln), bei den Indianern
Floridas; ja auch bei den Griechen, die, wie Aristoteles sagt,
das Niesen als etwas Gottgesandtes betrachteten. In der
Odyssee XVII, 541 heisst es:
Sprach’s und Telemachos nieste mit Macht, dass rings vom Getöse
Furchtbar hallte das Haus. Da lächelte Penelopeia,
Wandte sich flugs zu Eumaeos und sprach die geflügelten Worte:
Gehe mir schnell und rufe den Fremdling, dass er hieher kommt;
Hörtest du, wie mein Sohn zu jeglichem Worte geniest hat?
Xenophon hält eine Ansprache an das Heer, um dem
selben neuen Muth einzuflössen. Da niest Einer und die Sol
daten, dies hörend, verehrten die Gottheit. 1
Dieselbe Idee herrscht bei den Römern und sogar der
schreckliche Tiberius verabsäumt nicht, wenn jemand nieste,
,zur Genesung^ zu sagen. Dasselbe gilt bei den Hindus, den
Israeliten, den alten Deutschen, den Franzosen, Engländern,
Spaniern und Italienern. 2 Wir finden dieselbe Gewohnheit im
modernen Aegypten, 3 ebenso wie auch bei den alten Arabern.
Vom Propheten wird erzählt, dass er gesagt habe: ,Gott liebt
1 Anab. III. 2, 8. Auch bei den Persern galt das Niesen als etwas Wich
tiges und pflegte man dabei ein Gebet zu sprechen. Spiegel: Eranische
Alterthumskunde III, 691.
2 Tylor: I, 100 fl:., wtf man die Quellen nachsehe.
3 Lane: Manners and customs I, 282.
Studien zui vergleichenden Culturgeschichte.
79
das Niesen und missbilligt das Gähnen.' Es galt durchaus als
Regel der guten Sitte, zum Niesen Glück zu wünschen. 1
Das Gähnen aber kommt vom Teufel, und desshalb soll
man nach Möglichkeit es unterdrücken; denn wenn einer im
Gähnen hu! macht, so lacht der Satan. 2 Die Regel ist, dass
man beim Niesen Gottlob sagt, und wenn ein anderer niest
ihm antwortet mit: Gott erbarme sich deiner!
Für das Gähnen lautet die Vorschrift: wenn man gähnt,
so bedecke man den Mund mit der Iland. Der Prophet soll
gesagt haben: kommt einem des Gähnen, so suche er es zu
unterdrücken. 3
Wenn man die grosse Verbreitung dieser Sitte beachtet,
und zwar bei Völkern, unter denen von einer wechselseitigen
Entlehnung nicht die Rede sein kann, so kommt man zu dem
Schlüsse, dass dieselbe Gewohnheit aus denselben uralten aber
gläubischen Vorurtheilen entsprungen sind, die bei den primi
tiven Menschen aus den. gleichen Gedanken hervorgehen
mussten. Das Niesen wie das Gähnen sind unwillkürliche
Acte, und diese Wahrnehmung mochte zu der Ansicht führen,
es seien dies Aeusserungen des im Körper wohnenden Geistes,
des Lebensprincipes, der Seele. Nun haben wir aber früher
gesehen, wie selbstständig die Urmenschen die Thätigkeit der
Seele sich dachten: sie konnte den Körper verlassen, wie im
Schlafe; sie konnte in andere Körper übergehen und auch
wieder in den alten zurückkehren. Bei dem Schlafenden oder
Ohnmächtigen ist oft das Niesen die erste Aeusserung des
wiederkehrenden Lebens; desshalb galt es als Thätigkeit des
Lebensgeistes, der Seele, für etwas Glückliches, Gottgesandtes,
Göttliches, wie die Griechen sagen. Das Gähnen zeigt das
Gegentheil: es legte den Gedanken nahe, dass die Seele ent
weichen wolle, oder dass etwa ein anderer, böser Geist in den
Körper fahren 'wolle; desshalb die bezeichnende Vorschrift,
den Mund zu schliessen oder doch die Hand vorzuhalten.
! Ibn Wfulih ed. Houtsma II, S. 115, dann Bardol’akbäd fyl’a'dad S. 136.
Vgl. Hamäsah S. 196, v. 1, woraus erhellt, dass schon im Alterthum
man zum Niesen sich Glück wünschte.
2 Bochäry: kitäb ol’adab: bäb mä jostahabb min al'otäs, und nächstfolgende
Tradition.
3 1. 1. zweitfolgende Tradition.
80
VIII. Abhandlung:: v. Krem er.
Diese Erklärung, welche sich im Wesentlichen mit der
von Tylor (I, S. 103) gegebenen deckt, ist die einzige, wie
mir scheint, welche diese sonderbare Sitte hinreichend erklärt.
Die Hungerschlange (safar). Es ist eine Beobachtung,
die bei vielen wilden Völkern sich machen lässt, dass sie,
wenn eine Wunde oder Krankheit ihnen Schmerzen verursacht,
die Ursache ihres Leidens nicht in sich, sondern unabhängig
von sich suchen und einen unsichtbaren Feind dafür ver
antwortlich machen. Wenn ein Australier erkrankt, was selten
genug vorkommt, da die Meisten an Verwundungen zu Grunde
gehen, so schreibt er sein Leiden einem Feinde zu; es ist das
ganz dasselbe wie der Aberglauben des deutschen Bauern,
welcher, wenn er nach reichlicher, schwerer Abendkost un
ruhig schläft und böse Träume hat, einen Kobold, den Alp
dafür verantwortlich macht. Der nomadisirende Araber nun
hatte nicht häufig Gelegenheit, an Ueberfüllung des Magens zu
leiden, obwohl er auch den garstigen Dämon incubus (käbus)
kennt; 1 viel häufiger hingegen kam es vor, dass er mit hung
rigem Magen auf den harten Boden zur Nachtruhe sich hin
strecken musste. In solchem Falle pflegte er den Hungerriemen
enger zu schnallen, um den nagenden Hunger zu bekämpfen,
aber dieses Mittel reicht bekanntlich nicht lange aus. So
bildete sich denn die Vorstellung: der im Leibe nagende
Schmerz des Hungers werde durch eine Schlange verursacht,
die im Körper sich befinde und an den Kippen nage. Nur
wenn man ihr Nahrung zuführe, lasse sie ab.
Diese Vorstellung ist ganz primitiv, und würde in ihrer
kindischen Einfachheit jedem Wilden einleuchten. 2 Aber sie
ist auch aus dem Grunde besonders beachtenswerth, weil sie
deutlich zeigt, wie wilde Menschen denken und wie sie Mythen
schaffen, als Erklärung für ganz natürliche Vorgänge.
In der Traditionssammlung des Mälik findet sich ein
Ausspruch des Propheten, welcher gegen verschiedene aber
gläubische Ideen sich richtet und folgendermassen überliefert
wird: ,Es gibt keine Uebertragung (von Krankheiten), keinen
Seelenvogel (häm), und keine Hungerschlange (safar)/ 3
1 Es scheint kein echt arabisches Wort zu sein.
2 Vgl. Lubbock: Les origines de la eivilisation, S. 216, Chap. V.
3 Mowatta IV, 161, kitäb olgämi': Cap. 'ijädat olmaryd waltijarali.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
81
Es soll damit gesagt werden, dass die neue Religion
diese alten, aus der heidnischen Zeit stammenden Vorurtheile
nicht anerkenne. Die Erklärer haben obigen Ausspruch ver
schieden gedeutet: die Uebertragung bezieht sich nach ihrer
Ansicht auf die verschiedenen ansteckenden Krankheiten, wie
Aussatz (baras, godäm), Pocken (godsä), Ophthalmie u. dgl.
Das Wort safar erklären Einige nicht durch Hungerschlange,
sondern beziehen es auf den Monat Safar, der vor dem Islam,
infolge Verschiebung der Festzeiten (nas’i), an die Stelle
des Mohärrain gesetzt worden sein soll, doch die Mehrzahl
der Gelehrten hält Safar hier für die Bezeichnung der Hunger
schlange.
Das Regengebet. Zu den alten heidnischen Gebräuchen,
welche in die neue Religion herüberkamen, ist auch der, Gebet
um Regen, zu zählen. Bei Nomaden und Hirtenstämmen ist
andauernde Dürre ein grosses Unglück. Nichts ist natürlicher,
als dass in solchem Falle das Volk von den Priestern oder
Häuptlingen Abhilfe verlangt, und wenn diese ausbleibt, sie
hiefür verantwortlich macht. Das ganz in alter Rohheit ver
bliebene Kunama-Völkchen in Ostafrika hat nur ein geistliches
Oberhaupt, den Regenherrn, der die Aufgabe hat, in Zeiten
der Trockenheit Regen zu machen. Bleiben aber seine Gebete
oder Beschwörungsformeln erfolglos, so wird er gesteinigt.
Auch bei anderen Völkern begegnet man Aelmlicliem. Der
mythische König von Schweden, Domaldi, büsste dreijährigen
Misswachs mit dem Leben. Denn nachdem die Opfer von
Ochsen, dann von gemeinen Menschen die Götter nicht er
weicht hatten, traten die Häuptlinge in Upsal zusammen und
beschlossen, dass der Edelste ihres Volkes, der König, zur
Sühne sterben müsse. 1
Bei den Arabern hat sich eine Sitte erhalten, welche
ganz an diese primitive Logik der Naturvölker, dass der Fürst
für öffentliche Unglücksfälle verantwortlich sei, erinnert. Es
ist dies das Regengebet, welches nicht blos von Mohammed
seihst, sondern auch von seinen Nachfolgern verrichtet ward,
1 Weinhold: Altnord. Leben, S. 77. Bei den Arkadiern war es der Priester
des Lykaiischen Zeus, der bei anhaltender Trockenheit um Regen betete.
Pausan. VIII, 38, 4.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CXX. Bd. S. Abh. 6
82
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
denn, wie Bocliäry sich ausdrückt: ,Das Volk pflegte das
Staatsoberhaupt (imäm) zu bitten, um Regen zu flehen, wenn
anhaltende Trockenheit herrschte/ 1
Mohammed selbst unterzog sich mehrmals dieser Cere-
monie, und zwar mit den von Altersher bestehenden Gebräu
chen. Das Bemerkenswertheste ist es, dass er hiebei, offenbar
alten Gewohnheiten folgend, stehend mit erhobenen Armen,
ganz im Sinne der altarabischen Orakelpriester (kähin), ein
Gebet in kurzen parallelen Sätzen vortrug, in welches her
kömmliche, uralte Formeln eingeflochten waren, und zum
Schlüsse sein Obergewand umkehrte, indem er zugleich sich
umdrehte, offenbar um durch diese Handlung anzudeuten, dass
das Wetter sich ebenso ändern möge. Er betete mit den fol
genden Worten: ,0 Gott! tränke deine Knechte und dein Vieh
und breite deine Gnade über deine Knechte und belebe aufs
Neue dein todtes Land!' — Als aber der Regen zu lange
dauerte, betete er: ,0 Gott! um uns, aber nicht über uns! 0
Gott! über die Anhöhen und Berge, sowie über die Hügel und
Thäler und die Standplätze der Bäume/ 2
Es war massgebende Sitte, dass der Vorsteher der Ge
meinde, der Fürst (imäm), wenn er angegangen wurde, das
Regengebet zu verrichten, die Bitte nicht zurückweisen durfte. 3
Omar pflegte, als er Chalife war, den Oheim des Pro
pheten zu bitten, das Regengebet zu verrichten, indem man
offenbar von dem Gebete eines nahen Verwandten des Prophe
ten besondere Wirksamkeit erwartete.
In Persien soll dieser Brauch noch immer in Kraft sich
erhalten haben, indem hei grosser Dürre der Schah, begleitet
von den Grossen seines Reiches, baarfuss zum Berge Elburs
sich begibt, dort einige uralte Ceremonien verrichtet und den
Regen beschwört. 4
1 Bochäry: kitäb al'ydain: Cap. su’äl olnäs il’imam alistiska’.
2 Bochäry, 1. 1. Mowatta’ I, 344. Cap. al'amal fylistiskä’.
3 1. 1.
4 H. Brugscli: Aus dem Orient. Berlin 1864, II 99. Dr. Pollak, einer der
besten Kenner Persiens, der lange in Teheran lebte, kennt diese Sitte
nicht. Und geborne Teheraner versichern, dass das Kegengebet nie vom
Schah selbst, sondern von den Mollas verrichtet wird. Brugsch scheint
also schlecht unterrichtet gewesen zu sein.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
83
Auch hei Sonnen- oder Mondesfinsterniss pflegt man
durch Gebete die vermeintliche Gefahr zu beschwören, aber
es findet sich dafür kein besonderes Ceremoniel vor; dass aber
trotzdem die Sitte sehr alt sei, ist kaum zu bezweifeln. Mo
hammed bekämpfte nur den alten Volksglauben, dass Sonnen
oder Mondesfinsterniss mit dem Todesfälle irgend eines Men
schen in Zusammenhang zu bringen sei, und er spricht die
Ansicht aus, dass Gott solche Erscheinungen sende, um den
Menschen einen heilsamen Schrecken einzuflössen. 1
Es beweist dies nur, dass man in alter Zeit diese himm
lischen Erscheinungen mit derselben abergläubischen Furcht
betrachtete wie so viele andere Völker.
Die bisher besprochenen Bräuche und Vorurtheile sind
entweder solche, die bei den verschiedensten alten Völkern
gleich verbreitet sind, ohne dass man sie als entlehnt bezeich
nen kann, oder sie sind dem arabischen Volke eigenthiimlick
und müssen als originelle Schöpfungen des Volksgeistes ange
sehen werden. Nun aber kommen wir zu einer Reihe von
abergläubischen Ideen, welche durchaus nicht auf arabischem
Boden entstanden, sondern aus fremden Culturgebieten in das
arabische Volksthum verpflanzt worden sind. • Es sind dies
ausländische Pfropfreiser, welche mit einem nicht immer gleich
günstigen Erfolge auf den heimischen Baum aufgesetzt worden
sind und in manchen Fällen so innig mit demselben verwuch
sen, dass das Fremdartige sich kaum noch erkennen lässt;
während in anderen Fällen eine nur äusserliche Verbindung
sich vollzog, so dass das Fremde von dem Arabischen auf
den ersten Blick unterschieden werden kann. Auch darf man
die Sage keineswegs so auffassen, als hätte jede fremde Idee,
die man entlehnte, sofort allgemeine Geltung bei der ganzen
mit dem Islam zu so unermesslicher Verbreitung gelangten
arabischen Rasse gefunden; im Gegentheil: die meisten Bei
spiele zeigen einen localen Charakter und nur in den selteneren
Fällen kommt es vor, dass die eine oder andere Idee in wei
teren Kreisen Geltung erlangt und durch die Aufnahme in die
Literatur gewissermassen das Bürgerrecht erhält.
1 Bochäry: Kit. alkosuf.
6*
84
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
Die Adonis-Klage. 1 In der Chronik des Ihn’ atyr (X,
28) findet sich unter den Ereignissen des Jahres 456 H. die
Nachricht, dass im Monate Raby' I. dieses Jahres in den Pro
vinzen 'Irak, Chuzistän und vielen anderen Gegenden eine
Anzahl Kurden auf einer Jagdpartie in der Wüste schwarze
Zelte gesehen und in denselben Todtenklage und Wehgeschrei
vernommen hätten, mit dem Rufe: ,Gestorben ist Saiduk, der
König der Geister! und wo immer eine Gegend ist, deren
Volk nicht für ihn die Todtenklage veranstaltet, das wird ver
nichtet und sollen die Bewohner getödtet werden! 1
Dieser Warnung Folge leistend, zogen allenthalben die
Weiber auf die Friedhöfe, zerschlugen sich die Gesichter,
stimmten Klagegeschrei an und Hessen die Haare fliegen. Aber
auch viele Männer aus den unteren Classen zogen hinaus und
thaten desgleichen.
Hiezu fügt der Chronist noch folgende Bemerkung: Sehn
liches kam in unseren Tagen in Mosul und den benachbarten
Gegenden bis nach 'Irak hin und sogar in anderen Land
schaften vor. Die Ursache war, dass (im Jahre 600) 2 eine
schmerzhafte Halskrankheit herrschte, an der viele Menschen
starben. Es verlautete damals, dass eine Dämonenfrau ihren
Sohn 'Onkud verloren habe; und wer ihm zu Ehren nicht
eine Trauerfeierlichkeit beginge, den träfe die Krankheit. So
kam es, dass viele dies thaten. Sie sangen dabei: O Omm
‘Onkud! sei uns nicht gram, wir wussten nicht, dass 'Onkud
ums Leben kam! — Die Weiber pflegten bei diesem Anlass
sich das Gesicht zu zerschlagen und ebenso that der Pöbel. 1
So erzählt unser Chronist, ohne weitere Bemerkungen
beizufügen. Wir können in dieser volksthümlichen Todten-
feier kaum etwas Anderes sehen als eine in der Erinnerung
der untersten Volksclassen bestehende uralte Gewohnheit einer
allgemeinen, öffentlichen Todtenklage, wie sie im Alterthume,
sei es nun dem Adonis (Tammuz) oder irgend einer andern
mythischen Person zu Ehren, jährlich abgehalten zu werden
pflegte. Der Islam unterdrückte dieses heidnische Fest, aber
bei gewissen äusseren Anlässen brach die alte Sitte wieder
1 Vgl. Z. d. D. M. Ges. XVII, S. 397.
2 JTur in einer Handschrift.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
85
hervor. Der alte heidnische Aberglaube wird im Stillen fort
bestanden haben, bis der Eintritt einer grossen Seuche, die
das Volk der Vernachlässigung der alten Sitte zuschrieb, diese
offene Kundgebung in einem so weiten Ländergebiete zur
Folge hatte.
Was den Namen Saiduk betrifft, so ist zu beachten, dass
dieser Eigenname in der Umgegend von Wäsit vorkommt. 1
Wir sehen also in dieser Feier die letzten Nachklänge
eines alten, heidnischen, periodischen Trauerfestes.
In dieselbe Reihe von Ueberresten antiken Aberglaubens
gehört wohl auch die in 'Irak vorkommende volksthümliche
Ansicht, dass ein Käfer, der einem zufliegt, Glück bringe. 2
Man denkt hiebei zunächst an den bei den alten Aegyptern
als heilig und schutzbringend geltenden Scarabaeus.
In Aegypten hängen die Bauernweiber den Kindern gern
einen solchen Todtenkäfer um den Hals als Schutz gegen den
bösen Blick.
Auch die Sage von dem Meergreis (shaich olbahr) gehört
hieher, die wie es scheint, an der syrischen Küste volksthüm-
lich war. Man behauptete nämlich, dass daselbst von Zeit zu
Zeit ein Wesen sich sehen lasse in Gestalt eines Menschen
mit langem weissem Barte. Das Volk nennt ihn den Meer
greis und so oft man ihn erblicke sei dies für das Volk ein
freudiges Ereigniss, denn es deute einen reichen Erntesegen an. 3
Es ist schwer zu sagen, ob wir in dieser Gestalt einen
Seegott vor uns haben, also den Poseidon, in seinem milden
Character als Schirmer und Förderer der Saatenfülle, als Gott
der weiten Thalgründe, sowie der Flüsse und Quollen und des
daher entspriessendcn Segens 4 oder den phönicisehen Meliker-
tes-Palaemon. 5 Vielleicht ist es auch das Vorbild des Abdal
lah vom Meere, dessen Geschichte wir aus den Märchen der
1 Ta'äliby: Kitäb ol’y'gäz wal’ygäz S. 88 führt einen Dichter dieses
Namens an.
2 Ibn Challikän Nr. 231. Biographie des Ga'far Barmaky, Slane I, 305.
3 Damyry I, 49: insän olmä\
4 Preller: Griech. Mythologie 1, 365.
5 1. 1. S. 377. Nach Hesycliius ward in Sidon ein OaXaucno? Zej$ verehrt.
Baudissin: Stud. z. semit. Religionsgesch. II 176.
86
VIII. Abhandlung: v. Krem er.
1001 Nacht kennen, 1 welches uns hier entgegentritt. Jedenfalls
zeigt sich der mythische Ursprung der Sage in voller Deut
lichkeit.
Mehr auf litterarischer Ueberlieferung als auf volksthüm-
lichen Vorstellungen beruht das, was die Araber zweifellos
nach griechischen Quellen vom Delphine erzählen: dass er
Menschen rette, die in Gefahr seien zu ertrinken, 2 und nicht
mehr Werth hat das, was von dem Basilisken berichtet wird,
dessen Blick allein schon tödtet; 3 oder vom Salamander, dem
die Flamme nicht einmal die Federn versengen kann. 4
Es ist sehr viel ähnliches aus der griechischen in die ara
bische Literatur gelangt, ohne dass es eigentlich volksthümlich
ward. Das meiste blieb auf die literarischen Kreise beschränkt
und diente höchstens zur Vermehrung des Anecdoten- und
Märchenschatzes.
So finden wir in den Erzählungen des 1001 Nacht nicht
nur Entlehnungen, die auf die Odyssee zuruckgehen -— Sind-
bads Abenteuer bei dem einäugigen Riesen (Cyclopen) — son
dern sogar solche Stoffe, wie die Erzählung von den Kranichen
des Ibycus, diese allerdings stark umgearbeitet, aber doch
noch zu erkennen. 6
Aus fremder, und wie kaum zu bezweifeln, nicht arabi
scher Quelle, entspringt ein sehr eigenthümliches und vorzüg
lich in 'Irak verbreitetes Vorurtheil: es ist dies der Glauben,
dass Rindfleisch zu geniessen äusserst schädlich sei. Es wer
den zur Rechtfertigung verschiedene, angebliche Aussprüche
des Propheten angeführt; so soll er gesagt haben: ,Butter und
Milch der Kühe sind Arzenei; aber ihr Fleisch enthält den
Krankheitsstoffb Oder nach anderer Ueberlieferung: ihre Milch
ist Heil, ihre Butter Arzenei und ihr Fleisch Krankheit. —
Oder: ,trinkt Kuhmilch und geniesset die Butter, aber hütet
euch vor dem Fleische: denn die ersten zwei bringen Heil,
das letztere aber Krankheit. 6
1 Habicht XI, S. 43.
2 Damyry I, 381: dolfyn.
3 1. 1. II, 106: dultofjatain.
4 Ibn alfakyh, S. 207.
5 1001 Nacht ed. Habicht XI, 396; auch bei Damyry I, 257: hagal.
6 Damyry I, 170: Albakar ol’ahly.
Studien zur vergleichenden Culturgeschichte.
87
Es machen aber all diese angeblichen Aussprüche des
Propheten den Eindruck, erst nachträglich erfunden worden
zu sein, um das herrschende Vorurtheil zu bekräftigen. Dass
ein solches bestand ist zweifellos; so sagt der gelehrte Arzt
Backtyscku' zum Chalifen Ma’mun: Iss kein Rindfleisch, denn
bei Gott, wenn ich auf der Strasse daran vorbeireite, so be
decke ich das Auge und noch dazu das Auge meines Pferdes,
weil es so ausserordentlich schädlich ist (min shiddat madar-
ratihi). 1
Es wird von dem alten Weisen Ibn Kaldah ein ähnlicher
Ausspruch angeführt, der gesagt haben soll, als man ihn um
die besten Fleischarten befrag: ,das Fleisch des jungen Ham
mels (da’n); des Zickleins; aber das eingesalzene Dörrfleisch
(alkadyd almälih) bringt dem, der es verzehrt, Verderben; man
hüte sich auch vor Kameel- und Rindfleisch.“ 2
Ilaggäg, der energische Statthalter von 'Irak, ging sogar
soweit, das Schlachten von Kühen geradezu mit Verbot zu
belegen. 3 Wahrscheinlich aber hatte diese Verordnung keinen
sanitären, sondern einen fiscalischen Zweck: es sollte nämlich
die Vermehrung dieser für den Ackerbau so nützlichen Thiere
gefördert werden.
Uebrigens besteht die Abneigung gegen Rindfleisch noch
immer im Oriente: die Hauptnahrung ist Hammel- oder Lamm-
und Ziegenfleisch. Das Rindfleisch gilt als schwer und un
verdaulich. Ob aber nicht hiebei gewisse abergläubische
Vorurtkeile im Spiele sind, lässt sich nicht mehr mit Sicherheit
ermitteln.
Bei den Persern ist das Schlachten der Kühe und der
Genuss ihres Fleisches noch immer verpönt. Es wird als
Grund hiefür die Schädlichkeit des Rindfleisches angegeben. 4
1 Tadkirat Ibn Hamdun, meine Handschrift, jetzt im British Museum I,
fol. 215.
2 Matäli 'olbodur fy manäzil älsorur. H 102, Cap. 35.
3 Byruny: India, S. 277, Z. 13.
4 H. Brugsch in seinem Buche: Aus dem Orient, S. 103, meint, dass der
Abscheu der Parsis gegen den Genuss des Rindfleisches eine Folge der
religiösen Vorschriften des zoroastrischen Glaubens sei; allein so viel
mir bekannt ist, findet sich ein Verbot des Schlaclitens der Rinder und
88
VIII. Abhandlung: v. Kremet.
Nicht minder sonderbar und noch schwerer zu erklären
ist ein anderes uraltes Vorurtheil, das die Linnenstoffe und
Linnenkleider zum Gegenstände hat und selbstverständlich in
den Ländern der Flachscultur, 'Irak und Aegypten, verbreitet
ist; es ist der Glauben, dass der Mondschein für Linnenstoffe
und Leinwand äusserst schädlich sei. Anspielungen hierauf sind
bei Dichtern nicht selten, so z. B. in folgenden Versen; ,Du
siehst wie die Linnengewänder, welche das Licht des Voll
mondes bescheint, dadurch zu Grunde gerichtet werden 4 . —
Und ein anderer Poet sagt von einem schönen Knaben, den
er mit dem Monde vergleicht: ,Wundert euch nicht darüber,
wie schnell sein Hemde in Stücke geht, denn es ist zusammen-
geheftelt über einen Mond 4 .
Hiezu bemerkt Damyry: ,dieser Verse bedient man sich
zum Beweise dafür, dass das Mondlicht die Linnengewänder
vermorschen macht; wie in der That die erfahrensten Gelehr
ten behaupten und zwar soll dies besonders der Fall sein,
wenn man die Gewänder ins Wasser legt; bei der Conjunction
der Sonne und des Mondes soll die Vermorschung sehr rasch
erfolgen; die Vereinigung der beiden Himmelslichter findet
statt vom 25. — 30. des Monats. 1 Ebenso sagt auch Avicenna
in seinem Lehrgedichte:
,Wasche nicht deine Linnenkleider
Und stelle damit nicht den Fischen nach
Iici der Vereinigung der beiden
Himmelslichter vermorschen sie. 4
Schon bei einem weit älteren Autor treffen wir denselben
Glauben; er sagt (zum Tadel des Mondes): er hat zehn Fehler:
er kürzt das Leben, er beeinträchtigt die Gottesfurcht, er macht
den Hauszins fällig, er zieht die Farben aus (den Stoffen), er
macht die Linnenstoffe morsch, er verräth den Verliebten, er
bringt die Todesstunde näher, wärmt das Wasser, verdirbt das
Fleisch imd leitet den Dieb auf den Weg. 2
des Genusses ihres Fleisches nirgends in den altpersischen Religions-
Urkunden.
1 Damyry II, S. 9: voce zolal.
2 Ta'äliby: Bard otakbäd etc. S. 140.
Stadien zur vergleichenden Culturgeschichte.
89
Bei der Aufzählung der Pflanzen, die unter dem Ein
flüsse des Mondes stehen, wird ausdrücklich der Flachs (kattan)
genannt und hei Angabe der Räucherungen, welche zu aber
gläubischen Zwecken den Gestirnen dargebracht zu werden
pflegten, wird für den Mond Flachs bestimmt. 1 Da aber die
in dem eben angeführten Werke enthaltenen auf den Einfluss
der Gestirne bezüglichen Stellen aus der sogenannten ,Naba-
tä’ischen Landwirtschaft' stammen, welche hiebei nur 'Irak und
Babylonien im Auge hat, so werden wir wohl die eigenthüm-
liche Verbindung zwischen Mond und Flachs auf irgend welche
alte babylonische Bauernmythe zurückführen müssen, in
welcher der Mond als das den Flachs beherrschende Gestirn
dargestellt wird, welches dessen Duft als Räucherwerk liebt
und desshalb auch aus Flachs hergestellte Gewänder, die dem
Mondlichte ausgesetzt werden, gewissermassen aufzehrt und
ihnen das Mark aussaugt, so dass sie rasch zerfallen und ver
modern.
Merkwürdig ist es aber, dass man im Aberglauben des
deutschen Volkes ähnliche Ideen findet: im Mondschein darf
man nicht spinnen, denn solches Garn hält nicht; man darf
kein Geräth im Mondschein stehen lassen, sonst geht es bald
entzwei — so glauben die Bauern in der Oberpfalz. 2
Man könnte auch so die Sache erklären, dass die Flachs
pflanze ein Kind des Sonnenscheins und des Tages ist, also
der Mond und die Nacht ihr schädlich seien, aber mit solchen
Auslegungen ist nicht viel gewonnen. Denn solche alte, halb-
mythenhafte Vorstellungen lassen sich nicht immer mit Sicher
heit bis zu ihrem Ursprünge verfolgen; man muss sie ebenso
nehmen, wie sie sind, ohne viel daran herumzudeuten.
Ganz in dieselbe Reihe gehören einige ägyptische Volks
bräuche, die ich hier folgen lasse.
,In der Nacht in den Spiegel schauen bringt Unglück
und wenn eine Frau es thut, so heiratet ihr Mann bald eine
zweite'. 3
1 Nitär olazhär fyllail walnahär von Ibn'Manzur, dem Verfasser der Lisan
al'arab. Ausgabe von Constantinopel 1298. Gawai'b-Druekerei, S. 158, 1G6.
2 Wuttke: Deutscher Volksaberglauben S. 131 (Nr. 203).
3 Kaljuby: Nawädir ed. Nassau Lees S. 18G.
Sitzungsber. d. phi] .-hist. CI. CXX. Bd. 8. Abh. 7
90
VIII. Abhandlung : v, Kreme r.
Denselben Glauben finden wir bei uns wieder: ,des Nachts
darf man nicht im Spiegel sich besehen, sonst sieht Einem ein
garstig Gesicht (Schlesien) oder der Teufel (Mosel, Tirol, etc.)
daraus entgegen und man verliert das Spiegelbild (Schlesien). 1
In Persien ist es Sitte, wenn jemand aus seinem Hause
abreist, ihm einen Spiegel vorzuhalten. Indem man das Bild
auffangt glaubt man die glückliche Heimkehr zu sichern. 2 Ilie-
mit stimmt der deutsche Volksbrauch überein, neugekauften
Hühnern, um zu verhindern, dass sie sich verlaufen, einen
Spiegel vorzuhalten, indem man ihnen ins Ohr sagt: ,Putte,
komm wieder* (Mark); überhaupt: Thiere, die man im
Hause halten will, lässt man dreimal in den Spiegel sehen
(Wetterau). 3
Der Grundgedanke ist in allen diesen Fällen noch leicht
zu erkennen: er geht aus denselben Voraussetzungen hervor.
,Die Nacht ist keines Menschen Freund'; so lautet eine alte
deutsche Redensart, welche das Gefühl des Grauens ausdrückt,
womit das nächtliche Dunkel die Menschen erfüllt. Der Spiegel
aber macht jedem Ungebildeten, der das natürliche Princip, auf
welchem er beruht, nicht kennt, den Eindruck eines zauber
haften Blendwerkes. Die Verbindung beider Ideen führt zum
Schluss, dass man bei Nacht nicht in den Spiegel blicken solle.
Eine andere ägyptische Volksregel ist: ,man flicke nicht
sein Gewand, solange man es anhat: denn das bedeute (baldi
gen) Tod.* 4
Im deutschen Volksglauben gilt die Regel: ,man darf
sich die Kleider nicht auf dem Leibe flicken, sonst verunreinigt
man sich als Leiche (Mecklenburg), oder man erleidet einen
schweren Tod (Mark)* u. s. w. 5
Der Zusammenhang lässt sich hier nur mehr errathen;
er mag so zu erklären sein: in alter Zeit nähte man den
Todten in sein Laken ein: die Kleider sich am Leibe nähen,
bedeutet also sein Leichenlaken sich selber nähen.
1 Wuttke: S. 132 (Nr. 205).
2 S. oben.
3 Wuttke: S. 145 (237) und S. 182 (317).
1 1. 1.
5 Wuttke: S. 133 (207).
Studien zur vergleichenden Culturgeschichtc.
91
Vieles aber bleibt unverständlich, so die zwei folgenden
gleichfalls bei Kaljuby (S. 186) vorkommenden ägyptischen
Volksregeln: ,Springt ein Funken aus dem Feuer, so sagt man:
ein zürnender (montakim) oder nach anderer Lesart mokym,
(d. i. verweilender) Gast/
,Gibt Jemand sein Taschentuch einem andern, damit er
darin sein Gesicht abwische, so spuckt er früher hinein, da
mit es nicht Unglück bringe/
Das meiste in solchen alten abergläubischen Sittenregeln
und Bräuchen bleibt uns unverständlich, auch ist nicht alles gleich
alt, sondern das eine mag aus uralten Zeiten stammen, das
andere ist verliältnissmässig neu. Doch ab und zu kann man
den ursprünglichen Sinn noch immer erkennen. Ich will als
Beispiel ein paar solcher ägyptischer Sprüche anführen: ,Sechs
Dinge verursachen, dass man arm wird: 1) zu fegen (das
Haus) mit Lumpen (statt des Besens), 2) auf der Hand essen,
3) sich in die Hand schneuzen bei Verrichtung der Nothdurft,
4) auf einen Herd zu pissen, 5) die Fingernägel mit den Zäh
nen abnagen, 6) mit Hölzchen die Ohren sich reinigen/ 1
Das alles scheint nichts anderes zu sein, als gemeine
Albernheiten. Aber dennoch zeigen Nummer 1 und 4, dass
ihnen ein sehr alter Aberglauben zu Grunde liegt: denn, wie
schon früher hervorgehoben worden ist (S. 49 f.), verknüpfen
sich mit dem Besen und dem Herde heidnische Ideen aus
einer längst entschwundenen und vergessenen Vorzeit. 2
1 Kaljuby, S. 188.
2 Ich stelle hier nur Einiges aus dem deutschen Volksglauben zusammen:
Vor die Thüren wird ein alter Besen gelegt, um die Geister abzuhalten
(Ostpreussen, Lausitz, Wuttke: 17); die Hexen reiten auf Besen zum
Blocksberg (24, 146); bei Vertreibung einer Viehbehexung wird der
Besen nach allen Seiten geschwungen (Thüringen, 146); kreuzweis über
die Thürschwelle gelegte Besen erschweren den Hexen den Zutritt
(222, Franken, Hessen, Tirol); um das Vieh gegen Schaden zu sichern,
lässt man es über eine vor die Stallthür gelegte Axt oder einen Besen
hinwegschreiten (Ostpreussen, Hessen, Schlesien, 233); wenn man seine
Wohnung wechselt, so muss man zuerst in die neue Wohnung Salz,
Brot und einen alten Besen tragen, so hat man immer das tägliche
Brot (Mark, 306) u. s. w. bei Wuttke: Deutscher Volksaberglaube.
Eine ebenso wichtige Stelle wie der Besen nimmt auch der Herd im
Aberglauben ein: Nimmt man eine neue Magd und will man, dass sie
7*
92 VIII. Abhandlung: v. Krem er. Stadien zur vergleichenden Culturgeschichte.
So leben alte, reine Gedanken selbst in der schmutzigen
Gesellschaft modernen Pöbelwitzes fort und man braucht nur
mit kundigem Blicke zu suchen, um auch zu linden.
dem Hanse treu bleibe, dann muss man sie dreimal um den Herd jagen
(Mark, 307); aucli Thiere, die man im Hause halten will, treibt man
dreimal um den Herd und reibt sie an der Feuermauer (Sachsen, 317).
Der gewöhnliche Aufenthaltsort der Hausgeister ist der Herd (407).
Alles nach Wuttke.
IX. Abhandlung. Gomperz. Die Apologie der Heilkunsfc.
1
IX.
Die Apologie der Heillmnst,
eine griechische Sophistenrede des fünften vorchristlichen
Jahrhunderts,
bearbeitet, übersetzt, erläutert und eingeleitet
von
Theodor Gomperz,
wirkl. Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
Vorwort.
Das Schwergewicht der vorliegenden Arbeit ruht in dem
Bemühen, das Schriftdenkmal, welches ihren Gegenstand bildet,
nach Form und Inhalt möglichst vollständig und allseitig zu
kennzeichnen und zu beleuchten. Sollte dieser Versuch an
nähernd gelungen sein, so würde die Beurtheilung und Wür
digung der Literaturgattung, deren einziger Ueberrest die
Schrift ,von der Kunst' ist, nicht mehr jeder haltbaren Grund
lage entbehren.
AVas die Autorschaft des Büchleins betrifft, so fand ich
bald, dass viele Indicien nach einer Richtung hinweisen, kein
einziges nach einer anderen, und wollte ich mich lange Zeit
damit begnügen, diese Thatsache und den aus ihr erwachsenden
Grad von Wahrscheinlichkeit zu constatiren. Später glaubte
ich noch einen Schritt weiter gehen zu können. Da ich in
diesem Theil meiner Untersuchung vielfach controverse Fragen
zu berühren nicht umhin konnte, so rechne ich hier keines
wegs auf allgemeine rmd noch weniger auf sofortige Zustimmung.
Auch bedauere ich, aus demselben Grunde manche Weitläufig
keit der Erörterung nicht haben vermeiden zu können. Des
gleichen hat die Nothwendigkeit, einige das Corpus Hippocra-
ticum betreffende Fragen, zumal die dialektologischen und die
Sitzungsber. d. phil.-kist. 01. CXX. Bd. 9. Abh. 1
2
IX. Abhandlung: Gomperz.
auf die handschriftliche Textesgrundlage bezüglichen, bei diesem
Anlass zu behandeln, den Umfang der Arbeit übermässig
angeschwellt.
Die deutsche Uebersetzung, welche ich dem Originaltext
gegenüberstelle, soll vornehmlich dazu dienen, den rednerischen
Charakter der Schrift ersichtlich zu machen. Demgemäss habe
ich dort, wo ich buchstäbliche Genauigkeit mit treuer Wieder
gabe des Tons und der stilistischen Farbe nicht zu vereinigen
wusste, lieber die erstere als die letztere geopfert.
In Betreff des Commentars musste es der Verfasser, wenn
er nicht unerträglicher Breite verfallen wollte, dem Takt der
Leser anheimgeben, die Abzweckung mancher darin enthal
tener Bemerkungen und Parallelen zu erkennen. Sie werden
hoffentlich zu unterscheiden wissen, in welchen Fällen seine
Ausführungen die in der Einleitung vorgebrachten Beweis
gründe betreffs der Abfassungszeit, der Stileigenthümlichkeit
und der Autorschaft der Schrift zu verstärken bestimmt sind,
in welchen anderen sie etwaigen Einwürfen gegen jene Schluss
folgerungen Vorbeugen oder begegnen sollen, wo endlich auf
Thatsachen hingewiesen wird, die mit den gewonnenen Ergeb
nissen lediglich wohl vereinbar sind, ohne dass sie, mindestens
jede für sich genommen, ihre Festigkeit zu erhöhen oder zu
ihrer Sicherung beizutragen vermöchten.
Die Apologie der Heilkunst.
3
Einleitung.
In der ärztlichen Schriftensammlung, welche unter dem
Namen des Hippokrates umläuft, befindet sich ein Stück,
welches an culturgeschichtlicher Bedeutung hinter wenigen
Bestandteilen der Sammlung zurücksteht, an literarischem
Interesse die meisten derselben, wenn nicht alle, überragt.
Man sollte erwarten, dass die Gesammtheit der Sprachkundigen
mit diesem Büchlein wohl vertraut, dass die aus ihm zu
schöpfende Belehrung längst ein Gemeingut der Gebildeten ge
worden sei. Doch die eine wie die andere dieser Erwartungen
wird vollständig getäuscht. Für alle Zwecke der Erforschung
und Erkenntniss des Alterthums ist die Schrift ,von der Kunst'
fast so wenig vorhanden, als ruhte sie bis zur Stunde in einem
ägyptischen Grabe oder in einer noch unerschlossenen hercu-
lanischen Bolle. Dieses Schriftchen, den einzigen nicht trümmer-
haft überlieferten Ueberrest einer einst durch zahlreiche und
bedeutende Denkmale vertretenen Literaturgattung, ans Licht
zu ziehen, den verwahrlosten Text desselben zu reinigen und
zu berichtigen, es, wenn irgend möglich, seinem wirklichen
Urheber zurückzugeben und eine Reihe von (wie ich meine)
zugleich sicheren und belangreichen Schlüssen aus ihm abzu
leiten, — dies ist die Aufgabe der nachfolgenden Blätter.
Die erste Wahrnehmung, welche sich dem denkenden
Leser dieser Apologie der Heilkunst aufdrängt, ist die, dass
uns in ihr nicht sowohl eine Schrift im eigentlichen Sinne als
eine zu mündlichem Vorträge bestimmte Bede vor Augen
liegt. Dies lehrt die Form der Darstellung in unzweideutiger
Weise, und zu allem Ueberfluss sagt es uns der Verfasser
selbst an einer Stelle, an welcher er uns noch Anderes und
Wichtigeres mittheilt. Ich meine den Schluss-Satz des Werk-
chens, welcher ,die jetzt gesprochene Bede' den ,Thaten der
Kunstverständigen' gegenüberstellt, die ihrerseits ,das Reden
keineswegs verachten'. Es ist dies eine ungemein fein poin-
1*
4
IX. Abhandlung: Gompei-z.
tirte Wendung, mittelst welcher der Autor — man möchte
sagen, mit einer höflichen Abschiedsverbeugung — den Aerzten
unter seinen Zuhörern seine Verehrung bezeigt (auch für den
gesammten Hörerkreis, der von der ,Menge' scharf unter
schieden wird, fällt ein Compliment ab) und gleichzeitig ihre
Hochachtung für sich in Anspruch nimmt, für sich und seinen
Stand, den der Schriftsteller und Redner, der den ärztlichen
Praktikern als ein gleichberechtigter Factor gegenübertritt. Er
sagt uns somit so deutlich, als er es zu thun vermochte, dass
er zwar ein Freund und Anwalt der Aerzte, aber selber kein
Arzt sei. Freilich sagt er uns auch damit kaum etwas Neues.
Denn zu den hervorstechendsten Charakterzügen unseres Büch
leins gehören einige Merkmale, welche jedes für sich genommen
und zumal in ihrer Vereinigung in Betreff jenes Sachverhaltes
keinen Zweifel übrig lassen. Es sind dies: die ungemein durch
gearbeitete Kunstform des Werkes, welche uns noch vielfach
beschäftigen wird und die in den ärztlichen Schriften der
hippokratischen Sammlung so wenig als in der medicinischen
Literatur überhaupt ihresgleichen hat; — der Trieb zum
Allgemeinen, welcher den Autor jeden Anlass ergreifen, ja
begierigst aufsuchen lässt, um aus dem engen Rahmen seines
unmittelbaren Themas hiuauszutreten und Aussprüche sowie
Erörterungen der allerallgemeinsten Art in wahrhaft verschwen
derischer Fülle auszustreuen (über Erkenntnissprincipien, über
Sprachentstehung, über Kunst und Zufall, über Causalität,
über Naturanlage und Bildungsmittel, über die Gewerbe und
ihr Verhältniss zu den Arbeits-Stoffen und Mitteln); — endlich
und hauptsächlich die Bezugnahme auf (zwei oder mehr)
sonstige Schriften desselben Verfassers, welche erkenntniss-
theoretischen Fragen und einer Verteidigung der übrigen
Künste und Gewerbe gegen ihre Angreifer gewidmet und
somit nichts weniger als ärztliche Fachschriften gewesen sind
(3 und 9).
Doch nicht nur was unser Autor nicht war, auch was er
war, vermögen wir jetzt zuversichtlich auszusprechen. Ist doch
der Verein von Eigenschaften, welcher sich uns für die Schrift
,von der Kunst' als charakteristisch erwiesen hat, zugleich das
entscheidende Kennzeichen einer schriftstellerischen Gattung
von scharf ausgeprägter Eigenart, von welcher wir bisher
Die Apologie der Heilkunst.
5
freilich fast nur mittelbare Kunde besassen. Denn jene Männer,
welche uns — in einer bestimmten Phase der griechischen
Geistesentwicklung — als Vertreter nicht eines besonderen
Einzelwissens, sondern der allgemeinen Bildung begegnen,
welche mit einem Fusse in der Rhetorik und mit dem andern
in der Philosophie stehen, die zugleich Sprachkiinstler und
Weltweise, Virtuosen des Wortes und Vorkämpfer der Auf
klärung, halb Wissenschaftslehrer und halb Journalisten sind,
— wir nennen sie Sophisten. Solch ein Sophist oder ,Weis
heitsmeister ; ist der Verfasser der Schrift, die uns beschäftigt.
Und zwar ein Sophist von der streitbaren Art, — ein dialek
tischer Kämpe, der in der Polemik wie in seinem eigensten
Elemente lebt und athmet, der des Gedanken- und Redekampfes
so gewohnt ist, dass ihn ,der Gegner' auf Schritt und Tritt,
man möchte sagen, wie der Schatten den Körper, begleitet,
und dass er kaum einen Satz aufzustellen vermag, ohne dass
der dazu gehörige Gegen-Satz sich wie von selbst ihm in die
Feder drängt (vgl. 4 und 5). Dass ferner nicht einer der
Geringsten, sondern jedenfalls ein namhafterer Repräsentant der
Gattung vor uns steht, dies darf man bei einem Manne, an
dessen Klugheit und taktischem Geschick zu zweifeln im
übrigen so wenig Grund vorhanden ist, nicht ohne Wahr
scheinlichkeit aus dem überaus starken Selbstgefühl entnehmen,
welches er sofort im Eingang seiner Rede so unverholen und so
nachdrücklich an den Tag legt (1 fin. 8wc sooi'yjv, jj roaraiSeuTai). 1
Wir gelangen zu der Frage nach der Abfassungszeit
der Schrift, einer Frage, welche in Ermanglung ausreichender
äusserer Zeugnisse 2 aus inneren Gründen zu entscheiden ist.
Und hier empfiehlt es sich — um nicht all die zahlreichen
Einzelheiten vorwegzunehmen, die im Commentar eine geeig
netere Stelle finden — mit einigen Stichproben zu beginnen.
In 11 begegnet uns der Satz: ,Denn was dem Gesicht
der Augen entflieht, das wird durch das Gesicht des Geistes
bewältigt' (oca yap G)v twv cpp,aTwv oij/tv exoeuvsi, txut« tyj xvj?
YVü)[j.y)<; oifsc xezpaTYjTai). Der Vergleich, welcher in diesen
Worten enthalten ist, kehrt in den Ueberresten der griechi
schen Literatur nicht gerade selten wieder. Dabei mag der
Umstand zunächst nicht gar viel zu besagen scheinen, dass
bei den grossentheils späten Schriftstellern, deren hiehergehörige
6
IX. Abhandlung: Gomperz.
Aussprüche mir aufgestossen und in Erinnerung geblieben sind,
das Wort y'/utp.^ sich durchweg durch ein anderes, zumeist
durch luy/rp ersetzt findet. Allein nicht als bedeutungslos kann
die Thatsache gelten, dass dies auch schon bei Plato, und
zwar an nicht weniger als an vier Stellen, geschehen ist. 1 Ich
sage schon, weil es eine, dereinst von Bernays reichlich, wenn
auch freilich nicht erschöpfend beleuchtete Eigenheit der alten
Sprache ist, dass yvÜ|j.t) in ihr ,die absolut gefasste Intelligenz'
und nicht nur — ,wie im späteren Griechisch' — ,die von
Jemandem gehegte Ansicht und Gesinnung' bedeutet. 2 Es mag
dies als eine erste Mahnung gelten, unserem Schriftchen ein
nicht unerhebliches Alter zuzusprechen. Dieselbe wird durch
die Wahrnehmung verstärkt, dass diese Wortanwendung eine
mit Rücksicht auf den geringen Umfang des Buches geradezu
häufige zu nennen ist. So heisst es auch 7 von den Aerzten,
deren Zustand mit jenem ihrer Patienten verglichen wird: ol
p.sv fäp üfiaivouafl &Ywdvovro? cu&ptaTO? eyyjipiouGi (»denn
diese gehen gesunden Geistes mit gesundem Körper daran“)
— so dass das in Rede stehende Wort den Gegensatz, wie
oben zu einem leiblichen Organe, so diesmal zum Leib über
haupt bildet. Am nächsten steht dieser Wendung eine Phrase
des Kritias (bei Galen XVIII, 2, 656): yiyvibmouaiv ol avOpowrot,
c’i vt? p.ev uYicuvet xrj Y V( * ) t , '‘f) und desgleichen (ebendort) ein
Bruchstück des Sophisten Antiphon: hSgi yap ävöpwTuot? v; Y^wp.'O
toü owp.aTo? vjY e Wat y.at ei? üyieiav y.at vooov y.at et? Ta äXka xäritx.
Ungleich bemerkenswerther ist jedoch die dritte Stelle,
welche uns in dem zweiten, einer metaphysischen Erörterung
gewidmeten Paragraph unserer Schrift aufstösst: et yap Sr, sgt.
Y’ tSetv Ta p.v] eövTa waicep Ta eovTa, oüy. otS’ otto»? av ti? auTa vopttuete
|J.Yj eovTa, a ys el'yj y.at o^OaXp.o'totv tSetv y.at y v [-».Y3 vwoat (b?
eartv (,denn wenn das Nicht-Seiende zu sehen ist wie das Seiende,
so weiss ich nicht, wie man es für nicht-seiend halten kann,
— was doch mit Augen zu schauen ist und mit dem Geist zu
erkennen als ein Seiendes'), womit man sofort vergleichen mag
jenes durch die Ueberlieferung arg entstellte, aber in dem für
unseren Zweck belangreichsten Theile unversehrte Bruchstück
aus dem ersten Buch der ,Wahrheit' des Sophisten Antiphon,
welches ich nach Bernays (Rhein. Mus. 9, 256 = Ges. Abhandl.
I, 87—88) und Sauppe (De Antiphonte sophista p. 10) einst
Die Apologie der Heilkunst.
7
also zu ordnen versucht habe (Beiträge zur Kritik u. Er kl., I, 44):
evi ts Xoyw xauxaSt y'^wcsi, Sv 6s ou6sv aux'o (xaO’ eauxo) ■ ouxs ouv
oiisi öpa p. ax.p6xY)Ta oüxe <Xv y v ^h'-TJ 7lYV&cy.oi 6 p,d*p’ axxa yi-
Yvib<n«i)v. Und nicht viel anders drückte sich Kritias aus,
welcher — so sagt uns Galen a. a. 0., dem auch das zweite
antiphontische Bruchstück verdankt wird — ev xeo T:pa)Tü) Äipoptap-ü
xa6s Ypöpsr p/jxe ä xü aXXw awp.axi aiaOävsxat |j.^xs ä xp
yvwp.Y) yiyv(boy.ei, und der auch sonst (nach eben diesem
Gewährsmann) das fragliche Wort in derselben, gleichwie in
einer anderen Schrift unablässig im Gegensatz zu den Sinnes
wahrnehmungen (avT’Siaipüv Tat? aiaOvfaect) gebraucht hat. Allen
diesen Aeusserungen ist nicht mehr bloss die ständige Anwen
dung des Wortes yvw[j.y;, und zwar in erkenntnisstheoretisehen
Erörterungen gemein, eine Verwendung, welche den bezüglichen
Schriften Plato’s (um von Aristoteles zu schweigen) bereits
völlig fremd geworden ist; was sie noch enger verbindet, ist
nicht so sehr die Gegenüberstellung der Sinne und des In-
tellects als dasjenige, was hierzu den immer wiederkehrenden
Anlass bietet: die fortwährende Nebeneinanderstellung
oder Coordinirung von Sinneswerkzeugen und Sinneswahr
nehmungen einerseits, dem Geist und der Geisteserkenntniss
andererseits. Hier tritt uns somit neben einer gemeinsamen
Phase des Sprachgebrauchs auch eine bestimmte Entwicklungs
stufe des speculativen Denkens gegenüber. Wir mögen die
Eigenart derselben richtig oder unrichtig erfassen, wenn wir sie
als einen ersten Versuch des Sichlosringens von der alten, ja
uranfänglichen Identilicirung jener zwei Sphären bezeichnen, 1
ohne dass doch über die specifische Natur der eigentlich in-
tellectuellen Verrichtungen — des Abstrahirens, des Urtheilens
u. s. w. — noch irgendwelche Klarheit gewonnen war, so dass
alle Erkenntnissprocesse nur als Unterarten der einen An
schauung erschienen. Doch dem sei wie ihm wolle, jedenfalls
weisen diese auffallenden Uebereinstimmungen der Ausdrucks-
wie der Denkweise unser Bemühen um zeitliche Fixirung der
Schrift ,von der Kunst' in engere und engere Grenzen. Wir
werden nunmehr ihren Verfasser mit höchster Wahrscheinlich
keit unter den Zeitgenossen des Kritias und Antiphon, d. h.
zum mindesten in den letzten Jahrzehnten des 5. Jahrhunderts
zu suchen haben. Und dazu wären wir auch dann befugt,
8
IX. Abhandlung: Goinpcrz.
wenn unserer Schlussfolgerung nicht aus dem weiteren Verlauf
jenes ontologischen Abschnittes die schlagendste und über
raschendste Bekräftigung erwüchse. Sogleich die nächsten Worte
nämlich, in welchen der Autor seinen metaphysischen Haupt
trumpf ausspielt, lauten wie folgt:
aW 5xu? (jlyj oü-/. yj touto toioutov äXXa xä pev eovta atei
6päta( xs xa'i yivwaxsTat, ta Se pvj sövta oüts öpäxai
outs yivtoczeTai.
(,Aber es wird dem wohl nicht so sein; sondern das
Seiende wird immer geschaut und erkannt, das Nicht-
Seiende aber wird weder geschaut noch erkannt. 4 )
Ich nenne diesen Satz den metaphysischen Haupttrumpf un
seres Autors, weil er den Abschluss der principiellen Erörterung
bildet — enthält doch das weiter Folgende nur mehr die An
wendung dieses Grundsatzes auf das vorliegende Specialthema
— und weil der Urheber dieser Darlegung ihr so grosses Ge
wicht beimisst, dass er den Leser, der über die verhandelte
Frage ,aus dem Gesagten noch nicht völlig im Klaren ist 4 , auf
andere ,Reden 4 verweist, aus welchen er genauere Belehrung
zu schöpfen vermag (wept pev oüv to'jtwv e’i ye T15 pr; rzavw? h.
•twv eipv;|j.£v<ov ffimijaiv, sv aXXotciv av Xcyouuv ffaoeärepov SiSa/Qsiv;).
Nun ist aber dieser mit so starker Emphase verkündete er-
kenntnisstheoretische Kernsatz das directe Widerspiel der
Lehre eines namhaften Denkers des 5. Jahrhunderts. Es ist
kein Anderer als Melissos von Samos, der in seiner Bestreitung
der Realität der Aussenwelt aus der weitausgesponnenen Be
weisführung 1 die abschliessende Summe zieht mit den Worten:
&axe cupßat'vei pyj-cs öpäv xa eä'nx pyj-re ytvcioxsiv.
Dass diese zwei Sätze, die Verneinung des Eleaten und
die ihr rundweg widersprechende Bejahung unseres Anonymus
einem und demselben Zeitalter angehören und schwerlich auch
nur durch wenige Jahrzehnte getrennt sind, dies wird Niemand
bestreiten, der sich der durchgängig allgemeinen Geschichts
erfahrung erinnert, vermöge welcher die grossen speculativen
(kontroversen von Generation zu Generation zum mindesten ihr
Wortgewand wechseln; noch weniger derjenige, welcher aus
der Gleichartigkeit der Form die Gemeinsamkeit des Aus
gangs- und fundamentalen Standpunktes herauszulesen versteht,
Die Apologie der Heilkunst.
9
eine ,Gleichheit in der Verschiedenheit', auf die wir bereits in
Kürze hingewiesen haben, und welche die Zergliederung des
metaphysischen Abschnittes noch um vieles deutlicher und
sicherer wird hervortreten lassen. Dass es aber auch an einem
directen polemischen Bezug der beiden einander schnurstracks
entgegenstehenden Thesen nicht mangelt — wobei vermöge
der grösseren Weite der Behauptung, des stärkeren Nach
drucks derselben und der minder ungesuchten Art ihrer An
knüpfung die polemische Absicht auf Seiten unseres kampf
gewohnten Dialektikers zu suchen sein wird —, dies dürfte
schon von vornherein als nicht wenig wahrscheinlich gelten.
Der Gewissheit würde diese Wahrscheinlichkeit um ein Be
trächtliches näher gebracht, wenn es sich im Fortgang unserer
Untersuchung zeigen sollte, dass die zwei feindlichen Sätze
als eigentliche Haupt- und Grundlehren ihrer Urheber galten,
vielleicht sogar als Losungsworte und Abzeichen streitender
Parteien auch in den weiteren Kreisen der Gebildeten jener
Zeit berühmt und berufen, vielbefehdet und vielgefeiert waren.
Wir wenden uns zur Betrachtung der sprachlichen und
stilistischen Eigenart des Büchleins. Wobei unser Haupt
absehen auf zweierlei gerichtet ist. Gelingt es nämlich alle
die Punkte der Uebereinstimmung festzustellen, welche die
vorliegende Schrift mit den Erzeugnissen eines bestimmten
Zeitalters und Literaturkreises verknüpfen, so ist ein Prüfstein
gewonnen für die Erprobung der Richtigkeit der bisher er
zielten Ergebnisse. Vermögen wir es aber die Züge der Ver
schiedenheit auszumitteln, welche ihr individuelles Sonder
gepräge ausmachen, so ist zu einer billigen Würdigung und
Beurtheilung derselben ein sicherer Grund gelegt. Der letztere
Theil des Unternehmens ist so schwierig als der erstere leicht
ist. Denn die Zugehörigkeit dieses Literaturproduktes zu einem
Kreis verwandter Erscheinungen ist auch in formaler Beziehung
aufs deutlichste erkennbar, während der anspruchsvollere Ver
such, der Einzelerscheinung den ihr gebührenden Platz inmitten
ihrer Sippe anzuweisen, zunächst an der Spärlichkeit des uns
zu Gebote stehenden Vergleichungsmaterials zu scheitern droht.
Wer mit einem Blicke die Stufe erkennen will, welche
die Rede ,von der Kunst' in der Entwicklung des griechischen
Prosastiles einnimmt, der lese vorerst irgend einen beliebigen
10
IX. Abhandlung: Gomperz.
Absatz derselben und unverweilt darauf das erste beste Blatt
in den Schriften des Plato oder Isokrates. Er wird sofort die
weite Kluft ermessen, welche unsere Rede von den Werken
jener Meister scheidet. Von dem sichersten Kennzeichen vollen
deter Stilreife, von der ,grossen, vollen rhythmischen Periode' 1
ist bei unserem Autor so gut als keine Spur zu finden. Kaum
jemals ballen sich Worte und Satzglieder zu einer mächtigen,
innerlich reich gegliederten Masse zusammen, deren zwei
Hälften als Vorder- und als Nachsatz — gleichgewogenen Halb
kugeln vergleichbar — einander entsprechen und sich wechsel
seitig bedingen. Mit der minder üppig entfalteten lysianischen
Beredsamkeit zeigt unser Anonymus gelegentliche Berührungen
(vgl. 7 und Comment. dazu). Im reichsten Masse weist sein Werk
jedoch die Kennzeichen des ,alten' oder archaischen ,Stiles' auf,
wie der vielleicht genialste Literaturforscher des 19. Jahrhunderts
— Karl Otfried Müller — dieselben in wenigen aber markigen
Strichen mit unübertroffener Meisterschaft gezeichnet hat. 2 Fast
jeder Satz seiner hieher gehörigen Darlegung gleichwie der
weiteren Ausführungen, welche Blass in seinem lehrreichen
Buche hinzufügt, passt auf unser Schriftwerk, als wäre er im
Hinblick auf dasselbe geschrieben. Will man das innerste Wesen
des frühesten Prosa - Kunststils mit einem Wort bezeichnen,
so darf dieses vielleicht dahin lauten, dass das Ganze der Theile
noch nicht Herr geworden war. Diese Theile: jeder Begriff,
jeder Ausdruck, jedes Satzglied tritt mit einer Kraft und Wucht,
einer Frische und Lebendigkeit hervor, welche einer späteren
Zeit nicht mehr eigen sein konnte, in welcher das Einzelne
einem gewaltigen Kunstbau als architektonisches Glied sich
einzufügen bestimmt war. Daher hier wie bei Antiphon und
Thulcydides jene äusserste ,Schärfe im Wortgebrauche, jene
Neigung, die Wörter in einer ungemein sinnschweren Bedeu
tung' anzuwenden, 3 jenes Streben, jeden Gedanken durch Hin-
zufiigung seines Gegensatzes wie das Licht durch den Schatten
zu steigern und gleichsam in erhabener Arbeit hervorzutreiben. 1
Anders freilich fällt die Vergleichung aus, sobald wir Art und
Mass der in Anwendung kommenden Zier- und Ausdrucks
mittel (Figuren) gleichwie Tempo und Rhythmus der Rede —
kurz die Frage der Zugehörigkeit zu einer oder der andern
Stilgattung (im qualitativen, nicht im historischen Sinne — der
Die Apologie der Heilkunst.
11
genera dicendi) ins Auge fassen. Dann heben sich, falls ich
nicht irre, von dem Untergrund der gemeinsamen Zeitfarbe
tiefgreifende Unterschiede ab. Zunächst aber thut es Noth,
das Einzelne zu durchmustern — in einlässlicher, wenngleich
nicht in erschöpfender Weise. Genügt es doch vorerst die
Hauptzüge des Bildes festzustellen, dessen genauere Ausführung
dem Commentar überlassen bleiben mag.
Wir beginnen mit dem Element der Rede, mit dem Wort.
Hier überrascht uns zuvörderst die Thatsache, dass unsere
Schrift mehrere Worte enthält, welche die übrigen Denkmäler
der griechischen Literatur überhaupt nicht oder nur ganz ver
einzelt darbieten, wie y.a'Aa^sX'.ix und aia^posftstv, während an
dere in der griechischen Prosa entweder (zum mindesten vor
der Kaiserzeit) ganz und gar oder doch in der hier beliebten
übertragenen Bedeutung unheimisch sind; in die erste dieser
Kategorien gehört ndnoreo?, in die letztere ßXaertdvetv und ßXd(ro]|j.oc.
Davon ist x.dp.a'toc darum ungemein vielsagend, weil die nicht
immer leicht zu ziehende Grenze zwischen ,ionisch 4 und ,poetisch 4
hier durch den Umstand mit Sicherheit gezogen wird, dass
der allen Gattungen der Poesie geläufige Ausdruck auch den
ionischen Prosawerken und darunter selbst jenen der hippo
kratischen Sammlung (auch im Sinne von Krankheit!) im
Uebrigen völlig fremd zu sein scheint. Für den metaphorischen
Gebrauch von ßXaorctveiv aber weiss ich nur einen prosaischen
Beleg anzuführen, jenes Bruchstück des Protagoras, welches
erst vor wenigen Jahren aus der syrischen Uebersetzung des
Pseudo-Plutarch 7cepi dccnwjtjew? bekannt ward: ,Nicht sprosst
Bildung in der Seele, wenn man nicht zu grosser Tiefe kommt 4
(Rhein. Mus. 27, 526), was doch kaum anders gelautet haben
kann als: cü ßXaaTdvei TraiSsi'y) sv -rij ituy») y -"h Füge ich noch die Be
merkung hinzu, dass in eben den ersten drei Paragraphen,
Reichen die angeführten Beispiele insgesammt entlehnt sind, auch
das überaus seltene sm06|rr ( p.a begegnet, gleichwie osfy.vup.t in der
ungewöhnlichen und poetischen Bedeutung von ,entdecken 4 und
endlich auch der meines Wissens nahezu unerhörte Plural atfoopo-
TrjVEc, 1 so dürfte wohl der Beweis dafür erbracht sein, dass das
Streben nach Schönheit und Erlesenheit des Ausdrucks die Wort-
wahl unseres Autors nicht wenig beeinflusst hat. Er bewegt sicli
hierbei in denselben Bahnen wie Protagoras und Gorgias. 2
12
IX. Abhandlung: Gomperz.
Was die Art des Satzbaues betrifft, so bedarf es keines
Beweises, dass die von Aristoteles sogenannte ,anreihende
Diction* (die etpo|AsvY) Ae^t?) in unserer Schrift die weitaus vor
herrschende ist. Der zweite Paragraph kann geradezu als ein
typisches Beispiel derselben gelten. Die Ansätze zu kunst
vollerer Periodenbildung erheben sich wohl nirgends über das
Mass, welches uns bei Antiphon begegnet 1 , bleiben aber in der
Regel hinter diesem gleichwie hinter dem, was Thukydides
hierin geleistet hat, weit zurück. Ungemein häufig ist jene
Art der Anknüpfung eines Satzes an den vorangehenden,
welche mittelst der Wiederholung eines in diesem enthaltenen
bedeutungsvollen Wortes erfolgt (vgl. z. B. 9 z. E.) — eine
Auskunft, welche zugleich der Unbeholfenheit entspringt und
dem Nachdruck dient und aus dem einen wie aus dem andern
Grunde zu den bezeichnenden Merkmalen der ältesten uns
erhaltenen Prosawerke, so des kerodoteischen, der Reden An
tiphons und der Schrift ,vom Staate der Athener* gehört. Damit
hängt es zusammen, dass unser Autor jene Ersatzmittel, welche
die Sprache in den Fürwörtern und in zusammenfassenden
Ausdrücken von der Art eines ,desgleichen*, ,und zwar* u. s. w.
darbietet, nur verhältnissmässig selten anwendet und es vorzieht,
Verba und Nomina ohne jede solche Abschwächung des Aus
drucks zu wiederholen. Die dadurch bewirkte häufige Wieder
kehr derselben Worte und Wortstämme fiel seinen Lesern
öffenbar ebenso wenig lästig wie jenen der soeben genannten
Schriftsteller oder auch des Anaxagoras oder des Diogenes
von Apollonia. 2 Doch scheint der Sophist, der nach rhetorischer
Wirkung strebt und seine Lehren mit dogmatischer Em
phase einschärfen und einprägen will, das Mass des Zeit
üblichen um Einiges überschritten und das, was ursprünglich
nur ein Ergebniss der Ungelenkkeit war, zu einem Kunstmittel
erhoben zu haben. Uns macht hier und anderwärts leicht den
Eindruck ausschweifender Uebertreibung, was für die Zeit
genossen nur um eine (dem Laienauge vielleicht kaum erkenn
bare) Linie über das Mass des Gewöhnlichen hervorragte.
■ Eine andere Eigentümlichkeit unserer Schrift ist eine
gewisse steife, abgezirkelte Regelmässigkeit, welche an
die Stilweise archaischer Bildwerke, wie z. B. der Aegineten,
erinnert. Diese Wirkung ist das Erzeugniss mehrerer sehr
Die Apologie der Heilkunst.
13
verschiedener Factoren. Zunächst kommt hierbei der künst
lerische Trieb und der geschulte Kunstverstand, welcher strenge
Gliederung der Rede heischt, ins Spiel, wobei diese in eine
Reihe zumeist an Umfang kleiner, scharf gesonderter, gelegent
lich durch auffälligen Wechsel des Tones sich von einander
abhebender Unterabtheilungen 1 zerfällt (vgl. in letzterem Be
tracht den Uebergang von 11 zu 12). Ihm gesellt sich ein
anderes, mehr logisches als rhetorisches Motiv, welches die
architektonischen Glieder des Baues feiner und feiner ’ aus
gestalten hilft. Der Verfasser zeigt ein oft bis ins Peinliche
gehendes Streben nach Correctheit und Vollständigkeit
des Ausdrucks. Daher die mehrfachen Unterscheidungen
von Synonymen (wie gleich im ersten Paragraph von p,wjj.eta0at
und SraßdXXstv), die oftmalige Verdeutlichung eines Begriffes
durch die Hinzufügung seines negativen Gegensatzes, die mit
jugendlichem Eifer ergriffene Verwerthung der grammatischen
Formverschiedenheiten zum Behufe begrifflicher Unterscheidung
(z. B. 11 ou Xap.ßav6p,£vos -jüp aXX’ eiXY)[xp,svoi 5ko tüv vocrp.d-nov Os-
Xou(j: OspaxeÜEcOat), die mitunter ans Schulmeisterliche streifende
Sorge, einem allgemeinen Satze eine einschränkende Klausel auf
dem Fusse folgen zu lassen, z. B. sofort in 1 jenes: ,wenn es
anders erfunden besser ist als nicht erfunden/ und ebenso darf
dort neben dem Erfinder der Vervollkommn er der Erfindung
keinen Augenblick fehlen. Wenn sich so in das Bild unseres
Sophisten ein einigermassen pedantischer Zug einmischt, so liegt
die Erklärung liiefür nahe genug. Der berufsmässige Lehrer
ist es gewohnt, jedes seiner Worte auf die Wagschale zu
legen; der streitbare Redner und Schriftsteller ist ängstlich
darauf bedacht, den ihn umdrängenden Gegnern und Rivalen
so wenig Blossen als möglich zu bieten. Dass logische und
sprachliche Unterscheidungen für ihn und seine Zeitgenossen
den Reiz der Neuheit besassen, dies werden wir gleichfalls
ohne Vermessenheit voraussetzen dürfen. Ueber diesen, man
möchte sagen felsigen Untergrund aber rauscht ein Strom der
Beredsamkeit hinweg, der bald in ruhiger Klarheit erglänzend,
bald in stürmischer Hast und Fülle dahinbrausend (vgl. 7 und
11), den Hörer unaufhaltsam mit sich fortreissen musste. Der
Verein von Formschönheit und logischer Strenge und der
eigenartige Wechsel von besonnenster Ruhe und leidenschaft-
14
IX. Abhandlung: Gomperz.
licher Bewegung, von äusserster polemischer Schärfe (äyvosi
ayvoiav äppio^ouGav p.avb) p.äAXov rj ap.aGiY] 8) und weltmännischer
Gewandtheit (man vergleiche den Schlussabschnitt) musste
eine blendende und berauschende Wirkung üben.
Fragen wir nunmehr nach den Kunstmitteln, welche
diese Beredsamkeit in ihren Dienst stellt, so dürfen wir vorerst
an zweierlei negative Umstände erinnern, welche für die Zeit
bestimmung der Schrift von erheblichem Belange sind. Sie
zeigt keine Spur eines folgerichtigen Strebens nach Meidung
des Idiats (vgl. Comment. zu 1), und nicht minder fremd ist ihr
die Scheu einer späteren Epoche, ,in bekannte Versarten, den
Hexameter z. B., zu gerathenk 1 Vielmehr steht unser Autor in
letzterem Betracht ganz und gar auf dem Standpunkt eines
Iieraklit, eines Herodot oder Protagoras, 2 Genauer gesprochen,
er meidet nicht nur nicht die Rhythmen der Poesie, er verwendet
sie vielmehr, man darf wohl sagen absichtlich (vgl. in 1 aXXa v.a-
Y.ot'iyeX'.i], — ec, to Ta töv ttsXa? spya, — in 2 otpOaXp.oTc.v eoetv) und
erinnert hierin einigermassen an Thrasymachos, der nach Cicero
Orator 175 .nimis numerose' geschrieben hat, nicht minder als
an die platonische Nachbildung der Sophistenberedsamkeit im
Symposion — eine Nachahmung, an welche wir auch anderweitig
mehrfach gemahnt werden. Sind dies insgesammt gemeinsame
Züge der vor-isokratischen Beredsamkeit, so gilt es jetzt auch
die Unterschiede ins Auge zu fassen, welche innerhalb dieser
frühesten Entwicklungsphase griechischer Eloquenz verschie
dene Gattungen und Richtungen von einander sondern. Die
Kühnheit der Metaphern ist eine ungleich geringere als bei
Gorgias und wohl auch bei Antiphon. 3 Die in Anwendung
kommenden Bilder dienen zur Beleuchtung der Argumente
und wachsen aus diesen wie ungesucht hervor. Sie sind
niemals Selbstzweck; die Stärke der Darstellung liegt vielmehr
in der kraftvollen Geschlossenheit der Beweisführung und in
der von dieser erforderten Proprietät des Ausdrucks (zupcoXeijta)
weit mehr, als in dem allerdings nicht gänzlich fehlenden
schmückenden Beiwerk. An Antithesen ist selbstverständ
lich kein Mangel. Denn wie anders als in Gegensätzen sollte
sich die zugleich so energische und in Betreff der Ausdrucks-
miltel noch einigermassen arme und einförmige Gedankenarbeit
unseres Autors bewegen? Allein sehr bezeichnend für ihn ist
Die Apologie der Heilkunst. 15
es, dass uns in der Regel und selbst dort, wo die Häufung
von Gegensätzen die stärkste ist (7), fast durchweg mehr
Real- als Verbalantithesen begegnen, bei welchen Gleichklang
nur selten und strenges Gleichmass der Glieder nicht allzu
geflissentlich erstrebt wird. Was sich von derartigem findet,
entspringt zumeist absichtslos dem begrifflichen Gegensatz (wie
jenes i) TOtpouaw] •!) aitoujfv) 9 oder otj/iq'> und eütoyjrfi 4). Auch
von sonstigen Assonanzen, welche die damalige Redekunst
so sehr liebte, wird nur ein massiger Gebrauch gemacht, und
gehören die betreffenden Fälle wohl ohne Ausnahme zu den
gangbarsten, allen Epochen und Gattungen der griechischen
Literatur geläufigen Zier mittein. 1 Ueber die ganze Darstellung
ist endlich ein Hauch von ionischer Anmuth, man möchte fast
sagen von ionischer Sangbarkeit gebreitet, wodurch sie sich
von der Strenge und Herbheit der Diction eines Antiphon
oder Thukydides aufs deutlichste abhebt.
Wenden wir uns von der Form zum Gehalt der Schrift,
so lässt sich ihr Urheber mit einem Worte am besten als
Aufklärer bezeichnen. Er hat, wie wir schon eingangs sahen,
über viele der grossen Fragen, welche seine Zeit bewegten,
nachgedacht, und von dem Umfang seines Nachdenkens müssen
wir angesichts der beträchtlichen Zahl allgemeiner Gedanken,
welche der Raum dieser wenigen Blätter und der Rahmen
ihres engbegrenzten Gegenstandes umschliesst, eine hohe Mei
nung gewinnen. Dass er ein Mann von universellster Bildung,
dass sein Gesichtskreis ein ungemein weiter war, ist selbst
verständlich. Nicht minder, dass er zu der Vorhut der er
leuchteten Geister seines Zeitalters gehörte. In hohem Grade
überraschend ist der baconische Geist, der die ganze Schrift
durchweht. Die sinnliche Wahrnehmung und die aus ihr ge
zogenen Schlüsse gelten dem Verfasser als die einzige Quelle
des ärztlichen wie jedes anderen Wissens. Die Natur, die
nicht freiwillig Rede steht, wird auf die Folter gespannt und
zur Zeugenschaft genöthigt — jenes baconische Bild, welches
der modernen Literatur so vertraut und dem Alterthum, so
viel ich weiss, im Uebrigen vollständig fremd ist. Wo die
Beobachtung, das Experiment und der auf sie gegründete
Schluss nicht ausreicht, dort erheben sich die unübersteiglichen
Schranken menschlicher Einsicht. Die allwaltende Causalität
*
16
I5t. Abhandlung: Gompörfc.
wird mit einer Schärfe und Strenge, wie sonst in jenem Zeit
alter nur von Demokritos, als die ausnahmslose Norm alles Ge
schehens anerkannt und verkündet. Das Verhältniss von Ursache
und Wirkung ist die Grundlage der Voraussicht, wie diese die
Grundlage der rationellen Praxis ist. Die Dinge haben feste,
sicher begrenzte Eigenschaften. Um verschiedene Wirkungen
zu erzielen, müssen verschiedene Ursachen ins Spiel kommen;
was in einem Falle nützt, muss in einem sehr verschiedenen oder
entgegengesetzten schaden; was durch richtigen Gebrauch sich
als heilsam erwies, muss sich durch unrichtigen Gebrauch als
verderblich erweisen. Die Begrenztheit menschlichen Könnens
wird aufs deutlichste erkannt und aufs allereindringlichste
betont. Von jeder Masslosigkeit der Prätensionen in Betreff
der dem Menschen erreichbaren Naturbeherrschung ist unser
Autor eben so weit entfernt wie von aller fantastischen Willkür
in Betreff der Natur-Erklärung und Erkenntniss. Dass eine
Schrift, welche das Evangelium des inductiven Geistes mit so
vollendeter Klarheit und mit so unübertroffenem Nachdruck
predigt, von den Neueren ganz und gar vernachlässigt und in
der Geschichte der Wissenschaft und der Philosophie bisher
kaum einer Erwähnung werth gefunden ward, dies darf als
eine der befremdlichsten Thatsachen gelten, welche die Lite
raturgeschichte verzeichnet. Doch ich habe Unrecht. Der
Text unserer Sophistenrede liegt freilich noch gar sehr im
Argen und zeugt von dem geringen Antheil, welchen sie den
Philologen und den in ihren Spuren wandelnden Historikern
eingeflösst hat. Allein jene Gleichgiltigkeit, die uns in Er
staunen setzt, war doch keine ausnahmslose. Ein glänzender
Vertreter der letzten grossen Aufklärungsepoche, Pierre Jean
George Cabanis, hat in seinem Buche ,Du Degre de Certitude
de la Mcdecine' der Schrift fiep! ts/vtjc, die ihm natürlich als
das Werk des grossen Hippokrates gilt, die volle ihr gebüh
rende Ehre erwiesen. An allen Gipfelpunkten seiner Beweis
führung berührt er sich nicht nur mit den darin dargelegten
Lehren aufs engste, er wird auch nicht müde, grosse Stücke
derselben theils in buchstäblicher Uebersetzung, theils in freier
Wiedergabe anzuführen (man vergleiche p. 65—66, 104, 126,
wohl auch 109 der Pariser Ausgabe vom Jahre 1803). Und
am Schlüsse seines Werkes, wo er die Hauptpunkte seiner
Die Apologie der Heilkunsfc.
17
Argumentation zusammenfasst, thut er kaum etwas anderes,
als dass er die Grundgedanken unserer ihm so wohlbekannten
Schrift in wenig veränderter Fassung wiedergibt (p. 160, vgl.
auch p. 112—113 und 124—125).'
Die These, welche unser Autor zu erhärten unternimmt,
ist in Wahrheit eine zwiefache. Die Natur der Dinge über
haupt und die Beschaffenheit des menschlichen Körpers ins
besondere bilden eine ausreichende Grundlage für den Bestand
der Heilkunst —; und andererseits: diese Kunst besteht in
Wirklichkeit, und ihre Adepten erzielen die erheblichsten Er
folge. Der erste Theil dieser Aufstellung wird, wie jeder ein
sichtige Eeser zugestehen muss, wirklich und nicht bloss
scheinbar erhärtet. Die Elemente des Beweises sind eben jene,
welche der Arzt Mirabeau’s am Schlüsse seines Buches anführt.
In einer Welt, in welcher alle Dinge feste Eigenschaften be
sitzen und alle Vorgänge nach unverrückbaren Ordnungen ver
laufen, in welcher es ferner sehr zahlreiche dem menschlichen
Machtbereich unterworfene Factoren gibt, welche unser gesundes
und krankes Leben in der mannigfachsten Weise beeinflussen,
ist an sich die Möglichkeit vorhanden, durch die angemessene
Auswahl und Verwendung dieser Factoren'auf die Krankheits
phänomene einzuwirken (5, 6), — vorausgesetzt, dass der mensch
lichen Wahrnehmung und Intelligenz das hierzu erforderliche
Mass von Einsicht in den Verlauf der Krankheitsprocesse ge
gönnt ist. Das letztere sucht unser Redner durch die höchst
überraschenden Ausführungen zu erweisen, welche den Schluss
der Schrift ausmachen und in denen die damals bekannten
diagnostischen Hilfsmittel zusammengefasst und in geistvollster
Weise unter allgemeine, zum Theil rein physikalische Gesichts
punkte gerückt werden (13). Die Gesammtheit dieser Erör
terungen bildet ein in sich wohlgeschlossenes Ganzes, welches
dem Büchlein, das sie enthält, unseres Erachtens einen unver
gänglichen Werth verleiht und es zu einem hochwichtigen
Markstein in der Entwicklung des hellenischen Geistes macht.
Dasselbe leistet insofern all das, was von dem Erzeugniss eines
höchstgebildeten Denkers und Schriftstellers, der sich mit dem
Fachwissen seiner Zeit genügend vertraut gemacht hat, um
die leitenden Gedanken desselben zu durchdringen und zu
beherrschen, irgend erwartet werden kann.
Sitaungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh
2
18
IX. Abhandlung: Gomperz
Anders steht es mit dem zweiten Theil der Aufgabe, die
unser Autor sich gestellt hat. Wie der Beweis, dass die
Aerzte eines bestimmten Landes oder Zeitalters in Wahrheit
das leisten, was sie zu leisten vorgeben, überhaupt erbracht
werden kann, dies ist nicht eben leicht zu sagen. Fehlt es
doch aiTch heute, selbst in den Kreisen der Höchstgebildeten,
nicht an Solchen, welche sich den Ansprüchen der Heilkunst
gegenüber, nur etwa von den chirurgischen und den sonstigen
ärztlichen Eingriffen abgesehen, welche eine unzweideutige
augenblickliche Wirkung üben, durchaus ablehnend und
skeptisch verhalten. Und auch an Logikern von höchstem
und bestverdientem Rufe hat es in unserem Jahrhundert nicht
gefehlt, welche angesichts der Unzahl der bei jedem einzelnen
Krankheits- und Genesungsfalle zusammenwirkenden, zum
grössten Theil uncontrolirbaren Factoren alle specifische Er
fahrung auf diesem Gebiete für trügerisch und es für unmöglich
erklärt haben, die Heilkraft irgend einer Arzenei auf anderem
als auf deductivem Wege, d. h. auf Grund der durch das
Experiment festgestellten physikalischen, chemischen oder phy
siologischen Eigenschaften derselben zu erkennen. 1 Liegen hier
auch unzweifelhafte Uebertreibungen vor, so darf doch daran
erinnert werden, dass eben die Forschungsmittel, welche diese
Skepsis in erheblichem Masse einzudämmen gestattet haben,
dem Zeitalter, dem unsere Schrift entstammt, völlig unbekannt
waren. Ich spreche von den Fortschritten der Naturwissen
schaft, welche die zuletzt genannte Forderung doch mindestens
in einer kleinen Zahl von Fällen zu erfüllen erlaubt haben, von
der das specifische Experiment bis zu einem gewissen Grade
ersetzenden annähernd genauen Beobachtung von Massen
erscheinungen (Morbilitäts- und Mortalitäts-Statistik) 2 , schliess
lich von der seither so unendlich weit vorgeschrittenen Dia-
gnostik und der durch die pathologische Anatomie geschaffenen
Controle ihrer Ergebnisse. Unter diesen Umständen blieb
unserem Apologeten nur zweierlei übrig: der Hinweis auf die
rohe, unzergliederte Erfahrung und die auf ihr beruhende
nichts weniger als einmüthige allgemeine Meinung; ferner und
hauptsächlich die Aufdeckung der mannigfachen Fehlerquellen,
aus welchen so viele irrthümliche, der Werthschätzung der
Heilkunst abträgliche Urtheile fliessen. Und dies sind in der
Die Apologie der Heilkunst.
19
That die Wege, welche unser Schutzredner betreten hat und
zumeist mit unleugbarem beträchtlichem Geschicke gewandelt
ist. Aber freilich ist dies auch der Punkt, an welchem die
Schwächen seiner Darstellungsweise am deutlichsten hervor
treten. Es sind dies eben die Schwächen, welche jedem wie
immer gearteten Plaidoyer, im weitesten Sinne dieses Wortes,
anzuhaften pflegen. Wo vollgültige Beweise fehlen, da stellt
sich ja allenthalben gar leicht das Bestreben ein, nur halb
zulängliche Argumente für völlig ausreichende auszugeben und
die Lücken der Beweisführung durch blosse zuversichtliche Be
hauptungen zu verdecken. Dieser advocatenhafte Zug, welchem
wir selbst in angeblich rein wissenschaftlichen, nur der syste
matischen Ergründung der Wahrheit gewidmeten, an einen
erlesenen Kreis von Fachmännern gerichteten Darlegungen nur
allzu oft begegnen, ist den Reden und Schriften, die eine be
stimmte These zu erhärten unternehmen und sich an eine weit
ausgedehnte, bunt zusammengesetzte Zuhörerschaft wenden,
allezeit eigen, •— den Erzeugnissen antiker und moderner Volks-,
Parlaments- und Kanzelberedsamkeit nicht minder als jenen
der heutigen Journalistik und der Popularphilosophie aller
Epochen. Dem Werke unseres Anwalts kann dieser Zug um
so weniger fremd sein, da die ungewöhnlich weit getriebene
Sorge um Schönheit des Ausdrucks, um Wohlklang und rhyth
mischen Tonfall jene behutsamen Einschränkungen, jene ängst
lich bemessenen Unterscheidungen zwischen Möglichkeit und
Wahrscheinlichkeit, zwischen Wahrscheinlichkeit und Gewiss
heit, welche das innerste Wesen streng wissenschaftlicher
Darstellung ausmachen, wie von selber zurückweist. Einige
Beispiele mögen das Gesagte verdeutlichen helfen.
Nichts kann zugleich wahrer und bedeutsamer sein als
die scharfe Grenzlinie, welche der Verfasser zwischen den an
Zahl geringen Krankheiten zieht, die sich durch unverkennbare,
an der Oberfläche des Leibes wahrnehmbare Veränderungen
kundgeben, und der weitaus grösseren Anzahl derjenigen
Leiden, bei denen nichts derartiges der Fall ist (9). Nichts
ist berechtigter als der Hinweis auf den Umstand, dass uns
bei der ersten Gruppe von Erkrankungen die Natur selbst ein
belangreiches diagnostisches Hilfsmittel darbietet, welches uns
bei der letzteren im Stich lässt. Dass aber jene darum auch
2*
20
IX. Abhandlung: Go mp er 2.
dem Bemühen des Arztes durchweg geringere Schwierigkeiten
in den Weg stellt als diese, das behaupten, hiesse schon einen
gewagten, durch den thatsächlichen Sachverhalt keineswegs
genügend gestützten Schluss ziehen. Man denke beispiels
weise an die ßeulenpest oder an jene oft todbringenden Aus
schläge, deren die Heilkunst heute so wenig wie im Alter
thum Herr geworden ist. Der Verfasser bleibt aber selbst
hierbei nicht stehen; er versteigt sich zu dem vermessenen
Ausspruch, die Heilung dieser Krankheiten müsse den tüchtigen
Aerzten immerdar und ausnahmslos gelingen. Ebenso verfolgt
er (11) den an sich zugleich tiefsinnigen und geistvollen Ge
danken, dass zwischen Erkenntniss der Krankheitsursachen
einerseits, Prophylaxis und Therapie andererseits der engste
Zusammenhang bestehe, im Feuer der Rede bis zu einem un
zulässigen Schlüsse (st vap vjiciVrocvTo -— p.öyaAuvecOai). Eine wahr
scheinlich unabsichtliche Aequivocation liegt uns (6) in der
bedeutsamen auf das aü-sjjujctov bezüglichen Stelle vor Augen.
Der Satz, dass nichts ursachlos geschieht, ist nicht identisch
mit dem andern, dass keine Wirkung und somit auch keine
Heilwirkung ohne eine äussere Ursache erfolge. Doch ist diese
Irrung in dem Zusammenhang, dem sie angehört, von ver
gleichsweise geringem Belang. Denn dort, wo eine Gesundheits
störung ohne jedes äussere Zuthun durch das blosse Wirken
der sogenannten Naturheilkraft überwunden wird, ist doch zum
mindesten die Fernhaltung störender Einflüsse erforderlich;
und unser Anonymus durfte insofern nicht mit Unrecht be
haupten, dass keine Krankheitsheilung mit voller Sicherheit
als eine völlig und ausschliesslich spontan erfolgende ange
sprochen werden könne. Nur die causale Verknüpfung der
Sätze bleibt eine unrichtige, da die Leugnung des au■wp.arov im
Sinne der Ursachlosiglceit nicht auch die Verneinung der
Spontaneität der Heilungen in sich schliesst. Gleichwie in
dieser Glanzpartie unserer Schrift, so laufen auch in einer
anderen die Fäden der Wahrheit und des Irrthums gar seltsam
durcheinander. Ich spreche vom § 5, wo unser Autor mit
meisterhaftem taktischem Geschick und zugleich mit tiefster
Einsicht in die Natur der Sache das Walten der Heilkunst
über die Grenzen ihrer berufsmässigen Pflege ausdehnt und
auch jene Laien, welche zufällig und absichtslos auf diätetisch
Die Apologie der Heilkunst.
21
oder therapeutisch heilsame positive oder negative Massnahmen
verfallen (man beachte in letzterer Rücksicht die Worte: ott
t) Spörne; ti Yj p.ij Spörne;), darunter auch solche, welche der
Kunst der Aerzte skeptisch gegenüberstehen (ol [j.tj vop/ZovTe;
aü-tjv etvott), als Zeugen für ihren Bestand anruft. Was er damit
als thatsächlich vorhanden erweist, ist die Naturbasis der
Heilkunst, nicht diese selbst, wie sie von ihren fachmännischen
Vertretern geübt wird, und hundertmal Recht hat er ohne
Zweifel, das Schwergewicht seiner Argumentation nicht auf
diese, sondern auf jene zu legen. Allein der Begriff der irjTpafj
geräth dadurch in ein gar bedenkliches Schwanken; er schillert
zwischen den beiden Bedeutungen in einer Weise, die gleich
sam nach einem eindringlich prüfenden, die Begriffe sichtenden
und die Schlüsse wägenden Sokrates zu rufen scheint.
In anderen Fällen tliut jedoch bei der Würdigung der
in Anwendung gebrachten Beweisgründe grosse Vorsicht noth.
Einzelargumente, die, so lange wir sie isolirt betrachten, den
Eindruck des Trügerischen machen und zum mindesten blosse
Möglichkeiten für Wirklichkeiten auszugeben scheinen, ver
lieren diesen Charakter, sobald wir andere Partien der Schrift
zu ihrer Beleuchtung heranziehen. So jener Satz (11): ,Denn
wenn die Krankheit vom selben Punkte wie die Behandlung
ausgeht, so ist sie nicht schneller, wohl aber, wenn sie einen
Vorsprung gewonnen hat. Einen Vorsprung aber gewinnt sie
durch die Dichtigkeit der Körper, vermöge welcher die Krank
heiten nicht offen zu Tage liegen, und durch die Lässigkeit der
Kranken/ Man thäte dem Verfasser das schwerste Unrecht,
wenn man diese Behauptung in der vollen Allgemeinheit, mit
welcher sie ausgesprochen wird, für seine wahre Meinung hielte
und ihm demgemäss die ungereimte Ansicht zur Last legte, es
sei lediglich der verspätete Beginn der ärztlichen Behandlung
an ihren gelegentlichen Misserfolgen schuld, mit anderen
Worten, es gebe keine an und für sich unheilbaren Krank
heiten. Diese so naheliegende Auslegung ist darum grund
falsch, weil unser Apologet keinen Gedanken so oft und so
nachdrücklich ausspricht als den, dass es Leiden gibt, welche
die ärztliche Kunst an und .für sich zu bewältigen unver
mögend ist, weil die ihr zu Gebote stehenden Mittel begrenzt
und gar häufig schwächer sind als die Stärke der Krankheit
22
IX. Abhandlung: Goinperz.
(man vergleiche 3, 8, 11, 14). Mithin ist der obige Ausspruch
nicht die willkürliche Verallgemeinerung, als welche er auf den
ersten Blick erscheint, sondern er kann im Grunde nichts an
deres besagen sollen als dies. An sich heilbare Leiden nehmen
keinen so raschen ungünstigen Verlauf, dass die ärztliche Kunst
sie nicht zu ereilen vermöchte; denn wie könnten sie sonst heilbar
sein? Wohl aber findet dies dann statt, wenn sie einen Vorsprung
gewonnen haben, welchen ihnen eben die zwei hier namhaft
gemachten Ursachen häufig gewähren. Nicht viel anders steht
es um die wenige Zeilen vorher begegnende Behauptung, dass,
wo die Natur der Körper die Erkenntniss gestattet, sie auch die
Heilung erlauben wird. Auch hier steht der anstössigen All
gemeinheit des Satzes die vorerwähnte weitreichende Ein
schränkung gegenüber. Dies sind, so weit wir zu urtlieilen
vermögen, die einzigen, nicht eben zahlreichen Fälle, in welchen
sich der Verfasser der Schrift ,von der Kunst' von seinem
oratorischen und apologetischen Eifer zu ungebührlichen Auf
stellungen oder doch zu Aeusserungen fortreissen lässt, welche
mindestens in formaler Rücksicht nicht als völlig tadellos gelten
können.
Auf ein anderes Kerbholz sind die groben Irrungen zu
schreiben, die uns in dem so denkwürdigen metaphysischen
Abschnitt (2) begegnen. Denn wollten wir in diesen nur ge
legentliche und gleichsam zufällige logische Verstösse oder
gar blosse rhetorische Fechterstreiche unseres Ungenannten er
blicken, so würden wir in dem einen Falle von seiner Ein
sicht allzu gross, in dem andern von seiner Redlichkeit allzu
gering denken. Dass hier vielmehr ernste, wenn auch noch
so irrthümliche Ueberzeugungen zum Ausdruck kommen, daran
können wir, so schwer uns dies auch fallen mag, vornehmlich
aus zwei Gründen nicht zweifeln. Einmal deshalb, weil im
Beginn des folgenden Abschnitts auf eine genauere und mehr
systematische Ausführung des hier beiläufig verwendeten Ar
gumentes verwiesen wird, nicht minder darum, weil die Be
griffsverwirrung, die uns in so grosses Erstaunen setzt, nicht
etwa nur an dieser Stelle auftaucht, sondern das gemeinschaft
liche Eigenthum des Zeitalters ist, dem unsere Rede angehürt.
Die Heilkunst muss in Wahrheit existiren, da wir von dem
Nichtexistirenden überhaupt keine Kunde haben — dies klingt
Die Apologie der Heilkunst.
23
unseren Ohren wie der Traum eines Fieberkranken. Allein
die Lehre, dass einer vorhandenen Vorstellung eine Realität
entsprechen müsse, weil wir von dem Unwirklichen keine
Kenntniss besitzen könnten, ist selbst dem Denker nicht völlig-
fremd, den wir bereits als den metaphysischen Gegenfüssler
unseres Sophisten kennen gelernt haben, nämlich dem Melissos',
und lässt uns schon hierdurch die grosse Ausdehnung ihres
Verbreitungsgebietes erkennen. Das hierauf bezügliche Pro
blem, wie es denn möglich sei, etwas Unwirkliches für wirk
lich zu halten, Unwahres zu glauben oder selbst- nur auszu
sprechen, erscheint auch bei Plato mehrfach als eine ernste
Denkschwierigkeit, welche seine Vorgänger und Zeitgenossen
in Athem gehalten 2 und die er selbst nicht ohne einen beträcht
lichen Aufwand energischer Geistesarbeit überwunden hat. Die
Wurzel dieses wunderlichen Irrthums aber ist in der noch un
zulänglichen Unterscheidung zwischen Urtheil und Anschauung,
in der noch fehlenden Analyse des Erkenntnissprocesses zu
suchen 3 . Dieselbe prägt sich, wie wir schon eingangs bemerkt
haben, auch in der philosophischen Sprache unseres Anonymus
nicht minder als in jener des Sophisten Antiphon, des Kritias
oder Melissos deutlich aus, ja sie hat auch auf Plato selbst
nicht jeden Einfluss zu üben verfehlt und, wenn dies auszu
sprechen erlaubt ist, in seiner Ideenlehre ihren, man möchte
sagen weltgeschichtlichen Ausdruck gefunden.
Doch ich habe vielleicht schon allzuviel behauptet. Die
Lehre, dass jeder Vorstellung eine Wirklichkeit entspreche 4 ,
scheint in 2 ziemlich unzweideutig ausgesprochen. Allein wie
lässt sich damit die auf das au-sga-sv bezügliche Erörtex-ung in
6 zusammenreimen, in welcher diesem Begriff jegliche Realität
abgesprochen wird, so dass von ihm nichts als ein blosser
Name übrig bleibt? Die den alten Denkern gegenüber so
beliebte Auskunft, sie seien sich des widerspruchsvollen Cha
rakters ihrer Lehren nicht bewusst geworden, dürfte diesmal
schwerlich Stich halten. Denn der Widerspruch wäre ein zu
augenfälliger und die Nachbarschaft der beiden Stellen eine
zu nahe, als dass man derartiges auch bei einem schwächeren
Geiste als dem unseres Autors für irgend möglich halten könnte.
Man wird vielmehr nicht umhin können anzunehmen, dass jene
zu so verkehrten Folgerungen führende Doetrin im Geiste ihres
24
IX. Abhandlung: Gomperz.
Urhebers von Vorbehalten und Einschränkungen begleitet war,
welche uns unbekannt sind, auf deren Vorhandensein aber er
selbst durch die Anfangsworte des 3. Abschnitts, in welchem auf
eine vollständigere und klarere Darlegung jener Lehren Bezug
genommen wird (gr, ly.avüc, aacpeuTspov), hinzuweisen scheint 1 .
Wir können uns der Aufgabe nicht entschlagen, nach dem
Ursprung jener zu so ungereimten Consequenzen führenden
Lehre zu forschen. Es ist nicht leicht, aber unerlässlich, sicli
einen Geisteszustand zu vergegenwärtigen, in welchem der Er-
kenntnissprocess noch ganz und gar keiner eindringenden Zer
gliederung unterzogen worden war und in welchem demgemäss
so fundamentale Verrichtungen wie das Wahrnehmen, das Vor
stellen und Urtheilen noch nicht scharf von einander gesondert
waren, ja jeder festen Bezeichnung ermangelten. Da konnte
es kaum anders geschehen, als dass der irreleitende Einfluss,
welchen die Formen der Sprache allezeit zu üben geeignet
sind, ein nahezu überwältigender waf. Abstractionen tragen
dasselbe sprachliche Gewand wie die Gegenstände
sinnlicher Wahrnehmung. Die letztere erscheint dadurch
nur allzu leicht als der Typus jeglicher Erkenntniss, und was
von ihr mit Recht oder Unrecht gilt, wird unbedenklich auch
auf diese übertragen. Ein Urtheil oder vielmehr eine lange
und complicirte Reihe von solchen, welche in den Ausspruch
mündet: Eine Kunst, eine Wissenschaft, eine Tugend u. s. w.
existirt, — erscheint in demselben Lichte wie ein solches, wel
ches die Existenz irgend eines Dinges der Sinnenwelt behauptet.
Wie das letztere auf ein Schauen oder Wahrnehmen irgend
welcher Art gegründet ist, so scheint auch das erstere auf
einen derartigen Vorgang zurückzugehen. Mit anderen Worten,
ein naiver Realismus (im scholastischen Sinn des Wortes) steht
ebenso naturgemäss an der Spitze alles metaphysischen Denkens,
wie der Fetischismus oder der Polytheismus an der Spitze des
theologischen Denkens stehen. Trachten wir von hier aus den
individuellen Standpunkt unseres Ungenannten genauer zu um
grenzen, so müssen wir uns der folgenden Thatsachen erinnern.
Wir haben den Verfasser der Schrift ,von der Kunst'
bereits als einen Gegner der Eleaten, zumal des jüngsten Ver
treters dieser Schule, des Melissos, kennen gelernt. Desgleichen
haben wir den metaphysischen Haupttrumpf nicht vergessen,
Die Apologie der Heilkunst.
25
der augenscheinlich den Kern- und Centralpunkt seiner onto
logischen Lehre bildet und welchen er Widersachern gegen
über auszuspielen so sehr gewohnt ist, dass er auch bei diesem
speciellen Anlass seiner wenigstens vorübergehend zu gedenken
nicht umhin kann und der also lautet: das Wirkliche wird
allezeit geschaut und erkannt, das Unwirkliche aber wird
weder geschaut noch erkannt. Dieser Satz bezieht sich, wie
von vornherein zu vermuthen stand und der von uns hervor
gehobene gegnerische Satz des samischen Denkers ausser Frage
stellt, zunächst und ursprünglich auf die Realität der Sinnen
welt. Der summarischen Leugnung derselben gegenüber, welche
die Eleaten verkündet und zumal Melissos auf eine Reihe der
gröbsten Fehlschlüsse gestützt hatte, war die Selbstbesinnung
am Platze, welche sich zu Aeusserungen gleich den folgenden
gedrängt sehen mochte. Wir Menschen können die Schranken
unserer Natur nicht durchbrechen. Die für uns überhaupt
erreichbare Wahrheit muss innerhalb derselben gelegen sein.
Wenn wir das Zeugniss unserer wahrnehmenden Fähigkeiten
einfach verwerfen, mit welchem Recht können wir unseren
sonstigen Fähigkeiten vertrauen, und vor Allem, wo bleibt uns
dann noch ein Stoff der Erkenntniss übrig? Ja mehr als das,
wo sollen wir ein Kriterium der Wahrheit suchen, und welchen
Sinn können wir mit den Worten ,wahr* und ,unwahr* ver
knüpfen, sobald wir die uns allein zugängliche, die menschliche
Wahrheit in Bausch und Bogen verworfen haben? Diese und
ähnliche Erwägungen mussten, wie das Echo der Stimme folgt,
als der natürliche und in nicht geringem Masse als der be
rechtigte Rückschlag des gesunden Sinnes und der vertieften
Reflexion des Zeitalters gegen die eleatischen Paradoxien laut
werden. Zugleich musste es mit Wunderdingen zugehen, wenn
diese Reaetion nicht über das Ziel geschossen hätte, wenn sie,
die in erster Reihe der Rehabilitation des Sinnenzeugnisses
galt, an eben dieser Stelle Halt gemacht und nicht die damals
noch so schwankende Grenzlinie zwischen ,Wahrnehmung und
Urtheil, Wahrnehmungsurtheil und Urtheil überhaupt* 1 zum
Mindesten gelegentlich überschritten hätte. Was wir wahr
nehmen, ist wirklich; so lautete der wesentliche und gleich
sam kernhafte Theil der dem melisseischen Satz gegenüber
tretenden These. Auch Urtheile, die den blossen Schein von
26
IX. Abhandlung: Gomperz.
Wahrnehmungen besitzen, ruhen auf gleich sicherer Basis —
diese Behauptung war gleichsam der Schweif, der sich an jenen
leuchtenden Kern heftete und sein Licht zu einem trügerischen
und vielfach verwirrenden machte. Wir täuschen uns wohl
nicht, wenn wir den Standpunkt unseres ungenannten Denkers
hiermit einigermassen enger umschrieben zu haben wähnen.
Ihn in völlig klare und unzweideutige Worte zu fassen, wäre
wahrscheinlich ein vergebliches Bemühen, schon darum, weil
es geläutertere und festumgrenzte Gedanken einer reiferen
Epoche an die Stelle der imsicheren und tastenden Versuche
einer früheren Stufe der Geistesentwicklung setzen würde.
Der Fortgang unserer Untersuchung nöthigt uns, den
Wortlaut des soeben erörterten Satzes zu wiederholen und ihm
einen Ausspruch gegenüberzustellen, der ebenso allbekannt
und vielberufen ist, wie sein in der ärztlichen Schriftensamm
lung verborgener Widerpart bisher wenig gekannt und gewür
digt war. Ich meine den so vielfach, ja bis zum Ueberdruss
behandelten, auch in unserer Literatur typisch gewordenen
Kernsatz des Sophisten Protagoras, welcher den Menschen
zum Mass der Dinge erhoben hat:
’AXXä xa 1-i.ev sovxa atst Spaxa! xs y.a'i
Yivoxjxäxai, x« 5s pd) sövxa ooxs
öpaxai oiixs -jrvibaxexat.
[Hippocrat.] De arte 2.
llavTWV “/pyjptaxtov p.sxpov avOpunto;,
xwv p.sv eövxwv, iL? Hart, xüv oe pd]
eovxwv, ü; oüz saxiv.
Protagoras, Frg. 1 Frei = Frg. 2
Vitringa.
Ich nehme keinen Anstand, es als meine seit Jahrzehnten
feststehende und, wie ich glaube, sicher erweisliche Ueber-
zeugung auszusprechen, dass die zwei hier nebeneinander ge
stellten Sätze genau dasselbe besagen. Die rastlose gelehrte
Arbeit der jüngsten Vergangenheit und der Vorgang trefflicher
Forscher, unter welchen ich Peipers, Laas und Halbfass 1 nicht
ungenannt lassen will, erlaubt es mir, diesen Erweis mit einem
ungleich geringeren Aufwand von Worten und zugleich wohl
auch mit grösserer Aussicht auf Erfolg zu führen, als dies in
der Zeit, welcher jene Wahrnehmung entstammt, irgend mög
lich gewesen wäre. Die Identität der beiden Sätze wird in der
That von Niemandem geleugnet werden, der die nachfolgende
gegenwärtig nicht mehr völlig neue Aufstellung zugibt: der
Die Apologie der Heilkunst.
27
Homo mensura-Satz hat ursprünglich und wesentlich generelle,
nicht individuelle Bedeutung, und er gilt der Existenz, nicht
der Beschaffenheit der Dinge. Um die Richtigkeit dieser Aus
legung zu erkennen, tliut nichts anderes noth, als dass man
den Wortlaut des Bruchstücks von den in alter und neuer Zeit
ihm aufgedrängten Deutungen befreie und es mit derselben
unbefangenen Treue auszulegen sich bemühe, welche man an
deren Ueberresten der Vergangenheit gegenüber in Anwendung
zu bringen längst gewohnt ist. Dass diese Ermahnung den
Auslegern unseres vielumstrittenen Bruchstücks gegenüber nicht
völlig überflüssig ist, dies wird wohl die folgende Darlegung
sattsam lehren. Wer nämlich die herkömmliche individua
listische Deutung desselben aufrechterhält, der muss noth-
wendig, falls er nicht etwa von dem Wortlaut des Fragmentes
überhaupt abzusehen und die von Plato beliebte Verwendung
desselben an seine Stelle zu setzen vorzieht 1 , einen von zwei
Wegen betreten, welche ich gleichmässig als Irrwege bezeich
nen zu dürfen glaube. Denn der eine von ihnen ist zwar sach
lich möglich, aber sprachlich unmöglich, während von dem
andern genau das Umgekehrte gilt. Wenn — so folgere ich —
Protagoras mit jenem Satze das Individuum für das Mass aller
Dinge erklären soll, so muss er hierbei entweder an die Be
schaffenheit oder an die Existenz der Dinge denken. Die
erstere Deutung wäre sachlich nicht unzulässig, da ja die in
dividuellen Verschiedenheiten der sinnlichen Wahrnehmung in
jenem Zeitalter bereits die Aufmerksamkeit der Philosophen
auf sich zu lenken begonnen hatten. Allein sie scheitert un
bedingt an dem Wörtchen wo, welches man dann, wie dies z. B.
kein Geringerer als Zeller 2 thut, mit ,wie‘ übersetzen muss —
eine Uebertragung, gegen welche der Sprachgebrauch des
Protagoras, wie er aus dem Götter-Bruchstück und der darin
vorkommenden genau parallelen Wendung (icepl p.sv Gewv ouy s/w
eiSevai oute üq elaiv oute w? ouy. elal'i %xe.) deutlichst erhellt,
eine auf keine Weise zu beseitigende Einsprache erhebt. Neben
bei darf man daran erinnern, dass in jenem Falle das negative
Satzglied (kwv Se [A) eovtwv , w; ouy. low, des Nicht-Seienden,
wie es nicht ist) keinerlei verständlichen Sinn ergibt 3 . Was
nun die zweite Auffassung anlangt, so unterliegt sie zunächst
einem Einwand, der sie gemeinsam mit der ersten trifft. Denn
28
IX. Abhandlung: Gomperz.
meines Erachtens konnte Niemand, der nicht mit voreingenom
menem Sinn an das Fragment herantrat, jemals auf eine Aus
legung verfallen, welche unter dem ,Menschen' schlechtweg,
zumal dort, wo dieser der Gesammtheit der ,Dinge' gegenüber
gestellt wird, nicht den Menschen als solchen, sondern ganz
im Gegentheil den Einzelnen in seiner Besonderung und in
seinem Gegensätze zu anderen Einzelnen versteht. Allein von
diesem Argument abgesehen, welchem nicht alle eine gleich
zwingende Gewalt zuerkennen werden, lässt sich diese Deutung
nicht vom sprachlichen Gesichtspunkt aus als geradezu und
unbedingt unmöglich in eben dem strengen Sinne bezeich
nen, wie dies von ihrer Vorgängerin gilt. Was soll es aber
heissen, wenn das Individuum als der Massstab für die Existenz
aller Dinge erklärt wird? Dies könnte, wenn irgend etwas, so
nur die vollständige Leugnung objectiver Realität der Dinge
besagen, mit anderen Worten, es wäre ein — nebenbei über
die Massen ungeschickter — Ausdruck für den erkenntniss-
theoretisclien Standpunkt der kyrenaischen Schule, auf welchem
weder für ,Dinge' noch für den Begriff des ,Seins' oder der
Existenz, sondern nur für individuelle , Affectionen' (jadr,) Raum
vorhanden war. Das ganze Alterthum aber hat den Standpunkt
der Kyrenaiker und jenen des abderitischen Sophisten unter
schieden und auseinandergehalten. Und zwar mit vollstem
Rechte: denn aus inneren wie aus äusseren Gründen steht das
Eine unbedingt fest, dass die Lehre des Protagoras nicht ein
fach mit jener des Aristippos identisch war.
So wird es denn bei jener Deutung des Homo mensura-
Satzes sein schliessliches Bewenden haben, welche ihn mit dem
metaphysischen Hauptsatz unserer Schrift als völlig gleichwerthig
erscheinen lässt 1 . Der Ausspruch: ,Aller Dinge Mass ist der
Mensch, derer, die sind, dass sie sind, und derer, die nicht
sind, dass sie nicht sind', und jener andere: ,Das Seiende wird
immer geschaut und erkannt, das Nicht-Seiende aber wird
weder geschaut noch erkannt' besagen ganz und gar dasselbe.
Wie nahe übrigens die Gefahr lag, dem Satz eine überwiegend
individualistische Deutung zu geben, dies erhellt auch aus der
neuen Fassung, in welcher er uns hier vorliegt. Denn was
liesse sich wohl demjenigen erwidern, der in dem Wort
(ja |j.;v sovta aisi öpäxa! ts y.at y.'Hlxsxexai) einen Hinweis auf die
Die Apologie der Heilkunst.
29
Mannigfaltigkeit individueller Wahrnehmungen und Meinungen
erblickte? Sicherlich nichts anderes, als dass der Zusammen
hang, in welchem das Satzglied auftritt, dieser Auslegung
widerstreitet. Und noch weniger ungünstig erscheint derselben
ein vorhergehender Satz, so lange man ihn isolirt auffasst,
nämlich die Worte: eitel xwv ys p.v) ecvxuv xi'va av x!? obcriijv Osvj-
ragevo; äiiayysiXetsv ü; ecxiv; Man verwandle die rhetorische Frage
in die durch sie beabsichtigte Verneinung, und man gewinnt
den Satz: xwv yap p.f, sövxwv cüSsig oüäsp.iav av oiianjv 0e7)aa]j.evo?
ixitayyeOveiev up loxiv. Man betone das individualisirende xi?
oder das ihm entsprechende ouSei;, und vor uns steht die nur
wieder durch den Zusammenhang ausgeschlossene Aufstellung,
jeder individuellen Wahrnehmung, beziehungsweise jedem sol
chen Urtheil entspreche eine objective Realität. Genau genom
men, widerstrebt die hier neugewonnene Fassung des Satzes
einer individualistischen Deutung weniger als die altbekannte.
Nur dass sein Urheber diese Verwendung desselben beabsich
tigt habe, dies anzunehmen, verwehrt hier der Zusammenhang
der Rede ebenso bestimmt wie dort der Wortlaut des Aus
spruchs selbst. Man wird sich angesichts dieser Thatsachen den
antiken Interpreten des Xöyo<; Ilpwxayopou gegenüber zugleich zu
schärferem Misstrauen und zu grösserer Nachsicht gestimmt
finden, — zu ersterem umsomehr , wenn man bedenkt, dass
schon Aristoteles in der Umgebung des vielberufenen Satzes
eine Förderung seines Verständnisses nicht gesucht oder doch
jedenfalls nicht gefunden hat', während es Plato um eine sorg
fältige historisch-kritische Würdigung desselben augenscheinlich
nicht zu tliun war 2 .
Bedarf das oben gewonnene Ergebniss noch einer Be
stätigung, so liegt sie uns im Folgenden vor Augen. Wir haben
in einer Stelle unseres metaphysischen Abschnitts eine gegen
die ihr direct entgegengesetzte These des Melissos gerichtete
polemische Spitze erkannt. Was aber in dem einen Falle die
noch mögliche unmittelbare Vergleichung von These und Gegen-
these, das lehrt uns im andern ein unverbrüchliches antikes
Zeug ;niss. Porphyrios, der die metaphysische Schrift des Pro-
tagoras noch gelesen hat, sagt uns dort, wo er Stellen aus
derselben anführt (die unser Berichterstatter, Eusebios, be
dauerlicherweise fallen liess), dieselbe sei polemisch gegen
30
IX. Abhandlung: Gomperz.
die Eleaten gerichtet gewesen. Diesem Zeugniss zu misstrauen,
ist nicht der allermindeste Grund vorhanden.' Was kann aber
wahrscheinlicher sein, als dass Protagoras bei seiner Bestreitung
eleatiscker Lehren nicht etwa die einer früheren Generation an
gehörenden Vorkämpfer dieser Richtung, sondern seinen genauen
Zeitgenossen, 2 der überdies sein ionischer Landsmann und
zugleich (was ihn von Zeno unterscheidet) der einzige dog
matische Vertreter der Schule in jenem Zeitalter war, zur
Zielscheibe seines Angriffs gemacht hat? Wie derselbe aus
geführt, durch welche Argumente er gestützt war, darüber
sind uns nur vage und unsichere Vermuthungen gestattet, auf
welche ich an dieser Stelle zum mindesten nicht einzugehen
vorziehe. Weit gewisser ist ein Anderes, der Umstand, dass
dieser Rehabilitation des Sinnenzeugnisses die warmen Sym
pathien eben derjenigen Kreise gesichert waren, deren Wissen
und Können ganz und gar auf der sinnlichen Wahrnehmung
als ihrer alleinigen Grundlage beruhte, und die sich somit
zur Theilnahme an dem Flug in die transcendente Welt der
Eleaten gar wenig aufgelegt fühlen konnten. Nichts natür
licher, als dass Aerzte und Naturforscher in dem Verächter
der Sinnenwelt ihren gemeinsamen Gegner erkannten, und
nichts begreiflicher, als dass ein geistvoller Vertreter des em
pirischen Standpunktes seinen in naturphilosophischen Phan
tasien befangenen Fachgenossen zurief: Indem ihr willkür
lichen Hypothesen folgt und jeder von euch einen andern
Theil dessen leugnet, was die Sinne bezeugen, widerlegt ihr
euch wechselseitig und ebnet nur demjenigen den Weg, der
folgerichtiger als ihr die Giltigkeit des Sinnenzeugnisses über
haupt bestreitet (dXV ep.oiys ooy.eouatv os Totoötot avSponto: caiaq
autou? -/.ataßdAAsiv ev toi? ovop.aai tüv kcytov ütc’ dcuvecuY]?, t'ov os
MsXtcaou AÖyov epöoöv, Hippocr. de nat. hom. 1 fin., VI, 34
Littre). 3
An dieser Stelle unserer Erörterung tritt uns ein neues
Problem entgegen. Wir haben den metaphysischen Standpunkt
des Verfassers der Schrift ,von der Kunst* als jenen des ab-
deritischen Sophisten kennen gelernt. Dadurch wird uns die
Frage aufgedrängt: wie verhalten sich die beiden Männer in
anderer Rücksicht zu einander? Welche Uebereinstimmungen
und welche Unterschiede bestehen zwischen ihnen ? Dürfen
Die Apologie der Heilkunst.
31
wir in unserem Autor etwa einen Schüler oder Anhänger des
Protagoras vermuthen? Oder welches andere Band ist es, das
die Beiden verknüpft?
Zunächst darf daran erinnert werden, dass es Söhne einer
gemeinsamen, der ionischen Heimat sind, die vor uns stehen,
wie die Mundart bezeugt, deren sie sich bedienen. Auch eine
persönliche Beziehung zwischen ihnen ist keineswegs ausge
schlossen, da der Eine, wie seine Polemik zeigt, der Andere,
wie die urkundliche Geschichte lehrt, ein Zeitgenosse des
Melissos war. Ferner scheint der Apologet der Pleilkunst auch
in Stil und Sprache sich den Verfasser der ,Antilogien' und
der ,Niederwerfenden Reden' mehr als einen andern der
grossen Meister seiner Zunft zum Muster genommen zu haben.
Zum mindesten wüsste ich keinen zu nennen, welchem so
viele von den Zügen eignen, die uns bei unserem Autor
begegnen: der feierliche Professorenton und die alterthümliche
Würde des Auftretens im Bunde mit der äussersten Gelenkig
keit und streitbaren Beweglichkeit des Denkens, während von
dem ruhigen Glanz und der Schwerflüssigkeit gorgianischer
Rede keine Spur zu finden ist; ferner die Zuversichtlichkeit
oder, wie ein wenig wohlwollender Beurtheiler statt dessen wohl
sagen mag, die Dreistigkeit im Behaupten; 1 die durch Wieder
holungen und das gelegentliche Auftreten der- figura etymologica
unterstützte dogmatische Emphase; 2 die im Grossen und Ganzen
ungleich mehr gewählte als geschmückte Sprache; die massige
Anwendung der sogenannten gorgianischen Figuren; der den
Ausdruck belebende, aber niemals überwuchernde oder die
Stelle des Argumentirens vertretende Gebrauch von Metaphern; 3
der Verein des spitzfindigsten Raisonnement und des peinlich
genauen Strebens nach Vollständigkeit und Correctheit der Dar
stellung 4 mit stürmisch hastender und die Beispiele häufender
Fülle der Beredsamkeit; 5 die fast pedantische Freude an Unter
scheidungen der Worte und Wortformen neben dem heissen
Blut, welches dem Widersacher gegenüber die stärksten Töne
anzuschlagen und die durch ihre Paradoxie überraschendsten
Wendungen zu gebrauchen liebt. 0 Einzelnes von alle dem mag
hei anderen Sophisten zu finden gewesen sein, ihre Vereinigung
können wir wenigstens nur bei Protagoras nachweisen, von
welchem doch Plato in seiner carrikirenden Darstellung sicher-
32
IX. Abhandlung: Go mp er 2.
lieh ein individuell charakteristisches Bild zu zeichnen beab
sichtigt und vermöge seiner hohen dramatischen Begabung auch
vermocht hat. Die Uebereinstimmung erstreckt sich bis auf kleine
Einzelheiten, wie auf den prägnanten Gebrauch des Wortes
opOc? 1 oder auf jenen Abschluss einer rastlos wogenden Rede-
fluth durch ein winziges Satzglied, welches sich dem scldiess-
lichen Stillestehen eines unruhig bewegten, allmälig in engeren
und immer engeren Grenzen schwingenden Pendels ver
gleichen lässt. 2
So erscheint uns denn der Verfasser der Rede ,von der
Kunst' als ein durchaus treuer und hingebender Jünger des
Protagoras, der von ihm ebenso sehr die diesen kennzeich
nenden philosophischen Lehren wie alle Aeusserlichkeiten der
Darstellung und des Auftretens angenommen und entlehnt hat.
Nur zwei Umstände machen uns stutzig und wecken einen
Zweifel an der Richtigkeit dieses Ergebnisses. Der geschmei
dige Schüler tritt mit einem Selbstgefühl auf, wie es sonst nur
ihrer Ueberlegenheit sicheren und gefeierten Meistern eigen
zu sein pflegt; er scheut sich nicht, wie wir schon einmal be
merkten, gleich im Eingang der Schrift aufseine ,Weisheit'
zu pochen; nichts ist ihm fremder als jeder Zug zurückhaltender
Bescheidenheit. Und ferner: lässt sich der Verein stilistischer
Eigenthümlichkeiten, die wir soeben aufgezählt haben, ganz
und gar erlernen und erborgen? Beruht er nicht in beträcht
lichem Masse auf der durch Temperament und Charakter be
dingten individuellen Eigenart? Wir können diese Bedenken
nicht vollständig unterdrücken, aber wir müssen ihnen wohl
nothgedrungen Schweigen gebieten, es wäre denn, dass sich
uns eine andere und bessere Erklärung für die lange Reihe
weitreichender Uebereinstimmungen darböte, der wir übrigens
noch ein letztes und nicht das mindest bedeutsame Glied
hinzuzufügen haben.
Wir erwähnten bereits im Eingang dieser Einleitung der
von unserem Autor (9) in Aussicht gestellten Schrift ,über die
anderen Künste'. Ist dieser Verheissung jemals die That gefolgt,
so hat der Verfasser unseres, Büchleins eine Schutzrede für die
Gesammtheit der Künste veröffentlicht. Dass es eine Schrift
war und nicht etwa bloss ein Agglomerat von Einzelreden, be
weist die Einzahl Aoyoq. Denn wenn auch unser Apologet Einzel-
Die Apologie der Heilkunst.
33
abschnitte seines Werkes gleich Herodot als Xoyot bezeichnet
(vgl. den Schlussparagraph), so würde doch das umgekehrte
Verfahren dem griechischen Sprachgebrauch durchaus zuwider
laufen. Nun erinnere man sich jener Stelle des platonischen
,Sophistes', an welcher neben der Schrift des Protagoras über
die Ringkunst demselben Sophisten auch eine solche ,über die
anderen Künste' zugeschrieben wird. Eine genaue Interpreta
tion der platonischen Aeusserung lässt keinen Zweifel darüber
bestehen, dass Protagoras nicht nur Schutzschriften für Einzel
künste, wie die Ringkunst eine ist, sondern auch eine Ge-
sammtapologie der Künste verfasst hat. 1 Hier wird es uns
einigermassen schwer, die Züge des Schülers von jenen des
Meisters streng zu sondern. Zu welcher Vermuthung sollen wir
greifen, um auch diese neue und in so hohem Mass über
raschende Uebereinstimmung zu erklären? Sollen wir annehmen,
dass der ionische Landsmann und Zeitgenosse des Protagoras
auch hier in den Spuren seines Lehrers und Vorgängers ge
wandelt ist? Dass er diesem seinen metaphysischen Hauptsatz,
den Ä6vo<; Ilpw-avipou, abgeborgt und ebendenselben auch in
einer besonderen Schrift dargestellt und erläutert, dass er ihm
seine stilistische Eigenart bis in geringfügige Einzelzüge herab
abgelauscht habe, — dies mochte uns zur Noth noch glaublich
dünken. Dass er ihm auch auf den weiteren Wegen seiner
schriftstellerischen Thätigkeit wie ein Höriger seinem Herrn
willig und treulich gefolgt ist, dies durfte uns schon billig
wundernehmen. Hier aber handelt es sich nicht mehr bloss
um ein Mass der Coincidenz, welches aller Regeln der Wahr
scheinlichkeit zu spotten scheint. Denn nicht von einem füg
samen Nachahmer und Nachtreter, sondern weit eher von einem
Gegner oder dem Anhänger einer abweichenden Richtung liesse
es sich erwarten, dass er mit einem Schriftsteller, von dem
ihn sicherlich nicht mehr als wenige Jahrzehnte scheiden,
in einen so seltsamen Wettbewerb einträte. Gewiss mochte
Protagoras durch den Erfolg, den er auch auf diesem Gebiete
errang, Andere zur Nacheiferung reizen. Seine — wie wir eben
aus Platos Mittheilung ersehen, — in höchstem Grade populäre
und weitverbreitete 2 Apologie der Ringkunst hat in Wahrheit
jüngere Talente zur Behandlung verwandter Themen angeregt.
Sollte aber der geistesstarke und sprachgewaltige Dialektiker
Sitzungslicr. d. pliil.-hisfc. CI. CXX. Bd. 9. Abli. 3
34
IX. Abhandlung: Go in p er z.
diesmal seinen Gegenstand — die Darlegung der allgemeinsten
Gesichtspunkte, von welchen aus die Werkmeister der ver
schiedenen Künste die gegen sie gerichteten Angriffe zurück
zuschlagen vermögen — so wenig erschöpft haben, dass er
eine Nachlese übrig liess, welche sogar einen ihm zeitlich ganz
nahe stehenden Schriftsteller, der überdies sein warmer Be
wunderer war, zu einer Neubehandlung desselben Themas zu
bewegen vermochte? Fürwahr, dies darf uns mit Fug als völ
lig unglaublich gelten. Dem Doppelgänger des Protagoras, den
wir schon bisher einige Mühe hatten von diesem selbst zu
unterscheiden, müssen wir an dieser Stelle für immer Lebe
wohl sagen. Nicht Original und Abbild stehen vor uns, sondern
die beiden Physiognomien, die einander so täuschend ähnlich
sehen, dass wir sie kaum auseinanderzuhalten vermochten, sind
in Wahrheit ein und dieselbe. Wenn nicht alles trügt, so ist
die Apologie der Heilkunst aus ebendemselben Schreibrohr
geflossen, welchem so viele andere, für uns leider verlorene
Meisterstücke dialektischer Beredsamkeit entstammt sind. 1
Mag das voranstehende Ergebniss, welches der Verfasser
dieser Blätter im Lauf eines vollen Menschenalters immer wie
der von neuem geprüft und als probehältig befunden hat,
anderen ebenso gesichert und einleuchtend erscheinen oder
nicht, ein Bedenken sollte sie jedenfalls nicht von seiner An
nahme zurückhalten: die Frage nämlich, wie es denn möglich
sei, dass die Schrift des abderitischen Sophisten unter die
Werke des koischen Arztes gerathen sei. Das Schicksal an
tiker Schriftwerke, ihre Erhaltung sowohl wie die Bewahrung
ihres Autornamens, hing oft an einem gar dünnen Faden. 2
In unserem Falle vereinigt sich alles, um das Zerreissen des
Fadens erklärbar zu machen. Dass beim Entstehen der so
genannten hippokratischen Sammlung das blinde Ungefähr
eine weit grössere Rolle gespielt hat als der kritische Scharf
sinn, dies ist bekannt genug. Umschliesst diese Sammlung
doch Schriften, deren Abfassungszeiten, weit auseinanderliegen,
Werke des verschiedensten Ursprungs und Inhalts, darunter
auch solche, die feindlichen Schulen, wie die lcoische und kni-
dische es waren, angehören. Ja, es fehlt in der Schriftenmasse,
welche den Namen des Vaters der Heilkunst an der Stirne
trägt, nicht an Stücken, deren Lehrgehalt einen diametralen
Die Apologie der Heilkunst.
35
Gegensatz offenbart, und in einigen Fällen wenigstens lässt
sich sogar der Nachweis erbringen, dass ein Bestandtheil
der Sammlung in directer polemischer Absicht gegen einen
andern gerichtet ist. 1 Wie sollte es uns da befremden, dass
auch die meisterliche, allen Aesculap-Jüngern gleich werthe
und willkommene Vertheidigung ihrer Zunft darin ein Plätz
chen gefunden hat, nicht minder als das gleichfalls rhetorisch
gefärbte ,Gesetz' 2 oder die Formel des von den Aerzten beim
Antritt ihres Berufes zu leistenden Eidschwurs? Nur unter
einer Voraussetzung wäre dies nicht zu erwarten gewesen, —
falls nämlich die Geisteserzeugnisse unseres Sophisten als solche
sorgfältig gesammelt und getreulich behütet worden wären.
Nichts spricht jedoch für eine solche Vermuthung, alles für
ihr Gegentheil. Protagoras hat so wenig als etwa Gorgias oder
Prodikos eine Schule gegründet. Keine Schar treuer Jünger
wachte eifersüchtig über sein Andenken, keine Schulbibliothek
umschloss seine Schriften, kein Grammatiker widmete der Ord
nung und Reinigung seiner Bücher den Treufleiss und Scharfsinn
gelehrter Arbeit. Die spärlichen Anführungen und der Mangel
an eingehenden Beurtheilungen auch von Seiten der Kunstrichter
beweist, dass der Ruhm des zu seiner Zeit hochgefeierten
Mannes ein gar kurzlebiger war. Auch dem Sophisten flicht die
Nachwelt keine Kränze. Laertius Diogenes übermittelt uns frei
lich ein Verzeichniss seiner Schriften, aber nicht der sämmtlichen,
sondern nur der ,erhaltenen' (xä crw^opicva IX, 55), d. h. der
jenigen, welche die Gewährsmänner dieses Scribenteü gekannt
und gelesen hatten; und wie sorglos auch diese Liste angefertigt
ist, zeigt der Umstand, dass selbst die uns unter drei verschie
denen Namen bekannte und noch dem Porphyrios zugängliche
metaphysische Hauptschrift des Sophisten darin fehlt. 3 Ebenso
wenig kennt das Verzeichniss die auf die Künste bezüglichen
Schriften, welche dem Plato Vorlagen (xä IlpwxaYÖpsia •Äept
ts 5cotXr ( <; v.a\ xwv aXXwv xs/vwv, Sophist. 233 e ) mit alleiniger Aus
nahme jener, welche die Ringkunst behandelte. An ihnen, oder
doch an dem Bestandtheil derselben, der uns hier beschäftigt,
scheint sich ein Wort, welches eben Plato auf sie anwendet, in
gar seltsamer Weise erfüllt zu haben. Er nennt sie ,ein Gemein
gut des Lesepublicums' (SeSrj[AOctto|j,svä mu -/.ataßsßX^xai); das zu
gleich vielverbreitete und schlecht behütete Buch, das einst in aller
36
IX. Abhandlung: Gomperz.
Händen war und dessen Autorschaft bald niemand kümmerte
ist im eigentlichen Sinne publici iuris oder herrenlos geworden!
Diejenigen, für welche sein Inhalt ein mächtiges Interesse zu
besitzen fortfuhr, mochten es allein bewahren, ihrer Bücherei
einverleiben und mit einem Autornamen versehen!
Doch auch Jene, welche sich unsere Ergebnisse nicht
sofort oder nicht vollständig anzueignen vermögen — und es
fällt ja Niemand leicht, eine Vorstellung, die er von früh auf
in der Seele getragen hat, mit einem wesentlich anders ge
arteten Bilde desselben Gegenstandes zu vertauschen —, wer
den es hoffentlich nicht bereuen, sich mit dem vorliegenden,
in seiner Art einzigen Literaturdenkmal etwas einlässlicher be
schäftigt zu haben. Können wir aus demselben doch gar man
ches lernen, und vor allem Eines, worauf ich die Aufmerk
samkeit meiner Leser zum Schlüsse noch so nachdrücklich als
möglich hinzulenken wünschte. Man nehme für einen Augenblick
an, die Schrift von der Kunst sei verloren gegangen, und nur
der metaphysische Paragraph sei uns erhalten. Und nun male
man sich die Consequenzen dieses Vorkommnisses aus, welches
sich so leicht hätte ereignen können. Welch’ eine Vorstellung
hätten wir dann von dem Verfasser des Büchleins gewonnen!
Welch’ ein, ich sage nicht unzulängliches, nicht schiefes und
schielendes, sondern der Wahrheit schnurstracks widerstreiten
des Bild desselben würde in diesem Falle vor uns stehen! Wie
unabweislich würden dann Folgerungen erscheinen, deren voll
ständige Grundlosigkeit wir jetzt klärlich einzusehen vermögen.
Die Unklarheit und Vieldeutigkeit jener metaphysischen Er
örterungen würde einen tiefen Schatten auf die Gestalt ihres
Urhebers werfen, unter welchem diese ganz und gar ver
schwinden müsste. Fast ohne Widerrede müssten wir die Be
hauptung hinnehmen, dass, wer das Dasein der Heilkunst durch
so offenkundige Fehlschlüsse zu erweisen bemüht ist, gütige
und triftige Beweise für seine These vorzubringen überhaupt
nicht im Stande war. Denn warum hätte er sonst zu jenen
Scheingründen gegriffen, und woher sollte ihm, der in dichtem
metaphysischem Nebel tappt, die Erleuchtung kommen, die ihn
zu einer halbwegs befriedigenden Vollbringung seiner Aufgabe
befähigt? Ich will das Bild nicht weiter ausmalen und auch
nicht fragen, wie viel dunklere Farben dasselbe aufweisen
Die Apologie der Heilkunst.
37
würde, wenn auch jener Abschnitt uns nicht in seinem Wort
laut vorläge, sondern durch den Bericht eines Geschicht
schreibers oder gar eines Philosophen ersetzt wäre, der seinen
Inhalt nicht etwa absichtlich entstellt, wohl aber in gutem
Glauben verallgemeinert und in seine vermeintlichen letzten
(Konsequenzen ausgesponnen hätte.
Die Nutzanwendung liegt nahe genug. Protagoras gilt
einsichtsvollen und gewissenhaften Forschern als ein Vor
kämpfer subjectiver Willkür, als ein Leugner jeder objectiven
Wahrheit, als ein Feind der Wissenschaften; dies alles auf
Grund eines Sätzchens, dem wir auch in der hier behan
delten Schrift in nur wenig veränderter Fassung begegnen,
gleichwie auf Grund von Berichten, die wieder auf nichts An
derem fussen, als auf eben diesem Sätzchen. Wie diese all
gemeine Charakteristik sich mit den überlieferten Thatsachen
zusammenreimen lässt, die man mehr oder weniger widerwillig
anzuerkennen pflegt, — diese Frage hat niemals eine aus
reichende Beantwortung gefunden. Der Kämpe subjectiver
Willkür war zugleich ein Lehrer der Moral, an dessen persön
licher Ehrenhaftigkeit nicht der leiseste Makel haftet, und der
das Lob des Hochsinns und der Mannhaftigkeit in ebenso edlen
als markigen Worten verkündet hat. Der Verächter der Wissen
schaften 1 hat auf den mannigfachsten Gebieten menschlicher
Erkenntniss bahnbrechend und schöpferisch gewirkt. Er hat
die Sprache, die er selbst so meisterhaft zu handhaben wusste,
zum erstenmal zum Gegenstand eindringender Beobachtung
und verständiger Zergliederung gemacht; er hat, wenn nicht alles
täuscht, das Strafrecht zuerst aus seiner uranfänglichen Ver
quickung mit der Theologie gelöst, und ihm rationelle, das
Heil der Gesellschaft fördernde Ziele gewiesen. 2 Er hat über
die Fragen der Gesetzgebung überhaupt Gedanken entwickelt,
welche gesund und bedeutend genug waren, um ihn, den Theore
tiker, als einen verlässlichen Rathgeber in staatsmännisehen
Fragen erscheinen zu lassen, und die seinen Freund Perikies
bewogen, ihn mit der schwierigen Aufgabe einer colonialen
Gesetzgebung zu betrauen. Er ist an die höchsten Fragen
menschlicher Erkenntniss mit einem Verein von ruhiger Ge
lassenheit und unerschrockenem Muthe herangetreten, wie er
nur einem lauteren, in sieh gefesteten Gemüthe zu entspringen
38
IX. Abhandlung: Gomperz.
pflegt. Er hat endlich über die Anfänge der menschlichen
Gesellschaft, 1 wir wissen nicht, mit welchem Masse von histo
rischer Einsicht, aber jedenfalls mit einer Grossartigkeit der
Auffassung und mit einem Glanz der Sprache gehandelt, welche
Plato überbieten zu müssen glaubte, ehe er den gefeiei-ten
Mann mit Erfolg anzugreifen und seine Gestalt durch eine ver
zerrende Darstellung herabziehen zu können hoffen durfte. Der
Leugner objectiver Wahrheit und, wie man so gern hinzuzu
fügen pflegt, aller allgeineingiltigen Normen hat mehr als vier
Jahrzehnte hindurch in allen Theilen Griechenlands als viel
gesuchter und vielbewunderter Lehrer gewirkt, als solcher eine
Fülle positiver Lehrsätze nicht nur vorgetragen, sondern (wie
die platonische Darstellung und überdies der Titel einer seiner
Schriften: ,die gebietende Rede' zeigt) mit ganz ungewöhnlichem
Nachdruck und in der allereindringlichsten Weise eingeschärft
und gleich einem Mahnredner oder Prediger verkündet. Auf
den verschiedensten Wissensgebieten, in der Tugendlehre wie
in der Sprachkunde und in der Redekunst, ist er gesetz
geberisch zu wirken bemüht gewesen, und die Unterscheidung
zwischen dem Richtigen und dem Unrichtigen, dem Regel
rechten und dem Regelwidrigen hat in seinem Gedanken
kreise sicherlich keinen allzu kleinen, weit eher einen über Ge
bühr ausgedehnten Raum eingenommen. Alle dem steht jener
Ausspruch gegenüber, welcher der übereilten und allzu unter
schiedslosen eleatischen Verneinung eine Bejahung gcgenüber-
stellte, welche ihrem innersten Kern nach dem Fortschritt des
Wissens ungleich förderlicher war, aber gleichfalls der nötliigen
Einschränkungen und Unterscheidungen ermangelte. Fürwahr,
auch in der Geschichte der Philosophie und der Wissenschaften
scheint mitunter jenes unheimliche Wort zu gelten, vermöge
dessen drei beliebige Zeilen von der Hand jedes Angeklagten
genügen, um seine Verurtheilung zu bewirken.
Die Mahnung zur Vorsicht im Urtheilen und zur Ent
haltsamkeit im Ableiten von Consecpienzen, die aus diesem
Sachverhalte allezeit zu uns sprach, schlägt jetzt mit doppelter
und dreifacher Gewalt an unser Ohr. Der protagoreische
,Satz' in seiner ganzen beirrenden und verwirrenden' Viel
deutigkeit steht hier hart neben Einsichten, die durch ihre
Tiefe und Klarheit schier unser Erstaunen erregen müssen.
Die Apologie der Heilknnst.
39
Die Sonne selbst ringt noch mit dem Gewölk des Morgens,
während ihre Strahlen bereits die Spitzen der Berge vergolden.
Dass ein Geist, welcher sich in der obersten Erkenntnissregion
noch nicht mit ausreichender Sicherheit bewegt, Problemen
von nur wenig geringerer Allgemeinheit schon völlig gewachsen
sein kann, und dass man ihm das schwerste Unrecht thut,
wenn man dies verkennt und ihn an die Folgerungen fest
nagelt, die sich aus seiner noch unzulänglichen Behandlung
jener Fragen zu ergeben scheinen, — diese Wahrheit lässt
sich in unserem Falle gleichsam mit Händen greifen. Sie
stellt, wenn ich nicht irre, in ihrer Anwendung auf die Werth
schätzung des Protagoras, aber auch von dieser oder irgend
einer anderen besonderen Anwendung abgesehen, den vor
nehmsten Gewinn dar, welchen die Lecttire unseres Büchleins
gewährt. Allein auch sonst ist dieselbe an mannigfachem Er
trag nicht eben arm. In wie hohem Grade die Sophisten
beredsamkeit dazu angethan war, die für die besten Ideen
des Zeitalters empfängliche, für Formschönheit jeder Art be
geisterte und in jeder dieser Richtungen durch vollendete
Leistungen nicht wenig verwöhnte griechische Jugend zu be
zaubern und mit sich fortzureissen, dies mussten wir vordem
glauben, jetzt, da wir ein glänzendes Probestück dieser Gattung
kennen gelernt haben, vermögen wir es erst nachemplindend
zu begreifen. An mehr als einer Stelle glaubt man den rau
schenden Beifallsjubel zu vernehmen, den die virtuose Leistung
des Denk- und Redekünstlers zu entfesseln so geeignet war.
Doch auch die Schranken dieser wie jeder anderen geschicht
lichen Erscheinung werden uns in dem Masse deutlicher, als
wir ihr näher treten. Die Kunstform der Darstellung legte
der Entwicklung des wissenschaftlichen Geistes eine Fessel an,
welche dieser früher oder später abzustreifen genöthigt war.
Aber auch die in Anwendung gebrachten Kunstmittel konnten
dem sich stetig läuternden und verfeinernden Geschmacke auf
die Dauer nicht genügen. Die abgezirkelte Regelmässigkeit
des Satzbaues musste bald als steif und starr erscheinen, die
scharfe Sonderung der kleinen Abschnitte und das reliefartige
Hervortreten der einzelnen Worte und Gedanken mussten einem
ebenmässigeren und gefälligeren Fluss der Rede weichen. Der
schmetternde Trompetenton, der durch diese Schrift geht,
40
IX. Abhandlung: Go mp er z.
mochte bald das Ohr ermüden; das grelle, kalte Licht, das
sie ausstrahlt, das Verlangen nach milderen und gedämpf
teren Farben wecken. Das spät errungene Vermögen, grosse
Redemassen künstlerisch zu bewältigen und gleichsam Sprach-
symphonien zu schaffen, musste die bescheideneren Masse,
den ängstlichen Gang und die allzu zierliche Ausführung
jener ersten Versuche der griechischen Kunstprosa als klein
lich, wenn nicht als widrig erscheinen lassen. Das überstarke
Selbstgefühl, welches unser Autor so unverholen, man möchte
sagen mit plebejischem Trotze zur Schau trägt, ist zwar auch
einem Plato keineswegs fremd, wie denn die Alten überhaupt
,das Ding nicht kannten, das wir* Bescheidenheit nennen, aber
es tritt bei dem aristokratischen Schriftsteller in urbaneren und
versteckteren, vielleicht eben darum nur um so gefährlicheren
Formen auf. Die von diesem als ein so erlesenes Kunstmittel
verwendete sokratische ,Selbstverkleinerung' und Prätension des
Nichtwissens endlich wirkt nach dem fast polternden Ungestüm,
mit welchem der ,Weisheitsmeister' sein Wissen verkündet und
sich seine Geltung erstreitet, wie labender Schatten nach
heissem Sonnenbrand.
So war denn vermöge des wunderbar raschen Wachs
thums, welches das hellenische Geistesleben kennzeichnet, dem
ebenso eigenartigen als folgenreichen Phänomen^ das uns be
schäftigt, nur eine kurze Stunde glanzvoller Entwicklung zu
gemessen. Neue Bedürfnisse kamen empor, neue Mittel ihrer
Befriedigung wurden ersonnen. Die Reigenführer der auf
steigenden Richtungen aber blickten auf ihre Vorgänger, welche
ihnen die Wege bereitet hatten, gar bald mit eben so grossem
Hochmuth und eben so geringem Dankgefühl zurück, wie etwa
Thukydides auf Herodot oder Herodot auf Hekataios.
Die Apologie der Ileilkunst.
41
A =
M =
R =
Calvus =
Aid. =
Cornarius =
Sambucus =
Zwing. =
Mercur. =
Fogs. =
Serv. et Fevr. =
Littrd =
Ermerins =
Reinhold =
Codex graecus Parisinus 2553
Codex graecus Marcianus 269
Codices recentiores vel omnes vel plerique
Codicum recentiorum pauci vel unus.
Hippocratis Opera per M. Fabium Calvum .... latinitate
donata, Basileae 1526
Hippocratis Opera, Venetiis 1526 (in aedibus Aldi)
Hippocratis libri, Basileae 1538 (Froben)
Joannis Sambuci variae lectiones (1561), in Stepli.
Mackii edit. Hippocr. (Vindob. 1743)
Hippocratis viginti duo commentarii, Theod. Zvingeri
Studio et conatu, Basileae 1579
Hippocratis Opera, ed. Hieron. Mercurialis, Venetiis
1588 (apud Juntas)
Hippocratis Opera latina interpretatione et annotationibus
illustrata, Anutio Foesio authore, Francofurti 1595
(Wechel)
Variae lectiones ex dnobus Serviui et Fevrei exemplari-
bus desumptae, in Foesii edit. p. 45—46
Oeuvres completes d’ Hippocrate, par E. Littre, Tome VI,
Paris 1849
Hippocratis et aliorum medicorum veterum reliquiae, ed.
F. Z. Ermerins, Vol. II, Trajecti ad Rhenum 1862
Tjotozpa-o]5 xojxiStj Car. H. Tb. Reinhold, I, ’AGijvvjcn 1864
42
IX. Abhandlung: Gomperz.
Ilspi TsyyriQ. j
1. EtOtV TIVS? 0? TE/VY)V XSXOtYjVTat TO Ta? TE'/VX? atG/pOSXEWj (b?
p.ev otovoat oü touto BiaxpYja<JÖp,evot o £vü) Xe-fa), äXXä loroptY)? ot-zetr;?
EXiBe^IV X0tSUp.£V0t. Spot OS TO p.EV Tt TÖV p.}) SUpY]p.£V(i)V E^EUplC/XeiV, 0 Tt
y.at EÜps0sv y.psooov avsijeüpSTOV, auveato? Boxet ext0üp.Y]p.ä te y.at epyov
5 sTvai, y.at to Ta Yjp.tspya es teXo? e^spyaCsaOat (LaauTW? • to Be Xcywv
ou y.aXüv te/vy; Ta toi? aXXot? eupY)piva ato/_üvstv xpoOup.eTo0at, exavop-
0ouvTa p.sv p;/;Bev, StaßaXXovTa Be Ta t<3v eiBötiov xpo? tou? p,Y] stSoTa?
ei;EUpv)p.aTa, oüy.ETt auveoto? Boy.ei ExtOüp.Yjp.a te y.a’t epyov etvat, aXXä
xmocyyeXiri p.äXXcv ©öuto? •/) y-syyiy• p.obvotdt yap Brj toT? aTsyvototv rj
10 spyaotY] a&TY) app.o£st ©tXoTtp.sop.evwv p.ev oüBap.ä Bs BuvapAvwv xaxiY]
üxoupyctv Eg to Ta twv xeXa? iprja f, op0a sovTa BtaßaXXstv y) oby. op0ä
p.wp.e'toOat. tou? p.lv ouv e? Ta? aXXa? ~iyyy.c toutw tw Tpöxw ep,xixrovTa?
owt p.eXst ts xa't 2>v pAXst ol Buvap.evot xwXuovtwv • o Bs xapecbv Xoy«?
to!? e? iYjTpiy.vjv Ep.-opsuop.EVOt? svavTtuaETat, Opaouvop.svo? p.sv Stic toutou?
15 ou? lisyet, suxopswv Be Stä ty;v TsyvYjv yj ßoYjOs!, Buväp.svo? Be Btä ffo<ptY]v
■f) xexatBeuTat.
2. Aoy.e! BvJ p.o; to p,sv GÜpxav te^vy) etvat ouBepia ob/, eoüaa.
•/.at yap aXofov twv sovtwv Tt YjystaOxt p,Yj eov exe: twv y& pY] eövtwv
Ttva av Tt? ouoi’yjv 0EVjaap.svo? axa-pfsiXstEv w? sortv; st •yäp oy; esrt y
20 iSelv toc p.Yj sovTa öoxep Ta eovTa, ouy. otB’ oxw? av Tt? aura vopicete
p.r, sovTa, a ye eiyj y.at c©0aXp,o!atv tBstv -/.at yvwpY) vwaat w? eootv.
äXX’ oxio? p.Y) ouy. y] touto toioutov • äXXa Ta p.sv sovTa aisl öpäTat te
1 tlaiv A, stoi Mit aio)(poOT£tv A 2 (aLay poHa-ELv ut videt. A 1 ), a:o)(poxoiEtv
MR 2 ot touto oiaxp/]aaopsvoi oj‘/_ o eyw Asyoj Parisini nonnulli, alii sine ou'/_
äXa iaTopij); A’ 3 Exioei^iv libri (Exio7)^iv A’) psv Tt MR, pEvTot (sic) A
EÜprjpEvtüv AM, EÜptszopEvtov R 4 supsOsv MR, IpsuÖEv A (exeuÖev A 1 , ut videt.)
auviatoc A, ^uveoecos M, ^uvicrio; R, oozeei libri 6 xpoOupEtdOai A, xpoDupssaOat MR
7 pEV MR oe A 8 auvEato; oozeei AM, oozeei ^uveoio; R 9 zazayyEXir) A et Gale-
nus in glossario, xxzayyü.iri MR yap or) A, yctp ota (ota deletum) M, yap ota Paris.
2140, orj om. R. TOttn A 1 , Toioiv A 4 MR 10 p’-AoTtuEopIvojv AM, «piXoTipoupEvtov R
zaziri A, zaztrjc MR 11 ixoupyEEiv libri Et; to AR, s; to M 12 pcopisaOat libri
13 tbv AM, Serv., Zwing, in marg., sv oiot R, ä>v zat ev otot r 14 Tot; MR, Toiat
A 1 , Totatv A 4 IxtxopEuopEvots A, oÜTtus spxopsuopEvoi; MR 14—15 touteou? ou;
1/EyEt MR, toutou; tou; ilystv eOeXovtzc A 17 oozeei libri aüpxav Mlt, cruvxav A
18 eveov A 19 Ocrjoap. AM, 0Eaa. R 19—-20 ei yap orj eoti ys ioe7v (ys eio. A 1
nt vid.) Ta sovTa tüoxEp Ta [j.r ( sovTa A, Et yäp oij fort y’ ?oe7v (e?oeiv M), Ta pr, sovra
(ovTa Mr) diaxsp Ta lo'vTa MR 20 vopioEtE A, voprpEts (corr. m. 2) M, vorjtJEtE RPost
verba pf, Eo'vTa add. tuaxEp Ta lo'vTa MR 21 zat AMr, zav r otpöaXpototv MR, ötpöaX-
pot; A vorjoat libri 22 rj A, MR Ta psv Jo'vt« MR, to psv eov A te A, om. MR
Die Apologie der Heilkunst.
43
1. Es gibt Leute, die ein Gewerbe daraus machen, die
Gewerbe zu schmähen, wobei sie freilich nicht dies zu thun
vermeinen, sondern denken, dass sie ihre eigene Gelahrtheit
an den Tag legen. Mir aber scheint es allerdings ein Werk
und ein Begehren der Vernunft, etwas von dem noch nicht
Erfundenen zu erfinden (wenn es anders erfunden besser ist
als nicht erfunden) und eben so das Halbvollendete zu Ende
zu führen. Allein durch die Kunst unlauterer Reden, was
Andere erfunden haben, schänden zu wollen, selbst nichts
bessernd, wohl aber die Leistungen der Wissenden den Un
wissenden gegenüber verlästernd, dies erscheint mir nicht mehr
als ein Werk und ein Begehren der Vernunft, sondern als ein
Merkzeichen übler Naturanlage oder als Unkunde. Denn nur
die Sache der Unkundigen ist dieses Treiben, durch welches sie
der Schlechtigkeit Ehrgeiziger, aber Unvermögender Vorschub
leisten, indem sie die Werke ihrer Nächsten, wenn sie gut
sind, verschwärzen und, wenn sie schlecht sind, tadeln. Die
nun in dieser Weise in die anderen Künste hineintappen,
mögen Jene, welche es vermögen, wenn es sie kümmert und
wo es sie kümmert, daran hindern. Die gegenwärtige Rede
aber soll denen entgegentreten, die in dieser Art in die Heil
kunst eingreifen, — voll Muth durch die Niedrigkeit derer,
die sie bekämpft, voll Zuversicht durch die Grösse der Kunst,
der sie zu Hilfe kommt, vermögend aber durch die Weisheit,
mit der sie gerüstet ist.
2. Es scheint mir aber überhaupt keine Kunst zu geben,
die nicht wirklich ist. Ist es ja doch ungereimt, etwas von
dem Seienden für nichtseiend zu halten. Denn wie käme
Jemand dazu, etwas von dem Nichtseienden zu erschauen und
zu verkünden als ein Seiendes? Denn wenn das Nichtseiende
zu sehen ist wie das Seiende, so weiss ich nicht, wie man es
für nichtseiend halten kann, was doch mit Augen zu schauen ist
und mit dem Geist zu erkennen als ein Seiendes. Aber es wird
dem wohl nicht so sein. Sondern das Seiende wird immer ge-
44
IX. Abhandlung: Gomperz.
xai YtvwGxexai, xd äs pw] sövxa oüxs opdxat oüxs Ytviixrxsxat. Ytvwaxexai
xotvuv äsäsYpevwv vjäv) (stäea) xwv xsyvewv, v.al oüäspia sax'tv yj ys b
xtvo? elSeo? oüy öpäxat. otpat 8s eywYS xai xd ovbpaxa aüxd? äta xd
stäea Xaßslv äXoyov ydp dx'o xwv ovopdxwv vj-fewOat xd eiäsa ßXaaxa-
5 vsiv xai aäüvaxov. xd pev y«p ovopaxa vopo0sxv)[jtaxa eoxtv, xd 8e e’t'Sea
oü vopo0exy)paxa, aWa ß^aox^ptaxa ©ucto;.
3. Fiept ptsv oüv xoüxwv st y£ xt? pty] ixavw? ex xwv etpvjptevwv
auvfvjotv, ev aXXotatv otv Xoyotciv oaoscxspov otäayjkir, • ixepi 8s tvjxptxyj?,
s? xaüxvjv vip o Xoyo?, xaüxrj? ouv xy)V dxo äsijtv xot^croptat, xai zpwxov
10 ye äiopteS(Jiat 8 voptijw tvjxotxyjv sTvar x'o är] 7tdp.rav aTxaXXdacstv xwv
voaeovxwv xoü? xapäxou? v.al xwv vo<jy)pdxwv xa? a®o8p6xyjxa? apßXüvetv,
v.al x'o py; syyetpe!v xotat xexpaxrjpsvot? uxco xwv voarjpdxwv, sioöxa? oxt
ixavxa ou Stivaxat tyjxptxvb (1)? oüv xtotsl xs xauxa xai ow) xe eoxtv Sta
wavx'o? TOistv, Tcspt xouxou pot 6 Xotxb? Xoyo? yjSy) ssxat. ev äs xrj xvj?
15 xeyvv)? drcoäeijst dpa xai xoü? Xöyou? xwv aicryüvstv aüxvjv oiopsvwv dv-
atpyfcw, ^ av exaaxo? aüxwv ixp^caetv xi oiopevo? xuyyavy].
4. "Eaxt psv oüv pot apyjq xoü Xöyou yj xai öpoXtrj’yjtjexac :xapd
■ääatv. oxt '(ap evtot etjjytaivovxat xwv 0spay;euop.evwv üixo tYjxptxyj?, öpo-
Xoystxat, oxt ä’ oü xavxe?, ev xoüxw ^Sy) tjieysxat yj xsyvy;, xai ©aaiv ot
20 xa. ystpw Xsyovxe? ota xoü? dXtaxop-svou? wo xwv voov)paxwv xoü? äxo-
<peüyovxa? aüxd xüyrj dExoosüystv xat oü Std xvjv xeyvyjv. eyw oe äotoaxe-
pew psv oü5’ aüx'o? xr]v xiytjv spvou oüäevo? ; rpfibp.at äs xbiai ptev xaxw;
Oepaxsuopiivotet voo^ptaot xa TtoXXa xrjv äxuyj-yjv eoxscOat, xotot äs su xyjv
2 OEOSLyuivtov MR, oeoiäaypEvtüV A eIStj pro fjor) Serv., Foes. in ver-
sione, Ermerins (e”oe«), tJStj (elSea) scripsi 3 8s A, o’ MR aux«5 A, aüxrjs MR,
aüxcuv r 4 aXoyov MR, aXXoyov A IjyEiaOai xä E’tosa AM, xä E’tOEa ^yslaOat R
5 epuaio; (tpuxEcos A) votioOExrjjraTa libri, 900105 transposui eox'iv A,
Eoxt MR 7 ye MR, om. A 8 Suvfrjotv libri aXXototv av Xdyotatv A, aXXo-5
av Xo'yotg MR (ctvaXo'yois M 1 r) 9 ärrdoEi^.v libri (ajto'8r)^tv A 1 ) 10 orj öpiEupat
MR, otoptEupat A vop.(^w MR, vofu^wv A 1 , voprj^wv A 4 ctJcaXdaoEiv A
12 lyyEipEEtv libri aEzpaxrjptEvoi; A, XExpaxyjpLlvounv R, XE/pax/jüivow. M 1
13 xävxa ouvaxat A, xauxa oü 0. R, xauxa 8. Mr, Ttavxa xauxa oü 8. Galen.,
Ttävxa oü 3. scripsi (Calvus: ,medicinam mala omnia tollere non posse“)
jcotEEi libri laxlv A, loxt MR 14 jioieeiv libri xxspi xouxo (sic) pot 0
Xuto; (sic) Xo'yo5 lj8j) ’foxat A, XEpt xo'uxou p.01 3rj 0 Xoticb; ?axat Xo'yo; MR
15 araoEt^Ei libri 16 xuyyavEi A 17 k'oxt A, ioxt R, kaxtv Mr |j.ev Ar, om.
MR opoXoy^TExat A, öp.oXoyrjO>)<jEXat MR 18 yäp AM 1 , piv R, piv yäp M 2
i^uytatvovxai xwv MR, t^uyiatvovxwv A 18—19 opoXoyEExat libri 19 8’ oü A,
oe oü MR rjSr] MR, stoi A 1 20 xou; 011x09. A, xat xoü; ajiof. MR
21—22 oüx axotjcEptw MR, oüx om. A 22 7)yeüpat MR, 7)yoüpai A
om. A 23 voo^paai AM, vouoijpaot R xd om. A
Die Apologie der Heilkunst.
45
schaut und erkannt, das Nichtseiende aber wird weder geschaut
noch erkannt. Erkannt aber werden Artbilder der schon ent
deckten Künste, und keine gibt es, die nicht aus einem Art
bilde erschaut würde. Und ich denke überdies, dass sie auch
die Namen durch die Artbilder empfangen haben. Denn
ungereimt ist es anzunehmen, dass die Artbilder aus den
Namen entsprungen seien, und unmöglich; denn die Namen
sind Dinge der Uebereinkunft, die Artbilder aber sind nicht
Dinge der Uebereinkunft, sondern Erzeugnisse der Natur.
3. Wer aber hierüber aus dem Gesagten noch nicht völlig
im Klaren ist, den können andere Reden eines Näheren be
lehren. Ueber die Heilkunst aber — denn auf diese zielt die
Rede — will ich im Folgenden sprechen, indem ich zuvörderst
bestimme, was ich für die Sache der Heilkunst halte: nämlich
das völlige Beseitigen der Leiden der Kranken und das Mildern
der Heftigkeit der Leiden; ferner aber das Sichgarnicktwagen
an Jene, die von den Krankheiten schon bewältigt sind, in der
Erkenntniss, dass die Heilkunst nicht alles vermag. Wie sie
nun dieses vollbringt und durchweg zu vollbringen vermag,
das soll das Folgende lehren, wobei ich in der Darstellung der
Kunst zugleich auch die Reden derer beseitigen will, die sie
zu schänden glauben, wo ein Jeglicher von ihnen etwas zu
sagen vermeint.
4. Der Anfang meiner Rede ist nun von der Art, wie
ihn alle billigen werden. Denn dass einige von denen, welche
die Heilkunst behandelt, geheilt werden, dies wird anerkannt;
dass aber nicht alle, darum wird die Kunst schon getadelt, und
es sagen die, die das Schlechtere sagen, wegen derer, die den
Krankheiten unterliegen, dass Jene, die davonkommen, durch
Zufall davonkommen und nicht durch die Wirksamkeit der
Kunst. Ich aber werde sicherlich auch meinerseits den Zufall
keines seiner Werke berauben; ich denke aber, dass die schlecht
behandelten Krankheiten in der Regel einen schlechten Aus-
46
IX. Abhandlung: Goraperz.
s : jtuX«]v. BTzeaa, Be ka't ttiop oliv x’ ecxi xoiq eljuYtaaöeTaiv ä/,/,o xt aixi^-
craoGat 75 xy)v xe/VYjv, ewcep xp“|AEVOt aüxfl xat ü-cupYsovxe;; iviacö^aav;
x'o piv yap ~fq x6yr t c, etco? tiiXöv oüx, eßouA7j07;aav difcxcOai, ev w ty]
xsyvq etre'xpetiav caea; aüxoip, tooxe x^p p.ev kc, ty)V xu^yjv ävaoopv;;
5 ä'xr,AAaY|Asvoi etat, vqq p-evxot ep tyjv ti/rr,'/ cuv. aitYjX A ay p. ev o t' ev io
yap ettexpetiav aüxfl caixq y.ai eixfeteuaav, ev toüxw aüxY)p xat x'o etoo?
ecy.ediavxo y.ai xtjv oivaptv trepavöevxo? xov epycu e^vwaav.
5. ’Epel Byj 'o xävavxta Aeywv oxt xoAAoi vjoYj y.ai oü £pv)odpevoi
iYjxpo) voceovxep byiMrpxi, y.ai eyei xw AÖyu ouy. atrtoxeto. Boy.et 3s pot
10 oiov xe eivai y.ai tYjxpto |j/r ( ypwp.evoup irpci7.fi tteptxuyetv, oü p.Yjv cooxe
eiBevat ö xt op0ov ev aüxyj evt •?) o xt [ayj op0ov, a/./,’ woxe eirtxü/otev
xotaüxa Oepaxreioavxeq etouxoü? o-ota ttep otv eöepa-eüOvjo-av, et y.ai tY]xpotatv
eypövxo. y.ai xoüxö ye xe-/.p/r ( ptov piya xrj oüot'r, xvji; xe/vr ( ?, oxt eoüoä
xe eoxt y.ai p.eyäAr,, ctrou y® oatvovxat y.ai ot (ayj vop.tCovxe? aüxr,v eivat
15 Gü)£6|Aevot ot’ aüx-^v. xxoaayj yap »Vö^pwj xat xoüc javj yptopevoui; tvjxpowt
vooYjoavxac oe y.ai üyiaoGevTat; eiBevat oxt vj opwvxeq xt f p,r ( opüvxep
üytaG0Y)Gav. f yap aoixu) r, xoXutpaytY], f xöxw x/.eovt f BeiLy), f Aouxpot;
•? ( äAouGir), f xcvotoiv ^ YjouyjY], v, üxvototv ■?, äypuxvtYj, xy) äxävxal
xoüxtov xapayj) ‘/_pu)p.Evot ÜYia<707)oav. xai xm u>tp£A7ja0at xo AAy; ävdyv.Y)
20 aüxotp eoxtv eyvtoy.evxt oxt •qv (xt) x’o tbtpe ATyaav, y.ai ox’ eßXäßYjoav xio
ßXaß^vat oxt yjv xt xb ßXäd/av. xä yäp t<*> <J)©eA^a0at y.ai xa xm ßeß/.a-
1 x’ MA' (ut vid.), xe R E^uyiaaOEtaiv A, J^uytavO. R, üytavO. M
1—2 atxi7 ( |Ciaa0o;i AM, atttatj. R 2 ^peopEvoi A, yoropivo'. MR aüxot A 2 , avtij
A 1 ut vid. üviaaü. A, uytavO. MR 3 AM, rjßouX. R 4 cai~
libri 5 axv)Xayp. (bis) A 6 auxy (A 1 ut vid., «Jxot A 2 ) otpa? xat ämoxsuaav
Ev xoütw A, EXSXpE^av y.ai ExtaxEucrav aut?] apac auxov;, ev xoüxto MR 7 "Epaösvxo;
A 1 (xEpavÖEvxoe A 3 ), 3tapa0svro5 Serv. et Fevr. 8 of AM, 3rj lvxau0a R 9 ooxeei
libri oe MR, yap A 10 tYjtpixr) MR, tY]xptXY)v A 11 evir] 6 xt A 1 (svr]r]
A 3 ), eviy] oxt M 1 (IvEirj M 2 ), svEty xat o xt R, ev. f o xt scripsi aD.toc xe .xtx.
MR (aXXw; xs av r), aXtoc xe st A, aXX’ öjxx’ av Cornarius cet. 12 st om. M,
7] A* (ei A 4 ) 13 ys xExprjptov A, ys x£x|p.7]ptov M, ye xeto? x£x.u.r 1 ptov R
15 xoti(ouEvoi libri aüxi)v A 1 MR, xvr/jc A 3_4 16 uyiacöevxa; AMr, uytavösv-
xa; r ISpwvxs; pro 5) Sptövxe; xt f ur, optovtE; A, ItipüSvxss (corr. 5) opwvxE;) M
17 6ytao07)aav Ar, üytavSrjtjav Mr teoxoj libri jxXtovt A 1 (iXeiovl A 4 ), iXeiovi
MR SitpEt Mr Xouxpotat A 1 (v add. man. 4), Xouxpoioxv MR 18 i) xij MR,
f xt A 19 uytax0yxav A, uytdv0. MR ÜKpEXijtjöat A 4 M, tlitpeXetXrÜat A 2 R
20 aüxot? A, aüxov? MR o xt r,v libri, oxt rjv (xt) scripsi. oxt iam ,vetus Codex
Mercur. 20—21 xat dx (in ras. m 3 ; fuit, ut vid., txco) EpXdß»]tiav xo> ßXaß^vat
oxt rjv xt xö ßXatiav A, xat Et xt x’ eßXdßr]aav xat xb (xtü M) ßXaßijvat xat o xt yjv xo
ßXdiav Mr, xat o xt xb ßldtjtav ev xw ßlaßrjvat xxi r 21 ticp£X^ff0at AM, aitpeXstoflat K
Die Apologie der Heilkunst.
47
gang nehmen, die gut behandelten aber einen guten. Und wie
können auch die, die gesund wurden, dies etwas anderin zu
schreiben als der Hilfe der Kunst, wenn sie diese benützend
und ihre Gebote befolgend wieder gesund wurden? Denn das
nackte Antlitz des Zufalls wollten sie nicht erschauen, da sie
sich der Kunst übergaben, so dass sie der Herrschaft des Zufalls
ledig sind; der der Kunst aber sind sie nicht ledig, denn indem
sie sich ihr übergaben und anvertrauten, haben sie auch ihr
Antlitz erschaut und ihre Macht nach vollbrachter Heilung
erkannt.
5. Allein der Gegner wird sagen, dass schon viele, auch
ohne einen Arzt zu gebrauchen, krank waren und wieder ge
sund wurden, und dem weigere ich nicht den Glauben. Es
ist aber, so meine ich, möglich, dass man, auch ohne sich
eines Arztes zu bedienen, doch in den Bereich der Arznei
kunst geräth, nicht so freilich, dass man wüsste, was in ihr
richtig und was in ihr unrichtig ist, wohl aber so, dass man
durch Zufall eben das thut, was man auch gethan hätte, wenn
man Aerzte befragt hätte. Und das ist ein gewaltiger Beweis für
den Bestand der Kunst, dass sie besteht und dass sie mächtig
ist, wenn es sich zeigt, dass auch Jene, die nicht an sie glauben,
durch sie gerettet werden. Denn nothwendig müssen Jene,
welche, ohne einen Arzt zu gebrauchen, krank waren und
wieder gesund wurden, wissen, dass sie irgend etwas tkuend
oder unterlassend, gesund wurden. Denn entweder durch reich
lichen Speisegenuss oder durch Enthaltung von Speisen, oder
durch vieles Trinken oder durch Dürsten, oder durch Baden
oder durch Nichtbaden, oder durch Ruhe oder durch Ermü
dung, oder durch Schlaf oder durch Schlaflosigkeit, oder aber
ein Gemenge von all dem gebrauchend, wurden sie wieder gesund.
Und im Falle des Nutzens müssen sie nothwendig wissen,
dass ihnen etwas nützte, im Falle des Schadens aber, dass
ihnen etwas schadete. Was freilich durch Nutzen und durch
48
IX. Abhandlung: Gomperz.
®0at wptopeva oü -d? aav'o; yvwvat • et xotvuv exicxvfaexai S) ezatveTv
ibeyetv 5 voa^ffa? xwv Statxv;ß.dxwv xt otatv uyidvOY), xavxa xauxa x?j?
iYjxpty.ii<; ^eipi^cet wp^ laxtv y.a't eaxtv oübev rjcoov xd dp.apXY)Oevxa xwv
w<peXv;advxwv papxüpta xr; xeyvyj e? xo eivar xd p.ev -ydp waeX^Gavxa xw
5 opOw; xpoaeveyOrjva; wseX^uav, xd Se ßXd'iavxa xw p.ry/.exi cpOw? xpoo-
£veyO?;vai sßXatl'av. y.atxoi oxou x5 xe op0ov y.a't xb p.v) opOcv opov ly et
ey.axepov, zw? xouxo ob - /, dv xeyvy) elV); xouxo Y“p £'(<*>'(£ cpvjpt dx£yvi'Y)v
elvat ozou p.v)xe op0ov evt p.rjSev pv)xe oüy. c>p06v ozou be xoüxwv eveaxtv
eydxepov, oüy.ext dv xouxo epyov äxeyyir;? efy.
10 6. "Ext xotvuv et pev dzb <japp.dy.wv xwv xe y.aOatpovxwv y.at xwv
tixavxwv vj t^ot; xp xe trjxpty.i) y.at xbtaiv ir,xpototv pouvov eyt'vexo, doOevr;?
vjv dv o epb? X6yo;‘ vuv Se tpat’vovxat xwv tv)xpwv ot pa/aaxa eixatveopevot
y.at Siaixi$paaiv twp.evot y.at aXXotat fc etoeatv, d oüy. dv xt? ©atv), pr,
oxt tr;xpö:, öt'kh oübe tbtwxv;? aveztax^pwv dy.oüoa?, pr, oü x»j? xeyvyj eivat.
15 ozou ouv oübev oüx’ ev xoT; ayaOolici xwv tr,xpwv oüx’ ev x^ tvjxpiy.Yj aüx^
dypetov eoxtv, aXX’ ev xoiat xXetoxotot xwv xe ©uopevwv y.at xwv xoteu-
pevwv eveaxtv xd eioea xwv 0epaxetwv y.at xwv ©appdy.wv, oüy. eaxtv Ixt
oüoevt xwv aveu tr,xpou üfta^opevwv xb aüxopaxov atxir ( aaa0at op0w Xoyw.
xb pev ydp aüxopaxov oübev ©atvsxat eov eXeyyöpevov ■ xäv yap xb yt-
20 vop.evov oid xt eüptoy.otx’ dv yivöp.evev, y.a't ev xw otd xt xb aüxop.axov oü
oatvexat o'uatrjv eyov oüoeptav äXX’ ^ ovop.a - r, Se tvjxpivt-yj y.a't ev xowt
ota xt y.at ev xoüat zpovooup.evotat oatvexat xe y.a't oavetxa: atet oüatrjv
eyouoa.
7. Totot p.ev oüv x^ xüyv) xy)v uytetY;'; xpoaxt0eTat xvjv Se xeyvrjv
25 doatpeouot xoiaux’ dv xt? Xevot. xoü? §’ ev xrjat xwv äxo0VY]ay.6vxwv
1 OTaivletv libri 2 otoiv AM, oiaiatv R uyiäa0rj A 1 (sed a in v raut,
man. 1), üytdvOi) MR 2—3 xrjs tyjrptxf}? övxa Euprjaet y.at laxtv oüoev R, xrj; iyjrpixfjs
k'artv oüokv A, x^; tyjrpixijs Satt zat Sattv ouSev M, hiatüm indicavi et supplevi.
4 lato A, ei; to MR 5—6 ti^EXrjaEv et Ißlailcv M, tö^EXijaav et SßXadiav A 1 (sed
sßXatlav in k'ßXatkv mut. man. 1) R 6 te AM, om. R 8 k'vt AM, eSjj R oe
MR, xe A 9 oOv-exi av xouxo (xb M) Spyov dxEyvtyc eYyj AM, xtto; xouxo oüy. av
xiyvr^ Spyov äXX’ äxEyvtrj; e’tyj; R 10 ajib Serv. et Fevr., uro AMR, im Par.
2143 11 rj om. A xoiatv A, tot; MR iytvsxo AM, äyivExo R 12 yv om. A
vuv ok AMr, vuv ok Sr) r 13 otatxrjpaat A 1 (v add. m-) yE Lit.tre, xe libri
15 orou libri, ozou Zwing, in margine 16 Pro ei in dypstov r] vel t liab. vid.
A 1 , an ayp7)tov? xotat A, xo?; MR 17 OEpamwv A 1 (st A 4 ) Sxt om. A
18 atxdlaaaOat A, aixtäaaaOat MR 19—20 yEtvo'pEvov A 1 20 xt xo aüxo'paxov A,
xb aüxop. Sk M, xt xb Sk aüxo'p. R 21 auOEptry; libri oüvopa AM, oüvopa pouvov R
xotat A, xoi? MR 22 y.a't iv xotat A, om. MR xpovooupivotc libri xe MR,
ye A aist A, kxt MR 24 Sk uytrjv A 1 , üyEtrjv A 2 , uyteCyjv MR rpoaxiOrj’ai A 1 et
M 1 xijv ok xiyvrjv A, xrjc Sk xiyvrj? MR 25 XiyEt A 1 , corr. in. 4 arcoOvrjay.. libri.
Die Apologie der Heilkunst.
49
Schaden von einander gesondert ist, vermag nicht ein Jeder
zu erkennen. Versteht es aber der Kranke etwas von dem,
bei dessen Gebrauch er gesund wurde, zu loben oder zu
tadeln, so wird er finden, dass dies alles der Heilkunst an
gehört. Und das, was sich schädlich erwies, ist kein geringerer
Beweis für das Dasein der Kunst als das, was sich als nütz
lich bewährte. Denn das, was nützte, nützte durch den rich
tigen Gebrauch; was aber schadete, schadete dadurch, dass
es nicht mehr richtig gebraucht ward. Wo aber dem Rich
tigen und dem Unrichtigen jedem seine Grenze gesetzt ist,
wie sollte das nicht eine Sache der Kunst sein? Denn für die
Sache der Unkunst halte ich das, wobei es weder etwas
Richtiges gibt, noch etwas Unrichtiges; wo aber jedes von
beiden vorhanden ist, da kann nicht mehr die Rede sein von
blosser Unkunst.
6. Wenn nun ferner die Heilung der Krankheiten den
Aerzten und der Heilkunst nur durch die reinigenden und zu
rückhaltenden Mittel gelänge, so wäre die Kraft meiner Rede nur
gering. Nun sehen wir aber, dass die besten unter den Aerzten
auch durch Veränderung der Lebensweise heilen und durch
andere Dinge, die nicht nur jeder Arzt, sondern auch jeder
unkundige Laie, der davon gehört hat, für Behelfe der Kunst
halten muss. Wenn es nun aber weder für die guten Aerzte,
noch für die Arzneikunst selbst etwas Unnützes gibt, sondern in
dem meisten von dem, was da wächst und was erzeugt wird,
Weisen der Behandlung und der Heilung enthalten sind, so kann
niemand mehr, der, ohne einen Arzt zu befragen, krank war
und genas, dies mit gutem Rechte dem Ungefähr zuschreiben.
Denn das Ungefähr erweist sich als gar nicht bestehend, wenn
man ihm zu Leibe geht. Denn bei allem, was da geschieht,
kann man finden, dass es durch etwas geschieht, in dem Durch
etwas aber verliert das Ungefähr sein Bestehen und wird nichts
als ein Name. Die Heilkunst aber hat in dem, was durch
etwas geschieht und was sich vorhersehen lässt, ihr Bestehen
und wird es darin allezeit haben.
7. Dies nun kann man denen erwidern, welche die Rettung
der Kranken dem Zufall beilegen und der Kunst entziehen;
was aber die betrifft, die in dem unglücklichen Ende der
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh. 4
50
IX. Abhandlung: Gomporz.
Gup.©opi)<ji xy]v xsyvy]v ä©avt?ovxac Owpä^w oxew sxatpop.svot äi^töypsw Xoyw
xrjv ptsv xwv äxoGv-floy.cvxwv ätiu/t'rjv ävatxi'vjv -/.aötmäGt, xrjv 8e xwv xvjv ir;-
xpe/ä]V p.eXEXYjGGtvxwv ouvsatv atxfojv' w? xotct p.sv iTjxpoi? EVsaxt xä p.vj
Sscvxa sxtxäijat. xoict Ss vogeougiv ouy, svEoxt xä xpocxayQsvxa xapaßijvat.
5 nat [ayjv xoXü y s suXoywxspov xöwt y.otp.vouxiv äSuvaxstv xa xpoGxaaaöpsva
üxoupYsw v) xol? tiqxpoicri xa [J.Y] Seovxa extxäocsiv. ot ptsv yxp öyiaivoiarj
yvcip-vj psO’ &yi*(vovtos onipaxo? syxetpsouGt, XoYtcräpsvot xä x£ xapsovxa
xwv x£ xapor/opsvwv xä öpotw? otaxsOevxa xo!at xapsouat, Saxs xoxs
GepaxsuOsvxa(<;) sixetv wc äxt^XXaijav' ot 5’ oüxe ä xäpvoootv oux£ 8t’ a
10 xapvouatv ötSoxs?, ot>8’ 8 xt ey. xwv xapsovxwv saxat ouS’ 8 xt ex, xwv
xooxotaiv Spotwv YtVExai [eiSoxs?], sxtxäoaovxat, äXYSovxs? pev sv xw xap-
SOVXt ?0ßs6pSV0t Ss XO p4XXoV, Hat xXvjpet? p£V xrj? VOUGOU y£V£Ot Ss
atxtwv, OsXovxe? 8e xa xpo? xv)v voüaov y)8y] päXXov fj xa xpo? xt)V
uYt£'-Y)v xpoaosyEGÖat, ouy. äxoOaveTv spwvxe? äXXä y.apxspeiv äcuvaxeuvxsc.
15 ouxw? Ss 8tax.eip.evou? xoxepov eixb? xobxou? xa oxb xwv tyjxpwv sxtxaaoo-
peva xotetv rj aXXa xotsiv fj ä ex£xä)t0Y]aav, xob? tvjxpob? xob? sxstvw;
Staxetpevou? wo 6 xpöaösv Xoyo? Yjpp^veuaev extxäaaetv xä pr, Seovxa;
8tp’ ou xoXb paXXov, xob? pev 8s6vxw? extxäaostv xob? Ss sty.oxw? ä8u-
vaxstv xctOsaÖat, p.r ( xtGop.evou? 81 xsptxtxxstv xotat Gaväxot?, wv ot pv;
20 opGw? Xoyt^opsvot xä? atxta? xoT? ouSev atxiot? ävaxtOstat, xob? atxi'ou?
eXeuGepoövxe?;
1 aupcp. R, Sjupip. AM Oaupdfw libri oxew A, oxcot MR JxipopEvoi
A 1 , Ixaipop. A 2 , sxaipsop-Evoi MR 2 äxoynjv A, azp'/ja!/)V R (äzpta!r)v r), azpa-
oirjv M, aluy!r]v scripsi avaraav A, aixirjv (v add. m. 2) M, ou* amrjv R
xrjv A, am. MR B aüvEoiv R, ;uv. AM irjxpot? AM, irjxpoiotv R xa
iterat A 4 Ivsaxt A, ’fcn MR 5 zäptvouaiv MR (ap. in ras. M), zctpvouai
A (v add. man. 4) iouvaxEEtv libri 6 uxoupyssiv libri xot; Ar, xowi M,
toloiv R uytavoux/j A 1 xrj post. 6y A, om. MR 8 ouxxsOEvxa A, oiaxtOivTa MR
xapEouot AM, xapEouaiv R 9 OspaxEuOEVxa libri, OspaxEuOlvx«; scripsi d>s AM,
oxi R oSxe ot’ a zapvouoiv MR, om. A 10 eiSoxe; A, om. MR 068’ oxt A, ouO’
oxt oüv posteriore loco MR 11 xouxoiatv MR, rouxsoiaiv A yivsxai MR, ytvovxat A
Iv A, om. MR 12 tpoßsüpEvoi Ar, cpoßoupEvoi Mr xXr,pes? A, xXrjpr); M f ,
xX^pEi? M 2 R vouaou AMr, voaou r xeviot A, xsvot MR 13 IOeXovxe?
libri oe xa A, 8e om. MR rjor] A, ^8la MR xrjv AM, om. R 14 uyiEtv
A ! , uyelrjv A J r, uyiEtf)V Mr äouvaxEÜvxE? A, äSuvaXEOvxe; MR 15 ouxto; A,
oüxw MR 16 xotEEtv (bis) libri fj a A, 5) ä M, ä oux R i) MR, om. A
18—19 äouvaxEtv A, äouvaxEEiv MR 19 xdOsaOai et XEiOopsvou? MR, xtÜEaOat
et. xiOop. (1 in ei mut. man. 4) A Oavaxoi? A (—xowt m 3 . v add. m. 4),
Oavotxoiotv R, Oaväxoiot M (v add. m. 2) 20 avaxEOriai A, ävaxtOEaot MR
21 ?X£u0EpouvxE5 MR, IXeuOepeuvxes A
Die Apologie der Heilkunst.
51
Kranken den Untergang der Kunst erblicken, so weiss ich
nicht, mit welchem triftigen Grunde sie die Ohnmacht der
Sterbenden für schuldlos halten, die Einsicht der Heilkundigen
aber für schuldig, — als ob es zwar möglich wäre, dass die
Aerzte das Unrichtige vorschreiben, nicht aber, dass die
Kranken die Vorschriften übertreten. Und dennoch ist es viel
wahrscheinlicher, dass die Kranken unvermögend sind, das
Verordnete zu befolgen, als dass die Aerzte das Unrichtige
verordnen. Denn diese gehen gesunden Geistes mit gesundem
Körper daran, das Gegenwärtige erwägend und von dem
Vergangenen das ähnlich Beschaffene, so dass sie von gar
manchen Kranken, die behandelt wurden, sagen können, wie
sie davonkamen. Jene aber wissen weder, woran sie leiden,
noch wodurch sie leiden, noch was aus dem Gegenwärtigen
hervorgehen wird, noch was aus dem, was diesem gleich
artig ist, entspringt; und also empfangen sie die Verord
nungen der Aerzte — Schmerz empfindend in der Gegenwart,
Furcht vor der Zukunft, der Krankheit voll, der Nahrung aber
haar, mehr nach dem verlangend, was der Krankheit, als
nach dem, was der Gesundheit gemäss ist, nicht zu sterben
verlangend, aber sich zu beherrschen nicht vermögend. Ist
es nun wahrscheinlicher, dass die, die also beschaffen sind,
das von den Aerzten Vorgeschriebene thun werden, oder
dass sie anderes thun werden, was ihnen nicht vorgeschrieben
ward, oder aber, dass die Aerzte denen, die so beschaffen
sind, wie sie das Vorige zeigte, das Unrichtige verordnen?
Nicht vielmehr, dass diese zwar richtig verordnen, jene aber
nicht, zu gehorchen vermögen, da sie aber nicht gehorchten,
auch dem Tode anheimfallen, dessen Schuld die unrichtig
Denkenden den Unschuldigen beilegen, die Schuldigen ent
lastend ?
4*
52
IX. Abhandlung: Gomperz.
8. Etat ce xivs; oi y.al Sia xouc, pw; GeXovxa;; kyyz’.psXv xoloi y.s-
y.paxr,|j.svois ux'o xüv vo<7Y][taxuv p(.s|j.!povxat xtjv tYjxpiy.^v ; aeyovxe; ü;
xaüxa psv y.sd aüxa 69' suuxüv äv sSjuYia^oixo ä e^xstpsouatv läcrOac, ä
8’ Extxoupi'ijs Sstxai psYa^v)? ouy axxovxai, SsTv Ss, stxep 9jv •q xsy v V7),
5 xavO’ öjAoiwi; iacGai. ol [jiv ouv xauxa Asyovxs? st epipipovTO xot? r/jrpoTc;,
ov. aüxüv xoiaüxa Xeyovxuv ouy. sxipieAovxai ü? xapaopovsüvxuv, siy.oxu?
av sp.s|ji.oovxo [aölaXov v) y.slva p,s|ji<po|ASVoi. s! y*P Tt ? ■'i T -X V ‘0 V « pw)
XEyvv] 7) ipucjiv e? a (j.yj oücni; xstpuxsv ä'iÜGSis SuvaoQai, i.y'ioti äyvoia'i
äppo^oucav pavlr, [j.aXXov y) äp.aG!r). uv Y“p &JW xotx! xe xüv
10 cpuatuv xolct xe xüv xe/vsuv opymoiq Extxpaxstv, xouxuv saxiv Y)p.lv 87;-
p-ioupYoii; eivat, aXXuv 8s ouy. s'crxiv. oxav oüv xi xaGr] uvGpuxo? y.ay.bv
8 -Apscaov egxiv xüv ev i7jxpiy.rj ipYavuv, ouSs xpoaoox.äo6ai xoüxo xou
Sei uxo irjxprAYji; y.paxYjGrjvat av. auxi'y.a Y“p t “ v ev tYjxpty.^ /.accvxuv xüp
EG/_äxw' y.aiei, xoüxou Ss Yjaoövui; aXXa xoXXcc’ xüv p.ev o5v Yjcraövuv
15 xa xpsaGU oüxu SyjXovoxi avi'rjxa, xüv Ss y.paxtcxuv xd y.peGau xü; oü
SyqXovoxi avt'yjxa; a Y“p ^up SY]p.ioupY£i, xü? ou xa xoöxuv p.r) äXujxö|j.eva
SrjXoT 5xi aXXv)i; vzyyrfc Ssixat xal ou xauxrjc, ev rj xb xüp bpY«vov;
uüxoq Ss p.01 kiyoq y.ai üxep xüv aXXuv oaa ifi i7jxpix.7j auvspYet, uv
axavxuv <pr]pu Ssiv Ixaaxou (ou) xaxaxuyo-mx. xov irjxpbv xr]V ouvap.iv ai-
20 xiaaGat xoü xaGsop, pdj xyjv ikyyry). ol p.sv ouv p.Epipöp.Evoi xou? xolat
1 OiXovxa; A et Cod. med. gr. Vindob. 43, iOIA. MR syyapEiv A,
ly^EipEEtv MR xoiai MR, om. A 1—2 xs/.parr^jivoi^ A, /tEzparijpivoiaiv MR
(v add. M 2 ) 3 £><p’ Ar, octp’ Mr Eauxüv A, autüv MR laaOai (bis) MR,
irjadai A 8. MR, av A 4 psyalr); A, om. MR 5 ei AR, 1) M (eorr. m.,2)
6 autüv A, auTEcov MR IxipEXovrai A, IxipEXouvtai MR (£xip.sXüvTai M 1 )
7 -/.Eiva AM, äxsiva R fj te^vyjv A, teyyrjy MR 8 ipuai; A, oin. MR
ayvoEt AR, ayvotj M (corr. m. 1) 9 pavirjv äppofouaav ayvoir) libri (pav rjv in
paXXov mut. M 2 , ayvoia A), ayvoiav appo'^ouaav uavyj Zwing. 10 ExixpaiESiv
libri toutoiv MR, touteiov A 10—11 8r]p.ioupyois slvai MR (015 M 2 in ras.),
om. Eivai A 11 wvOpioxo? AM, ävOptoxo; R 12—13 toüto xouSei A, om. MR
13 xüp MR, to xüp A 14 toutou MR, touteou A fjaaov üjc A, r|aaov zai R,
lacuna in ras. post, ^aaov (accent. add. m. 2) M, ijaao'vio; scripsi siaao'vwv
A 1 (corr. m. 4) 15 zpEaato AR, zpEiaaio M avirjTa AM 1 , x’ avirjTa M 2 R
16 Post ot^Xov oti add. eutiy A orjpioupyEEi A, oü ovjpioupyEEi MR Ta toutoiv
A, ta toüto) MR 17 ~l~/yr^ OEttai AM, SEirai xlyyni R ?vi M 1 , IvfJ seu h
f) M 2 , iv ij A, % ’e'vi R 18 xüv aXXwv Ar, t^5 tüv aXXcov Mr ^uvspyst libri,
^uvepylEi Zwing, in marg. 19 Izäaxou zatat. AMr, Izäatou prj zatat. r, (oü)
inserui 20 jcaöoup Ar, xäöso; Mr MR, etXXä Ar tou; total xsxpa-
TT)pEvoiai |J-7j ey^Eiplovta; A, Toütoiai (mut. in Toi; Total m. 1) xsxp. ij/vj ly^EipEOVta?
(mut. in äy^Eiplouat m. 2) M, toiai (om. r) tot; xsxp. u.rj lyjfEipsouai R
Die Apologie der Heilkunst.
53
8. Es gibt aber Einige, welche die Heilkunst um der
Aerzte willen tadeln, welche die von den Krankheiten schon
ganz Bewältigten gar nicht zu behandeln unternehmen, indem
sie sagen, dass, was sie zu heilen versuchen, auch ohne sie
gut würde, was aber ausgiebiger Hilfe bedarf, das fassen sie
gar nicht an; sie müssten aber, wenn die Kunst wahrhaft be
stünde, alles gleichmässig heilen. Wenn nun die, welche dies
sagen, die Aerzte darum tadelten, dass sie sie, wenn sie dies
sagen, nicht als Wahnwitzige behandeln, so würden sie sie mit
besserem Rechte tadeln, als indem sie jenes sagen. Denn wenn
Jemand von der Kunst, was nicht die Kunst, oder von der
Natur, was nicht die Natur vermag, verlangt, so irrt er einen
Irrthum, der eher dem Wahnwitz eignet als der Unwissenheit.
Denn was wir durch die Kräfte der Körper und durch die
Hilfsmittel der Künste zu bewältigen vermögen, darin können
wir etwas schaffen, sonst aber in nichts. Wenn nun der Mensch
von einem Uebel befallen ist, das stärker ist als die Hilfs
mittel der Kunst, so darf man gar nicht erwarten, dass es von
der Heilkunst bewältigt werde. Denn sogleich von den Brenn
mitteln, welche die Aerzte gebrauchen, brennt das Feuer am
stärksten, minder stark aber auch andere mehr. Was nun
stärker ist als das minder Starke, das ist offenbar noch nicht
unheilbar, was aber stärker ist als das Stärkste, wie sollte das
nicht unheilbar sein ? Denn wenn das Feuer Uebel behandelt,
wie sollten jene von ihnen, die dabei nicht unterliegen, nicht
den Beweis liefern, dass sie einer anderen Kunst bedürfen,
und nicht der, in welcher das Feuer das Werkzeug ist? Und
ebendasselbe gilt mir auch von allen anderen Hilfsmitteln der
Heilkunst, von welchen ich insgesammt behaupte, dass der
Arzt jedesmal, wenn er mit ihnen sein Ziel verfehlt, die
Stärke des Leidens anzuklagen hat, nicht aber die Kunst.
54
IX. Abhandlung : Go mp er z.
y.sy.paxY]p.svotat p,Y) sYxeipeovxa; trapay.eXeöovxai y.ai wv p.Yj 7Cpoavfyet äxxs-
c0at ouSsv ?j<roov 7) uv xpoaY]y.£f xapay.sXEuspi.svoi Se xaüxa uit'o p,ev xüv
ovop-axi ivjxpüv Oup.ä^ovxai, uix'o äs xüv y.ai xe-/vy] y.axaYsXüvxxi. ou p,YjV
ouxu; äopövuv oi xaüxY); xi); SY)p.ioupy(7;; epaxeipot ouxe p,up,Y]xeuv oux’
5 aivexsuv Seovxai, äXXa XeXoY'.spivuv xpb? o xt ai spyaffiat xüv S7]p,toup-
vüv xeXeuxüp.svai xX^psi? elai *ai oxeu ixoXsixopiEvai evSeei;, exi xüv
lySeiüv, a: xs xot? SY]p,ioupYeüaiv ävaOexeov a; xe xoi; SY]p.ioupYeop,evoiaiv.
9. Tä pev ouv y.axä aä; äXXa; xe^va; äXXo; XP° V0 S «XXou
Xo-pou Seiest ■ xä Se y.axä xyjv ;v;xpiy.Y]V olä xe eaxiv fix; xe y.pixea, xä p.ev
10 5 Ytapo’xap.svo<; xä Se b xapsüv Si5äi;ei Xoyo;. eaxi Y“p xoiat xauxYjv xyjv
xeyy/Yjv cxavü; eiSöat xä p.ev xüv voaYjpäxuv oüy. sv Suaöxxu y.sip.sva y.ai
ou xoXXä, xä Sk oux. sv euSv^Xu :m\ xoXXä. eaxiv Se xä p.ev ei;av0eüvxa
iq xyjv xpotrjv vj XP ot ?) ’O oESiqp.aaiv ev ei)Si)Xu‘ xaps^ei ‘/äp euuxüv x^
xe otj/ei xü xe bauaxi xyjv axepsoxYjxa y.ai xyjv UYpöxYjxa aiaOxveaOai, y.ai
15 a xe aüxüv 0epp,ä a xe <|a>xpä, fiiv xe ey.xaxou •)) xapouaw] y) äxouaw]
xoiaux’ eaxiv. xüv pev ouv xotoixuv xavxuv ev xäai xä; äy.eaia; ävapxp-
xvjxou; Sei elvai, oü/ ü; pYjtSia;, äXX’ oxt si;eupY]vxar eijeüpYjvxai Y e päjv
ou xoiai ßouXrjOeiaiv, äXXä xouxuv xoiat SuvY]0eiaiv Sivavxai Se oiai xä
xe xy); xatSetY); pr, sxxoSüv xä xe xyj; oiaio; p.Yj xaXaixupa.
20 10. liebe pev ouv xä ipavepä xüv voaYjpäxuv ouxu Sei euxopeiv
xyjv xej^vYjv • Sei ye pyjv auxrjv oüSe xpb; xä Yjaaovu; «pavepä äxopeiv ’
1 xpoa^xEi MR, xpoarpe A 1—2 SxxtaOai—xpoavjr.Ei MR, om. A 2 xüv
A, xüi M 1 (i in v mut ra. 2), xüv xü R 3 ovopaxi AR, ouvopaxi Mr 1 äapd-
vwv MR, appove; Ar SipioupYir); A 1 (corr. m. 4), SrjpioupYias MR pwp7)xüv libri
oüxe (in ras.; fuit, nt vid., ouxoi) Ixaivexiov A, oux’ aivEXwv MR 5 AElovtepl-
vcov MR, lEloyiapivoc (?) A a'i AMr, av al r 6 uxoltxdpevat Ivoeiei? A (ivoeirj;
m. 2), OxoXsixopEvai evSee?; MR Hxi A, sti xe MR 7 Ivoeiüv MR, evoeüv Ar
Srjpioupyouatv AR, oripioupYoiaiv M xoi? SYjpio-jpyEopEvoiaiv (v eras. m. 2) A,
xoiai BrjpioupyoupEvoiai MR 9 8e!5ei libri 10 xapoi/opEvo; AM, xapep^qpi-
< vo; R xapsiiv A, xaprnv MR 12 oe A, 8’ MR xoW.a ■ Eaxiv 8s xa psv
ä^avOsüvxa A, xoXXä laxt, xä 8’ EiavOsuvxa MR, post xoXXä saxiv inseruit
Cornarins xä piv yäp ixpoc xä ivxdc xsxpappEva ev 8uaoxxop 13 rj ypoir; A,
om. MR oior^jiaaiv AMR, oioaivovxa r 13—14 iwuxr)v xjjv xs oyEi (öijnv
in ras. m. 3 et 4) xo’ xe ’iaiixai A, itouxüv xr] xe dp ei xü xe lauaai MR
14 xd;v axspEo'xrjxa xat xrjv üypo'xYjxa AM, xrje axEpEox»)xos xai xij; uypoxj)X05 R
15 7] xapouair; q äxouair) (ij äxoua. A, i) äxoua. M s ) AM, q xapouair; q äxo'-i-
airj R 16 xoiaux’ Mr, xoiaüxr) Ar xüv psv ouv Ar, xüv psv Mr, xüv
piv oyj r xäai A, äxaai MR 18 xotjxüjv MR, xouxeojv A Suvrjörjaiv (et
ßouX7j9r|aiv) A 1 , 3uvr)0eTai MR 19 xaioi7]? A'M 1 xaXatxtopa MR, äxaXaixtopa A
20 oSxw AR, oüxok M suxopEEiv libri 21 ouSs AM, pvj8£ R f ( aaovio (a>
eräs.) M, rjaaova r, naaov Ar, rjaao'vio; scripsi äxopEEiv libri
Die Apologie der Heilkunst.
55
Jene nun, welche die Aerzte darum tadeln, dass sie die von
unheilbaren Krankheiten Ergriffenen nicht behandeln, ver
langen, dass sie das Ungehörige ebenso thun sollen wie das
Gehörige, und indem sie dies verlangen, werden sie von den
Aerzten, die es dem Namen nach sind, bewundert, von denen
aber, die es in Wahrheit sind, verlacht. Denn nicht so
thörichter — weder Lobredner noch Tadler bedürfen die
Meister dieser Kunst, sondern solcher, die erwägen, wo die
Arbeiten der Künstler ihr Ziel erreichen und voll sind, und
wo sie hinter diesen Zurückbleiben und mangelhaft sind; und
ebenso in Betreff der Mängel, welche von ihnen den arbei
tenden Künstlern zur Last fallen, und welche den Gegenständen
der Arbeit.
9. Was nun die anderen Künste betrifft, so soll dies eine
andere Zeit und eine andere Rede lehren. Was aber die Heil
kunst angeht, wie sie beschaffen und wie sie zu beurtheilen
ist, so hat dies zum Theil das Vorangegangene gezeigt, zum
Theil wird es das Folgende zeigen. Es gibt nämlich für jene,
welche die Kunst ausreichend verstehen, Krankheiten, die nicht
im Dunkeln liegen — und deren sind nicht viele —, und an
dere, die nicht offen zu Tage liegen — und deren sind viele.
Denn was an die Aussenseite mit Farben oder in Anschwel
lungen hervorbricht, das liegt zu Tage; denn es bietet sich
dem Gesicht und dem Getaste dar und lässt so erkennen, was
an ihm hart und was an ihm weich, und was warm und was
kalt ist, und durch welcher Dinge Anwesenheit oder Abwesen
heit es jedesmal eines von diesen ist. Von diesen allen, so
behaupte ich, muss die Behandlung immer und überall un
fehlbar sein, nicht dass sie leicht ist, sondern weil sie entdeckt
ist; entdeckt ist sie aber nicht für die, welche sie ausüben
wollen, sondern unter diesen für die, welche es können; es
können es aber Jene, deren Natur nicht widerstrebt und denen
es an Mitteln der Bildung nicht gefehlt hat.
10. Gegen die sichtbaren Krankheiten muss also die
Kunst zu steter Hilfe gerüstet sein, sie darf aber auch den un-
56
IX. Abhandlung: Go mp er z.
soxiv äs xauxa ä -rcpoc ts xa oaxsa xsxpaxxat y.ai tyjv vy)86v syst äs x'o
aöjjta ob p.!av, äXAä txXsod? - äüo p.sv Y“p «I x'o otxiov äsyop-svai xs y.ai
«ptswat, aXXat Ss xoixwv itAsoug, a? taaoiv otax xo6xwv sixsXvjaev oaa
yap xöv ptsXewv sysi aäpy.a itspupspsa ■)]') p,uv x,aXsouatv, xävxa vyjSuv
5 syst, xäv y«P xo äaujjupuxov, r^v xs Sspjjtaxi y]v xs aapxi xaXüxxyjxat, xoIXov
saxi, xXvjpouxa! xs uyiafvov psv xvsup.axo? äaOsVYjaav Ss iyöpoc. syouct
jasv xofvuv oi ßpayi’ovsq capy.a xotaixvjv, syooai ä’ ol p.r)poi, syouat ä’ al
xv^p.ac. sxi Ss y.ai sv xoTaiv äoäpy.otoiv xoiaoxr) svscxtv ovq y.ai sv xowtv
süaäpxoiatv svsivai osSsaxai. o xs yäp Otopyj^ y.aXsöp,svoi; sv ö xo ^xap
10 oxsYai^sxai, o xs Tvjc y.soaXy;: y.uy.Xot; sv w 6 SY*e<paXoc, xo xs vöxov
xpo? ö 6 xXs6p.ii)v — oüSsv 8 xi xouxwv oü xsvswv saxiv, xoXXwv Sta-
®oa!wv jjisoxö?, fjaiv ouSsv äxsysi xoXXwv äYY^« elvott xöv piv xi ßXa-
xxovxwv x'ov y.sv,TY][j.svov xöv Ss x.ai w<psXsuvxwv. sxi Ss y.ai xpo? xoüxctat
ipXsßsi; xoXXai xai vsopa oux sv ty) aapxi psxswpa äXXä xpb? xoi?
15 oaxsoiai xpooxsxap.sva, aivSsapoi; s? xi xöv ä’pOpwv y.ai auxä xa äpOpa, sv
oiaiv ai cupßoXai xöv -/.tvsopsvwv oaxswv SY'xuy.Xsovxat • y.ai xoixwv ouSsv
o xi oüy ixotpopov saxi x.ai syov xspi swuxo öaXäp.ap, äs vtaxaYYsXXsi
iywp, 8? sy. StoiYop,svwv auxswv xoXXo; xs y.ai xo/.Xä Xuxvjoai;
sßspysxai.
1 eaxtv A, laxl MR xaüxa M ! , xaü0’ ä M 2 xpo; xe xa MR, xpo;
xa A 2 rcXelou; libri xo aixtov A, xo (v add. M 2 ) afxov Mr, xov afxov R
Beyo'pEvai ai xe y.ai A, Beydpevai (Beydpev al M 1 ) xe xai MR 3 xouxewv libri
jiIeiou; libri jcXsious—xouxewv om. A xouxewv libri ipiX^aev MR (1 add.
M 2 ), £v peXsatv A 3 — 4 (fnit, 111 vid. ei sive 1? p.eXr)aev) öxo'aa pro oaa Erotianus
(p. 98, 15 Klein) 4 xaXeouaiv A, xaXeouai MR 5 ^upcpuxov Erotian. 1. 1.
8 xofaiv äaäpzoiaiv A, xoi? aaäpyoiai MR 9 ev elvai A, elvai MR BiBeyxatM 1
(BeSewxat M 2 ) , XsXexxai A, SESsixxai R 11 wi M et Serv., o A 4 (in ras.; fuit,
ut vid., co) R alcuptov AM 1 , aveuptov RM 2 ouSev oxi xoüxtov A, xou-
xwv ouoev o xi ou (Ixiou M, fe'xi ou r) Mr y.ai ev S> laxiv A, y.ai auxb xevov
(xaivtov M) saxi MR, xevstov scripsi 11—12 otacpuaiwv MR, Biacpiaetov A
12 |j.Eaxo'v eaxiv libri, peaxo'; scripsi oiaiv libri, ^aiv Zwing, in marg. (ante
oiaiv littera erasa in M, fort, x, in marg. xöv, supra script. ayä),;j.a, ut videtur)
tcoXXöv AM, Zwing, in marg., Serv., raXXöv R piv xi A (xoi m. 4) r,
pevxoL MR 13 orpEXsuvxcov A, (ötpeXouvxcov MR ixi Be 7xpoc xouxoiai xai MR,
Haxi Be xai Txpbc xooxeoiai A lo xpoaxexapeva AMR, "coaxExavuiva r saxi
libri, e; xi Littre 16 aupßoXai MR, (uvßoXai A xeiveop. A eyxü'xX.
MR, ixxuxX. A 17 umxippov libri, üixotppov Erotian. (p. 128, 15 Klein), üm-
ipopov Zwing, in marg. (1579) et Foes. (1595) secundum ,exemplaria quae-
dam‘ 7tepl auxw A, jxep! auxö MR Erot. 18 b tyiopors A 1 (ut vid., co? in
o? mut. m. 2), iyajco; r, lyöp ö'; MR oioiyop^viuv AMr, Br/jYO’jpEvwv r, Bir,-
0oufj.Evujy r noXXrj; A, aoX'u; Mli "oXXx A, jxoXXou; MR
Die Apologie der Heilkunst.
57
sichtbaren gegenüber nicht hilflos sein. Es sind dies aber die,
welche gegen die Knochen gekehrt sind und gegen die innere
Höhlung. Es hat deren aber der Körper nicht eine, sondern
mehrere; denn zwei sind es, welche die Speisen aufnehmen
und wieder abgeben, und andere mehr, welche die kennen,
die dies kümmert. Denn diejenigen unter den Gliedmassen,
welche eine runde Fleischbedeckung haben, die man Muskel
nennt, die haben auch alle eine Höhlung. Denn alles, was
nicht ununterbrochen zusammengewachsen ist, es mag nun mit
Haut oder mit Fleisch umhüllt sein, ist hohl und im gesunden Zu
stand mit Luft erfüllt, im kranken aber mit Saft. Ein solches
Fleisch besitzen nun die Oberarme, ein solches auch die Ober
schenkel, ein solches auch die Unterschenkel. Und auch in
den fleischlosen Theilen findet sich eben das, was wir in den
fleischigen gefunden haben. Denn die sogenannte Rippenhöhle,
in der die Leber ruht, und das Rund des Hauptes, in dem
das Gehirn wohnt, und der Rücken, gegen den die Lunge ge
kehrt ist, — von alledem ist nichts, was nicht selbst ein Hohlraum
und von Zwischenräumen erfüllt wäre, denen nichts dazu fehlt,
Gefässe zu bilden, deren reicher Inhalt dem Besitzer mitunter
schadet, mitunter aber auch nützt. Und überdies gibt es auch
noch viele Adern, desgleichen Sehnen, die nicht im Fleisch
obenan liegen, sondern gegen die Knochen gespannt sind, ein
Band der Gelenke bis zu einem gewissen Punkte, und eben
die Gelenke selbst, in denen das Gefüge der bewegten Knochen
sich umschwingt — und nichts von alledem gibt es, was nicht
selber von Gängen durchzogen wäre und Kammern besässe,
welche der Saft verräth, der, sobald sie geöffnet werden, in
grosser Menge und zu grossem Schaden hervorströmt.
58
IX. Abhandlung: Gomperz.
11. Oü yap By) offiOaX|jwi:oi ye iBovxt xouxwv xwv stpY][j,evwv obBevi
oüBev egxiv stBevar Bi'o y.a't äoYjXa sp.ot xs wvbp.acxai xai xy; xe/vy] y.s-
y.ptxat elvat. ou p.r ( v oxt aSYjXa ttsxpdxY)icev, a/.X’ yj Buvaxbv xexpotojxai'
Buvaxbv o’ £0)? aT xe xwv voaeovxwv «p'jcist; [e;] x'o Gy.EoOvjvai zape/ouatv
5 at x£ xwv EpEuvvjaövxwv ec xljV speuvav zetpuy.aotv. p,sxä icXeovo? p.ev yap
tcovou y.ai ou ptex’ eXdocovoc /povou •!) et xo!; o<p0axp.otatv ewpaxo yivw-
cy.Exat• ooa y^P t V T “ v cp.p.äxwv odnv sxaEÖ^si, xauxa xf) xy); f/wp.Yji;
otpet x,sxpaxY)xai • -/.at ooa 5’ sv xw |/.y] xa-/'u o<j0Y)vat ot vooeovxeq zd-
g/ougiv, ou/ ot OspaTXEUovxsc ai)xob$ atxtot, ak\’ r t tpuct? vj xe xou vogeovxo?
10 ^ xe xou voovjp.axo?. 5 p,ev yap, eiust oüy. -JJv auxw eilet iBstv xb |io/Osov
cuB’ äy-orj ixu0eo0at, Xo^iGpiä) [j.sx-^ec. y.ai yäp By] y.a't di ixeipwvxai ol xd
äoavsa vogeovxec äzaYYOdXstv Txspl xwv voaYjp.äxwv xotct Gspaixsüouot, 8o-
i;a(ovxs? p.äXXov y) eiBoxe? axaYYsXXouGtv • st y^p ’^xtaxavxo, ou - /. div
xspiextxxov auxolor xrjp yap «ux^q guvegio? eoxtv Y]ozsp x'o eiBevat xwv
15 vougwv xa atxta y.a't x'o Gspaxsistv auxd; ExtGxacöat zacYjGt x^ot Oepa-
xstrjGtv at y.wXuouot xa voav;p.axa (JtSYaXtivecGai. oxs ouv ouo’ ix xwv
dxaYY s XXo|j.EVwv scxt xyjv avap.dpxY]xov aatpYjVctYjv daoooat, xpOGoxxeov xt
y.a't aXXo xw OspaxEuovxt. xaiixY); ouv xy; ßpaBuxy)xo; ob/ y) xe/vv) dXX’
Y) cpuatc atxtY] xwv Gwp.dxwv y p.ev yap atG0op.evY) di^toi GsparceBstv, cy.o-
20 YXEuoa ozw; jj.Y) xoAij.y) p.ä'AAov yvwp.Y] xai pYjoxwvY] p.aAAov v) ßwj
OspaxEuv). yj B’ yjv ptev Sy) E^apy.Eor, sp xb ooGvjvat, i^apy.egei y.at sq x'o
uYtav0Y;var y)v o’ ev w xouxo öpäxat xpavrßfi Sta x'o ßpaBswp auxbv sx't
x'ov OepaxEÖGOvxa eaGeIv y^ Bta x'o xou vooY)p.axot; xa/o?, ot/^xsxat. ei; ’igou
1 oepOaXp-otat y£ MR, otpOaXpotaiN A 1 (v in y’ raut. m. 3) 2 saxiv MR,
ioxt A 1 (v add. m. 3) oio AMr, Sio or) r 3 f) A, ,vetus cod.‘ Mercur.
(rj 1ow?)j Pttx. 2143, e? MR 4 8e waat xe A 1 (ooat m. 4), Se oaat xe M 1 (1>s
«i xe m. 2) r, oe ooov ai xe r?, 8’ eoic at xe scripsi £5 seclusi 5 XEtp'jy.aaLv
A, itEcpu/.act MR xXeiovo; libri 6 —7 vpo'vou fj Et rote öuOaAu-otc auvEwpäxo
ytvwGy.£xat A, /po'vou Et xolatv ö^OaApolatv Itopäxo ytvwaxExat MR, /po'vou xofotv
d'pOaAuotcrtv öpäxat xe xat ytvtiay.Exai r 8 xai oxa 3’ AM, xat 00a 8e R
10 auxw MR, äuxEw A 12 äxayyO./jY A 1 13 äxayyiAouGtv A 14 xEptsxxov
A 1 (7x1 inser. m. 3) auxotxt A, auxol; MR ijuvEato; libri yaxtsp MR,
vTzsp A 16 /.wXuouat MR, y.wXuouxat Ar olo’ b. AM, oöoe ex R 17 aTcay-
ysXop. A, äjtayyEXXop. M, ,vet. cod.‘ Merc. (äjcayysXX. ’:«s), ijtayysXX. R faxt
AR, cTtt't Mr oatprjvtav A 1 (1 mut. in Et m. 4) r, <jacpY)vEiY)v Mr, Gayr]viY)V R
Ttpocanxw (?) vxtv) (?) A 1 , zpoxarcxEovxt? A 2 18 xat äXXo x. 0. MR, om. A
19 rj xtov MR, xwv A ataOopEvr) A, atxOavopEvY) MR 19—20 oxozouca libri,
xat axoz. A 20 ^aaxwvr) libri (patxx. A, at mut. in a) 21 0EpaZ£Ü£t A 1
(y) supra scrips. m. 4), OEpazEÜEtv Mr, OspazEur) r io’ A 1 (y)8’ m. 2), Ö3 1 M 1 ,
00’ M 2 R oiE^apxfaEt A, äpxEOYi MR, oy) itjupy.iari scripsi i? (bis) AM,
zpbs R 22 'jytavOrjvat AM, iaörjvat R
Die Apologie der Heilkunst.
59
11. Allerdings kann niemand nichts von alledem mit Augen
erschauen und also erkennen, weshalb ich es denn dunkel nenne
und es auch der Kunst dafür gilt. Aber weil es dunkel ist,
darum hat es noch nicht den Sieg davongetragen; sondern es
ist, soweit dies möglich ist, besiegt worden. Möglich aber ist
es, insoweit die Natur der Leidenden die Prüfung gestattet und
die der Forschenden der Forschung gewachsen ist. Denn frei
lich minder früh und nicht mit geringerer Müh’, als wenn es mit
Augen geschaut würde, wird es erkannt. Denn was dem Licht
der Augen entflieht, das wird durch das Licht des Geistes be
wältigt; und was die Kranken in der Zwischenzeit leiden, daran
sind nicht die Behandelnden schuld, sondern die Natur der
Leidenden sowohl als jene des Leidens. Denn da jener das
Uebel nicht mit Augen schauen konnte und nicht mit den
Ohren vernehmen, so verfolgt er es durch Schlüsse. Denn
auch das, was die an unsichtbaren Uebeln Darniederliegenden
über ihr Leiden auszusagen versuchen, sagen sie mehr der
Meinung als dem Wissen gemäss aus. Denn wenn sie das
Uebel verstünden, so wären sie ihm gar nicht anheimgefallen;
denn die Sache derselben Erkenntniss ist es, die Ursachen der
Krankheiten zu wissen und sie zu behandeln verstehen mit
allen Mitteln der Behandlung, welche das Heranwachsen der
Krankheiten verhindern. Wenn nun also auch nicht aus den
Aussagen der Kranken die unfehlbare Gewissheit zu entnehmen
ist, so muss sich der Arzt nach etwas anderm umsehen. Und
an dieser Verzögerung ist nicht die Kunst schuld, sondern die
Natur der Körper selbst. Denn jene will nur Hand anlegen,
nachdem sie wahrgenommen hat, indem sie sich vorsieht, dass sie
nicht mehr mit Verwegenheit als mit Weisheit und lieber mit
Milde als mit Gewalt verfahre. Wenn aber die Natur die Er
kenntniss gestattet, so wird sie auch die Heilung gestatten.
Wenn jedoch der Kranke in der Zeit, bis alles erkannt ist, unter
liegt, weil er zu spät zum Arzte kam oder wegen des schnellen
60
IX. Abhandlung: Goraperz.
p.sv Y“P öpp-wp.svov xi) Ospazew) oüx. satt ödaaov, icpoXaß'ov Se Öäooov
xpoXap.ßäv£i Be Stet xs xvjv xwv owp.äxwv GXEYvoxrjxa, £v y) oüy. sv eüouxw
oiyiouaiv al voujoi, Biot xe xyjv xwv yap,vövxwv öXiywpiYjv• sitei x{ Owpa;
oü Xaußavöp.svoi yap aXX’ eiX^p.psvoi üxo xwv vooY;p.xxwv OeXooot Oepa-
5 ueüeaöai.
12. "Ext xyj? xEyyYjc xyjv Büvapuv Bxöxoiv xivd xwv xd aBvjXa vo-
oeüvxwv dvaax^aY) 9wp.d^siv aij'.wxepov y) oxoxav p.y) syx. ££ P'^ ci '0 toi? dBu-
vdxois (ÜXEp^lpOVElv). OÜXOUV EV d’XXv) '(£. B'()ptOUpYlf) XWV EÖpY]p,EVWV OÜBepiY]
evsaxiv oüBsv xotoüxov - dXX’ «üxewv oaat xupi or ( p.toupY£uvxai xoüxou p,Y)
10 xapsovxoq aepYOt Etat, pexa (Be) xou äsGfjvat evspYot. y.ai ooai xot ev
sÜExavopöiixoiai owpaoi Br;ptoupY£uvxat, as p.ev p.sxd ijüXwv al Bs pexd
oy.uxewv, al Be YP a ?Ü xaXy.w xs y.ai cio^pu y.ai xoia 1 . xoüxwv . . . cy;p-
paoiv EpYaaiai xXsloxat — sovxa [5s] xd sy. xoüxwv y.ai p.sxd xoüxwv
Sv][juoupY£Üp.sva süsxavopOwxa, opwo? oü xw xdyei jxäXXov y) w; ost By)-
15 pcoupYElxai • oü5’ üxspßaxw.; - aXX’ y)v ax-i) xi xwv öpY<xvwv eXivüsi -
yai'xoi xay,sfvY]ot xo ßpaSo xpb? xo XuaixsXsüv dffüjjupopov ■ dXX’ op.w; xpo-
xtpaxat.
2 axEyvo'xpxa M 1 (axeyavdxYjxa M 2 ) r, axevoxYjxa AR 3 IxixiOexai A 1 (lm-
xiOsvxai A 3 ), Im xi Oexai (sic) M, ImxiÜEVxai R, Ixsi xi Owpa; scripsi (ixsi Ioixev
Littre) 4 oü Xajxßavo'pEvoi pap äXX 1 EiXr)jxp.£voi üxb A, oü Xap.ßavdp.Evoi üxo M,
oü Xapßavo'pEvoi 31 üxo R, yap Aapßavo'pEvoi 3s üxo r I0sXouai libri 6 Ixi
xrj; A, Ixi xijc ys M, Ixsi xq? ye R, l'xi scripsi öxo'xav AM, öxo'xav R xd MR,
xe A 7 äv«oxi)0«i M 1 (ctvaox/jTr]i m. 2) Oaupd^Eiv libri a^io'xEpov A’M 1 .
öxo'xav prj M, öxo'xepov pr] A, öxo'xav R lyyEiprjori Ar, lyyEip^orji M, lyyEipiar) R
8 (üxEpcppovefv) inserui, (üxEpopav) Reinhold ys A, om. MR sipy]|jivwv A, 7)'3r)
EÜprjpEvwv MR 9 SejpioEpy. M, 8r]p.i£py. A (e in ou mut. m. 2), orjpioupy. R
10 ctEpyoi M, aEpyoi A 3 r, avEpyoi R, Ipyoi A 1 xou AM (verba p.. x. o. iterat M),
xou xouxou R ötpOfjvai A, ocpQrjvai MR, aepOrjvai Cornarius (operarum vitio, ut
viel., pro atpOfjvai) IvEpyoi A (ev in ras. m. 3), aspyol MR, EÜEpyoi Codd. reg.
ap. Foes. vocabula xai oaai in libris ante pExa collocata transposuit et
81 inseruit Cornarius xaixot Iv A, xai xoftnv MR, xoi Iv scripsi 11 cnipaoi
A, xoiai oeipaoi MR opij-'.oEpy. M, 3r)p.ioupy. AR 12—13 p- yupaaiai xXeix«i
A 1 , ^ ayrjpaai ai xX. A 2 , ^ lC oyej[j.aoi al xl. A 3 , xXEioxai A j , öp-oioiaiv al xXEiaxai
MR, xyrpjaxLV ipyaaiai xXEfoxai scripsi 13 övxa 31 Ix A, xd 3’ Ix MR,
31 seclusi. Ix xoüxcov MR, Ix xouxiwv A 14 SrjpioupyEÜpEva R, Srjpioupyoü-
[j-Eva AM xai eüex. AMR, xai om. r oü xw A, oü xw MR xayu A 2
(xaysi A 1 , ut vid.) rj waÖEixat A, -p w; 3ei M, 'p xw w? 8e7 R 15 äXX’ pv
axeixEt A 1 (axpxEi A 4 ), aXXrjv dxrjxi M (i mut in ei m. 2) IXivvuEi r, IXXi-
vüeiv r, IXivuei M 1 (alterum v add. m. 2), IXsivumv A, 16 xaixot xäxsivat; AMR,
xaixoi e! xäx. r XuüixeXeuv A (xo add. m. 2), XuoixeXeov Mr, XuoraXlaxEpov R
16—17 xpoxip.axat AR, xpoax. Mr
Die Apologie der Heilkunst.
Gl
Verlaufes der Krankheit, so ist er verloren. Denn wenn diese
vom selben Punkte wie die Behandlung ausgeht, so ist sie
nicht schneller, wohl aber, wenn sie einen Vorsprung gewonnen
hat; einen Vorsprung aber gewinnt sie durch die Dichtigkeit
der Körper, vermöge welcher die Krankheiten nicht offen zu
Tage liegen, und durch die Lässigkeit der Kranken. Denn
wie sollte es anders sein? Nicht, wenn sie ergriffen werden,
sondern, wenn sie schon ergriffen sind von den Krankheiten,
wollen sie geheilt sein.
12. Die Macht der Kunst aber ziemt es sich mehr zu
bewundern, wenn sie einem von den an unsichtbaren Krank
heiten Darniederliegenden wieder aufhilft, als sie zu verachten,
wenn sie sich nicht an das Unmögliche wagt. Denn wenig
stens in keiner anderen von den bisher erfundenen Künsten
gibt es etwas Aehnliches; sondern diejenigen, die mit Feuer
arbeiten, sind, wo dies fehlt, unthätig, wo es aber entbrannt
ist, sind sie thätig. Und auch jene Gewerbe, die an leicht
wieder gut zu machenden Stoffen geübt werden, die einen an
Holz, die anderen an Häuten, die wieder mit Farben, mit Eisen
und mit Erz, und mit dergleichen Arbeitsmitteln mehr, wie
die meisten Künste sie gebrauchen — obgleich das, was aus
diesen und mit diesen geschaffen wird, leicht wieder gut zu
machen ist, wird doch nicht mit grösserer Eile gearbeitet als mit
der gehörigen. Auch wird nichts übersprungen, sondern wenn
eines von den Werkzeugen fehlt, so wird gefeiert. Und doch
ist auch bei diesen Gewerben der Aufschub ihrem Vortheil
nicht förderlich; aber er erhält dennoch den Vorzug.
62
IX. Abhandlung: Gomperz.
13 (12). Se TOUTO p.SV TÜV Ep.TTUMV TOUTO Sl TÜV TO ^7tap
-i) Tob; vsspobt; touto 3s twv aup/irdvTwv töv ev Tvj vv)Sut voctsüvtuv
dxEOTEpY)p.svY) Tt iostv otist, yj Ta Ttavxa 7rävT£; ty.avwTaTuc cpäiat, op.w;
ctWac, ebxopfia? auvspyou; süps. tpwvvj; T£ y^p Xap.Trp6TY)Ti '/.at TpY^ÜTYjT!
5 y.at 7iV£Üp.aTo; TajyÖTYjxt y.a't ßpaSÜTVjTt, y.at peup.dxG)v ä Stappstv ewGev
sy.daTonji St’ Sv ei;o3oi SeSovTat — [wv] tcc jxsv oSp.vj<7t Ta Ss ypotYjci Ta
3s Xext<5tv)ti y.at TiayÜTVjTt Sta<TTaOp.ü>p.£vv] T£y.p.atp£Tai, wv te av)p,sla
xaÜTa, a te tcetovGotwv a te iraGsiv 3uvap.svwv. oxav 3s TaÜTa (p/r,)
p.TjVuojvxat p.v]3’ aijTY] v) ®6crt; sx,oüaa atpifl, avotfmc, supvy/.EV, vjotv vj ^öai;
10 dißijp-to? ßtaGGsitaa p.sOtvjGtv • p^Osioa Se SvjXol Totst Ta Tvjt; Tsy_VY]<; stSöotv
a :rotY)T£a. ßta^ETat 3s touto p.sv Tcup to ouvxpotpov <pX£yp,a StaysTv ot-
xtwv Sptp.ÜTV]Ti y.at ~op.aTwv ? oitwi; TS‘/tp.vjpv]Tai' ti ooGev orspt sy,stvwv wv
aÜTv) ev dp.Yjyctvw to ooGvjvat ijv touto S’ au xvsüp.a Sv y.aTvjyopov
öootot te vrpoodvTEGt y.at Spöp.ot? sxßtäTat xaTYjyopsTv. tSpÖTai; te toutoigi
15 towi TrpoEtpT/p.EVot? äyouaa Qspp.wv uSotTwv dirovtvo(v]Gt TTupt oaa Tsy.p.at'-
2 Sjup-TtavTcov libri 3 ct7CE(JT7)pv)pEvr] AM, a7ioaxEpoup.svr| R x( EtS wi)tEf
fj xa A 1 , t! to ottst rj ra A 3 — 4 , xrj 3Etvo<jnr) (oEtvotjtsirp M) MR, correxit Littre,
qui !8eTv et ^ in eodice A vidisse sibi visus est (ölst iSstv a Zwing.) itavxe; AMR,
TtavTw; r 4 supe AM, ItpEups R 4—5 Xap.jipoxr]Ti zai xpiyüxrjTi (corr. m. 4)
zai jcvEupaxo; xayux7]Ti zai ßpaXux7)TL (corr. ra. 3) zai ßsup-axwv A, Xapjtpo'xr]Ti zai ßpa-
Sutjjti (ßpaSuTrJxi M) zai ßsupaxwv MR, Xaprpo'xrjTa zai ßpaSuxrJxa zai ßsüp-axa r, Xap.-
ixpo'xrjxo; zai ßpaSuxrjxa zai ßsup.ätwv Monac. 1 (Xap.7tpo'T7]xa zai ßpaouxrfxo; Monae. 2 ),
Xapx:pox7)xa zai ßpa3uxrjxa zai pEupaxa Cornarius 5 Stappst Oev A 1 (lacuna
duarum vel trium litteiv), StappEtv e’iwGev A 4 MR 6 wv A 2 (fuit fort, a), wv MR
l?o8 (ot add. m. 2) A 1 , B;o3ot MR öov libri, seclusit Ermerins ö8prjot Mr,
öapijCTt r, 68p% A ypoiE(?)ot A 1 , ypotrj; A 3 , ypoiijiot M, ypotv)ot r, xpoijoi r 7 Xetc-
xoxyjxi zai ixayuxrjxt AMR, XETtxo'xrjXo; zai Kayuxrjxo; A 2 SiaaxaGpcopIvv) MR, otaaxa-
Qptiipsva A XEzpatpExat AR, te.• .|zpatpExat M 8—9 xauxa xä pvjvuovxa A, xaüxa
pjvuovxa M, prjvuovxat r, pvjvücovxat r (?), pv) inser. Littre 9 EÜpyjzEV rjatv AR, EÜpvj
zEvrßutv M, Eup^oEi zevrjotv r 10 avE0rjaa A 1 (rj in ei mut. m. 4), avsöstaa MR,
pEOEtaa scripsi (praeivit Reinbold) 8ij . . . A (litterae quae sequebantnr atra-
mento superfuso oblitteratae sunt), ovjXot MR xofot AR, xtat M 11 TcotrjxEa MR,
TOistxat A 1 (corr. ra. 2—4) Ttup MR, jxjou A 1 (reoouotv A 3 ~ 4 ) StayEtv MR, 8ta-
yivt A 12 rapaxtov A 2 R, jtcopaxcov A 1 M oztoc A, oztot MR xEzprjpEixai A 1 (e‘
in r) raut. m. 2), TEzpapEfxai Mr, xszpaprjTai R ocpOsv MRA 2 , cocpÖEV A l 13 auxr)
sv aprjyava) xo d>cpGi)vat r;v A 1 (ocpO. ra. 2), auxi]t £v “pyjyavtot xo otpO^vat M, auxr) (auxr) r)
EprjyavtoTO (add. xo r) ocpOrfvat R xouxo 3’ au Monac., xo x’ aO ceteri tov (sic semper)
M, ’ov R, om. A (wv iam Littre invenerat) zax7jY°P°v MR, zaxrjyop (ov add.
m. 2) A 14 äzßtaxat MR, izßtrjxE A 1 (e in at mut. ra. 2) zaxr)yop£Eiv libri
xouxot; (per compend. script.) A, xouxototv M, Jxouxotat R 15 toi; jtpoEiprjpEvot;
(per comp, script.) A, Toten MR, 7xpostpr]p£voiai M, irpostprjpivoiaiv R Osppov
u8ax (o; add. m. 3) ctJtoTcvoIrjtn nupi oaa xezpEpovxat (e in at mut. m. 2) A, uoaxwv Gsppwv
änoiivotflai XEzpaipsxat MR, uoaxwv Gsppwv itupi oaa xEzpatpovxat, XEzpatpExat Littre
Die Apologie der Heilkunst.
63
13. Die Arzneikunst aber, die sowohl bei den Eiter-
brüstigen als bei denen, die an Uebeln der Leber oder
der Nieren oder überhaupt an Krankheiten der inneren Höh
lungen darniederliegen, gehindert ist, etwas mit Augen zu
sehen, durch welche Alle Alles am trefflichsten erschauen, hat
sich dennoch andern hilfreichen Beistand geschaffen. Denn
durch die Helligkeit und die Rauhigkeit der Stimme und durch
die Schnelligkeit und Langsamkeit des Athems und durch die
Durchflüsse, welche durchzufliessen pflegen, wo sich jedem von
ihnen Ausgänge öffnen, die einen mit dem Geruch, die anderen
nach ihrer Farbe, die wieder nach ihrer Dünne und Dichtig
keit prüfend, erkennt sie, wovon dies alles ein Zeichen ist, von
welchen vergangenen und von welchen möglichen künftigen
Leiden. Wenn aber all dies nichts von selber verräth und die
Natur nichts freiwillig entsendet, so hat die Kunst einen Folter
zwang ersonnen, durch welchen mit unschädlicher Gewalt ge-
nöthigt, die Natur etwas von sich gibt; indem sie es aber abgab,
zeigt sie denen, die die Kunst verstehen, was zu thun ist. So
wird denn das Feuer durch die Schärfe der Speisen und der
Getränke gezwungen, den verdickten (?) Schleim zu zertheilen,
um so etwas von dem ans Licht zu bringen, was sonst unmöglich
zu erschauen war; und ebenso wird der Athem durch steile
Wege und durch Laufen genöthigt, etwas von dem auszusagen,
wovon er etwas auszusagen vermag; und durch die genannten
Mittel führt sie auch noch Schweisse herbei, um das, was sich
durch die Verdunstung warmen Wassers bei Feuer erkennen
64
IX. Abhandlung: Gompcrz.
povxai, T£y.p.ai'psTai. scxi y.al a Stä xr;; y.uaxtog oisX0ovra lyavwxepa 5r r
Xmoai xy]v vouaöv loxiv fj Sta xijg aapybg ligiovxa. li;supr]y£V ojv y.al
xoiauxa z6pt,axa y.al ßpwp.axa, a xwv öspp.a'.vivcwv Ospp.oxEpa Y tv ^l* sva
rrjy.Et xe gy.siva y.al Siappslv woiei a oux. av Stsppir] p,r; xouxo iraOma.
5 exspa p.ev ouv ixpog Ixlpcov y.al äXXa 86 aXXwv lex! Ta ts oi'.ovxa ~a t’
E?aYYE>.).ovTa, fixjxs ou Omijmxciov auxwv Tag x’ äiriaxtag /povtwxspag y 4_
VEuOai Tag x’ i^/eiprfiiac, ßpa/uxepag, oüxu) St’ äXXoxpltov Ipp.^vstüv xpbg
XYjv 0Epaxe6ouaav oüvsciv spp.v]V£uop.ev<üv.
14 (13). "Oxt psv ouv y.al Xöyoug ev scouty] suxopoug lg Tag Imy.ouptac
10 i/v. !r ( xptyri y.al ouy. süä'.opOwxota! oixat'wg ouy. av iy/Eipo«; voiaotaiv
•q EY/.c'.pEUlxevag ävap-api^XGug av xapl^ot, o’l xs vuv XsyÖ|J.svoi Xoyoi
8r,Xcucriv a't xs xwv eloötwv xr,v t£j£vy]v IxiSlgtsg, ä; ly. xöv Ipytov Ixi-
ostuvuoutjiv, ou xo aeysiv y.axap.EA^oavxsg, aXXä tyjv ’iti'oiiv tm xXr ( 0£i
1§ wv av lototnv o!y.sioxEpr ( v Y;yEup.Evot -q li; wv äv äyoüawaiv.
1 laxt (per comp, scr.) y.at a A, ?axt(v) Ss a y.at MR x.uaxto; MR,
r.uaxso; A 1 — 2 SrjXtoaat xrjv vouaov AM, X7jv vouoov 07)Xüjaat R 2 — 3 y.at xä
xoiauxa A, xat xotaüxa MR xopaxa RA 2 , xcop) sive laopt A 1 , mupaxa M
Ytv. AM, ytyv. R 4 xrjxEi xe MRA 4 , xixei xt A 1 xoisei libri ä R, a om. M,
7] A StsppuT] MR, otppÜ7) A 1 (ut vid.), Stspuaj A 2 p) xouxo AR, xouxo M
5 Stto'vxa libri, l^io'vxa ,vet. cod.‘ Mercur., an otE^tdvxa? 6 ojgxe AM, max’ R
Oaupaatov libri xe ämaxia; r, xe xferuias (r. in rag., accent. mut. m. 2, a
supra script., ni fallor, M) AMR ^povttoxEpa; Mr, ^povtoxlpa; Ar
G—7 ylvEaOat—ßpa^uxspa? MR, om. A 7 Iy)(Eip>jaias Mr, iy^Etptaia; r dXXo-
xptwv MR, aXoxpitüV A sppvawv MR, Eppviov A 2 (in ras.) 8 auvsatv AMR,
!;uv. r 9 es AM, Et? R 10 ij trjxp. MR, fj om. A (in ras. snb qua ») vix
latere potest) eüotopOcüxoicn MR, EuotopOo'xou; A (Oo in Oto mut. m. 4)
Ey^Eipoi7) A, äy^EtpEot Mr, ly^Etps7] r, lyyapEEt r x^at MR, xotat A (ot in r) mut.
m. 4) r 11 ratpEj(oi AM 2 r, xapl^Et M 1 , r.arAyji r 12 ItxiSeI^ie? libri post £pyo«
add. MR fjotov rj Ix xtov Xoytov, om. A ei in ijnoEtxvuouaiv A 4 (fuit t) 13 xaxauE-
XrjaavxE5 Sambucus et Fevr., xaxapEXEXijaavXE; ceteri xiaxtv MR, jtiaxrjv A
14 av A, om. MR axouacoaiv AR, dx.ouatoai Mr
Die Apologie der Heilkunst.
65
lässt, zu erkennen. Es gibt auch solches, was, wenn es durch
die Blase hindurchgeht, geeigneter ist, die Krankheit kund-
zuthun, als wenn es durch das Fleisch hindurchläuft. So hat
sie nun auch solche Speisen und Tränke erfunden, die wärmer
sind als die innere Wärme, und also schmelzen und durchfliessen
machen, was nicht durchflösse, wenn es dies nicht erführe.
Da somit Verschiedenes auf Grund von Verschiedenem hervor
tritt, und Anderes durch Anderes hindurchgeht und etwas aus
sagt, so kann es nicht wundernehmen, dass die Behandlung
der Krankheiten verkürzt, ihre Unklarheit aber verlängert
wird, indem sie dergestalt durch fremde Botschaften ihren
Bericht an die werkthätige Erkenntniss erstatten.
14. Dass nun die Arzneikunst über hilfreichen Beistand
gewährende Einsichten gebietet und die nicht mehr zu heilenden
Krankheiten mit Recht gar nicht anfasst oder, wenn sie sie
anfasst, sie ohne Fehl wieder entlässt, das zeigt die jetzt
gesprochene Rede gleichwie die Beweise derer, welche die
Kunst verstehen, die es durch ihre Thaten beweisen — nicht
das Reden verachtend, sondern in der Ueberzeugung, dass die
Meisten mehr dem trauen, was sie mit Augen schauen, als
was sie mit den Ohren vernehmen.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CXX. Bd. 9. Abli.
66
IX. Abhandlung: Gomperz.
Commentar.
I. "V"orbemerkung'en.
1. Handschriftliches.
Die Textgestalt dieses gleichwie manches andern Be
standteils der hippokratischen Sammlung liegt uns in drei
Stadien fortschreitender Verschlechterung vor Augen.
Die letzte dieser Stufen, welcher überaus zahlreiche Hand-
schriften entstammt sind, bildet die Grundlage unserer Texte.
Der, soweit die vorliegende Schrift in Betracht kommt, all
einige Vertreter der ersten Stufe ist durch Littre herbeige
zogen, aber nicht in systematischer Weise verwerthet worden.
Der Repräsentant des zweiten Stadiums aber, auf welchen
vornehmlich Daremberg (Oeuvres choisies d’ Hippocrate 2
p. CII) die Aufmerksamkeit der Forscher hingelenkt hat, ward
bisher weder vollständig ausgebeutet, noch auch in seiner
ganzen Bedeutung ausreichend gewürdigt.’
Den Werth der vornehmsten Pariser Hippokrateshand-
sehrift — von einem Mönche, dem Kalligraphen Michael, im
11. Jahrhunderte geschrieben, ehemals der Sammlung Colbert’s
angehörig und gegenwärtig der Nationalbibliothek als Nr. 2253
einverleibt — hat bereits Littre in genügend helles Licht ge
stellt. Ich selbst habe im Herbst 1856 einen Theil dieses
kostbaren Manuscriptes theils copirt, theils verglichen und
verdanke der Sorgfalt Dr. Edmund Hauler’s eine neuerliche im
Winter 1886 angefertigte Copie der Blätter (75 1 —81 a ), welche
die im Voranstehenden behandelte Schrift enthalten, wobei
die Schreibungen der vier verschiedenen Hände mit grösster
Genauigkeit angemerkt und auseinander gehalten worden sind.
Ueber einzelne Lesarten, welche dieses Kleinod der Pariser
Bibliothek darbietet, und den aus ihnen zu schöpfenden Ge
winn habe ich in den Sitzungsberichten der k. Akademie der
Wissenschaften B. LXXXIII (1876), S. 574, 588 ff. gehandelt.
Littre’s Collation ist eine annähernd getreue; nur die Unter-
Die Apologie der Heilkunst.
67
Scheidung dessen, was von erster und was von späteren Händen
herrührt, erscheint nicht mit gebührender Sorgfalt durchge
führt. Doch hat der als Denker, Forscher und Schriftsteller
gleich hervorragende Mann, welcher auf den verschiedensten
Gebieten Unvergängliches geleistet hat, der aber trotzdem,
oder vielmehr eben darum nicht ein philologischer Kritiker
von Beruf war, die Lesarten der von ihm ans Licht gezogenen
Handschrift nur zu gelegentlichen Verbesserungen benützt, nicht
aber in streng methodischer Weise ausgebeutet. Er hat nicht die
Folgerung gezogen, dass der Ueberlieferung, welche in so
zahlreichen Fällen das allein Richtige darbietet, überhaupt der
Vorrang vor den übrigen Textesquellen gebühre und sie über
all dort, wo nicht gewichtige innere Gründe gegen sie sprechen,
vor diesen den Vorzug verdiene. So hat er sich denn hier wie
anderwärts damit begnügt, den Vulgat-Text, wie er durch Ianus
Cornarius in der Basler Ausgabe vom Jahre 1538 (Frobeniana)
festgestellt und seitdem ohne tiefgreifende Umgestaltung von
dessen zahlreichen Nachfolgern beibehalten war, vielfach nach
zubessern, statt, wie es die Grundsätze gesunder Kritik er
heischen, den Text ganz und gar auf die Basis der zum Theil
von ihm selbst aus dem Staub der Bibliotheken hervorgezo
genen Vertreter der verlässlichsten Ueberlieferung zu stellen.
Der Repräsentant der zweiten Textesstufe ist der aus
dem Nachlass des Cardinais Bessarion stammende, jetzt in der
Venediger Marcus-Bibliothek — als Nr. 269 — befindliche
Pergamentcodex des 11. Jahrhunderts, mit welchem Littre
durch eine Mittheilung Daremberg’s, jedoch zu spät bekannt
wurde (s. Oeuvres d’Hippocrate X, LXIII—LXIV), um ihn
bei der Behandlung der hippokratischen Schriften zu benützen.
Dietz, über dessen der Königsberger Universitätsbibliothek ein
verleibte Papiere ich einstens durch Ludwig Friedländer’s
gütige Vermittlung erwünschte Mittheilungen empfing, hat den
selben im Jahre 1828 vollständig collationirt, während Erme-
rins in seiner IJippokrates-Ausgabe von Cobet herrührende
gelegentliche Angaben über Lesarten dieser Handschrift ver-
werthet hat. Ich habe den Text der Schrift Ilspt -.iyyr,c im
Herbst 1857 mit dem Marcianus collationirt und im October
1882 diese und andere hippokratische Schriften von neuem
so sorgfältig als möglich mit der Handschrift verglichen.
68
IX. Abhandlung: Gompöi'z.
Weitere Mittheilungen aus diesem Codex und über ihn
haben jüngst Kühlewein und Ilberg gegeben, während Wat
tenbach und Velsen in ihren ,Exempla Codicum Graecorund
Tafel XL und XLI, Ersterer auch in seinen ,Schrifttafeln'
T. XXXV Schriftproben desselben veröffentlicht haben. Die
Stellung, welche der Marcianus im Kreise der Hippokrates-
Handschriften einnimmt, ist eine überaus eigenartige. Er för
dert die Kritik weit mehr auf indirectem als auf directem
Wege. Selbst dort, wo er, wie in unserer Schrift, kaum eine ein
zige Textesbesserung darbietet, leistet er dem Kritiker wahr
haft unschätzbare Dienste. Denn er wirft das hellste Licht
auf die Geschichte des Textes und gewährt uns die lehr
reichsten, mitunter die überraschendsten Einblicke in die
Schicksale der Ueberlieferung. Er ist auch in den Theilen,
welche er mit den zwei vorzüglichsten Hippokrates - Hand
schriften (dem oben besprochenen Parisinus, A, und dem durch
Augier Ghislen de Busbecq aus Constantinopel nach Wien ge
brachten Pergamentcodex des 10. Jahrhunderts — Cod. med.
graec. IV., von Littre als 0 bezeichnet —) gemein hat, aus
keinem der beiden abgeschrieben und stellt somit einen selb
ständigen Zeugen dar, dessen Aussage von grösstem Gewicht
ist. Manche schwere Verderbnisse der jüngeren Handschriften
erscheinen als Fortbildungen von vergleichsweise leichten Ir
rungen, denen wir im Marcianus begegnen. So lesen wir im
voranstehenden Text 2, Z. 20 statt des allein sinngemässen
vop.iaets des Parisinus im Marcianus von erster Hand vopfcite
(die zweite Hand hat den Fehler berichtigt), in sämmtlichen
jüngeren Handschriften aber vonjaeie. Am Schluss von 11 lässt
M nach ob Xap.ßav6p.evot die Worte yccp akV stAYjfjipivoc, natürlich
in Folge des Homüoteleutons, einfach weg; die R(ecentiores)
suchen den gestörten Zusammenhang durch die nach Xap.ßavc-
p.svoi eingeflickte Partikel os, zum Theil auch durch ein
überdies dem Particip vorangestelltes -{da wiederherzustellen.
Mit anderen Worten, der in M unverhüllt zu Tage liegende
Schaden erscheint hier beschönigt und verkleistert. Doch dies
sind Fälle, in welchen die Güte der durch A vertretenen
Ueberlieferung jedem halbwegs Einsichtigen an sich einleuchtet
und der durch M dargebotenen Unterstützung füglich entratlien
könnte. Allein es gibt Stellen, insbesondere in solchen Schriften,
Die Apologie der Heilkunst.
69
welche M mit 0 gemein hat, an welchen eine schwere Inter
polation nur durch das Zeugniss von M mit voller Sicherheit
als solche erkannt wird. In dem ersten Buche des Werkes
Ifepl Siafafjs, 4 lautet der in 0 nur durch ganz leichte Buch-
stabenfehlcr getrübte Text wie folgt: v.al oüxs x'o ov (so zu
lesen statt oüxa et i^oov) airoSavetv oliv xe ei [j.f ( p.exä xavxuv • xrou -pap
tZTicGavelxa!; oüxe xb fr}; ebv ysvesöca • ixsOev yap eoxat; (Bittre VI 476).
Statt der letzten drei Worte bietet ein Tlieil der R(ecentiores):
}«1 ovxoc SOev xapayevvfasxai, ein anderer: xai (und xe y.al) oöev xapa-
vsv^tjexat. Die erste dieser zwei Lesarten, welche Cornarius in
seinen Text aufgenommen hat, könnte immerhin Vertheidiger
finden, und die Behauptung, dass 0 einen epitomirten Text
darbiete, würde zum mindesten nicht jeder Scheinbarkeit ent
behren, wenn uns nicht in M die Veranlassung der Interpola
tion und ihr Hervorwachsen aus einer vergleichsweise harm
losen Irrung sonnenklar vor Augen läge. Im Archetypus von
M und R hat das unmittelbar vorangehende -pevsoOat bewirkt,
dass statt xsGsv (oder vielmehr, wie wir in M lesen, y.cOsv) -pap
eexat; geschrieben ward: y.öOev yäp yävjcsxai; Da in der Uncial-
vorlage I’ und 11 einander offenbar sehr ähnlich waren, so er
gab sich hieraus die weitere irrige Schreibung: x60ev xapaysy»;-
cexoü, wobei M stehen blieb. Da nunmehr jedoch mit der Partikel
■pap die Verbindung mit dem Vorangehenden geschwunden war,
so erwuchs im Geiste minder naiver Schreiber und Correctoren
der Wunsch, diesem Mangel abzuhelfen, welchem in einem Theile
der Handschriften durch die vergleichsweise noch schüchterne
Aenderung von -/.c0sv in y.a't und xs y.al S0ev, in einem anderen
durch die kecke Interpolation p.ij cmxo; öOsv Genüge geschehen
ist. Da nun die ganze Schrift neben einem volleren Texte
vielfach einen knapperen darbietet, so hätte, wenn nicht der
Einblick in die Genesis des ersteren jeden solchen Streit im
Keime erstickte, gar leicht eine Meinungsverschiedenheit dar
über entstehen können, ob in Wahrheit die vollere Textge
stalt auf Interpolation und nicht vielmehr die knappere Fassung
auf Epitomirung beruhe. Solch ein Zweifel entsteht ja gar
oft dort, wo eine Interpolation durch eine Reihe feilender,
glättender, abrundender Hände hindurchgegangen ist und uns
nur in ihrer letzten abgeschliffenen Form vorliegt, während er
sofort verstummen muss, sobald wir ihren Ausgangspunkt er-
70
IX. Abhandlung: Goniperz.
kennen und die aufeinander folgenden Stadien ihrer Entwick
lung verfolgen können. Ein anderes Beispiel. Im 20. Capitel
der Schrift De prisca medieina schwankt Littre zwischen zwei
total verschiedenen Lesarten, derjenigen von A und jener
sämmtlicher jüngerer Handschriften und Ausgaben. Der Käse,
so heisst es daselbst, schadet nicht Allen, die ihn gemessen,
gleichmässig, Manchen ganz und gar nicht, AXkx y.al ia/'uv otaiv
av ^u|j,fflspY] (1. aup.ffiepr) mit A und M) öaugaai'üx; irapr/eTai. Dies
die Lesung von A. Die Vulgata hingegen bietet: aWa y.at
toi? ia/volaiv av §upi.<pspetv Oaup.acn'w? %apiy^oa. Littre erklärt die
letztere Construction für ,peu habituelle' und hat darum die Les
art in A vorgezogen. Doch findet er beide Schreibungen wohl
verständlich und will sie daher dem Leser gleichsam zur Aus
wahl vorlegen: ,Au reste, toutes deux sont fort intelligibles,
et le lecteur a l’une et l’autre sous les yeux' (I 624). Er
hätte über den Unsinn der Vulgata wohl minder glimpflich ge-
urtheilt, wenn er die Schreibung des Marcianus und damit
den harmlosen Buchstabenfehler gekannt hätte, welchem diese
reiche interpolatorisclie Saat entkeimt ist. In M liest man
nämlich: xk\a xai layvoiatv äv ijupupepEi (dies schon von erster
Hand zu ^upupsp-fl corrigiert) ögjij.ai!«? itapeyz-zca. Die Quelle des
Unsals war daher nichts anderes als die Auslassung des einen
Buchstabens u in kyjjv. Dieses Beispiel ist auch darum beson
ders lehrreich, weil die von erster Hand herrührende Correctur
jeden Gedanken daran ausschliesst, dass die jüngeren Hand
schriften etwa aus M selbst abstammen könnten. Desgleichen
zeigt uns M in Elepl 8tamj$ I 35 (VI 520 L.) die Urgestalt der
grossen durch unwillkürliche Wiederholung eines vorangehenden
Stückes (ebend. S. 518) entstandenen Interpolation, indem ihm
allein die Worte <S>; apvjv fremd sind, welche die Wiederholung
als eine vom Autor beabsichtigte erscheinen lassen sollen! Die
voranstehenden Proben dürften genügen, um das Sinken der
Ueberlieferung von A, beziehungsweise 6, zu M und von M
zu R ersichtlich zu machen und zugleich Werth und Bedeutung
des Marcianus ausreichend zu beleuchten. Er stellt augen
scheinlich eine zweite Abzweigung vom Hauptstrome der
Ueberlieferung dar, gleichwie der Parisinus und Vindobonensis
einer ersten Abzweigung von demselben angehören. Bezeich
nen wir dje drei Stadien der Ueberlieferung mit den Buch-
Die Apologie der Heilkunst.
71
staben a, ß, y, so lässt sieb die Filiation der Handschriften
durch das folgende Stemma verdeutlichen:
a O Archetypus.
ß O Ö Parismus A
Ö Marcianus
r o
o
O Paris. H (2142) cum cognatis
Ceteri recentiores.
Die von A und M abweichenden Lesarten der Recen
tiores besitzen somit keinerlei urkundliche Gewähr. Denn wie
sollte es geschehen, dass im unteren Stromlauf mit einem Male
ein Stück der echten Ueberlieferung auftaucht, welches an
zwei Punkten des Oberlaufes verborgen geblieben war? Oder
will jemand an das umgekehrte Septuaginta-Wunder glauben,
vermöge dessen die Schreiber von A und M zu wiederholten
Malen in anderen als den allergewöhnlichsten Schreibfehlern
spontan übereingestimmt und die Tradition an den gleichen Orten
in gleicher Weise getrübt hätten? Die Möglichkeit freilich,
dass eine gleichsam laterale Fortpflanzung des Ursprünglichen
durch Marginalvarianten oder durch die sonstige gelegentliche
Benützung eines älteren Originals stattgefunden habe, ist an
sich niemals zu entkräften, lässt sich aber in unserem Falle
nicht einmal zu der niedrigsten Stufe der Wahrscheinlichkeit
erheben. Weisen doch die drei oder vier kleinen Besserungen,
welche die Recentiores in der Schrift ITepl -i/yrfi in Wahrheit
darbieten, nichts auf, was uns nöthigen oder auch nur veran
lassen könnte, sie für etwas anderes zu halten, als für conjec-
turale Berichtigungen und Ergänzungen von so naheliegender
Art, dass ein halbwegs verständiger und sprachkundiger Cor-
rector auf sie zu verfallen kaum umhin konnte (vgl. den Com-
mentar zu 3, 9, 13 [12]).
Aus dem Gesagten ergeben sich die nachstehenden Fol
gerungen :
72
IX. Abhandlung: Gomperz.
1. Die Lesarten von A vertreten die älteste uns erreich
bare Ueberlieferung und liaben nur dort zu weichen, wo ent
scheidende Gründe gegen sie sprechen.
2. Die Uebcreinstimniung von A und M ist den Recen-
tiores gegenüber durchaus autoritativ. Wir legen demgemäss
3. an die Varianten der jüngeren Handschriften, soweit
sie nicht augenscheinliche Schreibfehler sind, genau denselben
Massstab wie an die Conjecturen moderner Kritiker. Auch wür
den wir sie, nebenbei bemerkt, in Fällen, in welchen ihre
Werthlosigkeit offen zu Tage liegt, gleich anderen schlechten
Conjecturen ausnahmslos unerwähnt lassen, wenn nicht Zweck
mässigkeitsgründe (vor allem der Wunsch, den Leser von der
Richtigkeit des hier dargelegten Sachverhaltes zu überzeugen)
diesen Vorgang zur Zeit noch als unthunlicli erscheinen Hessen.
Wie sehr es übrigens unserem Texte gefrommt hat, dass
wir ihn so gut als ausschliesslich auf das Zeugniss von A und
hl aufgebaut haben, dies wird wohl er selbst und, wenn nöthig,
der Commentar lehren. Ueberaus zahlreich sind die Fälle, in
welchen eine Lesart, die zunächst nur um ihrer guten Beglau
bigung willen Aufnahme fand, sich nachträglich als die allein
berechtigte erwiesen hat und somit selbst zu einer neuen Bür
gin für die Güte ihrer Quelle geworden ist. Daneben ver
schlägt es nichts, dass wir ein an sich angemessenes, aber
entbehrliches Wort (gouvov nach cv;[j,a 6fin.), weil jeder urkund
lichen Gewähr entbehrend, aus dem Text verweisen, und dass
wir aus demselben Grunde an drei Stellen die künstlichere
oder mehr pointirte Wortstellung durch eine minder gewählte
ersetzen mussten (vgl. 2, 8, 13).
Ganz dasselbe Verfahren, wie gegenüber den Recentiores,
müssen wir, wenngleich aus einem verschiedenen Beweggründe,
in Ansehung einer anderen Gruppe von Hilfsmitteln einschlagen.
Ich spreche von einer Reihe von Varianten-Sammlungen,
deren wir noch in Kürze zu gedenken haben. Fehlte in Betreff
der drei oder vier beachtenswerthen Lesarten der jüngeren Hand
schriften jeder Grund, sie für etwas anderes als für zutreffende
Vermuthungen zu halten, so gebricht es uns hier an jedem Mittel
sicherer Unterscheidung zwischen gelungenen Conjecturen und
etwaigen versprengten Trümmern der echten Ueberlieferung.
Was zunächst die Varianten betrifft, welche der gelehrte ober-
Die Apologie der Heilkunst.
73
ungarische Arzt, Philolog und kaiserliche Historiograph Johann
Sambucky (Joannes Sambucus) im Jahre 1561 an den Rand
eines vormals in der hiesigen Hofbibliothek verwahrten, seit
mehreren Jahrzehnten jedoch in Verlust gerathencn Exemplars
der Aldina verzeichnet hat und welche nach Peter Lambeck’s 1
Angabe aus einer uralten Tarentiner, aus einer damals in Fon
tainebleau befindlichen Handschrift und aus einem gedruckten,
aber zu Rom mit zahlreichen Correcturen versehenen Exemplare
stammen sollen — so entbehren dieselben betreffs unserer Schrift
zum mindesten nahezu jeden Werthes. Ob die zahlreichen Glos-
seme, wie ä-qj.aCstv statt alc/pos-siv, statt latoply;«;, -apdazaciq,
und y.d.vr^opia statt ■/.ay.a.-f(£/dr l (sämmtlich in unserem 1. Abschnitt)
aus dem Vaticanus 277, in welchem ich sie wiedergefunden
habe, geflossen sind (die ersteren zwei habe ich auch in der
Handschrift angetroffen, welche einst dem Arzte Adolphus
Occo Afan gehört hat und die jetzt als Codex graecus 71 einen
Bestandtheil der Münchner Staatsbibliothek bildet, während
das zweite sich auch in dem alsbald zu erwähnenden Exemplar
Albert Fevre’s vorfand) — dies kann uns herzlich gleichgiltig
sein. Mit dem letztgenannten Exemplar zeigen jene Varianten
auch anderwärts einige, weitere Berührungen, nicht minder
mit den Pariser Handschriften Nr. 1868, 2142, 2143, 2255
(Littres 0, IJ, J, E), sowohl dort, wo jene Schlechteres, als
wo sie Besseres bieten als die übrigen jüngeren Handschriften.
Von Bedeutung ist einzig und allein die treffliche Emendation
•/.<rra[j.sX-jcavT£; statt •/.«TagekenjoavTEi; in den Schlussworten der
Schrift, die hier zum ersten Male auftaucht, die auch Fevre
verzeichnet hat und deren Herkunft wir nicht kennen.
Theodor Zwinger, der gelehrte und menschenfreund
liche Schweizer Arzt und Schüler Pierre de la Ramee’s, meldet
uns in dem Vorwort zu seiner Ausgabe von 22 Schriften des
Hippokrates (Basel 1579), dass ihm durch die Vermittlung
seines Lehrers, dessen jüngst in der Bartholomäusnacht erfolgte
Ermordung er in pathetischen Worten beklagt, kurz vor dessen
Ende werthvolle Mittheilungen des Pariser Professors Jacques
Goupyl zugegangen seien, desgleichen von Joannes Sambucus
und von dem damals auf der Höhe seines Ruhmes stehenden
erfolgreichen und vielschreibenden Arzt und Paduaner (später
Bologneser und Pisaner) Professor Girolamo Mercuriale, dessen
74
IX. Abhandlung: Gomperz.
Textesverbesserungen aus römischen Codices geflossen seien;
endlich habe ihm auch Adrien Turn ehe Weniges, aber Er
lesenes beigesteuert; die Worte: ,quaedam tarnen tanto viro
neutiquam indigna* scheinen auf Emendationen des aus
gezeichneten Kritikers hinzuweisen. Der Ertrag all dieser
Bemühungen ist jedoch ein vergleichsweise geringer: zwei
wirkliche, treffliche Verbesserungen, die schlagend richtige
Umstellung in 6 (arpioei ayvotav) und die Wiederherstellung des
schon im Alterthum (wie Erotian’s und Galen’s Erklärungen
beweisen) verdorbenen uicöiyopov am Ende des 10. Abschnitts.
Kaum einer Erwähnung werth ist daneben die offenbar aus
Mercuriale’s Mittheilungen stammende kleine Besserung ov.
statt o u 5, die Berichtigung von oratv zu ^civ 10, desgleichen
die Tilgung des in einen Theil der Recentiores eingedrungenen
Glossems y.ai sv oTai 1, das in der Mehrzahl derselben die ur
sprüngliche Schreibung völlig verdrängt hat. Da neben diesen
Besserungen, die durchweg auf richtiger Vermuthung beruhen
können und zum Theil müssen, sich auch völlig verfehlte
Conjecturen in ziemlich grosser Zahl vorfinden, so scheint
auch hier kein ernster Grund vorhanden, an die indirecte
Fortpflanzung der echten Ueberlieferung zu glauben.
In noch geringerem Masse ist dies in Betreff der Les
arten der Fall, welche Mercuriale selbst am Rande der von
ihm veranstalteten Ausgabe, Venedig 1588 (Juntina), ver
zeichnet und als deren Quelle er eine von ihm schlechtweg
,vetus codex‘ genannte Handschrift namhaft gemacht hat. Die
selben enthalten so viele schlechte Conjecturen und darunter
auch eine ebenso unnütze als willkürliche (nämlich ty)v akrfif;
statt Tw -Ar,0s: in den Schlussworten der Schrift), dass die zu
treffenden Berichtigungen — ?! (H mit A und J gegen ei in
MR) und a’zoL-ffeXhoij.i'ibr) (ebendas, mit AM gegen enorff. in R) —
uns auch dann keine urkundliche Quelle erschliessen lassen
könnten, wenn sie sich nicht durch den Zusatz ’Gw? als blosse
Conjecturen kennzeichnen würden.
Schliesslich muss hier noch der zwei von dem gelehrten
Metzer Arzt Anuce Foes in seiner Ausgabe (Frankfurt 1595)
benützten Exemplare der Aldina und der Frobeniana gedacht
werden, deren ersterem der Pariser Arzt Albert Fevre,
deren letzterem der dortige Polyhistor und Parlamentsanwalt
Die Apologie der Heilknnst.
75
Louis Servin eine Reihe von angeblich aus nicht näher
bezeichneten alten Pergamenthandschriften, aus griechischen
Scholien und den damals in Fontainebleau, jetzt in Paris be-.
findlichen Codices stammenden Lesarten beigeschx-ieben hatten.
Dieselben gewähren uns höchstens eine einzige wirkliche, wenn
auch kleine Verbesserung des Textes (6 init. dxc statt utco),
die jedoch bei Servin, der manche seiner Lesarten mit der
Bemerkung ,ex manusciv begleitet, eben dieses Zusatzes ent
behrt. Woher aber in diesem wie in anderen Fällen die
Uebereinstimmung zwischen Beiden untereinander gleichwie
mit Lesarten, die A oder M oder beide darbieten, oder auch
mit den von Zwinger in margine verzeichneten herrührt (die
Lesung v.o.xtxy.zXrpa'n’ic, des Sambucus mag wohl Fevre von
Zwinger, der sie gleichfalls anführt, im Austausch erhalten
haben); wie es endlich kommt, dass diese besseren Lesarten
hier vielfach mit ganz schlechten und willkürlichen vermischt
auftreten — diese Räthsel zu lösen, bin ich ausser Stande.
Ebensowenig vermag ich den Umstand genügend aufzuklären,
dass einige der Pariser Handschriften in ganz vereinzelten
Fällen, zum Theil im Einklang mit jenen Variantensammlungen,
die Lesarten A’s theilen, mit anderen Worten, ich weiss nicht
zu sagen, wo und wann diese Exemplare oder ein Stammvater
derselben in sporadischer Weise corrigirt worden sind. Die
Handschriftenfrage in diese ihre gleichsam capillaren Ver
ästelungen zu verfolgen, dies mag füglich künftigen Heraus
gebern des Corpus hippocraticum überlassen bleiben. Es wird
hierzu einer Nachvergleichung auch der geringeren Hand
schriften bedürfen, um Littre’s Angaben, bei denen man allzu
häufig auf die Schreibungen der einzelnen Codices ex silentio
schliessen muss, und die auch sonst vielfach der äussersten
Akribie ermangeln, in ausreichendem Masse zu vervollständigen.
Ich verzichte darauf, die Fälle, welche ich im Auge habe, nebst
dem vollständigen Inhalt jener Variantensammlungen hier mit-
zutheilen, hege aber die feste Ueberzeugung, dass die Gestal
tung unseres Textes, mögen nun diese kleinen noch übrig
bleibenden Räthsel welche Lösung immer finden, dadurch in
keinem Punkte berührt werden wird.
Es erübrigt noch, den Leser über die äussere Einrichtung
unserer Ausgabe zu unterrichten. Was im Texte steht, ruht
76
IX. Abhandlung: Gomperz.
überall dort, wo nicht ausdrücklich das Gegentheil bemerkt
ist, auf dem vereinigten Zeugniss von A und M. Da ich von A,
•wie bemerkt, zwei Abschriften besitze, deren letzte auch die
verschiedenen Hände der Schreiber aufs Genaueste unter
scheidet, und da ich M zweimal mit Littre’s Text sorgfältig
verglichen habe, so darf ich wohl hoffen, dass meine Angaben
einer nachträglichen Berichtigung nicht bedürfen werden. Sollten
sie sich dennoch nicht als ausnahmslos richtig erweisen, so werden
diese Ausnahmen jedenfalls nur sehr vereinzelt und sehr un
erheblich sein. Für völlig ausgeschlossen kann ich diese
Möglichkeit —• von der Fehlbarkeit menschlicher Augen und
menschlicher Aufmerksamkeit überhaupt abgesehen — darum
nicht halten, weil ich M zu einer Zeit collationirt habe, in
welcher mir die letzte und genaueste Copie von A noch nicht
vorlag und ich daher mein Augenmerk nicht auf jene Minutien
richten konnte, welche erst diese Abschrift ans Licht gebracht
hat. Uebrigens habe ich in Betreff der ersten drei Paragraphe
auch manche nichtssagende Schreibfehler in A verzeichnet, um
den Leser über die Beschaffenheit der Handschrift aufzuklären,
im weiteren Verlauf der Schrift hingegen dies vielfach unter
lassen, damit die varia lectio nicht durch derartige Kleinigkeiten
allzusehr beschwert und dadurch unübersichtlich werde. Die
Interpunktion, die Lesezeichen und die Wortabtheilung habe ich
in der Regel nicht vermerkt, die letzteren zwei Dinge gewöhnlich
nur dort, wo aus anderen Gründen eine Lesart mitgetheilt
werden musste; doch auch dies, von den ersten drei Paragraphen
abgesehen, mit der Beschränkung, dass bei der Angabe einer
A und M gemeinsamen Schreibung die zumeist regelwidrigen
Accente, beziehungsweise die Accentlosigkeit A’s nicht be
sonders angemerkt wurden. Auch in Betreff der Elision sind
die Divergenzen der zwei Haupthandschriften nicht jedesmal
angegeben, sondern stellt der Text dort, wo jede ausdrückliche
Angabe fehlt, die in A vorfindliche Schreibung dar.
2. Dialektologisches.
Die weitgehende Entstellung der Dialektformen in den
Schriften der hippokratischen Sammlung ist das Werk sehr
verschiedener Factoren. Ein gewaltthätiger Vorgang hat hierbei
Die Apologie der Heilknnst.
77
mit zwei gewissermassen spontan auftretenden, in entgegen
gesetzter Richtung sich bewegenden Strömungen zusammen
gewirkt. Der erste Factor ist die gewaltsame Ausmerzung
ionischer Formen, die beiden einander widerstreitenden Strö
mungen wollen wir die generell- und die particulär-nivel-
lierende nennen.
Dass solch eine massenhafte Austreibung specifischer
Dialektformen und deren Ersetzung durch gemeingriechische
stattgefunden hat, dies liess sich bei Schriften, die weit mehr
um ihrer praktischen Nützlichkeit als um ihrer literarischen
Bedeutung willen gelesen wurden, von vornherein erwarten;
es wird uns zum mindesten in Betreff der im Alterthum cur-
sirenden Ausgaben des Dioskorides und des Artemidorus Ca-
pito ausdrücklich bezeugt (Galen XVII 1, 798 Kühn; vgl.
auch XIX 83 K.); 1 es lässt sich schliesslich und hauptsächlich
noch mit den uns zu Gebote stehenden Mitteln thatsächlicli
erweisen. Oder wie sonst will man es erklären, dass sich von
manchen Ionismen ,nur unter dem Schutz gelegentlicher Cor-
ruptelen und Missverständnisse vereinzelte', 2 aber ganz unzwei
deutige Spuren erhalten haben? In der Schrift De aer., aq. et
loc. 21 (II 74 Littre) bieten die Handschriften und darunter
auch, wie ich aus Autopsie versichern kann, der für diesen
Theil der hippokratischen Sammlung massgebende Vaticanus
276: cum töv ijxma e’r/.'o; slvat öivSpx v.xk. Nur Zwinger verzeichnet
in margine die augenscheinliche Conjeetur: ob’ wv, während
Koraes, der in seiner ersten Ausgabe (I 96) cum vöv schrieb,
in seiner zweiten Ausgabe (wie Littre II 76 mittheilt) die
Lesung ob’ otwv empfiehlt. Es ist offenbar cuf oxewv zu schreiben.
De natura hominis 2 (VI 34 Littre) begegnen wir in dem
Satze: oüäs yäp av io’ oxcu aXf^aetev ev stl>v (sc. o avOpwxo;) der
von M und jüngeren Handschriften dargebotenen merkwürdigen
Lesart üxo xau, die man, trotzdem A 69’ ou bietet, wegen der
Stütze, die sie an Galen’s Schreibung: 6<p’ otou (XV 36 K.)
findet, nicht für bedeutungslos halten kann. Dieselbe geht viel
mehr sicherlich auf ukö tcu und mittelbar auf üx’ gxm zurück.
Im Anfang des siebenten Paragraphen der Schrift De flatibus
(VI 98 Littre), welcher auf Grund der Schreibungen in A
und M (von den Hauchzeichen abgesehen, die ich nicht ändere)
wie folgt zu lesen ist: cts. p.sv vuv ov]p.oGtat x<Sv voucojv dp-q'nc/. 1 . v.ai
IX. Abhandlung: Gomperz.
oTS y.al 07.(0? 7a: oiat 7at a-’ otsu Y'- V0VTat j bietet nur A äzo tsu,
während der Marcianus bereits mit den geringeren Handschriften
ob’ cu aufgenommen hat. Wer kann angesichts dieser drei
Stellen daran zweifeln, dass nur ein Versehen oder ein Miss-
verständniss der Correctoren uns hier unzweideutige Spuren
der ionischen Psilosis erhalten hat, die im Uebrigen unbarm
herzig wegcorrigirt wurde. Dieser Schluss wäre selbst dann
unanfechtbar, wenn nicht ganz dieselbe falsche Schreibung
crao zeu statt cor’ ozsu, die uns an der letzten der hier behandelten
Stellen in A begegnet ist, auch mehrfach in den Herodot-
Handschriften sich vorfände, worüber man Struve Opusc. II
156 sqq. vergleichen mag. Im Uebrigen treffen wir, soviel ich
weiss, nur in einer der genannten Schriften zwei vereinzelte
Spuren der ionischen Psilosis an, nämlich in De flatibus 1
(VI 92 L.), wo bloss A und M die ionische Form «utt? statt
des au0i? der übrigen Handschriften und Ausgaben erhalten
haben und 14 (114 L.), wo nur M ein deutliches p-etswütou (sic)
zeigt (denn dass Zwinger in margine dieselbe Lesung aufweist,
hat wenig zu bedeuten), während schon A das halbvulgarisirte
p.sö’ suu-icü und die übrigen Codices pW omoü darbieten. Dahin
gehört auch die handschriftliche Schreibung uutö? in De carnibus
VIII 588 L. Sonstige vereinzelte Spuren dieser sprachlichen Er
scheinung kenne ich nur aus De sacro morbo 16 (VI 390 L.), wo
dxizvsezat und «kizvesto vom Marcianus und einigen anderen Hand
schriften, in Hspi Scomj? A. 32 (VI 508 L.), wo ettöBoigi statt des
e<p6So«ji der Wiener und mehrerer anderer Handschriften vom
Marcianus dargeboten, von dem ihm sehr nahestehenden II
wiederholt, aber schon zu izwootctv corrigirt wird und in einigen
anderen Codices in der letzteren Form, vereinzelt auch als
£-wBy)cw, erscheint. Dass die zuletzt angeführten Fälle minder
beweiskräftig sind als die zuerst erwähnten, wird der denkende
Leser sich selbst sagen. Auch in De morbis 1 (VII 8 L.)
zeigt uns H, der hier von alter Hand geschrieben ist (vgl.
Littre I 513), didzv)Tai, welches erst eine jüngere Hand in das
aalv.r^oa der übrigen Codices verwandelt hat.
Eine andere Erscheinung, von der uns nur gelegentliche,
aber völlig sichere Spuren erhalten sind, ist die Verwendung
der Artikelformen statt jener des Relativs. In dem soeben
angeführten I. Buch der Schrift De diaeta liest man 5 bei
Die Apologie der Heilkunst.
79
Littre (VI 477): w.'. 0' & psv irp^GGOiw.iv ouy. cloaoiv, ä 3s oi> Tcr,c-
couci oozsouciv siosvar y.ai 0’ a psv opeouciv ou yivwaitouciv y.is. Statt
des sprachwidrigen 0’a, welches Littre vergebens durch die
Berufung auf die ,locution v.a.1 ts‘ zu rechtfertigen versucht,
bieten der Vindobonensis und der Marcianus beide Male -cd,
was selbstverständlich in den Text zu setzen ist. Wir können
es, nebenbei bemerkt, den Schreibern der Recentiores noch
Dank wissen, dass sie das Ursprüngliche und von ihnen nicht
Verstandene nur so leicht entstellt und nicht insgesammt durch
die dreiste Interpolation y.aO’ ä für xal -tä verdrängt haben, welche
uns bei einem Glied ihrer Sippe — es ist der Parisinus 2141,
ebenderselbe, bei dem wir oben Eraüävjmv fanden! — begegnet.
Desgleichen erscheint ta statt des a der Vulgata in dem Satze:
Ta piv ouv dv0pwTOi söscav -/.ts. 11 (486 L.) im Marcianus und
Vindobonensis. (An beiden Stellen ward td bereits von Bernays.
in seiner bewunderungswürdigen Doctorsdissertation Heraclitea,
partic. I., Bonn 1848, p. 10 und 22 hergestellt, obgleich er an
der ersten Stelle die Lesarten des Vindobonensis und Marcianus,
an der zweiten die Bekräftigung, welche der Schreibung der
Recentiores durch diese zu Theil wird, noch nicht kannte.
Wäre die letztere Usener bekannt gewesen, so hätte er
in seinem Wiederabdruck jenes Schriftchens — Bernays’ gesam
melte Abhandlungen, herausgegeben von H. Usener, I 21, Z. 11
— gewiss nicht xd wieder durch a ersetzt). Ferner bietet A in
De prisca medicina 8 (I 586 L.) twv statt des wv der übrigen
Handschriften in dem Sätzchen: v, aXXo ti Sv oi uyialvovTs? ecOi-
ovte; dxpEAEovTat. Darf man endlich nicht auch zu De flatibus 12
mit Wahrscheinlichkeit vermuthen, dass in dem Satze: ettetcc
os tpai ouotjoiv uypao!r ( , rjs Tijv oS'ov 6 är ( p axs:pYdaaTo ursprünglich
vr\<; geschrieben war, da sich die merkwürdigen Varianten
neben ij? der Vulgathandschriften, nämlich (mit t nach ■/]
von jüngerer Hand) in A — so nach der von mir genommenen
Abschrift, während Littre VI 108 towi als A’s Lesart angibt,
— vjtic (sic) in M und f)Ti? in H, kaum anders erklären lassen.
Die im Voranstehenden mitgetheilten Beispiele sind sicher
lich einer weiteren Vermehrung fähig. Aber dass ihre Zahl
keine beträchtliche sein kann, dies erhellt schon aus dem Um
stande, dass es einem der genauesten Kenner der hippokrati
schen Sammlung, keinem Andern als Littre selbst, möglich
80
IX. Abhandlung: Gompeftf.
war, eben das Fehlen dieser zwei Erscheinungen — der ioni
schen Psilosis und desgleichen der Verwendung der Artikel-
Formen statt jener des Relativs — unter die charakteristi
schen Unterschiede der hippokratischen von der herodotischen
Sprache einzureihen (I 499). Und weil es sich hier um Sprach-
phiinomene handelt, von welchen jedes Blatt eines Schriftwerkes,
dem sie eigen waren, laute Kunde geben musste, darum weiss
ich die Thatsache, dass sie aus unseren Handschriften nahezu
vollständig verschwunden, und jene andere, dass ihr einstiges
Vorhandensein durch zweifellose Indicien bezeugt ist, eben nur
durch die oben ausgesprochene Annahme zu vereinigen.
Nach dem Beweggrund dieser Razzia haben wir nicht
weit zu suchen. Man wollte in Werken, die als Lehr- und
Nachschlagebüclier in den Händen aller griechischen Aerzte
waren, jene verwirrenden Unklarheiten und Zweideutigkeiten
vermieden wissen, welche sich als die Folgen eben dieser Io
nismen, zumal im Verein mit der scriptura continua, welche
z. B. zwischen siu’ wv und szuv, zwischen dir’ tov und äiru>v nicht
unterschied, nothwendig einstellen mussten. Andere Dialekt-
eigenthümlichkeiten wurden verwischt, ohne dass man eine
gewaltsame Ausmerzung derselben vorauszusetzen brauchte.
Der dem Menschen so natürliche Hang, das Ungewöhnliche
durch das Gewohnte zu ersetzen, konnte genügen, um Sprach-
erscheinungen, die vergleichsweise selten auftraten, fast spur
los hinwegzunivelliren. Im 10. Paragraphen unserer Schrift
liest man die Worte: §u Ss y.ai ev xotaiv acäpy.otci loiaÜTVj (sc.
vr,S6c) IvöOTtv, ow) y.ai ev towiv euadpy.otc.v evewai oiSeewai. Statt
oeoeiy.-ai bietet der Parisinus XeXey.xai. Da SeSety.Tai hier der ge
wähltere Ausdruck ist, so können wir die Lesart A’s nicht
einfach annehmen, sondern werden als das Ursprüngliche, das
hier in zwei Brechungen erscheint, Seäey.Tai vermuthen, was
uns der Marcianus, in welchem eine jüngere Hand et über e
eingefügt hat, in Wahrheit darbietet. Es ist dies die in den
Herodothandschriften vielfach begegnende Form, zu der uns
die hippokratischen Texte bisher keine Parallele geboten
haben, auch in eruos^C und axoSeiju; nicht. Doch verdient es
Erwähnung, dass in der Schrift De fiatibus 15 ei in sTOSeSsaxai
im Marcianus auf einer Rasur steht. In 11 lesen wir zwischen
den Worten Sid T£ vyjv twv -/.ap.vovrwv öhrfMpbjv und dem nachfol-
Die Apologie der Heilknnst.
81
genden begründenden Satze: oü Aap.ßavop.svot yäp a\\' eiXr;p.p.Evot
wo twv vouvjp.ctTwv Öe^ouck OspaxsieoGai in den Recentiores das
iiier unverständliche Wort sTtTi'OsvTai, an dessen Erklärung
ältere und jüngere Herausgeber viele vergebliche Mühe ver
schwendet haben. Littre und wohl auch Dübner, dessen
Mittheilung Daremberg (Oeuvres choisies d’Hippocrate 2 , S. 47)
wahrscheinlich missverstanden hat, haben unzweifelhaft richtig
erkannt, dass hier einzig und allein ein Zwischensätzchen
des Inhalts: Denn wie sollte es anders sein? am Platze sei.
Doch besitzt weder Littre’s Vermuthung ste: faxe (,or, la cliose
naturelle'), noch Dübner’s first ti Yivetat; (denn dies und niclit
ZKd Ti yivsTat hat er wohl gemeint) ausreichende paläographische,
Letzteres auch keinerlei innere Wahrscheinlichkeit. Man muss
methodischerweise annehmen, dass stiv.Qs.-ai, was A und M
darbieten — M merkwürdigerweise als et: xi Oetäi (sic) —,
eine frühere Stufe der Yerderbniss darstellt, und fast gewiss ist
aus der Hand des Autors ete: t! öwp.a hervorgegangen, was als
ETiTiQügai gelesen und dann mit fortschreitender Anpassung an
den Zusammenhang, in welchem der Conjunctiv und die erste
Person des Verbums ganz und gar nicht und der Singular
nicht viel mehr am Platze war, zu der Vulgat-Lesart corrum-
pirt worden ist. Dadurch gewinnen wir aber die ionische,
dem in den hippokratischen Schriften regelmässig begegnenden
tpöjp.a = Tpaup.« entsprechende Form Owp.a, welche Hesycliius kennt
und die in Herodot-Handschriften so sehr überwiegt, dass sie sich
schliesslich auch die Anerkennung der Herausgeber ertrotzt
bat. Eine andere Dialektform, die nur ganz vereinzelt, sei es
der spontanen Nivellirung, sei es der gewaltsamen Ausmer
zung widerstanden hat, ist das ionische wv statt o3v, welches
uns die massgebenden Handschriften im N6p.cc 4 (IV 640 L.)
gewähren in dem Satze: t&utä <Lv /pv) fg rry tr ( Tptz.r ( v iaEVEyxapi-
vcu; -/.Ts. Die minderwerthigen Codices haben die Partikel zu
der Relativform wv verderbt, während nur Mercuriale’s ,vetus
Codex' die vom Zusammenhang geforderte Partikel in ihrer
attischen Form, klärlich als Conjectur (ouv i'cwc), darbietet.
Dass jene Form hippokratischen Schriften nicht durchaus
fremd war, lehrt auch eine andere Stelle, an der uns dieselbe
als Mittelglied zwischen ursprünglichem 6>v und der Corruptel
ouv entgegentritt. Dort (De diaeta I 35 ■—- VI 518 L. —)
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh. 6
82
IX. Abhandlung: Gomperz.
wurde oöv eben seiner vollständigen Sinnlosigkeit wegen von
der sonstigen Ueberlieferung fallen gelassen, während der naive
Schreiber des Marcianus es allein bewahrt und uns dadurch
die Herstellung des schon im Vindobonensis unverständlichen,
in den Recentiores ganz willkürlich umgestalteten Satzes er
möglicht hat. Derselbe hat zu lauten: twaÖävovW ts (die Irr
sinnigen) sver) ouSev wv xpocijyei tou? cppovsoviac. 1
So fällt denn eine Schranke nach der anderen, welche
den hippokratischen vom herodotisehen Ionismus zu trennen
gedient hatte. Von den acht Punkten, welche Littre (I 499)
als charakteristische Merkmale des Dialekts der hippokrati
schen Schriften bezeichnen zu können glaubte, bleibt kein
einziger — wenn nicht etwa §e/op,ca statt Sey.op.at —• aufrecht.
Denn auch tpö?, theils so, theils eipiq geschrieben, wird uns in
der Schrift De sacro morbo von der besten (der Wiener)
Handschrift mehrfach dargeboten, wie jüngst auch Johannes
Ilberg, Rhein. Mus. 42, 439, Anm. 1, bemerkt hat; nicht minder
in De flatibus 14 (VI 110 L.) von A und wieder vom Vind in De
diaeta (passim). Ob die Endung fyo?, vjbj, vjtov statt eloc u. s. w.
in unserem Corpus in Wahrheit seltener als bei Herodot er
scheint, vermag ich nicht mit Sicherheit zu entscheiden. Jeden
falls handelt es sich hier nur um einen graduellen Unterschied,
ebenso wie bei o6v und i;öv, von welchen auch das erstere in
den Handschriften reichlich, in unserer Schrift z. B., soweit A
in Betracht kömmt, ein wenig stärker als £6v vertreten ist.
Sollen wir nun nicht nur die aus. unzulänglicher Durch
forschung der Handschriften geflossenen falschen Verallgemei
nerungen unserer Vorgänger berichtigen, sondern unsererseits
generalisirende Schlüsse ziehen ? Sollen wir die aus ihren
Schlupfwinkeln, in welchen sie allein vor theils absichtlicher,
theils unwillkürlicher Nivellirung geborgen waren, hervorgezo
genen Dialektformen nicht bloss in den Schriften, in welchen
sie uns begegnet sind, wiederherstellen — wozu wir vollkom
men befugt sind —, sondern sie in allen Theilen des hippo
kratischen Corpus durchwegs als die allein berechtigten aner
kennen? Es wäre dies ein durchaus statthaftes Verfahren, —
wenn das Corpus Hippocraticum das wäre, was es nicht ist,
das Erzeugniss eines Autors oder auch nur eines Kreises
örtlich und zeitlich engverbundener Schriftsteller. Vielleicht
Die Apologie der Heilknnst,
83
wird es sich schliesslich heraussteilen, dass die sprachliche
Form dieser bunten Schriftensammlung trotz der Mannigfaltig
keit ihres Ursprungs in Wahrheit eine vollständig oder nahe
zu vollständig einheitliche ist. Allein dies von vorneherein vor
auszusetzen und die auf Kos, in Knidos und anderwärts ver
fassten Bücher in dialektologischer Beziehung zu uniformiren,
davon halten uns mehrfache Erwägungen zurück. Vor allem
die bekannten Nachrichten der Alten über Verschiedenheiten
auch innerhalb der ionischen Prosa (man findet sie bei Littre
I 500—501 zusammengestellt), deren Begründung oder Grund
losigkeit sich zur Zeit unserer Beurtheilung entzieht. Denn
so plausibel auch die Annahme klingt, das ,Milesische' sei das
,Schriftionisch' (v. Wilamowitz, Zeitschr. für das Gymnasialw.
1877, S. 645), so können wir doch angesichts des so starken
particularistischen Zuges, der das gesammte griechische Leben
nach allen Richtungen durchdringt, nicht völlig sicher sein,
dass keinerlei mehr oder minder erhebliche Verschiedenheiten
auch innerhalb der ionischen Prosawerke bestanden, gleichwie
dies in Ansehung der dichterischen Erzeugnisse dieses Stammes
völlig ausgemacht ist und eben von dem genannten Forscher
in helles Licht gesetzt ward (Homerische Untersuchungen
S. 317—318). So möchte ich denn vor allzu radicalen Schlüssen
aus den im Vorangehenden von mir selbst festgestellten Prä
missen warnen und als leitende Grundsätze bei der dialek
tologischen Behandlung der einzelnen Bestandtheile der hippo
kratischen Sammlung die folgenden empfehlen:
1. Umsichtige Verallgemeinerung der handschrift
lichen Ionismen.
2. Subsidiäre Verwendung der inschriftlichen
Zeugnisse.
3. Gelegentliche Berücksichtigung auch der ander
weitigen handschriftlichen Ueberlieferung.
4. Sorgfältige Abschätzung der Stärke, mit welcher die
generell- und die particulär-nivellirende Strömung jedesmal
auftritt, nicht ohne Rücksicht auf die innere ratio der betref
fenden Phänomene.
Ich verbinde die Erläuterung dieser Normen mit Exem-
plificationen, die vorzugsweise der hier behandelten Schrift ent
nommen sind.
6*
84
IX. Abhandlung: Goraperz.
1. Die Umsicht muss sich zumeist in dem bekunden,
was man kurzweg den Schutz der Minderheiten nennen
könnte. Mit anderen Worten, wir müssen jederzeit darauf
vorbereitet sein, Ausnahmen von bloss empirischen Regeln an
zutreffen und. anzuerkennen. Wie anders hätte Struve seine
wundervollen, nur durch behutsame Anwendung der statisti
schen Methode gewonnenen Ergebnisse in Betreff des relativen
Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Artikelformen bei Hero-
dot erzielen können? Wenn wir in den besten Hippokrates-
handschriften so gut als ausnahmslos voöao;, daneben aber kaum
minder ausnahmslos vossw mit seinen Derivaten antreffen, so
müssen wir jede dieser Formen in ihrem Bereiche gelten
lassen, selbst wenn zur Zeit keine sichere Erklärung dieser
Verschiedenheit möglich ist. Geht voöao? unmittelbar auf * vocrco?,
dieses (wie ich mit Kretschmer, Beiträge zur griech. Gramma
tik, Gütersloh 1889, Thesen am Schlüsse, annehme) auf *väcFo;
zurück, so muss die Differenzirung aus der Zeit herstammen,
in welcher vogsco neben *voaao? gesprochen wurde; das heisst,
die Verdopplung des Lautes muss vor der betonten Silbe
unterblieben sein, nach derselben stattgefunden haben. Ver
wandte, wenn auch nicht genau parallele Erscheinungen be
handelt jetzt Johannes Schmidt, Die Pluralbildungen der indo
germanischen Neutra, S. 47—48.
2. Dass es gegenwärtig mindestens völlig unmöglich ist,
einen auch nur negativen Kanon des Ionismus auf den epi-
graphischen Bestand aufzubauen, bedarf keines Beweises. Die
Kärglichkeit des Materials, die zeitlichen und örtlichen Ver
schiedenheiten der Herkunft müssen jeden derartigen Versuch
als chimärisch erscheinen lassen. Bieten uns doch die In
schriften, wie schon von anderer Seite bemerkt ward, bislang
kein einziges Beispiel von den Formen Sy.ou, y.ü>q u. s. w. dar,
welche sprachgeschichtlich so wohl erklärbar sind und die Nie
mand für Grammatiker-Erfindungen halten wird. Allein wenn
zeitlich und örtlich weit auseinanderliegende Urkunden trotz
sonstiger tiefgehender Unterschiede in einem Punkte überein
stimmen, so darf man darin eine nicht allzu schwache Prä
sumtion für die Gemeingiltigkeit der betreffenden Sprackregel
erblicken. Geschieht es nun, dass zwei Formen, wie in unse
rer Schrift guv und £jv in den mit dieser Präposition zusam-
Die Apologie der Heilkunst.
85
mengesetzten Worten, sich nahezu die Wage halten, und zwar
so, dass keinerlei specifische Differenz erkennbar ist (wie denn
A dreimal oive«? und daneben je zweimal Bvsot? und einmal
ijuvwjcriv, ferner einmal aüp.-av und einmal £u|MüGim>v darbietet),
so glaube ich nicht eben vermessen zu handeln, wenn ich das
einstimmige Zeugniss der ionischen Epigraphik zu Gunsten
von civ entscheiden lasse. Ein für die mit c anlautenden
Formen noch günstigeres Verhältniss weist die Schrift Ilspi <pu-
s'.oc äv0po)-ou auf (1—9), wo A dieselben 8mal, die mit ? 3mal
darbietet. Für die Tendenz der jüngeren Handschriften, die
letzteren zu begünstigen, spricht der Umstand, dass A die
c-Form in 7 von jenen 8 Fällen entweder allein oder nur
mit Galen und wenigen Codices bewahrt hat.
3. Dass dialektische Besonderheiten, die nur an wenigen
nicht eben häufig vorkommenden Worten haften, in einer zur
Nivellirung hinneigenden Ueberlieferung geringe Aussicht haben,
sich zu behaupten, braucht kaum gesagt zu werden. Da wird
denn die Irrthumschance leicht eine kleinere, wenn wir die
anderweitig vollkommen gesicherte Form einführen, als wenn
wir dem gerade hier vorliegenden handschriftlichen Zeugniss
ausschliesslich vertrauen. Diese Rücksicht hat mich z. B. be
stimmt, das in unserem Büchlein nur einmal vorkommende
voyjaat durch das bei Herodot, bei Theognis und überdies auch
bei Demokrit, und zwar diesmal durch einen ganz ungewöhnlich
alten Zeugen (Philodemus, De ira, p. 101 meiner Ausgabe: ösa
T'.q oiv vwcraiTo) beglaubigte vötiat zu ersetzen. Dass trotzdem
ßoY)0£l (2), in welchem die beiden Vocale stammhaft sind, nicht
angetastet zu werden braucht, lehrt zum Ueberfluss die gleiche
auch in den Herodot-IIandschriften überwiegende Schreibung
des Wortes (vgl. Merzdorf, De dialecto Herodotea, in Curtius’
Studien VIII 222).
4. Auch das Gehirn- und Nervenleben rollt in ausge
fahrenen Geleisen leichter dahin als in selten oder gar nicht
befahrenen. So geschieht es, dass unsere Vorstellungen nicht
minder als unsere Bewegungen an jeder Wegscheide einer
Associationsbahn in die ersteren hinübergleiten, insoweit nicht ein
starker oder ein geschulter Wille sie in die letzteren zu zwingen
weiss. Hier liegt die Wurzel des Verallgemeinerungstriebes,
des Erzeugers aller Wissenschaft und, wo er ungezügelt waltet,
86
IX. Abhandlung: Gomperz.
auch jedes Irrwahns. Auf dem Gebiete, das uns hier be
schäftigt, wirkt er ausschliesslich als ein störender, die treue
Wiedergabe und Fortpflanzung literarischer Denkmäler beir
render Factor. Und zwar übt er diesen schädigenden Einfluss
in zwei einander entgegengesetzten Richtungen. Die eine der
von ihm ausgehenden Strömungen strebt nämlich darnach, die
Herrschaft des Gemeinüblichen, die andere jene des Sonder
üblichen, aber in einem engeren Kreise Vorherrschenden über
die demselben gebührenden Grenzen hinaus zu erweitern. Im
ersteren Falle wird die Ausnahme zu Gunsten der Regel ver
wischt, im letzteren die Regel zu Gunsten der — in einem
bestimmten Theilgebiete ihres Geltungsbereiches überwiegenden
— Ausnahme. Mitunter ist es nicht leicht, zu unterscheiden,
welche der beiden Strömlingen (wir nennen sie die generell-
und die particulär-nivellirende) einen uns eben vorliegenden
Thatbestand erzeugt hat. So stehen wir denn manchmal vor
einer Doppelfrage, die sich also zuspitzt: Ist ein gewisses
vereinzeltes Vorkommniss nur darum vereinzelt', weil die ge
nerell-nivellirende Woge alle übrigen Vertreter desselben
Sprachphänomens hinweggefegt hat? Oder steht es vielmehr
umgekehrt? Hat die Flut der falschen Analogie oder der un
gehörigen Reminiscenz nur gerade an dieser Stelle die schützen
den Dämme durchbrochen und die betreffende Sondererschei
nung an die Küste unserer Ueberlieferung gespült?
Ein Theil der ionischen Schriftdenkmale verwendet im
Gegensatz zum gemeingriechischen xou, xüc, xoto; u. s. w. die
Formen xou, v.&q, v.oioq u. dgl. m., einem andern sind dieselben
fremd. Dass das Letztere von den dichterischen Erzeugnissen
der Insel-Ionier gelte, hat v. Wilamowitz (Homerische Unter
suchungen a. a. 0.) ermittelt und ausgesprochen. Wie steht
es nun in diesem Betracht mit der Sprache unserer Schrift?
Wir finden hier an eilf Stellen die Formen mit x ohne Wider
spruch eines handschriftlichen Zeugen; nur Theodor Zwinger
hat am Rande seiner Ausgabe einmal oxou angemerkt, was nichts
zu besagen braucht. Hingegen erscheint öxoiav zweimal in den
jüngeren Handschriften, wo A und M öxotav (einmal in A zu
GxcTCpov verderbt) darbieten. Das Facit, dass nur die x ent
haltenden Formen dem Verfasser angehören, wäre so einfach
als sicher, wenn nicht gegen Ende der Schrift das Verhältniss
Die Apologie der Heilkunst.
87
sieh mit einem Male umkehrte und unser bester Bürge dort
C7.0)? böte, wo M und R das gemeinübliehe oxw? aufweisen. Da
im vorliegenden Falle jeder Gedanke an ein etwaiges Schwanken
des Verfassers ausgeschlossen ist, so stehen wir vor der fol
genden Alternative. Entweder unser Sophist hat sich in diesem
Punkte der Sprache Herodot’s, Heraldit’s u. s. w. bedient, und
diese seine Eigenart ist in der grossen Mehrzahl der Fälle
durch die unzeitige Erinnerung an das Gemeingriechische hin-
wegnivellirt worden. Oder die Formen, welche man die asia
tisch-ionischen nennen kann, sind Schreibern und Correctoren
zur Unzeit in den Sinn gekommen und dadurch an jenen
drei Stellen in unseren Text gedrungen. Gegen die erste Alter
native spricht freilich schon der überaus wunderbare und mit
dem, was wir über die Filiation der Handschriften ermittelt
haben, schwer zu vereinbarende Umstand, dass dann die Re-
centiores zweimal ein Stück der echten Ueberlieferung gerettet
haben müssten, welches die älteren und verlässlicheren Ver
treter derselben nicht kennen. Allein die Annahme, dass eine
alte Randvariante das Ursprüngliche bis auf den Stammvater
der Recentiores fortgepflanzt habe, kann zwar keineswegs als
eine wahrscheinliche, aber doch nicht als eine schlechthin un
denkbare gelten. Eine sichere Entscheidung gewinnen wir
einzig und allein durch eine Erweiterung unseres Umblicks.
In der Schrift De flatibus bieten die Recentiores, denen sich
ein und das andere Mal auch M anschliesst, die Formen ozou,
ox.ws, äzirav, öx.6;joi an nicht weniger als zwölf Stellen, A nicht
ein einziges Mal. Daraus folgt unwidersprechlich, dass von
einer Neigung, die asiatisch-ionische Form hinwegzucorrigiren,
bei den Schreibern der jüngeren Handschriften nicht im ent
ferntesten die Rede sein kann; solch eine Idiosynkrasie aber
bei dem Schreiber von A vorauszusetzen, der an so zahllosen
Stellen allein das Ursprüngliche bewahrt hat, geht vollends
nicht an, und würde diese Annahme auch zur Erklärung des
Sachverhaltes nicht genügen. Damit ist der erste Theil der Alter
native widerlegt und der zweite als währ erwiesen. Ueberdies
erscheint ä’/.ÖTav auch an einer Stelle (De flat. 12, VI 108 L.)>
an welcher es unmöglich ein Stück der alten Ueberlieferung
sein kann — aus dem einfachen Grunde, weil der betreffende
Satz, wie der Zusammenhang sonnenklar lehrt und bereits
IX. Abhandlung: Gomperz. *
Littre erkannt hat, durchaus gefälscht ist. Statt öy.oxotv Ss
alp.oppa-fGsav, was M und ß bieten, zeigt A vielmehr: oso: 8e
äta xcvwv xXijOo? r l i).opptx'(r l aoi'> (das zweite vj aus et corrigirt), wo
zu allein der Nachsatz stimmt: za: to6to:? ot xspo: (so A, die
Uebrigen xövoi) xveupato? evExXvjaav xac, oAsßac. Zu demselben Er-
gebniss führt die Durchmusterung von IIspl 96510? ävQpüxou, wo
auf 10 Druckseiten der Littre’schen Ausgabe 21 Fällen, in
welchen alle oder die meisten jüngeren Handschriften die
/.-Formen bieten, nur einer gegenübersteht, in welchem eine
solche auch (soweit man aus Littre’s Schweigen schliessen darf)
in A erscheint. So kann es denn als ausgemacht gelten, dass
eine Tendenz zur Einsclimuggelung jener Formen auch in
solche Schriften, denen sie fremd sind, vorhanden war, und
dass die schlechteren Träger der Ueberlieferung dieser Ver
suchung häufiger, aber auch die besten in seltenen Ausnahms
fällen unterlegen sind.
Welche Verwüstungen die falsche Analogie in den hippo
kratischen Texten angerichtet hat, darauf genügt es im Vor
übergehen hinzuweisen. Dem richtig gebildeten aorswv (Gen.
Plur. Fern.) zuliebe ward auch autfip, touteu u. s. w. geschrieben,
in den ersten neun Paragraphen der Schrift ELpi 96910? avGpwzou
z. B. in den geringeren Handschriften nicht weniger als 35mal
— eine Verderbniss, an welcher selbst A an fünf Stellen
theilnimmt. Die Gewöhnung an den Ausgang ewv im Genetiv
der Mehrzahl hat in derselben Schrift sogar einmal das un
geheuerliche ptvewv in der grossen Mehrheit der jüngeren Hand
schriften zu Tage gefördert. Solchen Erscheinungen gegen
über thut dort, wo die beste Handschrift contrahirte statt der
aufgelösten Formen darbietet, grosse Vorsicht Noth; es gilt
bei jeder Classe derartiger Fälle genau zu erwägen, ob die
Contrahirung dem Einfluss des Gemeingriechischen, oder nicht
vielmehr die Auflösung der falschen Analogie ihr Dasein ver
dankt. Nun beachte man den Umstand, dass die Lautverbin
dungen s -j- s und e —J— ei in unserer Schrift, soweit A in
Betracht kommt, fast genau gleich häufig in contrahirter und
nicht contrahirter Gestalt erscheinen. Man vergleiche damit
andere Lautverbindungen, wie z. B. jene von £ + o>, in welchen
die uncontrahirten Formen ein erdrückendes Uebergewicht über
die contrahirten besitzen. Sollen wir annehmen, dass die Ten-
Die Apologie der Ileilkunst.
89
denz zur Verwischung der specifischen Dialektformen gerade
in diesem Punkte in A zu so übergrosser Stärke angewachsen
ist? Oder müssen wir nicht vielmehr den entgegengesetzten
Schluss ziehen, dass die pseudanalogistische Strömung mit ihrer
Vorliebe für aufgelöste Formen, die in den geringeren Hand-
• Schriften sogar bis zu Bildungen wie "/peeaöat, SssaGat u. dgl. m.
vorgeschritten ist (vgl. Littre VII 168, wo auf einer Seite yjpi-
saGa:, zpsssGo) zweimal, SEsaGas, ey.pcsEeTG) erscheinen, insgesammt
durch die Wiener Handschrift berichtigt, s. Littre X, LXVI),
gelegentlich auch, wenngleich in geringerem Masse, einen so
treuen Zeugen der Ueberlieferung, wie A es ist, ergriffen und
den Werth seiner Aussagen vermindert hat? Der Schluss
wäre wohl auch dann ein statthafter, wenn nicht das Zeugniss
der Inschriften hinzuträte, an welchem bisher keine einzige
dieser Formen eine Stütze gefunden hat (vgl. Bechtel’s Samm
lung und v. Wilamowitz Hermes, 21, 98).
Es erscheinen in A: irpo0ep,gl|0a'., rtfeloöai (bis), speT, cp avskai,
ßov;0£t, afvoet, Ssliat (bis), Sjuvspysl, SYjp.toupYsItai, atc/posKslv, xap-
'spEtv, aSuvaxsiv, s-p/eipew, Stappslv, äta^ew (bis) [18], wobei ich von den
mehrfach vorkommenden äst und Sffv absehe, gleichwie von den
Aorist-Infinitiven von der Art eines iäsfv, bei denen die aufgelösten
Formen jetzt endlich nahezu einstimmig verurtheilt sind. Diesen
stehen gegenüber: p.wp.sscGa!, Soy.est (quater), 'Treuest (bis), öp.oAo-
Yesxac, SvjiAioupveet, iyysipesiv, eiratveetv, rro’.setv (ter), aouvaisstv, u——
oupYssiv (bis), STtixpatlstv, stnropeeiv, ä-epestv, y.avrflopssiv [21], Dass
sich durch die Hinzurechnung von äst und Ssw, gleichwie der
Aorist-Infinitive ioetv u. dgl. ein entschiedenes Uebergewicht
auf Seite der contrahirten Formen ergibt, will ich nicht allzu
stark betonen. Ich benütze vielmehr diese Gelegenheit, um
Sprachstatistikern einen bescheidenen Rath zu ertheilen. Sie
würden, meines Erachtens, wohl daran thun, in derartigen
Fällen nicht bloss eine Mehrheit von Instanzen für beweiskräftig
zu halten. Auch eine starke Minderheit kann unter Umständen
schwer ins Gewicht fallen. Ja, diese Stärke braucht nur eine
relative zu sein. Denn als leitender Grundsatz derartiger
Untersuchungen muss doch der folgende gelten. Eine Ursache
A kann nicht oder nicht allein ein Phänomen a erzeugt haben,
wenn dieses mit einer anderen (sei es grösseren, sei es gerin
geren) Häufigkeit als derjenigen auftritt, welche durch die
90
IX. Abhandlung: Gomperz.
anderweitig festgestellte Stärke jener Ursache ausreichend er
klärt wird. Die statistische Methode, welche in linguistischen,
literar-historischen und auch in textkritischen Fragen die Prä-
cision und Sicherheit echter Wissenschaft an die Stelle vagen
Meinens und polternden Behauptens zu setzen verheisst, muss,
wenn sie diese Erwartung erfüllen soll, mit steter Rücksicht
auf die jedesmal in Frage kommenden ursächlichen Mo
mente geübt werden. Anderenfalls sinkt sie zur Zahlen
spielerei herab, das heisst zu einem Spiel der schlimmsten
Art, das zugleich mtissig und pedantisch ist.
Wir haben noch der Frage zu gedenken, ob jene Dia-
lekteigenthümlichkeiten, von denen wir annehmen mussten,
dass sie in systematischer Weise aus dem hippokratischen
Corpus ausgemerzt worden sind, auch in der Schrift Ilspi ts-
yrqc zweifellose Spuren ihres einstigen Vorhandenseins zurück
gelassen haben. Leider muss unsere Antwort unsicher und
zögernd ausfallen. Wenn wir in den ersten Zeilen unserer
Schrift dort, wo die übrigen Handschriften 8 v. y-od süpeGev
bieten, in A statt dessen 8 -i v.al epsuOsv finden, wobei p von
zweiter Hand auf einer Rasur geschrieben ist, die erste Hand
aber e-euGev geschrieben zu haben scheint, so müssen wir
die Unsicherheit der letzteren Wahrnehmung lebhaft beklagen.
Denn stünde jene Schreibung völlig sicher, so könnten wir
nicht ohne Wahrscheinlichkeit vermutlien, dass sie einem ur
sprünglichen ETCEupeÖsv = E^eupEÖsv entstammt ist. Eine andere
Spur, die auf Psilosis hinzuweisen scheint, ist bedauerlicher
weise um nichts sicherer. 10 init. erscheint statt xau-ra £ der
übrigen Handschriften (taöxa a in A) im Marcianus von erster
Hand: xaüxa — wieder ein zu schwaches Anzeichen, um daraus
auf Psilosis in der Urhandschrift zu schliessen. Dass gleichwie
hier an manchen sonstigen Stellen dieser und anderer Schriften
A von erster Hand, doch ohne jede Consequenz, einen Spiritus
lenis statt des asper zeigt, den zumeist eine spätere Hand in
den letzteren verwandelt hat, sei hier vermerkt, ebenso wie
der befremdende Umstand, dass die verneinende Partikel ob
oder euy. sehr häufig mit dem Spiritus asper versehen ist, des
gleichen auch cpQoc und Formen des Verbums wseXeio. Dass
die Psilosis, wenn sie anders in unserer Schrift herrschte und,
was nicht völlig dasselbe ist (s. Bechtel, Die Inschr. des ioni-
Die Apologie der Heilkunst.
91
sehen Dialekts S. 98), auch im Innern eines zusammengesetzten
Wortes zum Ausdruck kam, jedenfalls schon sehr früh hinweg-
eorrigirt sein musste, dies beweist die allen Handschriften ge
meinsame Corruptel ävsOefaa 13 (12), die nicht entstehen konnte,
wenn nicht das ihr zu Grunde liegende psOsica bereits also
und nicht als p.ciretoa geschrieben gewesen war. 1 Was die
relative Verwendung der Artikelformen betrifft, so ist es uns
ebenso wenig vergönnt, einigermassen sichere Spuren derselben
nachzuweisen. Für sie scheint die plumpe Interpolation 8 uz
toutgu; tou; (peveiv eösAovxa? zu sprechen, die uns in A be
gegnet (1), und die um Vieles erklärbarer wäre, wenn wir an
nehmen dürften, dass sie aus der ursprünglichen und eben in
einem treueren Bewahrer des Echten länger erhaltenen Schrei
bung Siä toütou? tou; iIsys'. hervorgegangen ist. Allein auf diese
Vermutkung weiterzubauen wage ich ebenso wenig wie auf
jene andere, dass das die Construction störende und schon
von Ermerins mit Recht beseitigte £>v in dem Satze m -tat p.ev
iop/fiGc v.Tä. 13 (12) etwa aus einem missverstandenen wv (= ouv)
entsprungen und daselbst zu schreiben ist: töc piv uv oop.Yjm v.tä.
(Uebrigens erscheint ouv auch in dem ionisch geschriebenen
Wiener Papyrus des 4. Jahrhunderts Z. 3 der Bearbeitung von
Blass, Pliilol. 41, S. 748.) Ich verzichte daher in diesen
Punkten auf die Einführung der in anderen ionischen Schrift
werken vorwaltenden Eigentkümlickkeiten — ein Verzicht,
der mir fast sicherlich den Vorwurf eintragen wird, dass ich
von meinen eigenen Wahrnehmungen einen allzu zaghaften Ge
brauch gemacht habe. Ich vermag eben nicht die sichere
Ueberzeugung zu gewinnen, dass die ionische Schriftsprache
in der Epoche, welcher die vorliegende Rede angehört, ein
durchaus einheitliches, von localen Verschiedenheiten völlig
unberührtes Gepräge besessen hat. Dass zumal ein Sophist, das
heisst ein Wanderlehrer, manche Ecken und Kanten seiner
heimischen Mundart abgeschliffen und seine Sprache zu einer
Art von zoivvj umgebildet hat, dies muss wenigstens als eine
Möglichkeit im Auge behalten werden. Einen gewissen Grad
von Wahrscheinlichkeit verleiht ihr vielleicht die Wahrnehmung,
dass wir in den Ueberresten des clialkidischen Sikelioten
Gorgias keine sicheren Spuren seiner heimatlichen Eigenart zu
erkennen vermögen. Mit dieser Muthmassung würde auch die
92
IX. Abhandlung: Go mp erz.
Thatsache übereinstimmen, dass der Wortschatz unseres Büch
leins eine vergleichsweise geringe Zahl von specifischen Io
nismen aufweist, und dass die Verwendung von p.exct statt
güv (7, 9, 11 ter) ganz und gar mit der Gebrauchsweise
übereinstimmt, welche in attischer Prosa zuerst bei Antiphon,
Thukydides, Andokides, und in ionischer 1 wohl nicht vor Derno-
kritos begegnet. 2
Ueber den Gebrauch des sogenannten paragogischen v
können wir uns kurz fassen. Dasselbe erscheint nicht selten
vor Consonanten, freilich nicht so oft als auf altionischen In
schriften (vgl. Erman in Curtius’ Studien V 279 und Gustav
Meyer, Griech. Gramm. 2 , S. 298), häufig am Schluss eines
Satzes, vor Vocalen aber — diesmal in Uebereinstimmung mit
den altionischen Inschriften — so regelmässig, dass die eu
phonische Rücksicht offen zu Tage liegt und wir wohl be
rechtigt sind, in den drei widerstrebenden Fällen das v, welches
A von erster Hand nicht bietet, dennoch mit MR und den
späteren Händen A’s beizufügen (otaux-jp.aGiv iwp.svoi 6, -/.agvoumv
aSovaxslv 7 und föxiv etSsvai, wenn nicht etwa eax’ eiSevai zu
schreiben ist, 11); hingegen können wir dem Zeugniss von
AM gegen R in xolct xapsouct 7 folgen, da die Interpunctions-
pause nach diesen Worten eine Rücksichtnahme auf das fol
gende wgts entbehrlich macht.
Die volleren Dativformen überwiegen durchaus. Von den
kürzeren Formen der A-Declination erscheint nur ein Beispiel:
■/.T/.E’.va'.q 12 (11) fin., welches man wohl unbedenklich be
seitigen darf. Anders steht es mit den kürzeren Formen
der O-Declination. Diese begegnen in A nicht weniger als
21mal, jedoch — von einigen wenigen, sogleich zu be
sprechenden Ausnahmsfällen abgesehen — durchaus vor
vocalischem Anlaut, der ohne stärkere Interpunctionspause
nachfolgt. Man kann daher zweifeln, ob es nicht angemessener
wäre, die volleren Formen apostrophirt in den Text zu setzen,
gleichwie dies Buttmann und Ahrens bei ionischen Dichtern
zu thun empfahlen und Nauck jetzt im Homertext durchge
führt hat. Ob in Xouxpofei vj aXouGi'y) 5, in xottn axe-/vowi 1 und xoTot
s? iyjxpty.Yjv 1 der Hiat in dieser oder in jener Weise zu be
seitigen sei, mag zweifelhaft erscheinen. Ich folge der Auto
rität der besten Handschrift, indem ich nicht v beifüge, sondern
Die Apologie dev Heilkunst.
93
annehme, dass hier wie so häufig seihst in epigraphischen
Urkunden der zu elidirende Vocal nichtsdestoweniger ge
schrieben ward. In Betreff der wenigen der oben namhaft
gemachten Regel wirklich oder scheinbar widersprechenden
Stellen ist Folgendes zu bemerken, xof; dSu-mot? 12 init. tritt
aus der Reihe dieser Ausnahmen heraus, sobald wir die in
jenem Satz nothwendig anzunehmende Lücke eben nach aou-
•moic ansetzen und, wie ich es gethan habe, durch ein Wort
mit vocalischem Anlaut ausfüllen. Die Stelle in 13, wo drei
auf einander folgende Dative in A mittelst Compendiums ge
schrieben sind, während die anderen Handschriften die vollen
Formen zeigen, kann um so weniger in Betracht kommen, als
der Schreiber von A sich in jener Schlusspartie mit Vorliebe
der compendienhaften Schreibungen bedient. Dass der Autor
6 fin. toTgi •rcpovooup.evoic geschrieben habe, halte ich darum für
unglaublich, weil es, falls er die schleppende Wiederholung
vermeiden wollte, jedenfalls ungleich näher lag, die kürzere
Artikelform zu wählen. Somit bleibt nur 8 fin. das zweimalige
toi? vor or,(juoup-j'£ouctv und 8Y)[AtcupYsop.evow.v übrig, das ich nicht
antaste, obgleich mir auch hier die Möglichkeit eines Schreib
fehlers nicht als ausgeschlossen gilt.’
Die kürzere und die längere Form von I/Avcc erscheinen
beide ausreichend verbürgt. Auch das zweimalige e6ekw würde
ich neben dem einmal erscheinenden Oskco dulden, wenn nickt
eine entschiedene Tendenz zur Verdrängung des letzteren durch-
das erstere in den Handschriften erkennbar wäre. So ist auch
an jener Stelle (8 init.) OskovTac, desgleichen OsAc.q in fiep: ©6ato?
avöpü-üou 7 (VI 46 L.), dieselbe Form ebend. 7 (50 L.), end
lich flspi ap-/. iv]Tp. 1, I 570 L. öekwatv neben eOeXwciv von A,
theils allein, theils n ahezu allein, erhalten. Elidirt habe ich
Vocale im Uebrigen nur dort, wo dies in A geschieht, — nicht
als ob ich so thöricht wäre, in diesen Dingen der Autorität
auch der besten Handschrift irgend ein Gewicht beizumessen,
sondern einfach darum, weil wir kein Mittel besitzen, die
bezüglichen Intentionen des Autors zu ersckliessen und daher
nichts Besseres thun können, als die überlieferten Schreibungen
schlechtweg wiederzugeben. Ueber Anderes wird an den be
treffenden Stellen gehandelt werden.
94
IX. Abhandlung: Goto per z.
3. Gliederung der Rede.
Hpoofp.iov
’AroSEtqis
A6a«;
II. Begrenzte Wirksamkeit der
Arzneikunst
III. Ihre Stellung
gegenüber
den sichtba
ren und den
verborgenen
Krankheiten
a) Anatomische
Grundlegung
b) Allgemeine
Anwendung
c) Besondere
Anwendung
1.
I. Kunst versus Zufall .
10.
11.
12.
' 13.
• 14.
’E^iXofcx;
Allgemeine Einleitung
und Ankündigung des
Themas (IIpoDems)
Ontologischer Excurs
Definition des Hauptbe
griffs und Ankündigung
des zugleich positiven
und negativen Beweis
verfahrens (cbidosiijic und
Xi tu;)
Allgemeines über das
Verhältnis von Tsyvr;
und Tu)r/) (Einleitung
dieses Hauptabschnitts)
Die Wirksamkeit der
Arzneikunst reicht wei
ter als die Thätigkeit
der Aerzte
Basirung dieser These
auf die Natur der Dinge
Die ärztlichen Misserfol
ge beweisen nichts gegen
das Dasein der Heilkunst
Ebenso wenig dieNieht-
behandlung verzweifel
ter Fälle
Allgemeine Unterschei
dung der zwei Krank
heitsgattungen
Detailausführung die
ses Unterschiedes
Allgemeines über Er
kenntnis und Behand
lung verborgener Krank
heiten
Illustrirung d. Gesagten
durch die Verfahrungs-
weise anderer Künste
Detaillirte Darlegung
der diagnostischen Me
thoden und daraus gezo
gene Nutzanwendung
Recapitulation (avor/.efw-
Xoccoai;) und Abschieds-
gruss des Redners an
die Aerzte.
Die Apologie der Heilkunst.
95
Wir sind hierbei durchaus den vom Verfasser selbst er-
theilten Winken gefolgt. So werden die drei ersten Abschnitte
von ihm als Proömium gekennzeichnet durch den Eingang
von 4: scxi p.kv ouv p.oe dp-//}) xoü X6you y.xe., womit man ver
gleichen mag den Anfang der Rede des Eryximachos im pla
tonischen Symposion (177 a ): yj p.sv p.ot apyy'q xou Aoyou e<m v.-k.
Dass er den beweisenden und den widerlegenden Theil seiner
Darlegung im Folgenden nicht gesondert hat, sagt er aus
drücklich 3 fin.: sv 51 xvj xeyvr^ d'rcoosije! ap.a y.ai xoü; 16-
foo; xöv akyüvstv aoxvjv oiojxevwv dvatp-jcrw v.~k. Desgleichen
markirt er 7 init. einen neuen Hauptabschnitt als solchen, indem
die von 4 bis 6 reichende Erörterung als nunmehr abge
schlossen bezeichnet wird mit den Worten: xotox p,ev ouv xjj xü^y]
xyjv GyisiY]v xpoaxiöslci xy,v os xe/vyjv d<patpeoutn xotaox’ av xi; Asyoi.
Und so wird jedesmal der Inhalt des Vorhergehenden zusammen
fassend recapitulirt und das schon Bewiesene von dem erst
noch zu Beweisenden streng geschieden. Man vergleiche damit
die scharfe Abgrenzung der kleinen Abschnitte, die man für
die Reden im Symposion so charakteristisch gefunden hat
(Teuffel im Rhein. Mus. 29, 133), auch Plato, Protagoras 323°
oder 324 c (sammt Sauppe’s Bemerkungen dazu). Die Para-
grapheneintkeilung ist jene älterer Herausgeber, genauer jene
Littre’s, von dem ich nur darin abweiclie, dass ich seinen
11. Abschnitt in zwei Theile zerfalle.
H.
1. Sogleich in den ersten Worten tritt uns der Verfasser
in seiner vollen Eigenart entgegen: als streitlustiger und streit
gewohnter Kämpe, als weitschauender Kopf, der sein jedes
maliges Thema als Theilgebiet eines grossen, vielumfassenden
Ganzen zu betrachten und zu behandeln pflegt, und nicht am
mindesten als Meister der Rede, der die Aufmerksamkeit seiner
Hörer sofort durch eine packende Wendung zu erzwingen
und zu fesseln weiss. Dieses ,Aufrütteln des Publicums' (vgl.
Scherer, Poetik, S. 199) durch den paradox klingenden Satz:
96
IX. Abhandlung: Gomperz,
,Es gibt Leute, die aus der Lästerung der Gewerbe selbst ein
Gewerbe machen' musste gleich einem Posaunenstoss wirken.
Man glaubt es wahrzunehmen, wie das letzte leise Geflüster
in der fernsten Ecke des Saales verstummt, wie alle Augen
sich auf den Sprecher richten, alle Ohren seine Worte be
gierig einsaugen. Den also erregten Antheil wach zu erhalten,
diesem Zwecke dient ein anderes Kunstmittel. Der Hörer wird
zu ernster Mitarbeit gezwungen durch die Häufung ungewöhn
licher, Worte und schwierigerer Constructionen, die den Geist
beschäftigen, während der mit starkem Selbstgefühl gesättigte
schneidig-polemische Ton die Erwartung des Publicums hoch
spannt und sein Interesse nicht erkalten lässt.
Nicht wenig bezeichnend für den Autor ist der Gegen
satz, in welchen er die eigene coatr, und rcatSefa) zur Lropu]
seiner Gegner stellt. Wer diese waren, ist uns zu wissen
nicht vergönnt; aber es müssen wohl berufsmässige Gelehrte,
wahrscheinlich Vertreter einer eigentlichen Philosophenschule
gewesen sein, vielleicht solche, welche den Betrieb der xeyyai auf
eine neue, wissenschaftliche Grundlage zu stellen beanspruchten
und die bisherige Ausübung derselben als blosse handwerks-
mässige Routine (-tptßvj) bezeichnen mochten. In Betreff der
Heilkunst geschieht etwas Derartiges durch den Verfasser der
Schrift Ilspt Siam);, wie das Anm. 1 zu S. 35 Mitgetheilte zeigen
kann. Man wird an die schmähende Aeusserung Heraklit’s
über Pythagoras erinnert (Fgm. 17 Bywater, vgl. auch 16), in
welcher die tciopir, so ziemlich mit unfruchtbarem Vielwissen
identificirt wird. Das Wort bedeutet in jener Zeit so viel wie
Wissenschaft und Erudition überhaupt im weitesten Sinne, vgl.
z. B. Euripides Fgm. 910 N 2 . In pythagoreischen Kreisen ward
die Geometrie so genannt, denn dies ist der Sinn der von
Tannery (Archiv für Gesch. der Philos. I 29) meines Erachtens
missverstandenen Worte des Jamblichus De vita Pythagorica
p. 66, 11 Nauck: iv.aXüxo 3s yj ysugsTpfa riuOayöpou IcTopia.
Das heisst, sie galt als die Wissenschaft par excellence, genau
so, wie das Wort gaOr^a-ca seine Bedeutung verengt hat; in
geringschätzigem Sinne gebraucht den Ausdruck iovoptv; auch
der Verfasser von De prisca medicina dort, wo er gegen die
Phantastereien der Naturphilosophen vom Schlage des Empe-
dokles ankämpft, 20 (I 622 L.). Der Anklang an das Wort
Die Apologie der Heilkunst.
97
des Ephesiers gewinnt dadurch an Bedeutung, dass dieser dem
Pythagoras vorwirft, er habe xoXup.aÖiV, und y.yy.cTsyv'r, zu seiner
uo<p> ( gemacht, zumal wenn man die y.ct•/.o-r/vi'v] mit mir (Zu
Heraklit s Lehre u. s. w. S. 8—9) auf die Eloquenz des sami-
schen Weisen bezieht, während auch hier neben die loropw)
sehr bald die Xoym oü xaXüv xiyyr, tritt, was nur eine höflichere
Umschreibung eben der y.ay.o-eyybj ist. Ich will nicht be
haupten, dass dem Verfasser jener Satz aus der Schrift des
,Dunkeln' vorgeschwebt haben muss, vielmehr kann die gleich
artige Ausdrucksweise dem gleichartigen Gegensatz entsprungen
sein, in welchem sich der gewitzte und von seiner geistigen
Ueberlegenheit durchdrungene Autodidakt den schulmässigen
Vertretern der damaligen Wissenschaft gegenüber befinden
und empfinden mochte.
Wenden wir uns zur Form des Ausdrucks, so fällt es
auf, dass die Eingangsworte dieselben sind, mit welchen auch
Isokrates seine 3. und seine 10. Rede begonnen hat (eiet ttve?
o'i oucy.oXw? eyoüci zts. , elai tivs<; ot pieya cpovouciv zte.). Weniger
stark ist der Anklang im Eingang der pseudhippokratischen
Schrift De flatibus: eiet Ttve? t<5v te/vscov oii zts.
t'o TÖtq -iyyac aioypoExsiv]. Die hier zum ersten Male er
scheinende Substantivirung des Infinitivs ist unserem Autor
sehr geläufig, noch weit mehr als Herodot (vgl. Heilmann,
De infinitivi syntaxi herodotea, Giessen 1879, p. 62 sqq.). Er
stimmt hierin mit Antiphon überein (vgl. Birklein, Die Ent
wicklungsgeschichte des substantivirten Infinitivs in Schanz’
Beiträgen zur histor. Syntax, lieft 7, Würzburg 1888, S. 73),
desgleichen mit Thukydides, der diese Constructionsweise,
zumal in den Reden, ungemein häufig anwendet (vgl. Behrendt,
Ueber den Gebrauch des Infinitivs mit Artikel bei Thukydides,
Berliner Gymnasial-Programm 1886, insbesondere S. 22—23).
Auch in zwei sehr alten Bestandtheilen der hippokratischen
Sammlung, dem Buche De fractis und seiner Fortsetzung De
articulis, welche letztere jedenfalls bereits Ktesias kannte (Littre
I 70, 334, 338), begegnet diese Construction keineswegs selten,
wie Uthoff, Quaestiones Hippocraticae p. 37, gezeigt hat.
Das nur durch A erhaltene, in den übrigen Handschriften
durch Glosseme verdrängte aioyposxeiv erscheint in den auf
uns gekommenen Ueberresten der griechischen Literatm - —
Sitzungsbor. d. pbil.-liiöt. CI. CXX. Bd. 9. Abh. (
98
IX. Abhandlung: Gomperz.
von den Lexikographen abgesehen — nur noch einmal, in der
Philyra des Komikers Epliippos (III 339 Meineke = II 263 Kock).
wc piv oiovrat oü touto StaxpY]oaop.evot 5 syw Xsyw, äXXd loropw)q
®k.e[yjs exßsijtv xoteüp.svot], Die von Littre angenommene Lesart
einiger Pariser Handschriften: w? p.ev oiovrat ot touto Staxpvjaoö-
p.svot oü/ o syio Xiyw aXX’ — xotsüp.svot ist glatt und gefällig,
für unseren Autor vielleicht in allzu hohem Masse, entbehrt
aber jedenfalls aller urkundlichen Gewähr. Denn dass oü/ o
auch vom Monacensis, von Zwinger in margine und vom
Exemplum Fevrei dargeboten wird, will nichts besagen. Die
Worte w? p.sv oiovrat muss man stark betonen, um, was ihnen
,an äusserem Umfange abgeht, an Nachdruck und innerer
Kraft' zu ,ersetzen' (Otfr. Müller, Gr. Literaturg. II 394). Der
paraphrastische Ausdruck exlBe^tv xotsüp.svot, womit man ver
gleiche 3: ty)v axöBcStv xoiv)Gop,at, erinnert an die zahllosen der
artigen Umschreibungen bei Antiphon (vgl. darüber Ottsen,
De Antiphontis verborum formarumque specie, Rendsburger
Gymnasial-Programm 1854, p. 8), desgleichen bei Thukydides,
— wo Betant’s Specialwörterbuch s. v. xoteTv massenhaftes
Material darbietet — eine Eigenthümlicbkeit, die schon die Alten
frappirt hatte, wie Alexander De figuris (Rhet. Graeci, ed.
Walz VIII 469 = III 32 Spengel) lehren kann. Hier wird
die Umschreibung t-<)v p.dO'pGtv sxotsiGÖs statt sp.avOavsTs (Thuc.
I 68, 2) mit der Bemerkung angeführt: xoXu os to c/vjp,et
xapd tw dvopt toütw (1. touto). Dasselbe Streben nach Fülle
des Ausdrucks verrathcn die zahlreichen Paraphrasen mit
oaivop.ai (nicht weniger als vier in 6 — vgl. Antipho V 22:
tpaivop.at tov xl^oüv xotr)otxp.svo<; —), S-qjj.tojpYoT? sivat statt Svjp.toupYsiv
u. dgl. m. Diese Gebrauchsweise ging auch auf die jüngeren
Redner über (vgl. Isokrates IV 17 und XV 147).
ep,ol os to p,sv Tt twv p.r, eüp7)p.svwv sqeupiV/.siv o Tt y.a't süpsOsv
y.psoaov i) ävsijsüpSTOv, guvsgio? Soy.si sxtOup.rjp.d ts y.at spyov sivat, zat
to Td ^ixtspfa iq TsXop s^spyalisGOai (baaÜTw?]. Dass süpfaxstv und
sijsuptGy.stv zugleich ,erfinden' und ,entdecken' bedeutet, was
die Ucbersetzung nicht wiederzugeben vermochte, braucht
kaum gesagt zu werden. Man darf vermuthen, dass der so
selbstbewusste Verfasser auch sich selber manche Erfindungen
und Entdeckungen zuschrieb und an diese Bethätigung seiner
croipb) im Gegensatz zu der mehr passiven laiopiq seiner Gegner
Die Apologie der Heilknnst.
99
beiläufig erinnern wollte. Doch dem sei, wie ihm wolle, jeden
falls war dies ein hei den Sophisten beliebter xö~oc, an welchen
Plato Protagoras 320 b : 8i& xo r l -(etaf)cd cs tuoaXojv p.ev qj.Tteipov
Ye^ovevai, ixoXXa 3e p,ep.a9v)xivai, Ta 31 aüx'ov sgeuprjxevat und Iso-
krates XV 208 erinnert: v.od xpeaßixepov y-ai wjXaöv TpaYH-aTuv
ejwteipov, y.a: xa p,ev itapsiXYj^oxa, xa S’ aux'ov supyjxöxa — zwei
Stellen, auf deren auffällige Uebereinstimmung bereits Diels
(Doxographi, p. 258) hingewiesen hat. Vielleicht gehen sie
auf ein gemeinsames Original zurück, auf die ruhmredige
Aeusserung eines Autors, den wir nicht weit von dem unsrigen
zu suchen haben mögen. — Wie wenig es noththut, mit Littre
ein f : nach y.peocrov einzuschieben (sprachrichtig wäre übrigens
nur scx't), kann zu allem Ueberfluss der Hinweis auf die bei
Homer und in Orakelversen so häufig begegnende Wendung
o)q yap äp.stvov u. dgl. oder auf Heraldit Fgm. 108—109 By water
lehren, gleichviel ob wir xpöitxeiv ap.a0iY)v xpecuov oder «p.xGiyjv a'p.etvov
xpfowsty für die ursprüngliche Fassung jenes Ausspruchs halten.
— sTCiGup.-pp.a ist ein ungemein selten vorkommendes Wort,
von welchem Pollux XII 183 anzumerken nöthig fand, dass
Antiphon — die Fragmentsammlcr denken hiebei an den
Sophisten dieses Namens — es gebraucht habe.
güvec!? ist ein Lieblingswort unseres Autors, welches er
ebenso emphatisch zu gebrauchen pflegt wie Euripides, der
Schutzfleh'. 203 die ,Vernunft“ als die höchste Gottesgabe preist
(icpüxov p.lv evQs’c cüveciv), daher ihn auch Aristophanes Frösche 893
die Vernunft als Göttin anbeten lässt, oder wie Thukydides,
der IV 81 von der Vernunft und Tugend des Brasidas spricht
(v) xöxä Bpacfäou äpsxYj xa: 1;6ve<jis, dieselbe Verbindung VI 54)
und, nebenbei bemerkt, das Wort, von dem häufigen cjvsxo?
und cjysxdv abgesehen, nicht weniger als dreizehnmal (darunter
sechsmal in den Reden) anwendet. In unserer Schrift erscheint
es fünfmal, d. h. häufiger als im ganzen Plato! Denn wenn
man von den eilf Stellen, welche Ast im Lexicon Platonicum
namhaft macht, die zwei abzieht, welche den anerkannt un
echten ’Epaxxa: angehören, ferner die sechs (Cratyl. 441 a bis,
412 a , 412°, 437 b , Sophist. 228 d ), an welchen das Wort eben
nur als solches in etymologischen Erörterungen erscheint, des
gleichen Phileb. 19 d , wo die Ausdrücke für ,Einsicht“ u. s. w.
aufgezählt werden, endlich Phädrus 232°, ,wo der lysianische
100
IX. Abhandlung: Gomperz.
'Epbmv.iq es darbietet, so bleiben nur drei Stellen übrig. Eine
von diesen, an welcher es heisst, dass der Mensch alle anderen
an aüveai? übertreffe, gehört dem rhetorisch gefärbten
Menexenos an (237 a ), an der zweiten wird das Wort von der
Verständigkeit der Hunde gebraucht (Staat II 376 b ), und nur
Politic. 259 c wird d'U/vj? cü.veat; v.al p<i>|a.Y) der Kraft der Hände
und des Körpers überhaupt entgegengesetzt. Man könnte vor
erst vermuthen, dass der Ausdruck als ein Sckiboleth der Auf
klärer Plato ebenso unsympathisch war wie etwa der ,Verstand'
unseren Romantikern. Und wenn die einzige Stelle, in welcher
nichts von dieser Antipathie zu merken ist, Plato’s letzter Stil
periode angehört, so stimmt dies aufs beste zu unserer Beob
achtung, Anm. 1 zu S. 11, dass der Philosoph in den Erzeug
nissen derselben Wendungen und Ausdrücke gebraucht, die er
in früheren Werken gemieden oder verspottet hatte. Allein die
Sache steht ein wenig anders. Das Wort scheint der attischen
Umgangssprache fremd gewesen zu sein; mindestens fehlt es in
der Komödie vor Menander (denn die zwei Stellen, wo Aristo-
phanes es bei der Verspottung des Euripides gebraucht, Frösche
893 und 1483, sind eben die Ausnahme, welche die Regel be
stätigt), und von den Rednern wenden nur Isokrates u. z. im
Encom. Helen, (also in einem nicht zu wirklichem Vortrag be
stimmten Stücke) 56 und Aeschines adv. Ctesiph, 260 es je ein
mal an, der Letztere in einer schwülstigen Anrufung, die den
Spott des Demosthenes herausfordert, De cor. 127. Hingegen ist
das für Plato so charakteristische EracTVjp.Yj unserer Schrift völlig
fremd. Seine Stelle nimmt eben guvegic und das oft gebrauchte
alterthümliche Yvup.v) ein.
oüxiTi ouvsaio? Soy.st sraOöp.Yjp.d ts v.at spyov etvai, aWa xsowc^Y 6 ' MY i
pöXXov cpuaio? f\ ctxeyyw)]. Die Wortstellung in AM erzeugt den
Hiat, welchen das ooyist Suvecioc der Recentiores vermeidet.
Allein unser Autor geht dem Hiat noch nicht consequent
aus dem Wege, wie eben dieselbe Wortverbindung Sozei
EraQ6p.Yji.ia einige Zeilen vorher und bald auch y.oafo) ÜTroopYew
lehren kann. y.ay.ayyeXw;, was wieder nur A bewahrt hat und
Galen im Glossar bestätigt, wenn er gleich das Wort falsch
erklärt (XIX 107 Kühn: xoncaYYeXbp y.ay.opp-/jp.oGÜv(j. %a%oko-(£«),
ist der Literatur im Uebrigen fremd (nur bei Manetlio, Apo-
telesm. IV 556, wollte Lobeck zu Soph. Aias V. 704 es her-
Die Apologie der Ileilkunst.
101
stellen): doch erscheint das Adjectiv bei Aischylos, Agamemnon
614 Kirchhoff = 641 Wecklein: xazayysXu yXüooy), das Verbum
vaxayyeXsiv im Frg. trag, adesp. 122 N 2 . Die Hypallage swaayysXiYj
<p6«o;, wo wir eher äyysXb] xaxrjq <c6moq erwarten, ist von einer
Kühnheit, die in der Prosa kaum jemals, um so häufiger in der
Poesie angetroffen wird; vgl. Soph. Antig. 794 'levxoc, avSpüv ;uva:p.ov,
Trach. 817 fjeqxpuov cy/.ov ovop-axo? und Aias 8 (mit Lobeck’s
reichen Sammlungen), 53, 860, auch Bernhardy, Wissenscli.
Syntax 427. Von gleicher Kühnheit sind Ovyj-coc yevr, und txxyjv'oc ouy^
in Plato’s Nachbildung protagoreischer Diction (Protag. 320 c_e ).
Der Gegensatz von tpüot<; und xs^vr;, von Naturanlage
und geschulter Einsicht, der die Geister in jenem Zeitalter
lebhaft beschäftigte, wird uns noch mehrfach begegnen.
Das Substantiv dxe*/y(a erscheint hier wohl zum ersten Male in
der griechischen Literatur, wenn nicht etwa der pseudhippo-
kratische Nop.o; älter sein sollte. Beiläufig bemerkt, die jener
Stelle: SstXfv) äSuvap.trp; 'oY)|Aa(vet, OpaouTY}? 5s axsjrvivjv nachfolgenden
Worte [IV 642 L.] sind, soviel ich weiss, noch nicht erklärt oder
geheilt worden. Der Sinn kann nur dieser sein: es gibt zweierlei
Arten von Muth; der eine ist die Frucht der Einsicht, der
andere jene der Unwissenheit. Sicherlich sind die Worte eKurr^j.-r]
xe -/.od So?a mit der besten Handschrift zu tilgen. Im Uebrigen
weiss ich eine völlig sichere Besserung des Ueberlieferten: 36o
ydp. uv xb p,sv eiclaxaaöai Tuo'.et, xb cs äyvoetv, nicht zu empfehlen,
aber der Sinn muss derselbe sein, als ob geschrieben stünde:
Sitjal yäp, uv xvjv p.ev xb sitiaxsraOai sp.xoiet, tv;v ob xb dyvoejv. Vielleicht
genügt es, mit engerem Anschluss an die Ueberlieferung zu
schreiben: Suo ydp (denn es gibt zweierlei Arten), uv xb piv xb
ETuoxasOai spLoxotst, xo 3. x. d. Der zwiefache Muth, nämlich die
der Unkunde entspringende Keckheit — vgl. Tliucyd. II 40, 3
— und ihr Widerspiel, die berechtigte Kühnheit, erinnert an
die zwiefache spt? des Idesiod ixr t . 11 ff., die zweigetheilte
Scham bei Euripides Hippol. 385 und gleichfalls schon bei
Hesiod s*/.y;. 316, die doppelte Liebe bei Euripides Fgm. 38b N 2 ,
nicht minder an den doppelten Neid beim Sophisten Hippias,
Fgm. Hist. Graec. 1162, 13. Dass das Wort in den Kreisen der
Rhetoren und Sophisten aufkam, dazu stimmt auch seine früheste
Verwendung bei Plato, Phaedr. 2/4 b , wo lisias apostrophirt
wird, ausserdem begegnet es nur Phaedo 90 b und Sophist. 253
102
IX. Abhandlung: Gomperz.
e? xb tos töv xsXa? epya ^ op0a eövtcz SiaßdXXstv v) ouv. öpöa
(AwjjiswGat]. xeXa? und zumal der substantivirte Gebrauch des
Wortes kann kaum als attisch gelten. Es fehlt der attischen
Komödie bis auf Alexis durchaus, und auch Plato verwendet
dasselbe erst in seiner letzten Stilperiode (Gesetze und Philebos).
Hingegen ist es der Tragödie von allem Anfang an geläufig,
nicht minder dem Thukydides und Antiphon, welche in diesen
und anderen Stücken nicht die eigentliche attische Umgangs
sprache vertreten, während die übrigen Redner (von Isokrat.
XIV 47 abgesehen) es nicht kennen, hingegen gleich Plato
itXijoi’ov vielfach, substantivirt und nicht substantivirt, ge
brauchen.* ,Die Schärfe des Wortgebrauchs', die für unseren
Autor so bezeichnend ist, zeigt sich hier darin, dass er das
Verbum StaßaXXu, welches häufig auch in der alten Sprache
im Sinne des Verhetzens, Verfeindens, Verhasstmachens ange
wendet wird, in seine mehr specifische Gebrauchssphäre des
Verschwärzens und Verleumdens einzuschliessen sucht. Das
Streben nach scharfer Abgrenzung synonymer Ausdrücke,
welches für Prodikos so charakteristisch ist, konnte natürlich
auch einem Schriftsteller nicht fremd sein, dessen Stärke in
der Proprietät des Ausdruckes lag und der, wie unsere
Schrift ausreichend darthut, für die Unterschiede der Wort
formen eine so ungemein starke Empfindung besass; vgl.
Einleitung.
o'.ot piXet Ti y.a\ wv p.eXei oi Suvap.Evot •/.mXüovtojv], Der Re
lativsatz oioi-piXst vertritt einen Genetiv (vgl. Krüger, Gr.
Gramm. 51, 13, 4). Aehnlich 8: St 8’ sz'.'/.oupbjq osiTat \i.v{£kr\<;,
(toutwv) ol% axTovTac oder 11: y„ai ooa .... xccc^cuaiv, (toutojv) ou/ ol
OspaxsuovTsc aÜTobc alvioi. Zahlreiche analoge Fälle begegnen
schon von Homer angefangen, vorzugsweise, wenn ich nicht
irre, bei Thukydides; vgl. Krüger’s grammatisches Register
s. v. Demonstrativ. Man vergleiche auch Antiphon VI 47,
Tetralog. Ta 6 (mit Mätzner’s Bemerkungen p. 186—187 und
274). Das Phänomen scheint, insofern es sich um oblique
Casus handelt und das Relativpronomen in einem andern als
* Auch Rutherford (The new Phryniehus p. 28) gedenkt im Allge
meinen der Thatsache, dass d).a; had in the development of Attic been to
a great extent superseded by xXrjtrfov‘.
Die Apologie der Heilkunst.
103
dem vom Verbum des Hauptsatzes regirten Casus erscheint, im
Grossen und Ganzen gleich sonstigen Merkmalen einer lockereren
Syntax der älteren Sprache mehr zu eignen als der jüngeren.
o Be napswv hoyoq toi? hq iyprpavjv ep,TOpeuo|Aevoi(; evayTicoieTai].
Das schon durchCornarius’ ,qui...irruunt* richtig wiedergegebene
epropeuopivoii; ist bereits im Alterthum, wie die in mehreren
Handschriften, vor allem dem Vaticanus 277 und seinen Ab
kömmlingen aufbewahrte, auch von Sambucus seinem Exemplar
beigeschriebene Erklärung zeigt, gröblich missverstanden worden.
Man hat das Wort nämlich auf banausischen Handelsbetrieb
und Handelsgewinn bezogen, etwa wie es in dem bekannten
Spottvers: Xofowiv 'Epp-BBcopo? sp.-opsüsT'zi angewendet ward. Die
verkehrte Glosse ist übrigens nicht einmal richtig überliefert
worden, weshalb ich sie hieher setze: ep/rcopeuopivoii; - y.a0o3<gtopouai
yipoouQ eXeuQspou (1. äveXeuOepou) ydpiv■ "Op.vjpc? fäp ®Y]aiv epwtopo?’
ou yotp vv]bq ewijß0X0? oüB’ epemm (ß 319). Wenn die Glosse
wirklich auf Erotian zurückgeht, wie dessen neuester Heraus
geber annimmt (Erotianus ed. Klein p. 24), so macht sie seinem
Scharfsinn blutwenig Ehre.
0paffuvop.evo? piv Bia toütouq oüq tiefet, eÜTropeiov Be Bia ty]v tiyyrp)
f ßor,0el, Buvdp.cVo<; Be Bia aoipwjv vj iteuai'BeuTai]. Das Isokolon,
welches den ersten Abschnitt würdevoll abschliesst, erwächst
hier, wie stets bei unserem Autor, aus der Architektonik
des Gedankens. Es ist kein blosser Aufputz und Zierat,
sondern die innere Gliederung der Rede gelangt auch äusser-
lich zu strengem Ausdruck. Es stehen coordinirt neben ein
ander: der Muth, welchen dem Redner die Beschaffenheit der
zu bekämpfenden Gegner einflösst; der Reichthum an Argu
menten, den er aus der Natur seines Gegenstandes zu schöpfen
vermag; endlich die eigene geistige Ueberlegenheit, welche
jene Argumente zu erkennen und zu verwerthen versteht und
die sich ihrerseits wieder aus beherrschender Einsicht (co<p(a)
und erworbener Kenntnis und Schulung (itaiBefa) zusammen
setzt. Dass der Sprecher keinen Anstand nimmt, sein starkes
Selbstgefühl so unverhohlen zur Schau zu tragen, darf uns
nicht allzusehr befremden. Der Sophist, der staatlicher Aner
kennung und Unterstützung ermangelte, war im harten Kampfe
um Geltung und Existenz ganz besonders auf rücksichtslose
Verwerthung seiner Kraft angewiesen. Auch der Rhapsode
104
IX. Abhandlung: Gomporz.
Xenophanes preist die eigene Weisheit: co®!r] (frg. 2
Bergk); selbst der aristokratische Heraklit tritt mit einem für
unser Gefühl verletzenden Aplomb auf; das Schulhaupt Demo-
kritos rühmt sich dreist der von ihm unternommenen weiten
Reisen und seiner von Niemand übertroffenen Leistungen in der
Geometrie (Clem. Strom. I 15); ja auch Plato ist nicht blöde,
wenn es den Glanz seines Hauses zu verkünden gilt (xai5e<;
’Apkxcovoq, y.Xstvoü östov yi'ioq dvSpop Staat II 368 a ).
2. Ueber den Gedankengehalt dieses Abschnittes habe
ich bereits in der Einleitung gehandelt. Ehe ich hier weiter
darauf eingehe, müssen zwei Textesänderungen, die ich vor
genommen habe, gerechtfertigt werden. In dem Satze: ytvto—
cy.iTa: xolvov osSs-jp.evwv rjcr; (doea) tuv ts/vewv habe ich mit eini
gen Vorgängern slssa aufgenommen, ohne jedoch das voll
kommen passende vjov) zu beseitigen. Dass der Satz eines Sub-
jectes bedarf, dass dieses kein anderes sein kann als eben el'äea,
da sonst das folgende y.a'c ouSepda etjxiv ys sy. xivo? eiSso? ou/ öpäxat
jeder logischen Anknüpfung entbehrt, dass endlich der Textes
fehler aus der Schreibung el’Srj entstanden ist, welches als Dit-
tographie von ijär, galt und demgemäss getilgt ward — dies
alles braucht freilich bloss gesagt und nicht erst weitläufig be
wiesen zu werden. Desgleichen muss die Verbindung cpcctc; vop.c-
0£xr ( p.axy an sich und zumal mit Rücksicht auf den jenes ganze
Zeitalter beherrschenden Gegensatz von ®ict? und vcp,oq als un
möglich gelten. Ich habe demgemäss o6c:oc, welches man über
dies bei ßXacnjp.axa nur schwer entbehrt, an den Schluss gesetzt.
Das Wort war offenbar einmal ausgefallen, ist dann an den Rand
geschrieben worden und schliesslich an eine Unrechte Stelle
gerathen. Dass der überlieferte Text unhaltbar sei, diese Ein
sicht war bereits Daremberg aufgedämmert (Oeuvres choisies
d’Hippocrate 2 p. 39), ohne dass er sie jedoch festzuhalten oder
zu einer befriedigenden Herstellung zu verwenden wusste.
Der Beweisgang des Abschnittes lässt sich wie folgt
auf seinen einfachsten Ausdruck zurückführen: Was wahrge
nommen wird, ist wirklich; die Künste werden wahrgenom
men; also sind sie wirklich. Der Schwerpunkt dieser Argumen
tation und zugleich das allein Werth volle und Interessante
an ihr liegt im Obersatze, nicht in dem Unter- und in dem
Schlusssatz. Die bereits so oft von uns berührte mangelhafte
Die Apologie der Heilkunst,
105
Unterscheidung zwischen den Functionen der Wahrnehmung
und des Schliessens hat es bewirkt, dass eine Theorie, die ur
sprünglich den Objecten der sinnlichen Wahrnehmung galt,
durch gelegentlichen Missbrauch auch auf das Gebiet der Ab-
stractionen ausgedehnt wurde. Ich wende mich zur Erklärung
des Einzelnen.
Aozst b-q p.o'. tb fj.sv crup.Tav teyy-q elvat ouBepia oux. eouaot]. Man
könnte zunächst versucht sein, hierin eine blosse Tautologie
oder höchstens eine Einschärfung des Satzes des Widerspruches
zu erblicken: ,Eine Kunst kann nicht zugleich sein und nicht
sein/ Allein der Ausdruck wäre in diesem Falle ungeschickt
gewählt; die Negation stünde an unrichtiger Stelle, und ein ajj.a
Hesse sich kaum entbehren. Entscheidend aber gegen solch eine
Deutung ist die ganze nachfolgende Begründung, von eitet xßv
ye ;j.v) eövxtov angefangen. Aus ihr folgt klärlich, dass elvat im
ersten Satze im Sinne der Copula zu verstehen ist, und
dass derselbe nichts anderes besagt als: Ich behaupte, dass
die Künste überhaupt in Wahrheit existiren, dass sie keine
Scheingebilde, sondern Realitäten sind. Zur Form des Aus
drucks vergleiche man Aristides Teyvöv prjxopaöv B 7 (Rhet.
gr. ed. Spengel II 517), wo zur Eingangsphrase des xenophon-
tischen Symposions: : AXX’ eptotye Soy.et (unsere Texte geben:
iW eptot Soxet) bemerkt wird: ei ok 6mo övo|j.axo<; a&wj» X6-
yoc airoipaVTtzou, otov So/,et S’ eptotye, ay.XYjpöxepoc äv eyevsxo 6 Xöyoq
y.at ptaXXov Kptxtou eSotjev av elvat ! q tivo? xwv xotouxwv. Man ver
gleiche hiermit eine andere Bemerkung desselben Aristides
ebene!, p. 530, wo wieder einem xenophontischen Satz (Symp.
I 4) die Form gegenüber gestellt wird, welche derselbe bei
Kritias oder bei einem der alten Sophisten gewonnen
hätte: oTov ptaXXov xotooe, w? et axpaxrjyo'it; y.at titic apyon; y.at
o-ouoäp/at?. et Se au xo evavxiov auXXaßiov eXeyec, (Wet ooot piv tou?
xoioutou? elvat Xeyovxat (überliefert ist et Xe'yovxat, worin ich
ErAErONTAI, d. h. exXeyovxat erkenne), oü? av opßatv ap/at; xe
y.at xtpaR -/.st xotaöxat? Suvetpeot TtXeov xt xwv aXXwv üwepatpovxa?, oti
p.ot ooy.ouatv öpGß? itoteÜv, KptTtou p.äXXov 5 xotoüxo^ xpöitoi; eoocjev etvat
'q xtvo? xöv ötpyatwv gooigtüW. Dieselbe Art der Anknüpfung, die
gelegentlich freilich auch bei einem medicinischen Fachschrift
steller begegnet, wie es der Verfasser der Schrift fiep! b'.airqc
öijstov ist (II 238 L.: Sötte! 2e p.ot a§ta ypao'^; elvat y.xe.), erscheint
106
IX. Abhandlung: Gomperz.
noch einmal in unserem Abschnitt: olgat o’ zyuye, desgleichen 5
(S. 46, 9). Wie nahe auch im Uebrigen die Manier des Kritias
derjenigen unseres Sophisten stand, kann seine Charakteristik bei
Philostratos, Vitae sophistarum I 15 (II 19 Kaiser) zeigen: xr,v
Ss ioeav xou koyou SoYgaUaq 6 Kpixi'a? y.ai zoXuYVi&gwv cregvoXo-
Y^cat ts Ixaviircaro; oü xyjv SiGupagßwäY) asgvoXoYtav ouBs xaxa^sÜYou-
aav kq xa kv. ^o'.’qzv/.riq ovogaxa äXX’ kv. xüv y.upiuxäxwv aoY - /.eigeVY]v
y.ai y.axa <p6cnv s/_ouoav y.ai xb -apaoö^w? gev evGogijGijvai, TCapaSo;wc
5’ ä^aYYsiXai —. Alles in Allem scheint Kritias als Stilist unse
rem Airtor und zugleich dem Protagoras, insoweit wir aus den
Berichten der Alten und der carrikirenden Darstellung bei Plato
ein Bild seiner Redeweise gewinnen können, ungemein nahe
gestanden zu sein, weit näher als dem Gorgias, von welchem
ihn der massige Gebrauch schmückenden und poetischen Bei
werks scharf unterschieden haben muss; vgl. auch Hermogenes,
De figuris II 11 (II 415—416 Spengel). Wenn Philostra
tos (II 12 Kaiser) den Einfluss hervorhebt, welchen Gorgias
bei seinem Auftreten in Athen auf ihn geübt haben soll, so
mag die Nachricht gerade so authentisch sein wie die andere,
dass der sicilische Sophist damals (427) auch den zwei Jahre
früher verstorbenen Perikies entzückt habe.
ei Y<*p Sy; ecxi y’ ioetv xa pivj eövxa SiKp xa eövxa, oüy. oiS’ ozw?
äv xu; aüxa vogtaeis |j.yj eovxa, ä ys ec/; y.ai oiOaXgoiotv iSelv y.ai Y vt ^l J/ fl
vüaai 6; ecxiv], Stünde dieser Satz vereinzelt da, so könnte man
glauben, der Standpunkt seines Urhebers sei der der Kyrenai-
ker; er sei Phänomenalist, und objectives Sein sei ihm nur
ein anderer Name für subjectives Empfinden (göva xa rAO-q y.axa-
XYjxta elvat). Allein das nachfolgende Sätzchen: «XX’ crMq gv;
oüy. •/; xoüxo xoiouxov widerlegt diese Auffassung. Es zeigt, zumal
durch seine nicht apodiktische Gestalt, dass der Autor die
Voraussetzung, es gebe auch ein Schauen von Unwirklichem,
zwar missbilligt, aber doch nicht für ungereimt und sinnlos
hält. Er leugnet, dass dieses Verhältnis, aber nicht, dass
irgend ein Verhältnis zwischen Wahrnehmung und Existenz
bestehe. Beide gelten ihm nicht als identisch, er sucht viel
mehr hinter der subjectiven Wahrnehmung ein objectives Sein.
Der Kern jenes Satzes ist mithin dieser: wenn es ein Schauen
von Unwirklichem gäbe, so würde uns jedes sichere Merk
mal der Unterscheidung zwischen Wirklichem und Unwirk-
Die Apologie der Heilknnst.
107
lichem fehlen. Zur Form des Satzes sei nur bemerkt, dass
ich die von MR dargebotene Schreibung oipÖaAp.oioiv iSeiv der
jenigen in A: öioöxXp.ou; toslv vorgezogen habe, aus dem einfachen
Grunde, weil unser Autor den Anklang an hexametrisches
Mass weit mehr aufsucht als meidet, und die Annahme, es habe
ihm hier die Erinnerung an das homerische ö<p0ahp.ol<uv iSw, t'Swjxai,
tSeoöai vorgeschwebt, als wahrscheinlich gelten kann; auch die
Verbindung von und vorjcat stammt übrigens schon von
Homer her, vgl. E 475: xwv vüv ou xtv’ e-yw tosetv o'jvajj.’ oü§s
vor) erat.
vtvwoy.exai xotvuv SeoeYpivwv rjSr) (sl'äea) xöv xs/vewv, y.ai ooBe.uta
sortv rj ys ex. xivo? etäeo? oi)/ opäxat]. Ich bemerke im Vorüber
gehen, dass Setiy.vajjt! im Sinne des Erfindens oder Entdeckens
hier ganz ebenso gebraucht ist wie bei Sophokles frg. 399, 7 N 2 ,
wo es von den heilbringenden Erfindungen des Palamedes
heisst: ISstijs •xavsp’rjVEV oü SsostYlAsva, und wende mich zur
Erklärung der d'Sea. In Betreff derselben lässt sich vorerst
mit Sicherheit sagen, was sie nicht bedeuten können. Es sind
keine platonischen Ideen, wie gar Manche, welche unsere
Schrift nur gelegentlich eingesehen haben, darunter befremd
licherweise auch Zeller II l, 4 630, Anm. 2, gemeint haben.
Dies erweist sich als durchaus unmöglich, selbst dann, wenn
man die sämmtlichen von uns für das höhere Alter der Schrift
vorgebrachten Argumente für nichtig halten sollte. Vor allem,
der Verfasser wendet sich an ein grosses Publicum, nicht an
die Anhänger einer Schule. Der Schwerpunkt seines Beweises
liegt in dem metaphysischen Hauptsatze: xa p,sv eovxa aei opaxa:
xe y.a: 'f.vü)r/.£xat. Mit ‘{WÜGY.s.tca xotvuv erfolgt die Anwendung
des allgemeinen Satzes auf einen besonderen Fall; diese enthält
augenscheinlich einen Appell an das unmittelbare Bewusstsein
eines jeden und kann nicht erst wieder eine Lehre in sich
schliessen, die niemals allgemein anerkannt und den weiteren
Kreisen der Gebildeten sicherlich nicht geläufig, ja kaum ver
ständlich war. Auch wird der Beweisgang unter dieser Vor
aussetzung vollkommen unverständlich. Denn wenn das Da
sein der Heilkunst aus dem Dasein ihres Urbildes gefolgert
wird, wozu bedurfte es dann jenes Umweges durch die mit so
grossem Nachdruck vorgetragene Lehre: Alles Wirkliche wird
geschaut und erkannt, nichts Unwirkliches wird geschaut und
108
IX. Abhandlung: Gomperz.
erkannt? Ferner: die Erkenntnisslehre unseres Sophisten ist
durch eine nicht zu überbrückende Kluft von derjenigen
Plato’s getrennt. Dieser verwirft die Realität der Sinnenwelt,
jener erkennt sie im vollsten Masse an; bei diesem klafft ein
gähnender Spalt zwischen Sinneswahrnehmung und geistiger
Erkenntniss, jener vermag die beiden kaum zu trennen und
stellt sie zum mindesten als völlig gleichberechtigt nebenein
ander (ö®0aXp.oTaiv iSstv v.al y v F-TJ vüuai). Doch genug und
mehr als genug. Nur die Hochachtung, die wir vor Zeller
auch dort, wo er uns zu irren scheint, empiinden, hat uns ge-
nöthigt, das auszusprechen, was jeder, der die Schrift mit
einiger Aufmerksamkeit liest, sich selbst sagen muss. Es thut
nicht Noth, hier die Geschichte des Wortes eIBo; zu schreiben
und zu zeigen, wie dasselbe von seiner Grundbedeutung An
blick oder Ansehen aus allmälig dazu gelangt ist, das Son
dergepräge eines Dinges oder einer Gruppe von Dingen, ein
mal objectiv als Form oder Artung, ein andermal subjectiv
als Begriff oder Gemeinvorstellung gefasst, dann die durch ein
solches Gepräge gekennzeichnete Gruppe selbst, gelegentlich
das zu ihr gehörige Einzel-Ding oder -Wesen als Vertreter der
selben, schliesslich auch das vorausgesetzte Urbild der Gruppe
zu bezeichnen. Nur das Eine sei bemerkt, dass der Sprach
gebrauch unserer Schrift eine Mittelstufe dieser Entwicklungs
reihe bezeichnet, ungefähr gleich weit entfernt von ihrem ho
merischen Ausgangs- wie von ihrem platonischen Endpunkte.
Nicht nur ist dem Autor eloo? kein platonisches Urbild, auch
von der classificatorischen Verwendung des Wortes, von dem
•tep-vetv 7.7-’ sI'Syj und der Unterordnung des e13o; unter das um
fassendere ysvo?, ist hier keine Spur zu finden. Der letztere
Umstand verhindert uns, etSvj an zwei Stellen des sechsten
Abschnittes durch ,Arten/ wiederzugehen, indem dieser Aus
druck seiner Abstammung gemäss gleich einem yi'ioq oder ge-
nus, zumal in der Vielzahl gebraucht, weit mehr an Sippen
oder Gruppen verwandter und gleichartiger Dinge denken
lässt als an das, was diese Gleichartigkeit ausmacht. Wie
nahe der Sprachgebrauch unseres Autors auch hier demjenigen
der Schriftsteller steht, in denen wir seine Zeitgenossen erken
nen, mag die folgende Parallele lehren. Wir lesen 4fin.: sv
TOVTO) aUT^? 7.7.1 TO SlOOi; E07.E'i/7.VTO 7.7.1 TT|V OUVap.lV ZEpavOsVTO? TOÜ
Die Apologie der Heilknnst.
109
ipyou lyvwsav. Melissos aber schreibt dort, wo er die Existenz
der ,vielen Dinge* bekämpft (in Simplicius’ Coinmentar zu
De caelo T init., 509 b 36 Brandis): «pajxevot? -j-ap elvai mWa.
ai'Sta (wofür, wie anderswo naebgewiesen werden soll, l'Sta zu
lesen ist) y.al el'äea -/.a: iyjsvxa TKtvxa eTspoioucOai f ( p.Tv ooxel
y.tf. Nicht viel anders der Verfasser von De natura hom. 2
(VI 34 Littre): Sv fap v. (tc fehlt, beiläufig, nicht in A, sondern
ist von erster Hand über der Zeile nachgetragen) slvaf <paatv o
Tt sy.actoc aüxöiv ßaiXexat ovop.aca<;, v.ai xoüxa sv ebv (die zwei Worte
fehlen in A, aber nicht in M) \i.zzahK(XGcer/ xr,v iSsujv y.at tyjv
86vapuv •/.*£. Endlich kann man auch noch eine Aeusserung des
Diogenes von Apollonia über seinen Urstoff und dessen mannig
fache Veränderungen bei Simplicius in Phys. 14 p. 153 Diels
vergleichen. Mag von dem siao; der Einzeldinge wie bei Me
lissos oder von jenem der Künste, beziehungsweise einer Kunst
die Rede sein, immer bedeutet eiao? oder IMa das Sonderge
präge, die Eigenart oder Artung eines Objectes, insoferne die
selben der blossen Betrachtung erkennbar sind. Der blossen
Betrachtung, sage ich, im Hinblick auf jene Erkenntniss der
Eigenart, welche erst aus der Bcthätigung oder Wirksamkeit
des Objectes gewonnen wird.
Wenn wir von Künsten sprechen — so etwa können wil
den Ideengang unseres Autors ergänzen —, sind es nicht
blosse leere Klänge, die durch unseren Geist ziehen. Vielmehr
stehen bestimmte, scharfumrissene Bilder vor unseren Augen,
die wir uns nicht bewusst sind geschaffen zu haben und wel
chen somit nicht weniger als den sinnlichen Wahrnehmungs
bildern etwas Gegenständliches zu Grunde liegen muss. Das
slaoc einer Kunst, d. h. der Inbegriff wahrnehmbarer Attribute,
der zusammen mit dem Verein verborgener Eigenschaften, der
oüvap.t<; derselben, ihr Wesen ausmacbt, muss ebensosehr etwas
Objectives und Reales sein als etwa das elSo? eines Thieres
oder einer Pflanze. Diese Art zu schliessen gehört zu jener
primitiven Weise des Philosophirens, die sich bereits in dem
Bedeutungswandel von oläa (ich weiss nur, was ich gesehen
habe) ankündigt. Will jemand diesen vagen oder urwüchsigen
Realismus einen Platonismus vor Plato nennen, so wäre der
Ausdruck mehr zugespitzt als zutreffend. Mit gleich gutem und
gleich schlechtem Rechte könnte man denjenigen, der zuerst
110
IX. Abhandlung: Gromperz.
,ich habe gesehen' im Sinne von ,ich weiss' von Unsichtbarem
und Unsinnlichem gebraucht hat, als Vorläufer Plato’s in Be
treff der Lehre von der avajj-vrjcrc; betrachten.
Der Fehlschluss unseres Sophisten aber darf uns nicht
allzusehr Wunder nehmen. Es beirrt ihn nicht, dass derselbe
Appell an das unmittelbare Bewusstsein die Realität der Zau
berei oder der Mantik ebenso gut beweisen könnte als jene
der Heil- oder der Turnkunst. Mit einem Worte, er über
sieht, dass die Wirklichkeit einer Kunst nichts anderes be
deutet als ihre Wirksamkeit und somit —• von Seiten ihrer
Naturbegründung angesehen, auf welche er ja mit Recht das
Hauptgewicht legt —- in letzter Auflösung eine Frage der
Causalverknüpfung von Phänomenen ist. Wie Vielen aber
auch unter uns, die wir doch eine lange Schule der Begriffs
läuterung durchgemacht haben, gilt noch immer das Ding als
der alleinige Typus der Wirklichkeit. Wir besitzen die schö
nen Worte ,wirklich' und ,Wirklichkeit', die durch ihren Zu
sammenhang mit ,wirken' und.,wirksam' wie dazu geschaffen
sind, die Träger einer gesunden Philosophie zu sein. Und
doch können wir kaum Vorgänge, Bewusstseinszustände, Cau-
salverknüpfungen und Gesetze für wirklich erklären, ohne so
verstanden zu werden, als ob wir dieselben auch für etwas
Dingartiges oder Reales hielten. Angesichts der verderblichen
Rolle, welche Jahrhunderte nach Locke und Berkeley der
nichtige Substanz- und der verwirrende Seinsbegriff zu spielen
nicht aufgehört haben, sollten wir uns den unvermeidlichen
Irrungen der Frühzeit des menschlichen Denkens gegenüber
zu weitgehender Nachsicht gestimmt finden.
Schliesslich bedarf noch unsere Uebertragung der eKv)
durch ,Artbilder' eines Wortes der Entschuldigung. Auch
dieser Ausdruck ist nicht frei von irreleitenden Associationen
und entspricht nicht ganz dem objectiven Charakter des
griechischen Wortes, wie dasselbe hier oder bei Melissos an
gewendet wird. Doch glaubte ich durch diese Neubildung
dem Original näher zu kommen als durch irgend eine andere
Bezeichnung, die mir zur Verfügung stand. Auch das soll
nicht unbemerkt bleiben, dass bereits Daremberg, wie ich nach
träglich sehe, in der Argumentation dieses Abschnittes einen
Anklang an die Philosophie des Protagoras wahrzunehmen
Die Apologie der Heilkunst.
lli
meinte, was ihn freilich nicht gehindert hat, auch eine Be
rücksichtigung der platonischen Ideenlehre darin zu finden
und trotzdem wieder den Verfasser für einen Zeitgenossen
des Hippokrates zu halten! (Oeuvres choisies d’Hippocrate 2
p. 27—28.)
oip.ai ok eytoye y.a: Ta ovip.axa abxaq oia Ta e”Ssa Xaßelv • ä?.o-|'ov
Y«? äjco xtov ovogocTiov -^YetaOat Ta siSsa ßXacxavetv y.a: aSbvaxov. xa gsv
Y«p ovöjy.axa vojj.oöex^j.axa eaxtv, xa Ss s’iSea ob vogo0öx-/)|j.axa, aXXa
ßXaoxyjij.axa ipbcno;]. Die Abzweckung dieser Sätze ist nicht
ganz leicht zu erkennen. Man würde dem Verfasser schweres
Unrecht thun, wenn man ihm etwa die Lehre extremer Rea
listen von der Art jenes Fredegisus, des Schülers Alcuins, bei
legen wollte: wo ein Name, dort ist auch ein existirendes
Ding vorhanden, was folgerichtig zu der Behauptung führte,
auch. ,das Nichts, aus welchem Gott die Welt geschaffen 4 ,
sei ein solches gewesen, ,und zwar aus dem höchst einfachen
Grunde, weil jedes Wort sich auf eine Sache bezieht 4 (Lange,
Gesch. d. Material. I 2 160). Aber auch die nur aus den eigen
artigen Voraussetzungen seiner Erkenntnisslehre erklärbare
Aeusserung Epikurs ist nicht hieher zu ziehen: obo’ äv üvoji.äoa-
[J.sv xt [j.yj TopoTcpov abxou y.axa xpöXvjdnv tcv witov gaOövxsp (Laert.
Diog. X 33). Das Dasein der data der Künste gilt unserem
Autor als ausgemacht, zweifellos, ja selbstverständlich. Aus
ihrem Verhältnisse zu den Benennungen der Künste braucht
er — selbst wenn ein Gegner die letzteren für blosse wesen
lose Namen erklärt haben sollte — kein Argument für ihre
Realität zu schöpfen; auch kann ihm dieses Verhältniss kein
solches liefern, weil er ja das Vorhandensein von Benennungen
auch des Irrealen anlässlich des abxcp.axov 6 fin. rückhaltlos
einräumt. Somit kann wohl nur der Wunsch des Verfassers,
bei diesem Anlass auch an seine Spraehtheorie zu erinnern,
ihn zu der hier vorliegenden Abschweifung veranlasst haben.
Die Frage, ob Protagoras die vogu- oder die obcrei-Theorie
der Sprache verfochten habe, ist von den Fachgelehrten viel
fach erörtert worden (die hierüber geäusserten verschiedenen
Meinungen verzeichnet Cucuel in seiner Dissertation ,Quid sibi
in dialogo cui Cratylus inscribitur proposuerit Plato 4 , Paris
1886, p. 41—42). Entscheidend scheint mir mit Grote (Plato
II 516 und 522) die Art, wie Plato im Kratylos den
112
IX. Abhandlung: Gomperz.
l\cM-.-j.-(oprjj der awei-Theorie und den auf ilir beruhenden Ety
mologien entgegensetzt. Wenn Dümmler neuerlich aus dem,
was er den ,protagoreischen Prometheus-Mythos' nennt (Aka-
demika 237), den entgegengesetzten Schluss zieht (S. 279
Anm.), so genügt es vielleicht, seine Schlussfolgerung wört
lich anzuführen, um ihre Unhaltharkeit zu erkennen: ,Die
Sprache ist also keineswegs conventioneil, sondern ein un
mittelbarer Ausfluss des himmlischen Diebstahls, ebenso wie
das Gottesbewusstsein/ Wäre das Letztere richtig, so müsste
man wohl consequenterweise das berühmte Götterfragment
des Protagoras für unecht erklären! Ich weiss nicht, ob
Dümmler den Prometheus-Mythos mit Frei, Quaestiones Pro-
tagoreae p. 183, für eine wörtliche, Entlehnung aus einer Schrift
des Sophisten oder für eine getreue Wiedergabe protagorei-
scher Lehren hält. Ich könnte jedenfalls die eine dieser
Meinungen so wenig theilen wie die andere; vielmehr erblicke
ich in jenem Mythos nur den Versuch Plato’s, die stilistische
Manier des Protagoras zu zeichnen und zugleich sein Können zu
Uberbieten. Er erinnert darum durch seine Stoffwahl an eine Dar
stellung, welche in des Protagoras Schrift ,Ueber den Urzustand
der Gesellschaft' (ycep: ivji; ev äpyfi xotokjtdaioq) enthalten war,
wobei es an gelegentlichen Anspielungen auf das, was dem
Sophistenhasser in der protagoreischen Schrift missfällig war
oder lächerlich erschien, nicht fehlen konnte. Doch selbst
wenn man Diimmler’s Meinung, die wir hier nicht von Grund
aus widerlegen können, für richtig halten sollte, so müssten
doch alle Folgerungen, die er aus ihr ableitet, als unstichhältig
gelten. Auf einen und den nicht wenigst bedeutsamen Punkt
haben wir bereits hingewiesen. Daraus ferner, dass aiSü)? und
oi/.-q daselbst nicht als Erzeugnisse blosser Uebereinkunft er
scheinen, könnte nimmermehr gefolgert werden, dass der Ver
künder dieser Lehre ,den Gegensatz von fScet und vipup (=
ovxa nur erst für die Erkenntnisstheoric im Sinne von ob-
jectiv und subjectiv verwerthet' habe. Denn Eines ist es,
dem Köhlerglauben zu entsagen, welchem alles Bestehende
eben darum, weil es besteht, als natürlich und göttlich, als
vollkommen und unwandelbar gilt, ein Anderes, jede. Natur
basis des Rechtes und der Moral zu leugnen. Dass irgend
ein griechischer Sophist das Letztere gethan hat, soll noch
Die Apologie der Heilknnst.
113
bewiesen werden. Denn Kallikles ist kein Sophist, und was
Plato dem Thrasymachos in den Mund legt, kann unmöglich
als authentische Darstellung etwaiger Lehren auch nur dieses
Rhetors gelten. Wie wenig aber die beiden Theorien mit
einander gemein haben, das kann das Beispiel des Hippias
zeigen, der, wenn auch nicht, wie Dümmler annimmt, der
Urheber, so doch jedenfalls ein eifriger Verfechter der v6p,u-
Lehre war und der nichtsdestoweniger oder vielleicht richtiger
eben darum mit grösster Emphase den Satz von der natür
lichen Verwandtschaft und dem Weltbürgerthum aller Men
schen verkündet und dieses natürliche Recht der dasselbe
vergewaltigenden tyrannischen Satzung mit schärfstem Nach
druck gegenüberstellt — bei Plato, Protag. 337 c ~ d , eine Stelle,,
die wir aus mehrfachen, von Dümmler ebenda S. 252 vortreff
lich auseinandergesetzten Gründen allerdings befugt, ja ge-
nöthigt sind, für eine treue Wiedergabe dessen zu halten, was
Hippias in Wahrheit lehrte. Was aber die zwei antagonistischen
Theorien über den Sprachursprung betrifft, so muss vor Allem
daran erinnert werden, dass die sogenannte tpücst-Theorie in
jener Zeit ein wenig klarer Ausdruck für zwei sehr verschiedene
Lehren war: die Sprachbildung entstammt nicht absichtsvollem
Bemühen, sondern einem spontanen, instinctiven Drang, und
(was etwas wesentlich Anderes ist): der ursprüngliche natür
liche Zusammenhang zwischen Laut und Bedeutung ist noch
in den Gebilden der griechischen Sprache erkennbar und nach
weisbar. Die letztere Ueberzeugung konnte in Verbindung mit
den damals so unzulänglichen Mitteln der Sprachzergliederung,
zumal wenn dieselben auf einen so spröden Stoff angewendet
wurden, wie es die von allem Uranfänglichen so weit entfernte
griechische Sprache ist, zu nichts Anderm führen als zu einem
wüsten und wilden Spiel mit haltlosen Etymologien. Eine
deutliche Scheidung dieser zwei Momente und überdies auch
eine Klärung der aüoct-Tlieorie selbst durch Anerkennung ethni
scher und klimatischer Verschiedenheiten bei der Sprachent-
stehung, gleichwie der Mitwirkung eines secundären überein-
kunftmässigen Factors begegnet uns erst bei Epikur, dem nach
Allem, was wir wissen, das phantastische Etymologisiren,
welches von Heraklit, wahrscheinlich nicht ohne die Vermitt
lung des Antisthenes, auf die Stoiker übergegaugen ist, völlig
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh. 8
114
IX. Abhandlung: Gomperz.
fremd war, während er andererseits den instinctiven Ursprung
der Sprache bestimmt erkannt und eindringlich gelehrt hat.
Was Protagoras betrifft, so haben wir nicht den mindesten
Grund, anzunehmen, dass seine cpOofoeia etwas Anderes
enthielt als den wohlbekannten Versuch, die grammatischen
Unterscheidungen der Sprache zu erkennen, fest zu um
schreiben und nach dem Lichte seiner Einsicht reformirend
umzugestalten. Dass er die Etymologie irgendwie in den Kreis
der Betrachtung gezogen, oder dass dieselbe gar seine opöosTtsia
ausgemacht habe, für diese Behauptung, die jüngst v. Wila-
mowitz in seinem Buche ,Euripides’ Herakles* II 62 ausge
sprochen hat, kenne ich keinerlei Begründung. Ebenso wenig
freilich für Dümmler’s gleichartige, aber noch viel weiter ge
hende Annahme in Betreff des Prodikos, a. a. O. S. 15S—159.
Denn wenn der Letztere das abgeleitete Wort okeypia dieser
seiner klar zu Tage liegenden Ableitung gemäss gebraucht
und auf die Bezeichnung von Verbrennungsproducten beschränkt
wissen wollte, so hat er nichts Anderes gethan, als was wir
thun, wenn wir gegen die Sprachverderbung ankämpfen, die
aus der fortwährend in Gang befindlichen Verallgemeinerung
der Worte und der ihr entsprechenden Verflüchtigung ihres
Gehaltes entspringt; wie wenn wir beispielsweise wünschen,
dass das Wort ,Limonade* nicht jeden beliebigen Fruchtaufguss
bezeichne, oder das Wort ,Anschauung* nur wirklich intuitive
Erkenntnisse und nicht nebenbei auch Meinungen, Gedanken,
Ueberzeugungen überhaupt bedeute (vgl. Mills Logik II 57 ff.
mit unseren Zusätzen). Dass jedes Wort eine scharf um
schriebene Connotation besitze, dass kein Begriff einer festen
Bezeichnung ermangle, und dass kein Ausdruck mehr als
einen Begriff bezeichne — diesen Erfordernissen einer für
wissenschaftliche Zwecke brauchbaren, zur Bildung und Mit
theilung klarer Gedanken tauglichen Sprache hat die von
Dümmler an jener Stelle erörterte Bemerkung des Prodikos
über den Gebrauch des Wortes oAh/p.a ebenso gedient wie seine
nicht hoch genug zu preisenden Bemühungen um die scharfe
Scheidung synonymer Ausdrücke. Derartige Bestrebungen
haben mit den Versuchen der Zeitgenossen, die Urbedeutung der
Worte zu ermitteln, nicht das Mindeste zu schaffen; sie liefern
uns nicht den allergeringsten Anhalt, um ihrem Urheber Etymo-
Die Apologie der Heillcunst.
115
logien von der Art der im Kratylos verhandelten zuzusckreiben;
sie sind mit jeder möglichen Ansicht über den Ursprung der
Sprache gleich gut vereinbar und berechtigen uns nicht im
Entferntesten, in ihrem Urheber einen Anhänger der <p6<jsi-
Theorie zu erkennen. Doch — um auf Protagoras zurückzu
kommen — wie unzulässig es ist, aus dem Wort ipOos-xEia, mit
welchem sein Streben nach Sprachricktigkeit und Sprackver-
besserung bezeichnet ward, auf die Beschäftigung mit der
tpijcei op6irr;i; xwv övopäxwv im Sinne des Kratylos zu schliessen,
dafür liefert der folgende Umstand den entscheidenden Beweis.
Unter den Werken des Demokritos befand sich eine Schrift,
deren Titel also lautete: Ilspi 'Og-^pou fj opOoE-sr/j? y.ac yXuxcewv
(Laert. Diog. IX 48). Und eben Demokritos ist es ja, von dem
wir mit voller Bestimmtheit wissen, dass er die vöpw-Theorie
vertreten und eingehend begründet hat. Schliesslich mag noch
eine Vermutkung geäussert werden, die vielleicht nicht jeder
Beachtung unwerth ist. ** Wenn irgend etwas in den auf die
Sprach entstehung bezüglichen Worten des Prometheus-Mythos
eine Beziehung auf die wirkliche Lehre des Protagoras ent
hält, so ist dies wohl das Wort xsyvY) in dem Satze: ärsixa
$wvi)v y.al ovopaxa ia-/\i orqpOpwaaxo xjj xsyvr) (Plat. Prot. 322 a ).
Man vergleiche wenige Zeilen später: TOXixr/.vjv yäp xsyvvjv ouzw
eiyov Tfi pspc; Täusche ich mich nicht, so enthalten
diese Worte, die inmitten der schwungvollen und gehobenen
Rede gar hausbacken und banausisch klingen, einen satirischen
Hieb Plato’s, der in des Protagoras Ansicht von den Anfängen
der Cultur eine allzu mechanische, rein verstandesmässige,
Alles auf bewusste Absicht und Erfindung zurückführende
Auffassung zu bemerken glaubte und zu geissein bestrebt war.
3. Ilspi psv oüv xouxcov ei ys ziq pi] iy.avw; sy. xöv EipYjpsvwv ouv(Y)ffiv,
ev aAAoiciv av X6yoiatv cratpEcxspov SiSayOsw;]. Die äXXot auf
welche der Leser verwiesen wird, sind augenscheinlich eine
Schrift metaphysischen oder erkenntnisstheoretiscken Inhalts.
Der Plural ist ebenso angewendet wie am Schlüsse oi xs vuv
XsYop,svoi Xc-poc, desgleichen Herodot VI 137: 'Ey.axaioc ev xotat
Xo^otsi oder I 106: ev evkpoiai Xoyoiai SyjXwxtü, wenn man diese
Worte, wie dies uns gleich vielen Anderen nöthig scheint, auf
eine geplante selbständige Schrift, die ’Acaüpioi Xöyot, bezieht.
Auch Buchtitel, wie die y.axaßdXXovxE? (sc. Xo-foi) des Protagoras,
8*
116
IX. Abhandlung: Go mp er i.
die OwepßäXXovts? des Thrasymackos oder die ä-oxjpY^övTE; des
Diagoras gehören kieker. Dass der Autor hierbei nickt an das
Werk eines Andern (oder gar an die Werke mehrerer Anderer)
denkt, erhellt aus einigen naheliegenden Erwägungen. Das
stolze Selbstgefühl, welches er überall zur Schau trägt, macht
es von vornherein höchst unwahrscheinlich, dass er sich,
zumal bei Erörterungen nicht fackmässiger, sondern der aller
allgemeinsten Art, in denen er ja augenscheinlich seine grösste
Stärke erblickt, auf fremde Autoritäten berufen sollte. Die von
uns schon hervorgehobene Neigung des Sophisten, aus dem
Rahmen seines Specialthemas herauszutreten, sein Reichthum an
umfassenden Gesichtspunkten und seine Herrschaft über die
Mittel der Beweisführung und der Darstellung Hesse es als ein
wahres Wunder erscheinen, wenn die Schrift ,Von der Kunst'
das einzige Erzeugniss seines so fruchtbaren und mit so reichen
Bildungselementen gesättigten Geistes wäre, davon nicht zu
sprechen, dass sein so überaus selbstbewusstes Auftreten unter
dieser Voraussetzung völlig unerklärlich wäre. Zu allem Ueber-
fluss aber kündigt er uns ja 9 init. eine andere Schrift, eine
Schutzrede für die Künste, mit unzweideutigen Worten an.
Dass er aber wie dort eine erst abzufassende, so hier eine
schon veröffentlichte eigene Schrift im Auge hat, erscheint als
völlig zweifellos, wenn man bedenkt, wie ganz und gar ent
behrlich für den Fortgang seines Beweisverfahrens eben der
vorangehende Abschnitt gewesen ist, und wie eben nur innige
Vertrautheit mit ontologischen Erörterungen, eine ausge
sprochene Vorliebe für dieselben und nicht am mindesten wohl
auch der Wunsch, an seine hierher gehörigen Leistungen und
Erfolge zu erinnern, diese Abschweifung erklärlich machen.
Die Definition der Heilkunst oder richtiger des Zieles der
selben unterscheidet sich wesentlich von den mehrfachen anderen
hielier gehörigen Begriffsbestimmungen, die sich in der hippo
kratischen Sammlung vorfinden oder sonst aus dem Alterthum
auf uns gelangt sind (über dieselben vergleiche man Daremberg,
Oeuvres choisies etc., p. 40). Der Versuch unseres Autors ist
geistvoll und frappant, wenn auch ganz und gar nicht schulmässig
und schulgerecht. In letzterer Rücksicht trifft ihn natürlich mit
vollem Recht die Kritik Galen’s oder vielmehr Pseudo-Galen’s
Introductio s. medicus c. 6 (XIV 687 K.), der sich gegen den
Die Apologie der Heilkunst.
117
dritten Punkt dieser Definition mit der Bemerkung wendet: oh
yap li; fi)v p.7] Siivavxat ai xey v vat, äXX’ si; wv Süvavxai oi opoi auxaiv eiu!v.
Doch hat unser Schutzredner, indem er der eigentlichen Be
griffsbestimmung: Heilung der Krankheiten und Milderung der
Leiden noch jenen dritten Punkt in lockerer Weise und wohl
mit bewusster Paradoxie anreiht — man beachte das Fehlen
des Artikels vor xüv y.xs., wodurch die zwei ersten
Glieder enger verbunden sind —• etwas gethan, was zwar dem
seiner Zeit noch unbekannten Kanon der Definition widerspricht,
was aber nicht nur für den von ihm verfolgten apologetischen
Zweck, sondern auch an und für sich von hoher Bedeutung
war. Der begründende Zusatz, der auf die Schranken mensch
licher Naturbeherrschung hinweist, hängt aufs engste mit seiner
Einsicht in die festen Eigenschaften der Dinge und in die
ausnahmslose Gesetzmässigkeit des Weltlaufes zusammen. Ein
Nachklang dieser und der parallelen Aeusserungen, 8 init.,
12 init.: i) öxoxav iy-yeip-rjarj t04 ? ^Suvdxoic, 14: xal ob-/. EuBiopöwxoimv
oüx. av e-f/Eipchq xfjoi voiaotaiv begegnet uns wahrscheinlich bei
Plato (Staat II 360 e : oTov •/,ußspv7]xr)<; axpaq •)) iaxpbc xd te’ äSuvaxa
ev xfj xi-/Y(] y,at Ta Suvaxä StaicOävsxat, y.ai xoiq |j.ev Ixi/sipsl xä
Se sa • Ext Se eäv äpa xv) a<paXii, v/a-ioc, ExavopOoüaOai, vgl. hier 12)
und nach ihm bei einem der grössten ärztlichen Schriftsteller
des Alterthums, bei keinem Geringeren als Heropliilos, von
welchem uns Johannes Stobäus Florileg. 102, 9 das Folgende be
richtet: EpoiTTjOeic üxc iivo;, xic av ysvo:to teXew? iaxpc;, ,6 xä Suvaxä 4 ,
scpvj, xä p.fj Suvaxä Suvap-Evoc SiaYivürasiv'. Aelinliches äussert
auch sein Jünger Hegetor bei Apollonios von Kition: /ai \i.r t
■/.axay.oXcuÖEiv äouväxoti; sxißoXau; (Schol. in Hippocr. et Galen ed.
Dietz I 35; Rosenbaum’s thörichter Einfall, 'IIy^tws sei von
Dietz irrthümlich für eine Person gehalten worden, während
es nur eine Bezeichnung des Heropliilos selbst als I ührers
einer Schule sei, Kurt Sprengel, Geschichte der Medicin im
Altertli. I 4 520, bedarf keiner Widerlegung, vgl. auch Marx,
Herophilus, S. 101—102). Inwieweit der weise Praktiker sich
auch mit unheilbaren Krankheiten zu befassen habe, darüber
spricht sich der tiefdenkende Verfasser der Schrift Ilspt äpOpwv
58 (IV 252 L.) in sehr bemerkenswerther Weise aus; aner
kannt werden unheilbare Leiden als solche auch npsYvwxx. 1
(II 110—111 L.).
118
IX. Abhandlung: Gomperz.
Meine Schreibung der letzten Worte, in welcher mir
schon im Wesentlichen der älteste Uebersetzer, Fabius Calvus,
gleichwie Dareinberg vorangegangen sind, bedarf kaum einer
Rechtfertigung. Die Vulgat-Lesart oti xaüia ou oüva-uai iY)Tpaij,
wobei oü auf blosser, aber richtiger Conjectur in R und auf der
Schreibung Ps. Galen’s XIX, 350 K. beruht, besagt zugleich etwas
Unrichtiges und etwas Ueberfltissiges — etwas Unrichtiges, weil
das sY/eipeiv gegenüber den von Krankheiten Bewältigten zwar
unwirksam, aber nicht unmöglich ist, etwas Ueberflüssiges, weil
von den Krankheiten bewältigt (x.£xpaTY)|i,svoi) kaum Andere heissen
können als die, deren Heilung eine unmögliche ist. Die Ver-
derbniss der Vulgat-Handschriften ist wohl aus demselben Buch
stabenfehler entsprungen, den ich einmal bei Herodot II 154
berichtigt habe (Herodot. Studien II38—39 [556—557]), und der
ein andermal III 48, wie dort bemerkt ward, im Codex Parisinus
2933 begangen wurde, der Verwechslung von xd'm und xaura.
Man beachte übrigens die erlesene, der nachdrücklichen Ver
neinung der Allmacht der Heilkunst dienende Stellung der Ne
gation, während z. B. bei Philodem Ilspi Oswv Sia-forpis col. VIII
dieselbe Wortverbindung einmal in der folgenden Gestalt auftritt:
ou oü xana Süvarai (Vol. Here., Coli. pr. VI 53). Aehnlich im
vorangehenden Abschnitt: r, ye ex. mog stSsoq oü/ bp&mi.
4. “EciTt gsv oüv goi äp/r, toö Xöyou vj x,ai 6|jioXoY^<jeTai xapä
ratoiv], öp.oXoYY)cr£Tai, das ich aus A aufgenommen habe, ist
die einzig richtige Form, da, wie Veitch Irregulär verbs
s. v. zeigen kann, das bisher gelesene fyioXoYYjOYfcsvai eben nur
hier vorkommt, wo die beste Handschrift sie nicht bietet. Hin
gegen gebraucht auch Plato Theät. 171 b die Medialform im
passiven Sinne.
Kal <paalv öS tä /sipw 'Kiyo'neg Sia tcü^ aX'.o'/,op.£Vou? üxo twv
voorjp.dTwv toü? &%o^sir(oytag aüta tü/y) dxo^eÜYciv x,ai oü Sta trjv ts-
Xvyjv] . Dass dieser Vorwurf damals gar häufig gegen die Aerzte
erhoben wurde, kann De loc. in hom. 46 (VI 342 L.) lehren.
Die Gegenüberstellung von tu/yj und te/vy;, zwei Worten,
deren begrifflicher Gegensatz durch den Gleichklang zu er
höhter Geltung kommt, kehrt, von dem Zeitalter angefangen,
dem unsere Rede angehört, in Schriftwerken jeder Art gar häufig
wieder. Ich erinnere an Euripides Alcestis 785: fio vqq tuyrfi
Y“P ot xpoßifcsta! | ‘/.dar’ oü SiSaxxbv oüS’ dXiaxsra! is/vv), Polos
Die Apologie der Heilkunst.
119
bei Plato Gorg. 448°: £p.xetp(a p.sv yap xotsi xov atüva r ( [jiwv xo-
psusaOai y.axä xe/vrjv, axstpia Ss y.axa xuxy]V, darnach Ai'istot.
Metaph. I 1, 981 a 4: vj p.sv Y«p spixstpla tsxvyjv sxoiy)0£V, ok ®y]oi
IIwag? öpGw? Xsvwy, y) 5’ Äxetpia t6-/^v, Agathon Fgm. 6: xsxvy;
TO/rjV earsp^s x,al x6xy) xexvy;v, Fgm. 8: xal p.r,v xa p.EV ys vfi te/vy] xpaa-
ceiv, xa os | Yip.lv y' «verpa] xal tü/_y) itpocYi'Yvexai, Plato Ges. 10, 889 b :
<puosi xdvxa slvat xa: xux'fl ipaui'v, te^vy) os oüBsv xoüxwv, Aristot. Etli.
Nie. YI 4, 1140“ 17: y.al xpöxov x:vä xcspl xa auxä eoxiv yj xux'G
yj xs/V'G, Poet. 14, 1454“ 10: ipGxoüvxs? vap oux ax’o xe/v'G? ÄXX’ Äxo
x6-/;gc Yjupov xxs. , Rhet. A 5, 1362“ 2: aixfa 3’ saxlv Y) xiyjG svlwv
p.sv wv y.al al xEyvat, Menander Monost. 495: vjy-ij xEyvYjv oipOwosv,
ou xe’xvy) xüxyjv, Hipparch (Fgm. comicor. graec. IV 431 Meineke
= III 273 Kock): xa piv yap aXXa y.al xöXep.o? y.al p.EXaßoAY] | xuyyip,
ÄvyjXwa’, yj xtyyq Bs aü^exai. Plutarcb De fortuna, Moral. 99“: oxi
Yap ßpayela ootpw xuy'G xapaxtxxst , xä os xXsTaxa y.al p.E^toxa
xwv epywy ai xiyjai ouvxeXouai x,xs., 99°: Oaup.aoxov oüv saxi, xö; ai
p.sv xsyvai x^? ou Ssovxat y.xe. , Aristides llspi pYixopiXYj? II 22
Dindorf: ouxe xoXXol p-Exe^vwaav xwv xpb x^? ziyyqq xy]v xapx xoö
Osoü xuyiQv eXopivcov, or. XLVI (II 332 Dindorf): äXX’ y]oy) xtva xal
axYjxxoü y.al /etp.<3vo? 'GxxvjOsvxa y.al xpY]odp.evov vxyy] xvj? xe/vy)? xpsixxovi
y.xe., Julian or. I 25 d (I 31, Ilertlein): SXw? Be ouBsp.tav aljcov xeyyqv
p.exa xy;? xu/yj? i§Exd?6tv, or. VII 207 d (I 269 H.): sav 3s ap.a xi?
oty.exYjc YSVYjxai xv;v xüyYjv y.ai xy;v xsxvyjv iaxpo?, Antliol. VII 135, V. 4:
Boijav sXwv xoXXwv ou xöya ÄXXa xsyva, Simplicius in Phys. II 4 (328, 1
Diels): xpo? xe xoüxotc cpwp.sv svia xwv axb ziyyq:, Ytvop.£vo)v y.al äxb
xux'GS Y lv °I J - eva ' y - at T“P ^T l£ta y-^-i Äxo xuxyj? BoxeI Yl V£<J 6 al Sewep äxb
xexvy]?. Die Sammlung Hesse sich ohne Zweifel erheblich ver
mehren, doch genügt sie, um zu zeigen, dass nicht bloss gor-
gianisches Assonanzenspiel es war, welches die beiden Worte
zu paaren liebte.
ey<±> 3s ÄxooxspEü) p.£v ouB’ auxb? xyjv xüx'G v spyou ouBsvocj. Dass
die Rede nachdrucksvoller wird, wenn wir mit A ouy. vor
ÄxooxspEü) tilgen, sei beiläufig bemerkt (vgl. Kühner, Griech.
Gramm. II 2 739—740). Wichtiger ist es, darauf hinzuweisen,
dass die Anerkennung der ausgedehnten Wirksamkeit der
xü/pG im Munde unseres Autors keineswegs eine leere Phrase
ist oder zu sein braucht. Ein Aufklärer oder Aufgeklärter
hat gar häufig Gelegenheit, dort von Zufall zu sprechen,
wo Gläubige oder Abergläubische die Gunst oder Ungunst
120
IX. Abhandlung: Goinperz.
übernatürlicher Wesen, die Erhörung einer Fürbitte, die Be
rücksichtigung eines Gelübdes oder sonstige absichtsvolle
Schickungen und Fügungen voraussetzen. Willkürlich und
oberflächlich wäre es, wollte man zwischen dieser nachdrück
lichen Anerkennung der vx/r t und der ebenso nachdrück
lichen Leugnung des aüxopaxov 6 fin. einen Widerspruch er
blicken. Irgend ein Vorkommniss dem auxöpaxov zuschreiben,
heisst das Walten der Causalität in dem bestimmten Falle
überhaupt leugnen; es der x6yr ( beilegen, heisst nur eine von
Anderen vorausgesetzte besondere Causalverbindung, zumal
die Annahme bewussten oder absichtlichen Wirkens leugnen.
Ein Leugner der xpovota z. B., wie Demokritos es war, verfuhr,
so oft dies auch verkannt wird, vollkommen folgerichtig, wenn
er einerseits das Vorhandensein des aüxöpaxsv bestritt (cüBsv
ypvjpa imvf)') yivexat, aXXa mxvxa h. koyou xe y.ai m avayzY]?) und
andererseits die Weltentstehung der xö/v) zuschrieb. Die Ver
wechslung dieser grundverschiedenen Begriffe hat bewirkt,
dass man die Verbindung avayy.p y.at xö/p in dem oben ange
führten Fgm. 8 des Agathon wegemendiren wollte (vgl. Wagner,
Trag, graec. fragm. III 77), ohne zu bedenken, dass dieselbe
sich ganz ähnlich bei Demosthenes vorfindet, or. XXI 186: xf,
©ocsi x£ xai xvj xuy-fl oder wiederholt bei Plato Ges. 10, 889: cpustv
x£ v.y.l xüyyjv, — <puaei -xävxa eivat y.ai xüyp oaetv, oüse Six xtvx Oe'ov oübe
Stä xeyvYjv, aXXa, S Xe-fopev, (pucöi y.ai xuyp, an letzterer Stelle in
sehr bezeichnendem Wechsel mit dem Ausdruck y.axa xuyrjv i£,
dva-f/.rjc, ,nach blinder Naturnothwendigkeit/
e’feep yptopevot abvfi y.ai ü-oupyeovxe? 6Y'.oeaO-/}cr<xv]. Ich schreibe
ypwpevoc, obgleich A an dieser Stelle ypeepeve: darbietet. 5 er
scheint ypupevou? zweimal auch in A, ebenso daselbst ypwpevot,
nicht minder lypwvxo im selben Paragraph. Eine principielle
Entscheidung über die hier in Frage kommenden Formen ist
zur Stunde kaum möglich. In fiept Lxiop ävOpw-ou bietet A mit
den übrigen Handschriften im 1. Abschnitt zweimal ypsovxat,
im 6. hingegen zweimal, darunter einmal nur von erster Hand,
ypwvxat gegen das .ypeovxat der Recentiores, während M an beiden
Stellen ypeoma: zeigt; ebendort zweimal Sporne? gegen das
opiovxe; der jüngeren. Da auch bei Herodot ,die Zahl der in
e« (eo) aufgelösten Formen der verbalen a-Stämme . . . auf
Grund der reineren Ueberlieferung . . . erheblich vermindert'
Die Apologie der Heilkunst.
121
ward (H. Stein im Jahresber. f. Alterthumsw. Bd. 42, S. 132),
so neigt sich, da die Inschriften keine sichere Entscheidung
bieten, die Wage zu Gunsten der von Merzdorf, Studien VIII
190 empfohlenen Contrahirung dieser Formen.
Die Art, wie hier das Argument ausgeführt wird: ,Wer
überhaupt die Dienste der Heilkunst in Anspruch genommen
hat, kann nicht mehr seine Genesung dem Zufall zuschreiben',
mag man advocatenhaft nennen, sophistisch im üblen Sinne
darf man sie nicht schelten. Wir würden uns heutzutage etwa
wie folgt ausdriicken: Sobald ein Kranker sich in grösserem
oder geringerem Masse ärztlicher Hilfe bedient hat, so lässt
sich nicht, wenigstens nicht ohne eindringende Analyse des
Falles, der directe empirische Beweis dafür erbringen, dass
die Genesung auch ohne die ärztliche Behandlung erfolgt wäre.
Ebenso wenig freilich kann das Gegentheil bewiesen werden.
Eine Entscheidung Hesse sich nur gewinnen, wenn der Zu
stand des Kranken vor Anwendung der Heilmittel in allen
Einzelheiten festgestellt, jeder mit dieser Anwendung parallel
gehende sonstige Einfluss thatsächlich ausgeschlossen oder
sorgsam veranschlagt, die Wirksamkeit jener Heilmittel durch
eine strenge Induction oder Deduction festgestellt und die
Proportion der Fälle spontaner Heilung zur Gesammtzahl der
fraglichen Erkrankungen genau ermittelt wäre. Man kann
diese Erfordernisse nicht aufzählen, ohne sofort zu erkennen,
dass sie sich auch gegenwärtig nur ganz ausnahmsweise voll
ständig erfüllen lassen. In weit höherem Masse gilt dies vom
Alterthum. Unser Apologet durfte demgemäss nicht ohne
Fug behaupten, dass in dem fraglichen Falle die etwaigen
Factoren spontaner Heilung mit den Wirkungen ärztlicher Be
handlung in unauflöslicher Weise verschlungen sind. Seine
advocatenhafte Neigung gibt sich nur darin kund, dass er
im Zweifelsfalle, wo in Wahrheit Suspension des Urtheils das
logisch Richtige wäre, die unzergliederte Erfahrung, welche
ihm zu Gunsten der Heilkunst zu sprechen scheint, für diese
den Ausschlag geben lässt.
5. aXV ixezbyotev toiauTa Öspaireücavie; Iwutoöc]. Ich wage
nicht, mit einigen der geringeren Handschriften, mit Cornarius
und seinen Nachfolgern, oäv nach wcvs einzusetzen. Unser Autor
mag eben auch in diesem Betracht Antiphon und den Tragikern
122
IX. Abhandlung: Gomperz,
nahestchen, welchen die Herausgeber die Partikel, in deren
Anwendung die alte Sprache offenbar weniger streng war als
jene einer späteren Zeit, an nicht wenigen Stellen aufzudrängen
pflegen; vgl. Mätzner’s Antiphontis orationes p. 144—145, auch
unsere Bemerkungen, ,Die Bruchstücke der griechischen
Tragiker' u. s. w. S. 12 oder Krüger, Gr. Gramm. II 5 2, 54,
3, 8, vor Allem aber Kühner, Gr. Gramm. II 2 S. 191, 221.
Die Verbindung von £~iTu-p/.ivto mit dem Particip erscheint auch
bei Herodot VIII 101 fin.: ewcü/o) sü ßouXajadp,evo<;.
V.y.'l TOUTÖ TE'/.[J,7]ptOV |J.EY a OUfffj] TY)? TE/VYjC, 0X1 £OUCOt TS
ioxi v.m ixeYdXY)]. Unser Autor liebt es gleich Antiphon, ,das
verbum finitum in ein adjectivisches Participium mit dem
Hilfszeitwort elvad aufzulösen (vgl. Hoppe, Antiphonteorum
specimen, p. 48—49 und v. Morawski, Bemerkungen zu den
attischen Rednern, Zeitschr. für die österr. Gymn. 1879, 165),
z. B. 13: STSpa y.ai aXXa earl xd xs ouövTa xd x’
eijaYYeXXovTa. Vgl. auch Protagoras im Götterfragment: iuoXX«
yäp xd xwXöovTa siSsvat. Ebendahin gehört die Wendung toutwv
sctiv Yjp.iv SYjptoupYoi? slvai statt xauxa eoxiv vj|j.tv BYjp.ioupYStv (8). —
Gegnerische Zweifel an der Existenz der Heilkunst schimmern
auch durch in der Phrase 5xt ap<pl TEyvYjc louav)? De prisca
med. 1 (I 570 L.), sie werden ausgesprochen in De victu
acut. 3: w? pYjBs Boxelv oXto? bjTpHCYjv elvac (II 240 Littre) und
abgewehrt De prisca med. 12 (I 596 L.): ou tpYjpt oyj 8ew Bid
touto tyjv xeyvYjv w? ot>y. eouaav ouBs xaXö; ^YjTeopsvYjv tyjv ctp/aiyjv
äTcoßaXXeaOat.
vj yäp dcaiY) •)) rcoXuipaYtY), *) tc6t<p tcXsovi vj B'Ayj, XouTpol; i)
äXouci'v), ■?) Tiovoiaiv ^ Yjau/iY), ^ uirvoraiv ■/] dypottvivj , y) rfj äxävTUV
to6twv xapay/j ypcipevoi ÜYiacOYjcav]. Ueber den stürmisch hastenden
und häufenden Charakter der Stelle und ihre Verwandtschaft
mit Plato’s Protagoras 334 a—0 vergleiche die Einleitung S. 31.
Die beiden Stellen haben auch ein Anderes gemeinsam, nämlich
die tiefe und klare Einsicht in die relative Natur der Eigen
schaften der Dinge und der uns zu Gebote stehenden Mittel
der Beeinflussung. In frappanter Weise vertritt denselben
Grundgedanken in weitestem Umfang auch der geistvolle Ver
fasser von De locis in homine 41 (VI 330—332 L.). — Ueber
Einzelheiten sei Folgendes bemerkt. Ich habe ttctw geschrieben,
nicht r.czü), was die sämmtlichen Handschriften und Ausgaben
Die Apologie der Heilkunsfc.
123
bieten, da nur x6to<;, ,das Trinken, der Trunk', nickt xotov,
,das Getränk', dem Zusammenhang entspricht; ferner xAsovt,
weil die ionischen Inschriften, selbst jene, die schon attischen
Einfluss zeigen, diese Form allein kennen, s. Bechtel S. 45
und 49, auch Merzdorf a. a. 0. VIII 215. Auch erscheint die
Form zwar selten, aber doch gelegentlich im Corpus Hippocr.,
so in De flatibus, wo die Formen xXsov, xXeova?, izXeovuv mehr
mals, zum Theil in A allein, zum Theil in den Handschriften
überhaupt begegnen, ferner in De nat. hom. 4, wo einmal A
mit Galen im Commentar, einmal Galen allein xXsov statt
xXslov darbietet. Dasselbe Schwanken zeigt sich bei Herodot,
wo jedoch die Formen ohne t weitaus überwiegen, s. Bredow
De dial. Herodot. 154—155. — Tapayjj iui Sinne von ,Gemenge'
ist der Mehrzahl der Bearbeiter so unverständlich erschienen,
dass es in der Vulgata durch das sinnlose vom Exempl.
Sambuci dargebotene xapo'/j) verdrängt ward, während Mer-
curiale’s ,vetus codex' die alte Conjectur i~cyfi darbot. Und
doch ist es nicht schwer einzusehen, wie das Wort zu der
hier vorkommenden ungewöhnlichen Bedeutung ,Gemenge' ge
kommen ist. Man mengt eben Flüssigkeiten, indem man sie
durcheinander schüttelt. Wie nahe Tapäacsiv einem xir/.äv steht,
lehrt z. B. Aeschyl. Prometheus 993 Kirchhoff = 1026 Weck
lein: xuxaTU xavTa xai-TapaaaeTU, vgl. auch in den Schlussversen:
§uvTSTolpaxT«t 8’ a!0v]p tmvtu. Ebenso lesen wir bei Homer 2 229
sxox^0Y)cav (tpi? o’ £-/.u7.y]0y]gxv Tpüsp), wo STapä/Orjoav ebenso gut am
Platze wäre. Desgleichen beachte man die Verwendung des
Wortes in der Kosmogonie der Schrift De carnibus 2 und 3
(VIII 584 L.), ot£ sTapä/O?) toxvta, nicht minder die so häufig
vorkommenden Verbindungen von TapdTistv und xuxäv gleichwie
von cpiipsiv und TapctTretv.
Ta yap tu (IxpsXyjoOat xai Ta tu ßsßXdoOai üplop.sva ou xä? iv.mbq
-(vuvar si to(vuv sxioTYjosTat ’ij exatvelv v) 'isysiv o voayfcac, tüv §:at-
T'(]p.aTuv ti olaiv 'jyiaa07), xavTa Toma Tvj? tYjTpixijs (süp^ost) ü? sijtiv '
xal sartv oüSev ^aaov xtsJ. Die von den Recentiores dargebotenen
Worte: xavTa Taka ty)? ivjTptxvjq svTa süp^crsi würden an sich kein
Bedenken erregen. Aber die in hundert anderen Fällen be
währte Vorzüglichkeit von A und M lässt keinen Zweifel
darüber, dass schon der Archetypus eine Lücke zeigte, dass
M die Reste der alten Ueberlieferung am reinsten erhalten hat,
124
IX. Abhandlung: Gomperz.
dass diese in A durch das Ueberspringen des Schreiber
auges vom ersten auf das zweite sattv unabsichtlich getrübt
ward, dass endlich im Stammvater der sämmtlichen Recentiores
der lückenhafte Text sinngemäss, aber willkürlich umgestaltet
worden ist. — Der Anstoss, welchen Ermerins an der Negation
vor it«s hwtv'oi; yvwvat nahm und durch die Tilgung von ob be
seitigen wollte, schwindet, sobald man mit uns dem in A
klärlich überlieferten ou vjv u t'o ßXa4av entsprechend auch im
ersten Satzglied ou yjv (-et) t'o üxpeXrjGav .schreibt. Der Autor will
sagen: Der Patient muss nothwendig, wenn er durch die zu
fällige Anwendung jener diätetischen Mittel gefördert oder ge
schädigt wurde, wissen, dass ihn etwas gefördert, beziehungs
weise geschädigt hat. Anders steht es mit dem W a s. Dies zu
beurtheilen, sei freilich nicht jeder im Stande (wobei ydp
geradeso wie 11 init. ob y3cp Sy] ocpÖaXpoioi ys ioövu zts. mit con-
cessiver Nebenbedeutung, als ,ja freilich*, zu verstehen ist). Ge
linge es dem Kranken nun, in einzelnen Fällen die heilsame
oder die schädliche Wirkung jener Mittel zu erkennen, so werde
er finden, dass sie insgesammt zur Domäne der Pleilkunst
gehören. Wenn man hingegen Ermerins’ Vorschlag annimmt,
so legt man dem Autor die verkehrte Behauptung in den
Mund, dass die fundamentalen Wahrheiten der Arzneikunst
jedermann geläufig sind; man lässt ihn jede Unterscheidung
zwischen Laien und Fachmännern verwischen und sich selbst,
der eben gesagt hatte: ob pijv mote sibsvat, o u opOov ev aurf) svi i)
o u pi) opOov, in grellster Weise widersprechen.
xx psv yap cbcpEXvfcavTa tu opOcög xpoasvs/0f ( vai (ifflsXrjoav, xx bs
ßXdiiavTa t« p-^y.su cpOöc; -pooeve^örjvai eßXa'iav]. Die grammatische
Singularität, welche, wie unser Apparat zeigt, nahe daran war,
schulmeisterlicher Uniformirungssucht zum Opfer zu fallen,
begegnet uns wieder 13 in den Worten: oxav be rauia p/q pvjviwVTOi
und entbehrt auch bei den Zeitgenossen unseres Autors nicht
aller Analogie. Am nächsten kommt unserem Pall Antiphon
V 34: S'.axetpaOsvTa o’ abfov ~a »Isucy) Xeyeiv üarspov Ss xaKrfix} Xe-
yovua obbsTspa wosXv)oav (es hat ihm das Eine so wenig wie das
Andere genützt), wo freilich moderne Pedanterie die sehr wohl
gerechtfertigte Ausnahme von der grammatischen Regel hin-
wegzunivelliren eifrig bemüht ist, doch vgl. Mätzner zur Stelle,
desgleichen Kühner a. a. 0. II 2 58—59. Auch in der hippo-
Die Apologie der Heilkunst.
125
kritischen Sammlung fehlt es nicht an recht auffälligen Bei
spielen, so in der Schrift De locis in hom. 8 (VI 290 L): sg
xe xijv xoiXbjv y.a: xd Ea0iöp.sva xai xd xtvcpsva ^(opsouaiv, desgleichen
45 (VI 340 L.) : xavxa (pdpp.ay.d Etat. xa p.sxay.cveov'a x'o xapsöv • xdvxa
Be xd ia^upöxspa p.sxay.tveouctv.
Im Folgenden habe ich öpog so wenig angetastet als an
derwärts seine Derivate, weil ich von den betreffenden Ionismen
in unserer Schrift und, wenn mich mein Gedächtniss nicht
täuscht, auch in den übrigen Theilen der hippokratischen
Sammlung keine Spur angetroffen habe. Nebenbei könnte,
selbst wenn man oupo? als ausnahmslos ionische Form gelten
lassen müsste, das Vorkommen von vooew neben vouoo? zu
einiger Vorsicht mahnen, oupf^oj scheint bisher nur durch die
Herodot-Handschriften bezeugt zu sein; denn dass die Glosse
des Hesychius ouptoat ■ öpkat, xapaozEudcat auf uns erhaltene
Stellen des Aischylos und Sophokles geht, an welchen das
von oupo? ,Fahrwind' abgeleitete oupt’^etv vorliegt, diese Meinung
der Herausgeber kann zum mindesten als höchst wahrschein
lich gelten.
6. "Ext xotvuv ei p.sv dxb cfapp.dy.wv xwv xe y.aOatpövxwv y.y.i xwv
tcxävxwv y) *7)oi? y.xE.] So gering im Allgemeinen die Autorität
der Randglossen ist, welche Servin und Fevre in ihre Exem
plare eingetragen haben, so habe ich diesmal doch (mit Rein-
hold) ihr dxb cpxppay.wv statt des utx'o ®. der Handschriften seiner
vollkommenen Sinngemässheit wegen angenommen. Man ver
gleiche De nat. hom. 7 (VI 50 L.): dxb ydp xvjc abxrjg dvorpci)?
xdvxa auvsoxr,Z£ xa't xpsipsxac oder ebend. p. 48: y.ai xb ©Xevpa
auijsxat xdXtv axco xs xwv uexwv xou xXvjOso? y.al dxo xwv vuxxwv xoü
y.Eoc, wo dxo beide Male von Galen in seinem Commentar dar
geboten wird. Vgl. auch De prisca med. 3 (I 578 L.): dxb
xouxwv . . . xivo'j? xs y.at voioiu? y.at Oavdxouc EoscOat . . ., dxb xsüxcov
xpo©7)v xs y.at ou^tjoiv y.at üyieirjv. Dieselbe Gebrauchsweise be
gegnet mehrfach bei Herodot, wo Cobet Mnemos. N. S. XI 73,
132, 290, XII 129 sie wiederholt wegemendiren wollte, so I 15:
oüBsv p.sya ax’auxou äXko spyov e^evexo, II 54: apaoav uijiTjütv piEyd-
A7)v dxb a<pewv ysvsaöat, III 78: ot Be pdyot exu^ov xd dxb llpy;3drx£:;
ysvöpsva sv ßouAv) e/ovxec, V 2: xd p.kv Syj dxb FIxigvwv icpdxEp« ysvi-
JJ.Eva wBs sysvsTO oder Thukyd. I 17 : ixpr/Qr, dx' auxwv
Epyov d?toAovov, wo Herwerden dx’ durch ex' ersetzen will. Die
126
IX. Abhandlung: Gomperz.
Präposition bezeichnet in solchen Fällen den Ausgangspunkt
eines Geschehens, sei es dass dasselbe sich von ihm aus
räumlich (oi^siv Be di:’ auTvji; w? si 1luv Herod. III 23), sei es
dass es sich zeitlich ausbreitet (man denke an die Bezeich
nungen der Abstammung oder der Namensübertragung, z. B.
w? vuv ax'o tou 0daou — Toüvop.a eo/e Herodot VI 47, eö)v aiz
äp,®OTEpwv äBskcsoi; VII 96, diu’ vjp Hat 6 yohxop oütop Tr,v exu-
vujjwvjv E-/Et VII 121 — lauter Stellen, die Cobet angefocliten
hat, 1. 1. XII 156, 255, 256), sei es im Sinne eines causalen
Zusammenhanges, bei welchem eine Kraftanstrengung entweder
nicht stattfindet oder nicht beachtet oder endlich einem an
dern Agens als dem mit am bezeichneten zugeschrieben wird.
In die erste dieser drei letztgenannten Kategorien gehört Diogen.
Apollon. Fgm. 6 Mullach: aiub ydp p,oi to'jtou (sc. tou äspop) 6 voop
Sonst slvsu, wie ich die Worte einst, zxrm Theil mit Mullach
übereinstimmend, geordnet habe (Beiträge zur Kritik etc. I 38
[270]), oder Antiphon or. V 81: xotp diuo tu>v 0ewv crvjp,stoip yevo-
p.Evotp. Der zweiten gehört die Mehrzahl der oben angeführten
Fälle an, der dritten endlich die Stelle, von der wir ausgingen.
Denn als die Handelnden werden hier die Aerzte und die
Arzneikunst gedacht; als der Punkt, von welchem ihre Wir
kung ausgeht, erscheinen die Heilmittel. Statt <x~'o ®xpp.<r/.wv
hätte es auch <papp.äyoi? heissen können, gleich Startmastv im
Folgenden. ■— Unter den ,reinigenden' und ,stillenden' Mitteln
sind natürlich nicht nur Purgantia im engeren Sinne und ihr
Widerspiel, sondern Heilmittel jeder Art zu verstehen, welche
sei es normale sei es abnorme Ausscheidungen fördern oder
hemmen, also einerseits auch Emetica, Diuretica, Hidrotica,
Mittel zur Beförderung der Katamenien und der Ausscheidung
von Schleim oder Eiter, andererseits blutstillende Medicamente
u. dgl. m. Gering wäre, so meint unser Anonymus, die Be
weiskraft seiner Rede dann, wenn die Arzneikunst nur auf
jene altbekannten, an Zahl vergleichsweise geringen, mehr die
Symptome als die tieferliegenden Ursachen derselben beseiti
genden Heilmittel angewiesen wäre. Anders stehe es, seitdem
die gefeiertsten Aerzte auch durch diätetische Massregeln (über
den weiten Umfang des Begriffes Stam^ora vgl. Galen XV 117
K.) und durch andere Behandlungsweisen heilen, welchen
selbst der Laie nicht die Anerkennung versagen könne, dass
Die Apologie der Heilkunst.
127
sie Sache der xe/yr h das heisst einer rationellen, auf wissen
schaftlicher Einsicht beruhenden Praxis seien. An wen oder
an was denkt unser Apologet, indem er die rohen und drasti
schen, gleichsam von der Noth selbst eingegebenen medicini-
schen Behelfe der Vorzeit den subtilen Neuerungen und ver
feinerten Methoden seiner Zeitgenossen gegeniiherstellt? Die
Antwort auf diese Frage ertheilt uns Plato, der an verschie
denen Stellen seiner Schriften, zumal Staat III 406 ff., der von
ihm allein hochgeschätzten alten Arzneikunst, die den Kranken
rasch genesen oder rasch zu Grunde gehen liess, die von
Ikkos von Tarent und zumal von Herodikos von Selymbria
ausgeklügelten diätetischen und gymnastischen Behandlungs
weisen gegenüberstellt, die er selber kurz und derb eine Auf
züchtung von Krankheiten nennt (vocoxpotpi'a a. a. O. 407 b ).
Herodikos, der von Haus aus Gymnastiker und seihst kränk
lich war, habe es seiner ,Weisheit' zu verdanken gehabt, dass
sein Leben ein langer Tod gewesen sei (SucGavatöv Bs uxo
aosiap e!<; pjp“? a©(xsxo). Einen Tadel gegen des Herodikos Be
handlung acuter Krankheiten äussert das sechste Buch der
Epidemien, III 18 (V 302 Littrd), wo trotz Galen’s Schwanken,
oh der Selymbrier oder der Leontiner, der Bruder des Gorgias,
gemeint sei, sicherlich nur an den Ersten zu denken ist: 'Hpö-
Br/.o? tob? irupsxxivovxa? «cxeive Bpop.s'.c:, toxXyjcji xolvAjjai (schwerlich
richtig, vielleicht TcctXpo-tv, aXepm), TOpfyai xxe. Mit meiner Hypothese
über den Autor unserer Schrift verträgt es sich jedenfalls aufs
Beste, dass Plato dem Protagoras im gleichnamigen Dialog
316° ein warmes Loh des einer früheren Generation ange-
hörigen Ikkos und seines eigenen Zeitgenossen Herodikos in
den Mund legt: ivioup Be xiva? ^aÖT]|J.ca v/A. yu[j,vacrx(y.v]v (sc. ‘izp6ayr l \i.oc
iroioup.EVoui; xrj? acxpiGTOÖji;), olov T/.y.o? xe o Tapavxlvoq y.a! ö vuv ex:
S>v ouBevop yjxxwv cosigxy)i; 'Hpcocxoi; 6 2bikyp.ßpiav6?, xo Be apya\o'>
Meyapeüp. Solchen Gesinnungen mochte Protagoras in seiner
Plato wohlbekannten Schrift xcept xakv)? Ausdruck gegeben
haben. Ueber Herodikos und seine Empfehlung anstrengender
Fusstouren vgl. man Plato Phaedr. 227 a , über Ikkos und dessen
olympischen Sieg (472 v. Chr.) Steph. Byzant. s. v. Tczpa?,
Pausan. 6, 10, 2, über seine gleichwie des Herodikos weit
gehende, ans Asketische grenzende Enthaltsamkeit endlich Plato
Gesetze 8, 840 a und Aristot. Bhet. I, 5 (1361 b 5). Unsere
128
IX. Abhandlung: Gomperz.
Stelle mag Porphyrios im Auge haben, wenn er De absti-
nentia I c. 34 (p. 112, 1 Nauck 2 ) schreibt: ®dpp.oaa yctp, w? xo6
x:p xiov iaxpwv e®v), ou p.ova xd axeuaGxä utc'o xyj? iaxpr/.rjp, ÜAAa yai
xd xaO’ y;p,spav ei? xpo®r ( v ’itapaXap.ßavöp.eva crixi'a xe y.ai Ttoxct, —
Worte, deren Bezug Bernays (Theophrastos’ Schrift über
Frömmigkeit, S. 136) zu ermitteln sich ausser Stande erklärt
hatte. Man könnte auch, jedoch mit geringerer Wahrschein
lichkeit, an De locis in homine 45 (VI 340 L.) denken, des
gleichen an De flatib. 1 (VI 92 L.).
-/.A sv xü Stet xc tb aüxop.axov ou aat'vexai ouafyv lyov ouäepiav
dXV v) ovopa], xo oia xi zur Bezeichnung des Causalitätsverhält-
nisses kehrt wohl erst bei Aristoteles wieder, der ebenso xo
ixpo? x: zur Bezeichnung der Relativität zu verwenden liebt.
Doch ist der substantivartige Gebrauch präpositionaler Aus
drücke schon von Herodot angefangen (xd v.axd xcv TeXXov, vgl.
hier 9 init. xd . . . y.axd xd? aXXa? xs/va?, xd xaxd xrjv lyjxpwt-^v)
allen Gattungen der Prosa geläufig, am meisten der Sprache
des Thukydides, vgl. s? xo icpb? Sxabvr)? oder d®et? xo e? xf ( v XTov
(4, 130 und 8, 41). Die Kühnheit der Substantivirung er
scheint hier durch das vorangehende oid xi — y iv °1 j ’ £V0V wesent
lich gemildert. — Das hier überlieferte ouvop.« habe ich an
gesichts des fortwährenden regellosen Schwankens der Hand
schriften zwischen oüvop.a und ovop.a in den hippokratischen
Schriften sowohl als bei Herodot und auch im Hinblick auf
den von G. Meyer, Gr. Gramm. 2 S. 94 geäusserten Zweifel an
der Berechtigung dieser Form durch ovop.a ersetzt. Das dar
auffolgende p.oüvov der Recentiores tilgte ich, weil es, so sinn
gemäss der Zusatz auch ist und so häufig die Verbindung
auch begegnet, doch jeder wahrhaft urkundlichen Gewähr
entbehrt. Es verdient bemerkt zu werden, dass auch in der
prächtigen kleinen Schrift Nbp.o? 4 (IV 460 L.) die geringeren
Handschriften pd) Xöyu p.oüvov dXXa xal epyw darbieten, während
die für jenes Stück massgebenden Codices die knappere Fassung
zeigen: pdj Xo-po aXX’ epycp.
7. Total p.ev oöv xy] xü^vj xvjv TtpocrxiOetat xvjv oe xeyrr;)
doatpeouai xotaüx’ av xt? Xe-poi], Die Form uyisiY) habe ich auf Grund
der umfassenden von Fritsch a. a. 0. S. 19 ff. angestellten In-
duction in den Text gesetzt. Durch A’s Schreibung x-r,v Be
xe/rr ( v erwächst der nur durch wenige Beispiele vertretenen
l)ie Apologie der Heilkurist.
129
Construction asaipsiv mä xt eine neue erwünschte Bestätigung,
vgl. Aesch. Eumen. 349 Kirchhoff = 360 Wecklein: dipeXsiv
v.'/a xaxSs p.spip.vaq, Herodot I 80: xauxxc xd<~ap aiJ.aaq y.ai äxeAiov
“yGsa und Soph. Phil. 933: xbv ßi'ov p.s p) aieAY]?, wo man
jedoch jetzt mit Elmsley äseAvj vorzieht.
Tob; 3’ sv xvjoi tüjv ä-oöVYjczovTwv cup.popyjct tt)V xsyvr;v asavi-
i^ovxst; Owp.a^o) oxsu exaipop,svot äijtoyps« a6y<o tyjv p.ev xuv gbco0vy]-
axsvxwv äd/uyjrpt ävaixtrjv y.aÖicxäai]. Die sinnlose Lesart £icaipe6|Asvot,
welche M und R darbieten, legt den Gedanken nahe, es
möchte exasipöjAsvoi das Ursprüngliche sein. Doch vergleiche
man, was Bechtel S. 91 und Fritsch Zum Yocalismus des
Herodot. Dial. S. 20 über al'pw und cUipco bemerken. Nicht
wenig beachtenswert ist auch der Umstand, dass ein anderes
Mal A allein ä'pexxc gegen äei'pexai der übrigen zeigt, De nat.
hom. 7 (VI 48 L.). ätiuyiYjv habe ich aus axuywjv in A ge
wonnen. M’s äy.paatvjv, in der Mehrzahl der Handschriften
und Ausgaben zu i.v.prplrp/ verderbt, in einigen zu ay.piai.rp>
verbessert, würde an sich zunächst kein Bedenken erregen.
Allein woher sollte A zu seinem axuytvjv kommen, welches
weder ein Glossem noch aus einem Buchstabenfehler ent
sprungen sein kann? Da nun t und 6 in den Handschriften
oft kaum zu unterscheiden sind und insbesondere xüyr, und
<k>/-fi häufigen Verwechslungen unterliegen (statt vieler anderer
Beispiele, von denen Cobet Novae lectiones p. 74 und Jacobs
Philostr. imag. 712—713 eine grosse Zahl mittheilön, sei die
eine glänzende Besserung Sauppe’s in Plat. Alcib. II. 147“ an
geführt), hege ich kein Bedenken, ddiuyt'^v zu schreiben. Und
diese Vermutung wird, wie ich meine, je genauer man sie
erwägt, um so mehr an Wahrscheinlichkeit gewinnen. Vor
allem bedenke man die Verbindung mit xuv dxo0yYjay.6vx«v. Von
diesen kann ay.paatx kaum mehr passend gesagt werden. Setzt
ja dieselbe zwar eine schwache Herrschaft des Willens, aber
doch immer noch starke Begehrungen voraus. Wer dem Tode
nahe ist, bei dem kann füglich nur von äusserster Schwäche
oder Entkräftung die Rede sein. Nun bedeutet o4uyta nicht
nur Mutlosigkeit, sondern einerseits vollständige Entseelung,
andererseits (und so wird das Wort in den hippokratischen
Schriften häufig gebraucht und von Galen im Glossar erklärt,
XIX 87 K.) ist es gleich einem Xixotj/üyta; kurz es entspricht
Sitzangsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh. 9
130
IX. Abhandlung: Gomperz.
unserem ,Ohnmacht' in seinen mannigfachen Sinnes-Nüancen, ein
Bedeutungswechsel, der übrigens auch gelegentlich in X:-o'iu-/M
begegnet, da Herodot YII 229 Xncoijiuxeovxa, das man beileibe
nicht mit Valckenaer in oCho'buyio'na ändern darf, so viel als
,muthlos werdend 1 besagt. Ferner bedenke man, dass der
Gegensatz von dbipaotav zu cövesiv ein durchaus schiefer wäre;
eine moralische Eigenschaft würde einer intellectuellen gegen
überstehen. Jetzt heisst es: der Arzt ist im Vollbesitz seiner
Verstandeskräfte, während diese wie alle anderen Seelenkräfte
dem an den Pforten des Todes Stehenden bereits abhanden
gekommen sind, iv.paciy. an der Spitze der ganzen glänzenden
Antithese wäre ein nicht genügend starker und ein allzu spe-
cieller Ausdruck. Der Schmerz (äXyEovxEc), die Furcht (<poßeü-
[j.svoi), die durch die Krankheit bewirkte Verderbniss der
natürlichen Begehrungen wäre nicht darin begriffen. In der
ganzen nachfolgenden Schilderung würde nur das eine xapxspeiv
äSuvaxsüvx£<; der mit so grosser Emphase vorangestellten Ge-
sammtbezeichnung entsprechen. Jetzt begreift man es schliess
lich auch, warum der Autor, der hier seinen stärksten Trumpf
ausspielen wollte, den behandelnden Heilkünstlern zuvörderst
die Sterbenden und nicht bloss die Kranken entgegen
gestellt hat.
Wenn im Folgenden die gegensätzlichen Satzglieder xa
jj.y) äsG'rta Excxaijai und xa xpoaxa/Osvxa xapaßvjvai jedesmal neun
Silben zählen, so ist das Streben nach Gleichmässigkeit doch
jedenfalls kein so ängstliches und kleinliches, wie es z. B. bei
Isokrates encom. Hel. IG begegnet: xoü piv «rfftovov -/.a! ©tXwu'v-
Suvov xov ß(ov v.atEGTyjgs, xvj<; 0£ xepfßXEXxov y.al x£pip.<x/i)xov xrjv
ExotT^e, wo, wie Blass, Attische Beredsamkeit II 163 bemerkt,
das Parison ,Wort für Wort im Sinne parallel und gleich in
Silbenzahl und Accent' verläuft. Eine gewisse rhetorische und
insbesondere rhythmische Verwandtschaft mit unserer Antithesen
reihe, von al'fio'nei; piv sv x<7) xapsovxt angefangen, zeigt eine
Stelle des lysianischen Erotikos in Plato’s Phädrus 233 c .
oi p.sv y®P üyta’-voüav) yv<i)p.Y) p,s6’ uyiai'vovxo? cÄp-axo? sy^EtpsouGi,
Xoftcap-svoi xd xe zapsovxa xwv xe zapoi/op.sviov xä öp.o'Mq Stax£0svxa
xoisi xapEouai, ukjxs xoxs OspaxcUÖEvxa^) eixeiv wc, öranjXXa!;av]. Den
Artikel vor yv(op.v), welchen A darbietet, habe ich trotzdem
weggelassen, weil es mich wahrscheinlicher dünkt, dass der
Die Apologie der Heilkunst.
■131
Artikel, der in diesen wie in anderen Erzeugnissen der alten
Sprache so häufig fehlt, wo ihn Spätere zu setzen liebten,
hier von A’s Schreiber hinzugefügt, als dass er in MR wegge
lassen worden sei. A bietet ihn 8 vor itöp, 10 fin. vor i/.up.
Ebenso haben ihn MR 14 vor iTjxpty.r, eingeschoben; nicht anders
steht es im Nöp.o?, wo die schlechtere Ueberlieferung ihn mehr
mals bietet, die bessere ihn nicht kennt, desgleichen an
mehreren Stellen der Schrift De flatibus. — GsparaeuOsvxa habe
ich durch Hinzufügung eines C, welches vor dem £ in sbuelv
gar leicht ausfallen konnte, in GcpaxsuGgvxa.; verwandelt, weil
die Worte w? «x^XXaljav sich nur auf die behandelten Kranken,
nicht auf die Krankheitsfälle beziehen können. Man vergleiche
Herodot 116: oux io; ^GeXev GnxqXXalja, De prisca med. 10 (I 592 L.):
o't oüv. av Süvatvxo — pvjiäiwi; dixaXXdcragiv, ebend. 20 (I 624 L.):
dal og ot ■/'(xksK&c, dxotXXdrooua;, Aphor. II 32 (IV 480 L.): üciapov
öl eucixsövxe? ßaXxtov ditaXAdccouciv, ebend. II 53 (IV 484 L.):
vaot p.av gövxac ßaXxtov axaXXotacouci. — Aehnlichen Gedanken wie
hier und 13 (S. 62,8) begegnet man im npo-fvwcruty.ov 1 (II 110 L.),
im ersten Buch der ,Epidemien' c. 5 (II 634 L.) und endlich
bei Plato, Ladies 198 a —, eine Uebereinstimmung, auf welche
schon Poschenrieder, Die platon. Dialoge in ihrem Verhältnisse
zu den liippokr. Schriften, Landshut 1882, S. 51, aufmerksam
gemacht hat.
•/.al irX^paic [j.gv tvoucou y.avaoi Ss atxtwv, OsXovxe; Ss xd xpo?
xv]V vousov yjSyj p.äXXov •)) xd icpb? xr,v \jyidr\'i xpoaSa^gcGat, oün axoGavatv
gpövxs? aXXd xapxspsiv aSuvaxsuvxsi;]. Hier habe ich aus vjo-yj in A
■r,3v) entnommen, da mir die Phrase xd itpo? xy)v voögov ’/joea jeder
Erklärung zu spotten scheint, xd xpo? xrjv vouobv aber ist ein
präpositionaler Ausdruck von der Art, wie wir deren im vorigen
Abschnitt einige kennen gelernt haben. Er bedeutet die der
Krankheit gemässen, ihr förderlichen Nahrungsmittel, wie
xd xpo? xy)v umgekehrt das der Gesundheit Gemässe und
ihr Förderliche bezeichnet. Ueber npo; mit Accusativ in ähn
lichen Bedeutungsnüancen vergleiche man, was ich Herodoteische
Studien II 40 (558) angeführt habe. Die schlagendste Parallele
zu unserer Stelle bietet Isokrat. I 14: düngt xwv xxspt xb aäp.a
Yup.vaut'wv p.Y) xd xxpo<; xijv ptbpt.yjv aXXd xd %p'og xyjv üyieiav (Ich
halte die Rede mit 0. Müller, Gr. Literaturg. II 2 391 für
eines der frühesten Werke des Isokrates, während Blass, Att.
9*
132 IX. Abhandlung: Goiüperz.
Bereds. II 259 in ihr mit Pfund, De Isocr. vita et script. -20,
das Erzeugniss eines Schülers erblickt). Dass es Speisen gibt,
welche die Krankheit ernähren, dies ist ein Gedanke, der
auch De prisca med. 6 (I 582 L.) auftaucht: eü ok xp'q touto
ciSeva: oxi xtGi xa po©-jp.axa (1. pu<pvj|j.axa mit M) ev xpoi vouooiotv o'u
cu|r©£p£t. aW avxizpu? oxav xaüxa: irpooai'pwvxai Tcapo^üvovxai ooioiv
oi T£ ttuoexoi y.ai Tot akyr,|j.oixa■ zai SrjXov xb ^poc£V£/0£v xvj p.sv
voisu xpooyj x£ y.ai au^^on; yivop-svov, xw os cibpiax'. ©Gin? x£ zai
äppwz-rir,. Damit verbindet sich die so geläufige und eines
thatsächlichen Hintergrundes nicht entbehrende Vorstellung,
dass abnorme Körperzustände auch krankhafte Gelüste und
Begehrungen erzeugen, man denke z.B. an die y.icroa schwangerer
Frauen. Schliesslich hat im Alterthum auch nicht die Meinung
gefehlt, dass die in ihr Gegentheil verkehrten natürlichen Be
gehrungen die Krankheit ernähren helfen. Dies glaubte man
zum mindesten in Betreff der Wassersucht und des vermeint
lichen unstillbaren Verlangens der von dieser Krankheit Er
griffenen nach Wasser (vgl. Celsus III 21), was Moralisten ein
unerschöpfliches Thema der Vergleichung mit der Geldgier
der Geizigen abgab (siehe die betreffende Literatur jetzt bei
0. Hense, Teletis Reliquiae p. 29, wo allenfalls noch auf Ovid
Fast. I 215' zu verweisen war). Eine Verallgemeinerung aus
diesen und etwaigen anderen angeblichen Thatsachen schwebt
augenscheinlich auch unserem Autor vor. -^oy; ist hierbei kein
müssiger Zusatz, sondern besagt, dass der Patient so weit
unter der Herrschaft der Krankheit steht, dass seine Be
gehrungen bereits dieser und nicht mehr der Gesundheit
unterthan sind. Mit ouz äitoGaväv Epövxs? vergleiche man die
analogen Verbindungen bei den Zeitgenossen unseres Anonymus,
Sophocl. Antig. 220: ouz ecxiv ouxw p.üpo? o? Gavsiv epä, Agathon
Fgm. 7: ©aukoi ßpoxüv yäp xoü tovsiv vjaoü)|j,evoi | 0av£iv ipwoiv,
Eurip. Helena 1639: zaxGaveiv späv soiza?. Daremberg, der
zur Erklärung der Stelle nichts beiträgt, übersetzt dieselbe
ähnlich wie wir: ,ddsirent plutot ce qui est propre a entretenir
la maladie que ce qui peut amener la guerison', glaubt jedoch
,en prenant rjosa metaphoriquemenP p. 43 dieses Wort beibe
halten und der Stelle jenen Sinn abgewinnen zu können.
ouxto? oe 3iazeip.£vouc xoxspov eizo? xouxou? xa u-rcb xuv if/xpwv
£7Uxaoo6p.£va xoieiv •)) öi'hAa xoieiv •/, a exetdxGijaav, 'il xou? ivjxpou?
Die Apologie der Heilkunst.
133
ly-Eivw? Siay.Eip.EVOUt; üq o xpiaQsv Xoyoq Yjpp.^VEUffsv Eiuixaaaeiv xoc pfi]
Seovxa;]. Die von Littre und nach ihm von Ermerins und
Reinhold durch Einschaltung eines \ri] vor dem ersten tcoieTv
nicht zu ihrem Vortheil veränderte Stelle bietet eine gram
matische Singularität dar, die wohl denjenigen stutzig machen
und beirren kann, der sich nicht rechtzeitig der wenig zahl
reichen Analogien erinnert. Es erscheint nämlich dort ein
dreigliedriger Disjunctivsatz, wo man zunächst nur die zwei
Glieder einer Alternative zu finden erwartet. Doch vergleiche
man Andokides I 105: v) §e (Jirjyoc; p rjp.sxepa Svjp.oaia »ptveT, tcöxeoov
ypt) xcu; vop.oi? toT? üp-STepot? icwxeöeiv •)) xob; ouxofavxa? Trapaay.euä-
^scOat 7} aeuye'y abzobq sy. xij<; xoXewg »ai Gwuevai ax; xä/taxa. Hier
ist das zweite Glied der Disjunction in zwei Hälften aufgelöst,
ähnlich bei Herodot I 4: xb p.sv vuv dpxa^eiv yuvamaq avbpwv aoiV.wv
vopli'siv epyov sivat, xb 5s dpxacOeccrsuiv axooSljv Tcoi^caaOat xtpwpEtv
avovjxwv, xb 5s p.rjSsp.i'av äpv;v sjyetv [ap-aaOstaswv] awippovtov. Etwas
verschieden ist Herodot V 6, wo meines Erachtens bisher
falsch interpungirt ward und die Partikel Ss einzuschieben ist:
apyov (aspybv?) s!va'. xdXXioxsv, yf t q Ss spydxyjv äxtp.oxaxov, xb (Be) 'Qry)
änb TcoXsp.ou xai \ry.axboq xdXXtoxov. Hier folgt dem allgemeinen Ge
danken: der Miissiggang gilt den Thrakern als die ehrenhafteste
Lebensweise die nach zwei Seiten hin gewandte Ausführung:
der friedliche, auf Landbau ruhende Erwerb gilt ihnen als
schimpflich, der Gewinn von Beute durch Krieg und Raub
als durchaus ehrenhaft. In unserem Falle bildet das zweite
Glied die negative Kehrseite des ersten. Der Hauptgegen
satz besteht zwischen dem ersten und dem dritten
Glied: was ist das Wahrscheinlichere, dass die Kranken
oder dass die Aerzte ihre Schuldigkeit zu thun versäumen
werden? — Wenn ich statt & ob» Exexd/ÖYjoav mit AM yj a
Enexd^ö^aav geschrieben habe, so geschah dies, weil mir diese
Schreibung, von ihrer urkundlichen Beglaubigung abgesehen,
auch als die einzig sinngemässe erschien. Denn nicht die
Frage, ob die Kranken etwas, was ihnen die Aerzte nicht
verordnet haben, sondern jene andere, ob sie etwas den ärzt
lichen Anordnungen Widersprechendes gethan haben, ist
es, welche dem Gedankenzusammenhang allein entspricht. —
Ich schrieb dvaxiöstci gemäss der von Merzdorf a. a. 0. VIII
189 und Fritsch in Fleckeisen’s Jahrbüchern 1876, S, 109 ei'-
134
IX. Abhandlung: Gomperz.
mittclten Norm, von welcher A’s Schreibung dvaxiOvjai vielleicht
eine Spur bewahrt hat.
8. ä 8’ sxf/.ouprqz ostxai [ks.'pakqz ou/_ airucmai, oeiv oe, efoep qv
Y) xeyrq, TcavO’ 6p.oüi)? täaOai], In dem von A dargebotenen Zu
satz p.e-paAr;; erblicke ich keineswegs mit Ermerins ein ,recens
additamentum idque otiosum'. Konnte doch niemals jemand
leugnen, dass die Aerzte sich in manchen Fällen hilfreich er
weisen. Die Skeptiker sagten und sagen vielmehr: Gerade
in den schweren und wichtigen Fällen, in welchen die Heil
kunst sich zu bewähren und etwas Erkleckliches zu leisten
hätte, lässt sie uns im Stich; ihre Hilfe erstreckt sich nur
auf die Erkrankungen, die zur Noth auch ohne ihr Zutlnin
glücklich verlaufen würden.
ol p.ev ouv xauxa XeY°' |, ' cs ? Toiq tvppois, oxi auxwv
xoiavxa Xsyovxwv oüx. e"i|;.eXovxai ü>z xapaapovsüvxtovj. Man las bisher
eTup.eXoüvxai, während ich exip.eXovxai aus A aufgenommen habe.
Es ist dies die ältere und die ionische Form, welche die
Handschriften bei Herodot I 98 einstimmig darbieten. Vgl.
auch die ionische Inschrift bei Bechtel S. 56 (Nr. 71). Ueber
die Wandlungen dieses Verbums und die allmälige Verdrängung
der älteren durch die jüngere Form handelt eingehend 0.
Riemann im Bulletin de corresp. hellen. III 496—497.
ot.-y'/oei äyvoiav dpp.6^ouaav p.avip p,aXXov y) ap.aOb)]. Mit der
hier und 14 (dort zweimal) nachdrücklich gebrauchten figura
etymologica vergleiche man Plato Pro tag. 324 ä : ext Svj Xonrij
ä-opia eaxiv yjv anopeTi; xxe. und gleich darauf wieder: sv xoöxw
yap aüxr t Xuexat vj äTOpia, tjv au feopeiq. Aehnlich 319 a: auxb
gsv ouv xouxö eaxiv — xb iicäffe^tx 3 enaYYekXop.xi.
aiixiV.a Y«p xwv ev i^xpix^ xawvxtov xup ea/axw? xai'ei, xoüxou oe
■qaaovws äXka xoXXaj. Ueber meine Herstellung von Yjaaovw? hier
und 10 habe ich bereits Wiener Studien II 10 gehandelt, wo
ich auch auf die verwandten Bildungen xpsioGOVw? und eXccxasvu;
bei Antiphon hingewiesen habe. Ich will nur noch die Be
merkung nach tragen, dass eXauaovw; auch in De diaeta I 35
(VI 520 L.) begegnet, wo dieser von den geringeren Hand
schriften dargebotenen, aber allein sinngemässen Lesart auch
an der von mir in M gefundenen Schreibung eXoioaovi eine neue
Stütze erwächst; vjcaovwg erscheint erst bei Josephus wieder.
Angesichts der durch diese Beispiele bekundeten Vorliebe der
Die Apologie der Heilkunst.
135
archaischen Sprache für derartige Adverbialbildungen, welche
der classischen Epoche fremd sind, darf man natürlich auch
iy.avwxäxwp 12 init. nicht etwa mit Buttmann, Ausf. gr. Sprach!.
II 270 antasten wollen.
ä -j-äp icup o-rjp.ioupYsi, icwc oü xä xouxojv p.r, dtXiGy.op.£va SvjXot oxi
«XXyj? xs/vrji; ästxai xai oü xaixvjs, ev p xo xüp op^avov;]. Hier mag
man wohl zweifeln, ob die Lesart xoixwv (A) oder xoixw (MR)
den Vorzug verdient. Ich glaube nach reiflicher Ueberlegung
die besser beglaubigte Schreibung auch diesmal für die sinn-
gemässere erklären zu können. Man muss eben von der
einigermassen künstlichen Wortstellung absehen und die Worte
xa xoixwv p.v] dtXioy.6p.sva so auffassen, als stünde da: xä p.v) dcXi-
oy.6p.iva xoixwv. Man vergleiche 11, wo A’s Schreibung oüosv
o xi xoixwv gleich ist einem xoixwv oüoev o xt, was in den ge
ringeren Handschriften in der That erscheint und das Ur
sprüngliche verdrängt hat. Ein Attiker der classischen Epoche
hätte wahrscheinlich den Satz wie folgt gefasst: wv -fäp rcup
S’rjp.'.oupYcT möp oü xä p.rj dXioyop.sva y.xs. Die losere Syntax
unseres Autors, in welcher die einzelnen Satzthcile ihre ur
sprüngliche Selbständigkeit bewahrt haben, kennt diese Art
von Attraction nicht. Auch xoixwv könnte hei ihm fehlen,
wie Aehnliches uns schon mehrfach vorgekommen ist, und
wie z. B. Herodot schreibt (VIII 80): xä yäp sSscp.vjv -fsveaGai,
aüx'o? aüxo-XY]? yevop.evo? fjxei; oder II 106: xäp Se ox'i/Xap xäp taxa
— ai p.sv TxXeüvs? oüy.sxi «palvovxat xspisouoat. Doch Alles in Allem
ist xoixw noch leichter zu entbehren als xoixwv, da äXtoyop.at von
Homer angefangen, z. B. X 253: IXotp.t y.sv r, y.s äXoirjv oder M
172: v)£ yaxay.xdp.sv — rfi dtXwvat, einfach ,unterliegen, besiegt
werden' im absoluten Sinne bedeutet — eine Gebrauchsweise,
deren Verkennung Littre zu 4 und Ermerins zu unserer Stelle
in gar wundersame Irrungen verstrickt hat.
wv cwtdvxwv ©Y)p,i Setv eydoxou (oü) y.axaxuyövxa xbv ivjxpbv xv;v
oivap.iv aixtaaöai xou mtOsop, p.vj xv)v xs^v^v]. Dass vor yaxaxo/cvxa
eine Negation erforderlich ist, dies haben, wenigstens von
Cornarius angefangen, die sämmtlichen Herausgeber und wohl
auch schon einige Schreiber der geringeren Handschriften
eingesehen; Fabius Calvus hat, nebenbei bemerkt, die Negation
in seiner Vorlage nicht vorgefunden und yaxaxuy_6vxa als zwei
Worte aufgefasst, die er durch ,secundum accidcntm* wieder-
136
IX. Abhandlung: Gompcrz.
gibt! Doch glaubte ich, statt des paläographisch so unwahr
scheinlichen \i:r { lieber oü, was nach s'/.daxou leicht ausfallen
konnte, einschalten zu sollen. Da das Particip ebenso gut
wenn nicht besser einen temporalen als einen Bedingungssatz
vertreten kann, so ist ou ganz wohl an seinem Platze (ou y.axa-
vrfß'na. = cnzovifoyza). r/.actot’ oü zu schreiben, davon hat mich
die Erwägung abgehalten, dass &wmto<; so sehr häufig neben
"«via als Apposition des Theiles zum Ganzen erscheint.
oü [j.Yjy oütü); dtppovwv ol Tau«)? xvji; SrjgioupY^S sprasipoi ouxs |ro)p.r r
tIiov out’ aivexswv Seovxa;]. Das auf den ersten Blick nicht wenig
befremdliche oüts p.iopcQTewv — Ssovxat erklärt sich in folgender
Weise. Der Verfasser denkt an die unverständigen Beur-
theiler der Arzneikunst überhaupt. Da er jedoch unmittel
bar vorher von denjenigen gesprochen hat, die von der
Leistungsfähigkeit der Mediein die ausschweifendsten Vorstel
lungen hegen, so hat er von den zwei complementären Hälften
des Gesammtbegriffs — Tadler und Lobredner — vorzugsweise
die zweite ins Auge gefasst und das Verbum SeToOai im Hin
blick auf diese gewählt. Ueber zahlreiche mehr oder weniger
verwandte Ausdrucksweisen handeln Lobeck Phrynichus 754,
Haupt Opusc. I 264, Stein zu Herodot VI 67, Vahlen im
Berliner Sommer-Programm 1879 p. 1 ff., Gölkel Beiträge zur
Syntax u. s. w. bei Antiphon, Passau 1883, S. 35, zuletzt
v. Wilamowitz Göttinger Winter-Programm 1889/90 p. 18, der
zwar nicht unsere Stelle, aber die auffallend ähnliche aus Alk-
man Parthen. 43—44 (Bergk III 4 38) beibringt, und wieder in
seiner Ausgabe des Euripideischen Herakles II 246 und 298 Anm.
Doch dehnt dieser Gelehrte meines Erachtens den Kreis jener
Spracherscheinung allzu weit aus; mindestens werde ich mich
auch in Zukunft denjenigen müssen beizählen lassen, denen
frischweg ,Unkenntniss der Sprache' vorgeworfen wird, weil
sie in dem Verse des Xenophanes sic Osb? sv ts Osolot yal av-
OpuTrow. |j.=YtaT0? ,einen Widerspruch zu seinem' angeblichen
,Monotheismus' erblicken. Ein ernster Denker spi’icht eben dort,
wo er seine persönlichsten Ueberzeugungen äussert, also sicher
lich weit davon entfernt ist, sich gangbaren Vorstellungen an-
zubequemen, nicht von Göttern, wenn er nicht an solche
glaubt. Und ebenso wenig sehe ich einen Grund, um von
der Zu Heraklit’s Lehre u. s, w. S, 12—13 (1006—1007) vor-
Die Apologie der Heilkunst.
137
gebrachten Erklärung des 20. Bruchstücks abzugehen. — Das
sonst unerhörte ahivr^ durfte natürlich dem von A darge
botenen £TOivsTYjc nicht weichen. Ist doch aivew das alterthüm-
lichere und poetischere Wort (vgl. Rutherford a. a. 0. p. 5)
und auch al'vi) uns nur aus Herodot und seinen Nachahmern
bekannt.
9. Tot piv oöv 7.C/.X3. 10(1; aXXa? te/ v vaq aXXo; xpo'/oq jj.st’ aXXou
Xoycu Seiet], Ueber diese hochwichtige den nichtärztlichen Ur
sprung der Schrift geradezu beweisende, von sämmtlichen
Herausgebern und Erklärern aber mit vollständigem Still
schweigen übergangene Stelle hat bereits die Einleitung aus
reichend gehandelt. In minder gewählten, aber ebenso deut
lichen Worten kündigt der Verfasser von De articulis eine
Anzahl anderer Fachschriften an, so 30 (IV 124 L.): ev aXXw
Xoyw cipyjosTott, 34 (ib. 154): aXX’ ou ßouXop.ai aitozXavav tcv Xöyov,
ev äXXotai yap el'Seai twv voavjp.aTwv zepi toutwv Xeztsov, 40 (ib. 174):
Tcspl to6to)V ev ä'XXw Xoytp ysypottlerat, 41 (ib. 182): aXXa vcept p.ev
TOÖxtov ev xolat xpovi'oici y.a-ca xXe6p.ova voo^jmwiv eipfjasTat, 45 (ib.
190): at Se oXeßüv xa: apTYjpttov ototvuvlat ev exepw Xoyw oeovjXüaovxat,
57 (ib. 246): aXXä Tcspl p.ev toutwv eiepwöt Xoyoi; eorai vjSeX^iap.evo;
tolui vuv Xeyopivotaiv. Jedermann kennt die ähnlichen Verwei
sungen Herodot’s, die in der Regel auf einen andern Theil
seines Hauptwerkes zielen, in zwei nicht unbestrittenen
Fällen (I 106 und 184) über den Rahmen desselben hinaus
weisen. Dass hier von einer erst abzufassenden besonderen
Schrift die Rede ist, ist selbstverständlich und wird dies auch
durch den Zusatz ä'XXoc xpövoc unzweideutig ausgesprochen.
soti yäp Total toötyjv ty]v te/vyjv ixavtöc, eiootu Ta p.ev t<3v voay]-
gotTWV oux ev ouoottw -/.eip.eva y.a': oü oroXXot, toc oe oüy. ev eüo^Xw y.a:
oroXXoc. eariv oe Ta p.ev e'av0euvTa eo ttjv ypoiYjv v) XP 01 ^ ^ ol8^[£aatv
ev eüSv^Xw]. Hier ist der Vulgat-Text durch eine grobe Inter
polation entstellt, zu wmlcher eine leichte Irrung der schlech
teren Ueberlieferung, iroXXd eoTt, Ta o’ etjavOeima statt iroXXor loriv
oe Tot p.ev eqavGeuvTa, die Handhabe geboten hat. Die letztere
Schreibung steht, von wenigen falschen Accenten abgesehen,
unversehrt in A, und nicht wenig befremdet es, dass auch
Littre, Ermerins und Reinhold, welche insgesammt den in A
erhaltenen ursprünglichen und von lästiger Wiederholung freien
Text vor Augen hatten, sich bei der willkürlich zurecht-
138
IX. Abhandlung: Goraperz.
gemachten Vulgata beruhigt haben. Dass dem ecxiv os xä glv
e!;av0eüvxa erst am Anfang des nächsten Abschnittes sein Gegen
satz nachfolgt, kann keinerlei Bedenken erregen. — Das Z. 11
begegnende Sisoxxo? scheint der gesummten übrigen Literatur
bis auf Polybios (XVIII 4, 2) fremd zu sein, während das
11 fin. ähnlich gebrauchte süoxxos (hier ev Suooxxw, dort o'ux, ev
eüöxxw) in der y.otvr, zwar mehrfach, jedoch zumeist in ver
änderter Bedeutung = euxpoocoxoi; vorkommt. — Wenn neben
den Geschwülsten, wie man zunächst o!ofp.axa übersetzen möchte,
nicht auch die Geschwüre erscheinen, so braucht man nicht
etwa zu denken, dass der Autor die letzteren vergessen hätte.
Er gebraucht vielmehr das Wort ol'Svjp.a in jenem umfassenden
Sinn, welchen Galen mehrfach als charakteristisch für die alte
medicinische Sprache hervorhebt, so im ersten Buch seines
Commentars zu den ,Epidemien' (XVII 1, 801 K.): <patvexac y&p
o 'Ixxoy.päxv):; . . . axavxa? xou? xapa <p6t;tv oyxou? oütw; ovogä^etv,
mögen nun die Anscliwellungen hart oder weich, schmerzhaft
oder schmerzlos u. s. w. sein. Ebenso im vierten Buche seines
Commentars zu De victu acut. (XV 770 K.): vjv yap xai xouxo
(sc. otSy]|j.a) xaXai y.oivöv ovop.a xavxwv xwv xapa ipuuiv SywdV, ext
oe xai x5j<; q;.xveu[j,axü)cj£i 1 )5. — Ob im Folgenden otlei oder 3tjn zu
schreiben ist, kann wohl zweifelhaft scheinen. Den Herodot-
Handschriften, welche die i-Formen darbieten, steht das
Zeugniss der Inschriften gegenüber, denen diese fremd sind;
auch erscheint Suväp.et schon auf einem aus dem ersten Viertel
des 5. Jahrhunderts stammenden teischen Steine (I. G. A.
497 b , 31). In den Hippokrates-Handschriften überwiegt die
Schreibung mit et so sehr, dass Littre sie für ausnahmslos
bezeugt halten konnte, I 497. Dies ist nun freilich nicht der
Fall, wie denn A in De natura hominis 7 (VI 48 L.) einmal
von erster Hand 960t bietet. Doch glaubte ich, mindestens
in unserer Schrift, wo die massgebenden Handschriften keine
Spur jener Schreibung zeigen, auf dieselbe verzichten zu
sollen.
uv xs sy.aoxöu 7, xapouab) v; äxooatv) xoiaüx’ eaxt'v], Da das 1
adscriptum bei den beiden Substantiven nicht nur, wie immer,
in A, sondern auch in M fehlt, so beruht die Schreibung der
selben als Dative in R auf der selbstverständlich richtigen
Auffassung eines alten Schreibers oder Correctors.
Die Apologie der Heilkunst.
139
Etjcupr/Vra! ye jxyjv ou xoict ßouXvjGeuuv, aXka xouxwv xoiai 8uvr,-
Gsunv 86vavxai 8s otci xct ts Tr)? xaiosi'r)? [A] sy.xoSwv xd ts xr)<; 960:0?
j;/r ( xaXatxwpa], Die Antithese des Wollens und Könnens ist den
Schriftstellern jenes Zeitalters geläufig, vgl. Gorgias Olymp.:
to yap y.rjpuyp.a y.aXsI [j,sv tov ßouXöp.svov, axs^avot Ss xov Suvap.svov
(ap. Clem. Strom. I 11), Antiphon or. V 73: y.ps:ooov 8e yp-J)
Yq-vscOa: dst xb üp.sxspov Suvap.svov sp.e Saal«? o(L?etv y) xo xöv eyOpöv
ßouXöp.evov a8ty.w? gs axoXXuvai. Von unserer Stelle möchte
man fast vermuthen, dass Plato sie im Sinne hatte, als er
Protag. 326° den Sophisten sagen liess: -/.dt xaüxa xotoöaiv ot
p.dXioxa Suvdp.svor |/.äX:oxa 8s S6vavxa: ol xXouoiMxaxot. Mindestens
ist es seiner persiflirenden Art vollkommen gemäss,- das, was
ein Sophist über die Nothwendigkeit der Bildungsmittel sagt,
auf die Geldmittel umzudeuten, die zur Bezahlung des Sophisten
unterrichtes erforderlich sind. Die Frage nach den verschiedenen
Factoren intellectueller und sittlicher Bildung, nach ihrem Ver
hältnis und dem etwaigen Vorrang von Naturanlage oder
äusserer Beeinflussung, und in letzterem Betracht wieder die
Frage nach dem relativen Werth der theoretischen Unterweisung
oder der praktischen Uebung und Gewöhnung hat eben von
der Zeit der grossen Sophisten angefangen die Denker wie
die Dichter aufs nachhaltigste beschäftigt. Man vergleiche
Nöpo? 2 (IV 638 L.): ypv] yäp — xöv8s p.iv exnjßoXov yeveoGar
96010?, 8toaay,aXtv)?, xöxou eüiposo?, TcaiSopi.aOCYj^, aiXoxovi'y;?, ypovou y.xs.
Ebenso Protagoras Fgm. 7 Frei: 960:0c xai Si8«a-/.aXtv)
Sctxat y.as axb vsöxvjxo? 8e <xpi;ap,svou? Set p.avGavstv, und Fgm. 8:
[j.y)8ev eot: |j.t)ts xeyvr) aveu (j,eXexr)? p,y)xs p.sXsxy) dvsu xeyvr]?, Anti
phon der Sophist, Orator, attici II 151 a 14: xpöxov oip.a: xwv ev
dvGpwxoi? scx: xatoeuot? (es folgt der Vergleich der xat'Seuati; mit
dem Pflanzen wuchs, der im Nop.o? so glänzend durchgeführt
ist), Demokritos Fgm. 133 Mullach: rj 9601? y,at yj StSayr] xapa-
xXrjowv lerer xai yap r; Si8ayvj gexappötf|i6T xov avGpwxov, [/.sxappuap.cuoa
8e 9us:oxotei (die Umgestaltung der letzten Worte bei Waclis-
mutk Stob, anthol. II 213 ist mir unverständlich. Zu fOfioxoiEÜ
vergleiche man Nop.o? 1. 1.: oxw? r, p.dGy)o:? sinpucttoGsiioa — xob?
y.apxou? E^svE-f/.^xai, zu letzterer Stelle wieder Frg. trag, adesp.
516 N 2 : [/.sXsxy] ypovioGsto’ e:? 960:-/ y.ocGioxaxat), Thukyd. I 121: 0
yctp rjpsii? eyop.Ev 9606: ayaGov ey.si'vot? oüy. av ylvoixo Sioayvp 0 8’ iy-lTvo:
ex:fxy]p.y) xpoüyouo: xaGaipexsov eox: p,sXe'x7], Eurip. Fgm. 810 N 2 :
140
IX. Abhandlung: Gomperz.
[aey'.stov äp’ (vjv ap’ Cobet) rj <puat? - tö yäp x.axbv | ouSsic Tpeouv
su xpvjotbv av Oä-rj tots. Auf eine spätere Generation, welcher Alki-
damas, Isokrates, Plato, Xenophon angehören, gehe ich nicht ein.
Doch kann schon diese Zusammenstellung lehren, wie wenig
man aus dem Auftauchen der ererbten Schlagworte bei einem
und dem andern dieser Schriftsteller oder aus der Anwendung
derselben auf das Gebiet der Rhetorik berechtigt ist, auf
wechselseitige Benutzung oder Berücksichtigung zu schliessen,
vgl. Spengel, Isokrates und Platon S. 17. — Die Phrase m ts
Tij<; tpomoq [j.y) TaXafewpa ist bereits von Littre durch die Ver
weisung auf Nop.o? 2: yxp avTi7TpY]affo6air)<; x.svea liävia
aufs beste erläutert worden. A’s äTaXabrwpa ergibt einen ver
ständlichen, aber für den Zusammenhang viel zu engen Sinn;
denn wo es sich um die Grundbedingungen des fachmännischen
oder jedes andern Bildungserwerbes handelt, muss dem Be
sitz oder der Zugänglichkeit der äusseren Bildungsmittel die
Naturanlage und nicht der blosse Fleiss, die Arbeitslust oder
Ausdauer gegenüberstehen. Wie häufig übrigens TaXarawpoq
und äTaXawuopo? in den Handschriften verwechselt werden,
dies lehrt Koraes, Hippocrate, Des airs, des eaux et des
lieux II 210.
10. Der anatomische Excurs erscheint zunächst durch
den Zusammenhang, in welchem er auftritt, nicht genügend
gerechtfertigt. Der Hinweis auf die zahlreichen Krankheits-
processe, die sich im Innern des Körpers abspielen, hätte dieser
Ausführung nicht bedurft. Doch lässt sich nicht leugnen, dass
er durch sie um vieles wirksamer geworden ist. Die Viel
gestaltigkeit des Organismus, sein Reichthum an verborgenen
Stoffen und Gebilden, die insgesammt Ursachen oder Sitze von
Erkrankungen sein können, wird der Einbildungskraft des
Lesers durch diese rasche Umschau nachhaltig eingeprägt, zum
Theil auch seiner Kenntniss vermittelt. Vielleicht mochte über
dies ein wenig icxopi-qq oltzöosä;:? mit im Spiele sein oder, anders
aufgefasst, der Wunsch, sich als sachkundigen Anwalt zu be
währen. Endlich mag den Sprachkünstler auch die Sprödigkeit
des Stoffes gereizt haben, die er in der That vollständig zu be-
meistern verstanden hat. Irre ich nicht, so ist seine Darstellung
in diesem Abschnitt sogar eine erlesenere als anderwärts, gleich
als wäre ihm jener feine Wink des Aristoteles bekannt gewesen,
Die Apologie der Heilkunst.
141
man müsse die scliwunglosen Partien eines Schriftwerks durch
Glanz der Darstellung zu heben trachten.
Z. 2 habe ich xo cuxiov von A angenommen, wenngleich
dieser Singular sonst überwiegend nur die einzelne Speise,
nicht die Speise im generellen Sinn (= xpoqmj) bezeichnet. Doch
zeigt unsere Schrift und insbesondere dieser Abschnitt gar viel
des Ungewöhnlichen; auch scheint die altionische Litei’atur zum
mindesten eine Parallele darzubieten, De loc. in hom. 45 (VI
340 L.) in dem geistvollen und tiefsinnigen Satze: wävxa <pap;j.ay.a
S'.ci xä [Asxay.ivscvxa xo wspeov • wavxa 8e xä Ic/ypizepa p.sxax.ivsouoiv •
3s, v)v p.sv ßoiXvj, oapp-d'/.M [Aexcatvetv, ’^v 8e p.r; ßoüXvj, omw. Die kühne
Verallgemeinerung, mit welcher das ionische und poetische vvpü;,
die Bezeichnung der Bauchhöhle, auf die inneren Höhlungen
des Körpers überhaupt ohne Rücksicht auf ihre Grösse oder
Kleinheit übertragen wird, bedarf keines Commentars. — äolp.-
cpuTos begegnet nur hier und an einer Stelle des Aretaios,
p. 188, 11 Ermerins.
s'xougi p.£v xoi'vuv ol ßpayiovs: cdpy.a xotaüxrjv, e^ouoi 3’ ol (j-vjpot,
s/ouct 3’ ai y.vvjij.at]. Zwischen der hier erscheinenden rhetorischen
Figur, der Epanaphora, und dem Gegenstand, um welchen es
sich handelt, besteht für unser Gefühl ein Gegensatz, der den
gehobenen Ausdruck als affeetirt, wenn nicht als lächerlich er
scheinen lässt. Doch war das Stilgefühl der Griechen des fünften
Jahrhunderts auch in diesem Betracht ein völlig verschiedenes.
Was uns nahezu als Schwulst erscheint, war für sie nur eine
geringe Steigerung der gewöhnlichen Lebhaftigkeit rednerischer
oder erzählender Darstellung. So berichtet Herodot V 26
keineswegs mit besonders starkem Pathos von dem Perser
Otanes: Bu^avxi'ou? xs ei As y.at KaX^rjooviouc, ei Ae 8e ’AvxavSpov xr,v
sv xy; XpMaoi siÄs 8e Aap.7C(bviov, Xaßwv 8s xapa Aeaßtwv vea? eiXe
Avjp.v6v xe y.a! ’'Ip.ßpov.
o xs fap Oupr ( ^ y.aAso|Asvo; ev (i> xb rjwap crsyailexai, c xs xf,c y.e-
oaXv;; y.u-/.Xoq ev w 6 e-yzeapaXoc, xo xs vöxov icpbq w 6 wXeupuov —
cüSsv o xi xoixuv ou y.svewv eoxiv woXXüv Stasuoi'wv p-eaxo;, yjaiv oüSev
äxs/st woXXöv ävyela elvat xüv p.sv xt ßXawxövxcov xov y.ey.XYjp.evov xwv
Ss zai (L<ssXe6vxti)v]. Das Verbum oxs-ya^etv ist wieder ein wenig
gewöhnliches und unerhört in der hier vorkommenden über
tragenen Bedeutung (oxs-ydiiecOat = otzslv). —- o xvji; zeoaX% yjjy.Xot;,
,das Rund des Hauptes', ist ein so gewählter Ausdruck, dass
142
IX. Abhandlung: Go mp erz.
Daremberg an seiner Echtheit eben darum zweifeln zu müssen
glaubte und ihn durch das plumpe v.’j-sc ersetzen wollte. Ferner
beachte man die von A dargebotene zweifellos ursprüngliche
anakoluthische Wendung: ouSev o xt xoüxwv. — Im Folgenden
haben mich die Schreibungen in A und M wX sv w und y.atvwv
eher als an xeväv oder xeveöv an xevewv denken lassen. Und
dieses Wort, in eben der verallgemeinerten Bedeutung wie kurz
vorher vr ( ouc, aber in Anbetracht der durchsichtigen Etymologie
mit weit geringerer Kühnheit gebraucht, scheint hier in der
That gar wohl an seinem Platze zu sein. Denn während man
bisher zu den freiesten Uebertragungen greifen musste, um
den Widersinn zu verbergen, der in der Verbindung von
xsv6v und |j.egt6v lag, gleichwie in der Ertheilung des ersten
Prädicates an den Schädel, den Brustkorb u. s. w., so werden
diese Bäume nunmehr bloss Hohlräume genannt, in gleicher
Weise wie wir von der Brust-, Bauchhöhle u. s. w. sprechen.
— ayyeia etwa in aypipa zu verändern, wäre unstatthaft, da
die Form, wie Fritsch a. a. 0. 22 nachgewiesen hat, gut ionisch
ist; nicht minder freilich äyyog, vgl. Rutherford in ,The new
Phrynichos' p. 23. Vielleicht werden Manche ayyeia durch
<rp(s<uv ersetzen wollen, um das Prädicatsubstantiv dem vor
angehenden Relativ anzugleichen. Doch entspricht die Unter
lassung dieser Assimilation, die auch bei den Attikern nichts
weniger als selten ist, ganz und gar der syntaktischen Eigen
art unseres Autors. — Littre’s vortreffliche kleine Besserung
lg ii statt des die Construction störenden iav. der Ueberlie-
ferung gewinnt vielleicht noch ein wenig an Sicherheit, wenn
wir auf denselben leichten Fehler in De prisca medicina 4
(I 578 L.) hinweisen, mit dessen Beseitigung mir schon Rein
hold zuvorgekommen ist. Es ist nämlich dort zu lesen: r,g
'(up [j.rjäsu; egtiv io'.üVrr,?, aXka ■TOtvxe? imGvfip.S'/eg lg xt, womit
man wieder vergleichen mag Herodot III 113: vüv axoig xt;
xöW «Jtp.evwv ETtiaxaxai EfjXoupyeh eg xogoüxo. — Dem von
Littre über das Wort uziipopo? Gesagten will ich nur das Eine
hinzufügen, dass die Stelle, an welcher dieses Adjectiv bei
Galen erscheint, Introductio sive Medicus 3 (XIV 681 K.),
der unsrigen sehr nahe steht: öp.oüo? 8s v.al cä GÜpiyyeg xai oua
(/■Kccfopa xai xoXixot y.ai ekxy; y.ai xxävxa xa xotauxa oaa y.ax' svoetav xo
ävaiikrjpouaOai ib;xst. Und wenn im Uebrigen das Wort in der
Die Apologie der Heilknnst. 143
liier erforderten oder einer ihr nahekommenden Bedeutung
nicht nachweisbar ist, so entschädigt dafür der so häufige Ge
brauch von u-osopd in der Bedeutung ,Höhlung'.
11. 3'b y.at rlo-qXa ep.oi ts wvop.aoxat y.ai xfj tej'vy) /.sy.pixca slvai].
Der Nachdruck, mit welchem das Wort doy.a wie ein techni
scher Ausdruck hervorgehoben wird, lässt fast vermuthen,
dass es in philosophischen Erörterungen des Verfassers eine
bedeutsame Rolle gespielt hat. In der Erkenntnisstheorie der
Epikureer und der Skeptiker ist xo äSijXov der stehende Ter
minus für das der sinnlichen Wahrnehmung Entrückte. Viel
leicht reicht dieser Gebrauch bis in die Zeit des Protagoras
zurück, der jedenfalls in seinem Götter-Bruchstück unter der
aoYjXÖTy, welche als das vornehmste Hinderniss theologischer
Erkenntniss genannt wird, kaum etwas anderes verstanden
haben kann als eben das, dass die Gegenstände jener Er
kenntniss der Sinnenwahrnehmung unzugänglich sind. Nur so
reiht sich an dies erste Hinderniss passend das zweite: ßpayju?
eibv o ßi'o? xou dvOpdwtou. Wäre die menschliche Lebensdauer eine
längere — so scheint er sagen zu wollen —, dann wäre es
vielleicht möglich, das mangelnde Sinnenzeugniss durch Schlüsse
zu ersetzen, zu denen es uns jetzt an ausreichendem Material
gebricht.
Buvax'ov o’ sw? aT xe xwv vocsovtwv <puais? [ec] xo a/E^O'/ivai craps-
youotv od xe xwv spEuvvjaövxwv ec xr,v spsuvav crEoöy.aciv. |j,sxd ccXsovo? p.sv
Y«p Tccvou y.a: ob |j,ex’ eXcSgoovo? ypcvou xxs]. Die ersten Worte habe
ich so in den Text gesetzt, wie sie, wenngleich mit verschie
dener Wortabtheilung und Prosodie, in A von erster Hand
geschrieben sind. Die Schreibung der meisten wenn nicht
aller übrigen Handschriften Be otsoa xe ist sinnlos und erklärt
sich aufs beste unter der Annahme, dass sie eine Trübung
der in A vorliegenden echten Ueberlieferung ist. Ob übrigens
ooov cd xe wirklich in irgend einer Handschrift geschrieben
steht, vermag ich nicht mit voller Sicherheit zu sagen.
Ich halte es jedoch hier und in anderen Fällen für äusserst
gewagt, aus Littre’s Stillschweigen über die Lesarten einiger
geringerer Parisini — in diesem Falle wären es zwei unter
zehn — irgend welche Schlüsse zu ziehen. Da diese Schrei
bung auch der Aldina fremd ist, so ist sie jedenfalls von
Cornarius in den Text eingeführt worden und ist vielleicht
144
IX. Abhandlung: Go mp er/..
ein seinem Kopfe entsprungener Versuch, die Ueberlieferung
halbwegs verständlich zu machen. In der einzigen der drei
von ihm benützten Handschriften, die nicht verschollen ist, im
Monacensis, habe ich ebenfalls oGa: xs gefunden. Mit der von
uns ermittelten Lesung, hei welcher sw? im Sinne einer nicht
zeitlichen, sondern begrifflichen Einschränkung gebraucht wird,
vergleiche man die von Aristoteles angefangen in Aufnahme
kommende nicht-temporale Verwendung des Wortes. Aus
früherer Zeit liesse sich anführen Plato Phaedo 74 c—a : Sw? oiv aXXo
tScov am xgcuxy]? xi;? ciisw? öi'kko svvGvjcr/)?, slxs cp.owv e’ixs avögotov, avay-
y.aTov, e®7j, a'uxb avap.vYja’y yeyovsvai, Cratyl. 390 a : oü/.ouv oüxw?
iocei? y.ai x'ov vg|ao0exy)v . . ., iw? <äv xb xoü ovcp.axo? eibo? craooiow
xb 'xpGavj'/.ov sy.aGxw ev bicoiaiGOÜv cu/Aaßal?, oübsv ysipw vop.o0EX7;v
slvxt . . .; vgl. auch 393 d und 393 e . — Die Phrase xb ä%i<p0vjvat
T.aaiyonavi (das vorhergehende die Construction störende s? halte
ich für eine Dittographie) entspricht dem Streben unseres
Autors nach strengem, scharfgeprägtem Gedankenausdruck.
Ein Attiker der classischen Zeit hätte wahrscheinlich cxiil/acOat
^apsyouaiv geschrieben (doch vgl. Plato Charmid. 157 b , trotz
Cobet’s Machtgebot Var. Lect. 296); ein Ionier durfte, selbst
ohne den Artikel, eine Form mit Passivbedeutung setzen,
welch letztere dem, von späten Byzantinern abgesehen, nur
hier erscheinenden cy.EGOypat in der That fast sicherlich zu
kommt. Plaben doch ionische Schriftsteller wie Herodot weit
häutiger als Attiker auch Adjective wie äiy.o?, euttsxv;?, süxpSTrj?
mit Passiv-Infinitiven verbunden •— s. Krüger Gr. Gr. 55, 3, 8
und 9 (8) —; demselben stehen auch hierin Antiphon und
Thrasymachos nahe (Tetral. I I, 1: -/aXexoi xat S layvwGOvivai
y.y.1 o£i-/6y;vai eixiv, Thrasym. Fgm. 2 fin., in Orat. att. II 163 a
34: Tüpüjxov gsv siaxpio? xoAtxsix xapayr,v aiixoi? xapsyst, pacxr,
y v co x 0 f, v a t y.xs.). In anderem Zusammenhang schreibt auch
unser Anonymus: Tcapsysi -— xicOavscOai (oben S. 54, 13—14). —
spsuva gehört zu den am seltensten gebrauchten Bestandtheilen
des griechischen Wortschatzes. Es scheint, wie die aus den
Fünfzigerjahren des 4. Jahrhunderts herrührende ionische In
schrift C. I. G. 2691 = Dittenberger’s Sylloge 76 lehrt, ur
sprünglich der Sphäre der Gerichtssprache angehört zu
haben, und zwar in der Verbindung epsuvav wsisTcOai, die bei
Pseudo-Aristoteles Oecon. II 1351 b 34 wiederkehrt. Ungewiss
Die Apologie der Heilknnst.
145
bleibt es, ob unser Autor das Wort direct aus diesem Ge-
braücbskreise entlehnt bat, was zu seiner Neigung, den Pro-
cess der wissenschaftlichen Forschung mit jenem einer gericht
lichen Untersuchung zu vergleichen, wohl stimmen würde
(man denke an x.axvj^opsu, y.axvjyopo«;, u. s. w.), oder ob
die Sprache eines älteren Dichters hierbei die Vermittlerrolle
gespielt hat. Sophokles und Euripides gebrauchen dasselbe je
einmal, im Uebrigen wird es nur aus der späten pseud-
aristotelischen Schrift De plantis 815 a 31 und 821 b 32, des
gleichen aus Dionysius De comp. verb. p. 91, 2 nachgewiesen.
— Das Reimspiel von x6vo; und ypcvoc eignet von Archiloclios
angefangen (Fgm. 142, II 4 427 Bergk) den verschiedensten
Gattungen der griechischen Rede. Man vergleiche Epidemien
I 4: -j'svogEVWv oe ypovwv p.owp6W x.cd xcvwv tco/.äöv und 5: äy.pcafczs
tovou; ypsvou; ^ Gaväxo'Jc xxi. (II 628 und 634 L.), Plato
Staat 369 e : y.al XExpa-Aaciov ypsvov te v.al irövov avaWoysiv y.xs.,
Epikur hei Laert. Diog. X 133: to 8s tüv y.ay.öv wo v) ypovcuc •!)
Trcvoup lysi ßpaysic, Appian De bell, civil. II 31, 715, 21 Men
delssohn: y.a! ioyupi^ovxo tw Ilop.K-piw T7jv oxpaxiav Kafoapop xsxpu-
[xevyjv xe tovio xal ypovw y.xi. S. auch Lukian, Somn. I.
ooa yap xfjV töv op.p.axwv cilnv «qpeüfit, xaury x^ xvjp yvcüp.Yii;
ctfsi -/.Ey-pät^xa 1 .]. Die hier zum ersten Male auftauchende Meta
pher ist nicht nur den Griechen aller Zeiten (s. Einleitung
S. 6—7), sondern ebenso den Römern vertraut geblieben, den
heidnischen (vgl. Cicero De nat. deor. I 8, Orator 101, Columella
De re rust. III 8, 1, Apuleius De dogm. Plat. I 6) wie den christ
lichen (Augustinus De quantit. animae IV 6, Claudianus Ma
mertus, s. Engelbrecht’s Index s. v. oculus, Corp. script. eccl.
XI 244b, und seine ,Untersuchungen über die Sprache des
Claud. Mam/ S. 21 [Wien. Sitzungsber. CX, 441]). Nicht minder
den modernen Schriftstellern aller Nationen; man vgl. z. B.
aus neuester Zeit Froude Oceana p. 157: If intellect is the
eye of the mind etc. oder Tyndall On sound p. 5: Scientific
education ouglit to teach us to see the invisible as well as the
visible in nature, to picture with the eye of the mind those
operations which entirely elude the eye of the hody. Es ge
reicht einem Autor zu nicht geringer Ehre, ein Bild in die
Literatur eingeführt zu haben, dem eine so wahrhaft unver
wüstliche Lebenskraft innewohnt.
Sitzungsber. d. phil.-hist.. CI. CXX. Bd. 9. Abh.
10
146
IX. Abhandlung: Gomperz.
•/.at ocra Ss sv xw p,-}) xa/b ooGvjvat ol vccsovxe? xrdoyoux'.v, objr ot
GspsixsiovxE? abxsbp atxtot zxe.]. Ueber die in unserer Schrift so
häufige lockere Verbindung des Vordersatzes mit dem Nach
satz ist bereits gesprochen worden. Mit sv xw jj.vj tccyb otpGvjvai
lässt sich in doppelter Rücksicht, wegen der, hier freilich nicht
gleich scharf hervortretenden, causalen Bedeutungsnüance der
Präposition und wegen ihrer nicht eben gewöhnlichen Ver
knüpfung mit dem substantivirten Infinitiv des Passivaoristes,
Antiphon or. I, 8 vergleichen: sv §1 xw pd; ßacravidfijvai r^v.xo ttjv
awxr ( p(av eivat.
Aus dem Folgenden sei eine Anzahl imgewöhnlicher oder
in ungewohnter Anwendung gebrauchter Worte angemerkt: x'o
p.oyj)e'ov, womit man wohl am besten Soph. Phil. 675 x'o vocrouv
und die bekannten Substantivirungen des Particips bei Thuky-
dides und Antiphon vergleichen kann; ferner p.eYaXuvEoOai, ein
Verbum, das überaus selten in anderem als in übertragenem
Sinne gebraucht wird; ixpoooTxeov, ein Verbaladjectiv, das über
haupt nicht anderwärts nachgewiesen ist, während auch ixpoa-
opäv selbst sonst niemals in der hier erforderten Bedeutung
begegnet.
■q p.sv y«p ocic'Gop.evv) Gspairsbeiv], Hier beachte man die
prägnante, den grammatischen Formenunterschied voll verwer-
thende Ausdrucksweise unseres Autors. Dass der von A dar
gebotene Aorist von Littre, Ermerins und Reinhold verschmäht
worden ist, darf füglich Wunder nehmen; man vergleiche auch
den Schluss des Abschnitts: ob Xap.ßavop.evot yäp aW e!Xv]p.p.svot —.
£' l'crou p.sv Y*p bpp.0bp.8v0v ty) OspairstY; ob* soxt Oaooov, ixpoXaßbv
cs Odtcoov xpoXap.ßävs'. os oia xs xr ( v xwv cwp.dx(<)v axsYvbxrjxa, sv i] ob*
sv ebbxxw oizsoumv at vcucroi, oia xs xr ( v xoiv y.ap.vovxoiv oXiywpnjv sxsi
xi 0wp.a; ob Xap.ßavop.svoi *xs.]. Ueber suo^xop ist schon früher ge
handelt worden. gxsyvgxyjs begegnet nur hier und in dem
unechten Anhang zu De victu acut. II 484 L. Zu eitet xt
0iop.a; vergleiche man etwa Eurip. Hippol. 439: epct? • xt xoüxo
Oaüp.a; auv Tio'hkoic, ßpoxwv. Zu dem Gedanken endlich, dass die
Krankheit durch den verspäteten Beginn der Behandlung einen
nicht wieder gutzumachenden Vorsprung gewinnt, kann ich
nicht umhin, eine anziehende Parallele aus Fielding’s Tom
Jones I cli. 7 hieher zu setzen: ,What eise is meant by that
old adage, venienti occurrite morbo? .... Thus the doctor
Die Apologie der Heilkunst.
147
and the disease meet in fair and equal conflict; whereas by
giving time to tlie latter we often suffer liim to fortify and en-
trencb himself like a French army. . . . Nay sometimes by
gaining time the disease applies to the French military politics
and corrupts nature over to bis side, and then all the powers
of physic must arrive too late/
12. "Ext tr ( c zey'/TjC tyjv S6va[xtv oTtoxav Ttva xüv ta äSyjXa vo-
oeovxwv avaoxvjcrY] 0ü>p.d^s'.v äfy.dnepov i) ozöxav jj.vj iyysip^G-p xoT? äouva-
Tot? (öicep®pov£i;v)]. Ich habe hier das von A und M dargebotene
aufgenommen und demgemäss nach der von Littre mit
Recht erhobenen eventuellen Forderung dem zweiten Satzglied
ein Verbum im Sinne von p.E|j.©eG0ai beigefügt. Littre selbst
glaubte bei der Vulgat-Lesart stehen bleiben und jener An
nahme einer kleinen Lücke entrathen zu können. Er über
setzte daher die Stelle wie folgt: ,cela dtant, la puissance de
hart me parait plus admirable quand il rend la sante a quel-
que malade atteint d’une affection cachee, que quand il s’at-
taque ä des choses impossiblesh Es genügt, wie ich meine,
diese, von den falsch überlieferten und unübersetzbaren Ein
gangsworten abgesehen, getreue Wiedergabe des Vulgat-Textes
ins Auge zu fassen, um seine Unhaltbarkeit zu erkennen. Denn
nicht die tiyyr t ist es, von der unser Autor, der x'o p.vj eyyeipeiv
zohi •/.c/.parrjp.EVOiaiv in ihre Definition aufgenommen hat, füglich
ein iyystpsh toi? aSuvdxo'.? behaupten kann. Höchstens könnte
er dies von einem ihrer minder fähigen Adepten sagen, dessen
Gebahren sich nicht wohl mit jenem der Kunst selbst in Ver
gleichung setzen lässt (äijiwxspov). Allein auch wenn jemand
dieses Argument für spitzfindig halten sollte, so wird er doch
nicht leugnen können, dass der nachfolgende Satz: oüzouv sv
aXXrj ye Sv)|AtoupYW] — Iverov oüosv xoioüxov die Rechtfertigung
jener Unterlassung (oxcxav p.rj iyyjtp^avj) enthält und sich nur
an den von AM dargebotenen, nicht an den Vulgat-Text pas
send anschliesst.
y.al ogou xo'. £v siisTcavopOwxotoi cdip.act o^p.toupysijvxat, ai p.ev p.sxä
ijüXwv ai oe p.sxä gxutewv, ai Se Ypavfl ’/ßAv.M te y.a! uio^pw xat xowi
to'jtwv . . . |A£Vooy v ^|J.aöiv spyaoiat irXeTaxai], Mit oaai toi vgl. Aristoph.
Thesmoph. 899 Mein.: ö-ica xot ßoOXet. — EÜs-avopGuxo? ist ein
bisher nur hier nachgewiesenes Wort, während sein Widerspiel
Buaeroxvop0Mxo? ebenso wie das im Schlussabschnitt vorkommende
10*
148
IX. Abhandlung: Gomperz.
suS'.ipGw-cc und das ihm entsprechende SucotipOoncc doch nicht
ganz und gar verschollen sind. Die Aneinanderreihung der vpasi)
und der zwei unedlen Haupt-Metalle kann einen Augenblick
stutzig machen, doch liegt schwerlich ein Textesschaden vor.
Denn ypocyrf ist hier, wo die Leichtigkeit, begangene Fehler
wieder gut zu machen, beleuchtet werden soll, an sich gar sehr
am Platze. Demgemäss liegt es wohl am nächsten, bei yotAxw
und cno'fjpu an Gegenstände zu denken, die aus diesen Metallen
gefertigt und deren Form durch Guss- oder Hämmerarbeit
leicht verändert werden kann. Grosse kritische Schwierigkeiten
bereiten die nächstfolgenden Worte, deren genaue Lesung ich
der zuvorkommenden Güte H. Weil’s und H. Omont’s verdanke.
Klar ist nur soviel, dass hier eine paraphrastische Bezeichnung
anderer Metalle vorlag, die in MR durch das Glossem öp.olotGi
verdrängt, in A aber, wenngleich in verstümmelter Gestalt,
erhalten ist. usvocjyr ( ij.ac7'. (was der Schreibung A’s zu Grunde
liegt) muss der Rest eines Compositums sein, welches ,verwandt*
oder ,gleichartig* bedeutet, das aber in dem uns bekannten
Wortvorrath der griechischen Sprache schwerlich aufzufinden
ist, etwa ^SiA®iap.£voa/ w f,p.aij[, wie denn äoeXoiLco und ^iEA®tqj.sv3?
in den Schriften der hippokratischen Sammlung vergleichsweise
häufig begegnen. Die metaplastische Endung statt
erscheint auch in c[j.oioa'/r i \j.aiy., welches die Theo-
phrast-Handschriften (De causis plantarum VI 2, 4) statt ogoto-
G-/v)[j.ova darbieten. Eben das letztere Wort (öp.otcy^jj.otji) wollte
Reinhold hier einsetzen. Die Paraphrase aber dient wohl vorzugs
weise dazu, den Begriff ,Metall* auszudrücken, da [j.eitzAAov oder
(j.ETO'AAetov — welch letzteres Wort einmal Plato in ähnlicher
Verbindung verwendet: tn?r,po? ts y.ai yaAzb? y.ai toxvta xä p.sxaX-
Aela (Ges. III 678 d ) — dem. Verfasser wohl zu hausbacken
klang, wenn anders diese Worte zu seiner Zeit nicht mehr
ausschliesslich die Bergwerke, sondern auch schon ihre Pro-
ducte bezeichnen konnten. Uebrigens beabsichtigte er wohl
auch nur die gemeinen Metalle, wie Blei, Zinn u. s. w., nicht
aber Gold und Silber herbeizuziehen. Meine Herstellung ipya-
ob.i bedarf schwerlich einer eingehenden Rechtfertigung. Das
Auge des Schreibers ist eben von dem ersten occn auf das
zweite übergesprungen. Ein merkwürdiger Anklang an diese
und die nachfolgenden Sätze begegnet uns in der vor wenigen
Die Apologie der Heilkunst.
149
Jahren aus der syrischen Uebersetzung wiedergewonnenen
Schrift des Themistios flepl äpivqq, Rhein. Mus. 27, 448:
,Denn wenn (zwar) für den Schuster nicht Felle vorhanden
sind, muss er feiern, und der Weber, wenn er keine Wolle
hat, und der Schmied, wenn er kein Eisen antrifft. . . / Auch
beachte man daselbst den zweitnächsten Satz, den man kaum
anders zurückübersetzen kann als: £•/. yap p.uäi; p^rjc ßXaorivei f)
xe ti/rt] -/.ai xa xxpbi; xijv xs/v/jv (vgl. hier Einleitung S. 11). Die
Vermuthungen, die sich hieran knüpfen, sind zugleich zu un
sicher und zu naheliegend, als dass man sie weiter ausführen
möchte.
eovxa [8e] xa b. xoüxwv -/.ai p.sxä xoüxwv Syjp/.cupyEÜp.Eva siÜ£7ta-
vcpöwxx, op.w? oü x(i) xaysi p.x/.Xov i) üq oel SvjiJUOupYeixat • ou8’ üixep-
ßaxöR • ÄXX’ ijv xi xöv cpyavwv eXivöei • xaixot -/.ajfgtvxjat xb ßpaou
Txpb? xb XugixeXeüv äaüptipopov • äXX’ op.w:; ixpoxi|xäxaij. Die Stelle,
welche von Ermerins mit äusserster Gewaltsamkeit behandelt
und auch von Reinhold übel zugerichtet worden ist, leidet
an zwei leichten Fehlern der Ueberlieferung. xa nach eovxa
ist in A ausgefallen, in den geringeren Handschriften aber,
welche eovxa fallen Hessen, erhalten, und Ss ist schon im Arche
typus , dessen Schreiber die Construction des Satzes nicht
verstand, eingeschoben worden. Das in Wahrheit vorliegende
Auakoluth beruht darauf, dass an die Stelle der erzeugen
den Künste des Relativsatzes im Hauptsatze die Erzeug
nisse derselben treten. Dieser Mangel an Concinnität, der
durch die lange Reihe der dazwischentretenden Appositionen
(ai p.ev — TiAsürxai) entschuldigt wird, hat seinen tieferen Grund
darin, dass das Schwergewicht des Gedankens auch im Vorder
sätze auf den leicht wieder gutzumachenden Arbeitsstoffen
ruht, die nun im Nachsatze auch zum grammatischen Subject
erhoben werden. Dieser Wechsel ward durch den Umstand
erheblich erleichtert, dass der Grieche das Verbum 3r ( p.ioupvE?v
ebenso gut im Sinne der Ausübung einer Kunst wie in jenem
der Bearbeitung ihrer Rohstoffe und der Verfertigung
ihrer Erzeugnisse gebrauchen kann. Zu xa ey. xoüxwv -/.ai p.exä
xoüxwv or ( p,!oupYEÜp.£va mag man allenfalls Plato Politicus 288 ll
vergleichen: cwp.xxa . . . . iq wv -/.a! ev o'iq St)p.ioupYoua(V cxxooai xwv
xsyvwv vov £ipv]Vxxi. — Das Adverb ÜTcspßaxw? kennen die Wörter
bücher nur aus unserer Stelle. Auch die Bedeutung des Wortes
150
IX. Abhandlung: Gomperz.
ist hier eine andere als jene, in welcher uns das Adjectiv
hei Aischylos Agam. 411 Kirchhoff = 436 Wecklein und hei
Thukydides III 25 begegnet. Sie' bildet augenscheinlich die
Vorstufe des rhetorisch-grammatischen Gebrauches von uiipßa-
tov, welche zuerst bei Plato (Protag. 343°) auftaucht. Man
könnte wohl daran denken, aus A’s Schreibung den Plural
eXivöou.aiv zu gewinnen, lim diesen auf die xs/vat oder die Svjp.i-
cupyo! zu beziehen. Doch scheint es gerathener, beim Singular
stehen zu bleiben, sei es nun, dass dem Autor hiebei der ein
zelne Sr l [j.ioup'(cq vorschwebt, sei es, dass er mit etwas grösserer
Kühnheit den Ausdruck auf die brachliegenden Arbeitsstoffe
selbst anwendet. Ueber die Schreibung des poetisch-dialekti
schen sXwöei, welches, nebenbei bemerkt, in M durch eine lange
Glosse erklärt wird, vergleiche man Gregor von Corinth p. 502
Schäfer. In Bezug auf xo ßpaoi und xo XusixeXeüv ist wieder an die
Vorliebe der Zeitgenossen unseres Anonymus (Gorgias, Antiphon
und insbesondere Thukydides) für die Verwendung neutraler
Adjective und Participien im Sinne abstracter Substantive zu er
innern. acup.tpopov endlich, das ja sonst gewöhnlich ohne weiteren
Zusatz das Unnütze oder Schädliche bedeutet, wird hier, was J. H.
Schmidt in seiner ,Synonymik' IV 162 nicht entgangen ist, in
einer Weise gebraucht, welche die ursprüngliche Bedeutung
von au(*®epsiv = beitragen deutlich durchschimmern lässt. Eine
nicht uninteressante Parallele zu dem hier ausgesprochenen
Gedanken bietet Burke Reflections on the Revolution of France
(Works II 439): ,If circumspection and caution are a part of
wisdom, when we work only upon inanimate matter, surely
they become a part of duty too, when the subject of our dc-
molition and construction is not brick and timber, but sen-
tient beings.'
13. Auf das Verhältniss des Anfangs dieses Abschnittes
zum Schluss des vorangehenden passen genau die Bemerkungen
J. H. Schmidt’s bei Rettig, Platon’s Symposion II S. 185: ,Un
möglich kann' eine oratorische Periode rhythmisch wie die andere
ablaufen; sie bilden gegenseitig rhythmische Antithesen.'
Dem kurzen, fast zerhackten und wie hastig hervorgestossenen
Satzgliedern stehen hier mehrere durch ihre Länge den Athem
erschöpfende und zugleich durch die Schwere ihrer Rhythmen
den Fortgang hemmende Sätze gegenüber.
Die Apologie der Heilkunst.
151
äitecxspyjgevrj ti tSeiv cd/et vj xä xrdyxa icavTs; iy.avwxaxw; bptSai,
op.o)q ijjMt euTCopi'a:; cuvspyob? sips], Zu dic£CTepY)p,ev/j — tOEiv ver
gleiche Sophokles, Fgm. 609 N-: A^Oyjv xe xf|V (xd) yrdvx’ d-xsoxs-
py)p.£vr ( v, | x(o?v;v avauBov. — Zu eü-opt'a<; ouvspyou; im Sinne von
Hilfsmitteln, die der Rathlosigkeit ein Ende machen, vergleiche
man, was wir zu zcaa-pfe/dY) <puctoc 1 über derartige kühne und
erlesene Wendungen unseres Autors und anderwärts über seine
Vorliebe für Plurale von Abstracten bemerkt haben. Im Fol
genden verdient äiacra0p,wp.Evr] angemerkt zu werden. Das
Verbum begegnet nur hier, wo es dem schon von Herodot
vielgebrauchten oxaOjj-daOa; = ermessen, erwägen, schliessen ent
spricht — nur liegt in Bia eine auf Unterscheidung bezüg
liche Begriffsnüance —, und ausserdem in ganz verschiedener
Bedeutung bei Euripides Suppl. 201.
oxav oe xauxa (pj) pjvüiovxai p;o’ aüxi] r, ?5oi<; sy.o5oa a<pcrj, ävaY-
v.aq süp^y.sv, fjatv yj 0601c aQr t \ixoq ßiacGslua |j.sOiV ( oiv p.E0EToa Be oyjkoi
•/.Xe.]. Diese Stelle ist eines Ehrenplatzes in der Geschichte des
inductiven Geistes würdig. Das Wesen aller experimentalen
Forschung, die Naturbefragung und die künstlichen Veran
staltungen, durch welche die Aussenwelt gleichsam einem
peinlichen Verhör unterzogen und dem forschenden Men
schengeiste Rede zu stehen genöthigt wird, gelangt hier zu
deutlichem und glänzendem Ausdruck. Das Bild, in welchem
dieser Gedanke sich verkörpert, ist von Baco’s Tagen an
wie zu einem Schiboleth der inductiven Forschungsweise ge
worden. Wenn ich mijmc, mit ,Foltei - zwang' übersetze, so ist
diese Uebertragung durch die Bedeutung des Wortes selbst,
welches soviel als ,Zwangsmittel' besagt (vgl. z. B. De articulis
IV 142, 206, 210, 300, 302 Littre), nahegelegt; empfohlen wird
sie durch den Zusammenhang, durch Ausdrücke wie xaxy)YopsÜv,
•/.axv/Yopov, säjaYYskAovxa, Epp.vjveuogevwv im Folgenden, welche insge-
sammt Aussagen bezeichnen, die der Natur durch die hier
geschilderten künstlichen Anstalten abgerungen werden, und es
somit zweifellos machen, dass dem Verfasser in der That die
Vergleichung des Forschungsprocesses mit einem Gerichtsver
fahren vor Augen schwebt. Zu allem Ueberfluss verwendet
schon Herodot den Ausdruck in der hier erforderten Bedeutung:
6 oe E? xi; md'f/.c/.c oüxw Bf, soaivE xov Eovxa hoyo'i (I 116).
Wie weit der Verfasser unserer Schrift seiner Zeit vorangeeilt
152
IX. Abhandlung: Gomperz.
war, dies erhellt auch diesmal aus der unzerstörbaren Kraft,
welche das von ihm geprägte Gleichniss bis auf den heutigen
Tag nicht veralten liess. Vgl. Baco De augm. scient. II, 2
(Works ed. by Ellis-Spedding I 500): Quemadmodum autem
ingenium alicujus haud bene noris aut probaris, nisi eum irri-
taveris; neque Proteus se in varias rer um facies vertere solitus
est, nisi manicis arcte comprehensus; similiter etiam
natura arte irritata et vexata se clarius prodit quam cum
sibi libera permittitur. (Aehnlich Nov. org. XCVIII, Works
I 203, und Prooem. Magn. Instaur., ib. 141). Desgleichen Pro
teus s. Materia in der Abhandlung De Yeterutn fabulis, Works
VI 652: Nihilominus, si quis peritus Naturae Minister vim ad-
hibeat materiae et materiam vexet atque urgeat etc.
,Es ist nicht genug/ sagt Schopenhauer (Werke VI 120), ,dass
man verstehe, der Natur Daumschrauben anzulegen,
man muss auch sie verstehen können, wenn sie aussagt/ (Wenn
diese Batterie 1 (so bemerkt Coleridge an einer Stelle, welche
Mill Logik III 2 159 der Anführung werth erachtet hat) ,für
Davy bloss ein Zufall gewesen und nicht, wie es wirklich der
Fall war, von ihm in der Absicht erstrebt und erlangt worden
wäre, um seinen Denkergebnissen das Zeugniss der Erfahrung
zu sichern, die materielle Natur dem Verhöre der Ver
nunft zu unterwerfen und ihr wie durch Folterzwang
unzweideutige Antworten auf vorbereitete und vorbedachte
Fragen zu entlocken: dann würde man' u. s. w. Noch vor
wenigen Wochen hat Feldmarschall Graf Moltke dasselbe Bild
zur Ulustrirung des gleichen Gedankens verwendet (s. Neue
Freie Presse vom 25. October 1889).
Schliesslich sei noch darauf hingewiesen, dass das sonst
meines Wissens nicht bezeugte Medium jj.YjvüscrQat hier mit
gutem Bedacht gewählt scheint, um die ,Selbstthätigkeit' der
Natur (vgl. Kühner, Gr. Gramm. 2 II 97) zu bezeichnen. Die
Medialform präludirt aufs beste dem nachfolgenden jj.-qo’ auri)
.... sxoüua ij'.vj.
ßwüSTai Bs tooto jj.sv Kup t'o oövipoipov fXeyiJ.O'. c’y./Av uitt'wv
§p![v,6vr)Ti Y.zi Trop.scTwv, öiztoq iev.\i:r l pr l ial "t öoösv lispt ey.etvwv iov aiirp
Iv äp.Tj/avu to 09Ovjvat 7)v]. Hier sehe ich mich genöthigt, von
der seit Cornarius herkömmlichen, auch durch Littre’s und
Daremberg’s IJebersetzungen, welche to oivTpooov mit roJp ver-
Die Apologie der Heilkunsfc.
153
binden, vertretenen Auffassung abzugeben. Da die Verbindung
von cuvxpotpoc weder mit -Sp zur Bezeichnung des i[i.ouxov öspp.ov,
noch auch mit ©Xs-fp.a nachgewiesen ist, so lasse ich mich bei
der Entscheidung über diese Frage von den nachfolgenden
zwei Erwägungen leiten. x'o aiivtpscpov von ©XeyiJ.ce zu trennen,
erscheint mir als eine kaum erträgliche sprachliche Härte.
Zweifelhaft kann man aber darüber sein, ob der Zusatz cg
GÜvipo^ov das ©Xeyp.a nur als einen dem Organismus von Haus
aus ungehörigen Bestandtheil bezeichnen (so Fabius Calvus:
,pituitam insitam et coaltanF), oder ob derselbe auf einen
Zustand des ©Xeyfj.a hinweisen soll, welcher seine Zertheilung
nothwendig macht. Ohne mich für die letztere Alternative
entscheiden zu wollen, möchte ich doch daran erinnern, dass
nicht nur xpeasiv und ixepixpapetv schon von Homer angefangen
,fest, dick machen' heisst (man vergleiche auch xpcepi©, xpcoösi;,
xpoffiaXt? und xpasepi;), sondern auch auvxpeceiv mindestens bei
Plato Phädo 96 b , Tim. 75 a in gleicher Bedeutung begegnet.
Zu erstem- Stelle vergleiche man auch die Lexikographen,
Etymol. magn., Suidas, Photius s. v. xpe©s3f)at, die insgesammt
das cruvxpeepexat der Phädostelle durch auveaxaxa!, tcyjyvuxae wieder
geben, wobei Photius, der wohl aus Boethos schöpft, auch an
das homerische xpo©t -/.up.a (A 307) und an t 246: mv.v.a 3’ fjp.iau
p.sv Opstkxp Xeu/.oTci ydXay.xo; erinnert. — Es scheint im Uebrigen
zweckmässig, den Satz, der mancherlei Schwierigkeiten bietet,
durch eine wörtliche Uebersetzung zu verdeutlichen: ,sie (die
Kunst) zwingt aber einerseits das Feuer, den verdickten
Schleim zu zertheilen durch Schärfe der Speisen und der Ge
tränke, damit sie an etwas Geschautem einen Anhaltspunkt
gewinne zur Erkenntniss von Solchem, dessen Erschauen für
sie nicht im Bereiche der Möglichkeit lag/ Der Arzt — dies
ist der Gedanke des Verfassers — veranlasst den Kranken,
scharfe, erhitzende Speisen und Getränke zu sich zu nehmen,
welche die Kraft des dem Körper innewohnenden Feuers
steigern. Die erhöhte Körperwärme aber schmelzt den ver
dickten Schleim, macht ihn dünnflüssiger und ermöglicht es
so, dass derselbe ausgeworfen werde und durch seine Be
schaffenheit dem prüfenden Arzte die erwünschte Belehrung
ertheile. Die Voraussetzungen dieser Argumentation entbehren
durchaus thatsächlicher Wahrheit, entsprechen aber ganz und
154
IX. Abhandlung: Go mp er z.
gar der kindlichen Physik jener Tage. ■— Die Phrase omg
•c£-/.(j,YjpYj-a{ tt oföev erscheint auf den ersten Blick verdächtig, da
tex|M({po(MU so ungleich häufiger auch bei den Zeitgenossen des
Verfassers mit einem instrumentalen Dativ oder mit einem von ex
oder dito abhängigen Genetiv verbunden wird. Doch fehlt es
nicht an einer zutreffenden Parallele. Sie findet sich in der
Rede der Platäer bei Thukydides III 53: Tey.p.capop.svoi . ... '6 ~e
exepdnvjjra ßptxyb ov, was Krüger ohne Zweifel richtig also erklärt:
,t6 ts — ov kann nur von Tsy.p,o:ipop.svoi regierter Accusativ sein:
die Frage so kurz gestellt deutend' (das noch weiter hinzugefügte
,erschliessend‘ ist von Uebel). An unserer Stelle ist der Sinn der,
dass das Sichtbare zum Tszu^ptov, d. h. zum Erkenntnissmittel,
zum Ausgangspunkt von Schlüssen in Betreff des Unsichtbaren
erhoben wird. Man vergleiche beispielsweise Eurip. frg. 574 und
811 N 2 . Damit Niemand daran denke, den von A dar
gebotenen Conjunctiv des 1. Medial-Aorists auf Grund des so
genannten Canon Dawesianus mit dem in M erscheinenden
Futur zu vertauschen, sei auf die reiche Stellensammlung bei
Kühner, Gr. Gramm. 2 II 899 hingewiesen, aus welcher die
Nichtigkeit jener Regel, zumal in Betreff der Sprache Herodot’s
und der Tragiker, sonnenklar hervorgeht.
tcütq . B’ aö xvEÜp.a wv xaTijyopov SSöIgi ts icpocravTEO’. y.ai Bpogctp
ly.ßtäTa: zaTTiYopElv]. Hier überrascht uns zunächst das anderweitig
nicht nachgewiesene, aber dem Streben unseres Autors nach
strenger Sprachrichtigkeit vollkommen gemässe Neutrum y.G.vr l -
fopcv, desgleichen das wohl nur zufällig sonst nicht vorkom-
mende ionische ixßioto|j.ott. Auch dass xairflopeh (und selbst v.u.ir r
yopo?) im Sinne des ,Aussagens‘ und nicht des ,Anklagens‘
verwendet wird, mag angemerkt werden, da die Nichtbeachtung
dieser Gebrauchsweise willkürliche Aenderungen, z. B. bei
Lysias XIII, 31 (s. Cobet, Variae lection. p. 37!) zur Folge
gehabt hat. Freilich hat schon der treffliche alte Mätzner
zu Antipho I 10 völlig zutreffend bemerkt: ,Notandus . . . .
usus verbi -mTY^opetv pro y.aTEixsw/ — Als eine nicht erweis
bare, aber nicht eben unwahrscheinliche Vermuthung mag es
ausgesprochen sein, dass die hier erwähnten zur Erprobung
des Athems dienenden anstrengenden Promenaden von Hero-
dikos von Selymbria mögen in Anwendung gebracht worden
sein, und dass eben hierauf der im sechsten Buch der ,Epi-
Die Apologie der Heilkunst.
155
d ernien' gegen ihn geäusserte Tadel zielen mag, vgl. oben
S. 127. Diese und andere künstliche Veranstaltungen zu diagno
stischen Zwecken finden in der hippokratischen Sammlung nur
zwei wenig erhebliche Parallelen, auf welche Daremberg, der
in unserer Stelle ,un trbs-grand progres sur la veritable mede-
cine de l’ecole de Cos' erkannte (p. 20), hingewiesen hat (p. 24),
nämlich De locis in homine 34 (VI 326 L.) und De morbis
II 61 (VII 94 L.). So häufig im Uebrigen einerseits z. B. von
schweiss- oder urintreib enden Mitteln die Rede ist und in so
reichem Masse andererseits der Urin der Kranken oder ihre
Schweisse als diagnostische Hilfsmittel verwendet wurden, so
werden die ersteren doch immer zu therapeutischen, nicht zu
diagnostischen Zwecken verordnet. Wenn an unserer Stelle
der Arzt als ein experimentirender Forscher erscheint, der mit
Absicht und Bedacht Veränderungen in den Functionen des
kranken Organismus hervorruft, nicht um die Krankheit zu heilen,
sondern um vorerst ihre Erkenntniss zu ermöglichen, so bleiben
wir im Unklaren darüber, inwieweit hierdurch das thatsächliche
Verfahren einzelner besonders vorgeschrittener, subtilerer Prak
tiker, wie Herodikos einer gewesen zu sein scheint, geschildert
und inwieweit nur den Anforderungen • oder der Auffassung
eines weit- und tiefblickenden geistvollen Laien, wie unser
Apologet es war, Ausdruck gegeben wird.
täpwxdi; ts to6toioi toics xcposipYjpivois trfouca Oepp.üv uSctxwv
dicoTTVOLYjc;’ xcupi oaa xs/.p,atpovxai (xEx.p.oa'ps'xai)]. Dieser Satz ist in
sprachlicher Rücksicht durch die zwei nebeneinander gestellten
instrumentalen Dative dxo-volfjct und xcup» bemerkenswerth, eine
Erscheinung, die sonst wohl nur bei Dichtern begegnet, vgl.
Lobeck zum Aias V. 310 und 400. Im Uebrigen würde ich
denselben kaum einer Erklärung bedürftig glauben, wenn ihn
nicht Daremberg aufs gröblichste missverstanden hätte.*
Die antike Physiologie hat zwei völlig verschiedene Er
scheinungen, die Hautausdünstung und die Absonderung der
Schweissdrüsen, unterschiedslos vermengt. Damit hängt es wohl
* . car il parait Evident que dans ce singulier passage l’auteur a
voulu dire que les maladies tiennent a l’eau (phlegme), a l’air et au feil
et qu’on peut, par des moyens artificiels, reconnaitre sous la dependance
duquel de ces 416ments celles qui se manifestent sont placees. 4 (Oeuvres
choisies d’Hippocrate 2 47).
156
IX. Abhandlung: Gomperz.
zusammen, dass die diesen Gegenstand betreffenden Theorien,
je nachdem dieser oder jener Gesichtspunkt vorwaltet, ein
sehr ungleiches Gepräge zeigen. Den Einen ist der Schweiss
ein blosses Erzeugniss der Vaporisation und der ihr nach
folgenden Condensation, Anderen gilt er als ein Rückstand,
welcher übrig bleibt, nachdem die Sonne die feineren Bestand-
theile der Hautabsonderung verflüchtigt und entführt hat. Auf
dem ersteren Standpunkt steht der Verfasser der Schrift De
flatibus, der das Entstehen des Schweisses wie folgt schildert
(c. 7; VI 102 L.): Guvsp-fbv 3’ aüxü (sc. xw aspt) xo o.\\jä laxiv -
x^ÄStat yap /_Xiaiv6p.svov, y.ai jr/izoa kB, aüxoö xvGp.a’ xou 3s ÄVs4(wtxo?
icpoairfmxovxo«; xpb<; iohq xcpoui; xou owp.axoq ISpo)? ylvExai. xo fap xvsüga
auvtaxap.svov üSwp /slxai, y.ai Siä xöv xoptov SteXöbv xepaiouxai xov
aoxov xpcxov ovxsp axb xüv s(lop.evwv üSaxwv axp-b? sitavtaiv i)v r/v)
oxspswp.a xpo? o xi ^pr) xpoowzxeiv ita/'jvsxa'. y.ai xuzvouxai, y.ai cxa-
yövsc ixxotutcxouoiv axb xwv cr«p.äxwv oiq otv ö axpib? xpoincwuxY). (Ich
habe die Stelle so geschrieben, wie sie in A erscheint, von
cwp.äxwv abgesehen, was MR darbietet, während in A das hier
sinnlose xop.dxwv, zu -up.dxtov corrigirt, zu lesen ist; dass wpo:
vor 5 xt y v pvj zweimal geschrieben ward, verdient kaum an
gemerkt zu werden, ebenso wenig, dass xspaiouxai aus xapeouxai
corrigirt ist. Dass im vorhergehenden Satze das in A fehlende
äOpoioGsv ein Glossem zu ouvaXcoö^ ist, und dass statt p.iiSpo;
trotz des Anklanges an das anaxagoreische p.üopo? Sidxüpo? mit
A und M äp.jopb? zu schreiben ist, bemerke ich im Vorüber
gehen, weil weder Littre noch Ermerins oder Reinhold die
Berichtigungen vorgenommen haben.) Den zweiten dieser
Standpunkte vertritt der Verfasser des merkwürdigen Buches
De aer., aqu. et loc. 8 (II 32—34 L.), der die Sohweiss-
bildung mit der Entstehung salziger Rückstände vergleicht.
Ebendahin gehört der empedokleische Vergleich des salzigen
Meerwassers mit dem Schweisse, der zwar, wie Aristoteles
Meteorol. II 3, 357 a 25 mit Recht klagt, bei Empedokles selbst
und, wie wir hinzufügen können, wohl auch beim Sophisten
Antiphon (Fgm. 105 Blass) in verworrener Weise ausgeführt
war, aber an sich eine klare Durchführung gestattete, wie die
folgende Nebeneinanderstellung lehrt:
Die Apologie der Heilkunsfc.
157
De aer., aqu. et loe. 1. 1.:
xa p.lv ouv 2p,ßpta (sc. uBaxa) y,ou-
©oxaxa y.ai YAuy.üxaxa loxt y.ai ’ae-
-Kxbxaxa y.at Aap.-rcpcxaxa • xvjv xe
'(dp ipyjf) o ifAioc avctfei y.at av-
aprat^Et xou uBaxo; x6 xe Aszxöxaxov
y.at y.ou©6xaxov • oijXov Bl ot a/.ec
TOieouatV t'o p.lv yäp äXp.up'ov Xd-
■xsTat aüxoü utto 7nxyJ.cc y.at ßapsot;
(1.Tcayso? y.at ßäpeop) * y.at Y^vsTat
aAsp .... y.ai el; auxöv xöiv äv-
0p(O7T(OV a‘fSt TO XsTixBxaXSV xi)?
ty.paBoc y.at y.ouqjoxaxov y.xs.
Unser Autor will augenscheinlich sagen, dass, gleichwie
man durch Verdampfung verschiedener Wässer Rückstände
gewinnt, welche uns ein Urtheil über ihre Beschaffenheit ge
statten, so auch die durch die angegebenen Mittel künstlich
hervorgerufenen Schweisse derartige Rückstände sind oder ent
halten , welche den Sinnen des prüfenden Arztes qualitative
Verschiedenheiten zeigen und dadurch mannigfache Schlüsse
auf die Zustände und Vorgänge des Organismus zu ziehen
gestatten. Es bedarf schliesslich nur noch der Bemerkung,
dass die antiken Aerzte, wie wir zwar nicht aus den Schriften
der hippokratischen Sammlung, wohl aber aus zahlreichen
Stellen Galen’s ersehen, in den Schweissen der Kranken wie
der Gesunden in der That eine reiche Mannigfaltigkeit quali
tativer, nach Farbe, Geruch und Geschmack differenzirter Be
schaffenheiten erkannten oder zu erkennen glaubten (IV 584,
VI 250-251, VIII 374, X 583, XII 282—283, XVI 217 Kühn).
e^süpYjxev ouv y.ai xotaüxa zopaxa y.ai ßpupaxa, ä — Btappslv
-o'.ei ä oüy. av Btsppuy) p.f, xouxo xraöövxa.]. Dass die Verbindung
von -cpaxa und ßpwp.axa nicht etwa gorgianische Vorliebe für
Anaxagoras (Aetii Plac. III 15,
lliels Doxogr. p. 381):
xou y.ax’ äpy_r,v Xip.vaLOVxoc uypou
ZEpty.asvxoc ihre xrjc rjiavjq xxspi—
©opäp y.ai xou f Anrapou (1. /,=-
Kxoxaxou, Diels schlug Xeitxoxepoü
vor) E§axp,to'Oevxo? dq aAuy.ica
y.at ixaptav xo Xoiirbv 6itOox?jvat.
* Die selbstverständliche Besserung ist schon von Koraes vorwegge
nommen; eine Berichtigung entgegengesetzter Art scheint erforderlich in der
odija des Metrodoros über die Entstehung des Meeres: IMrjxpo'Stopos ota to oir r
OEiaOai oii xi)5 p-EXEiXi)(pEvai tou Ttspl autfjv ratyou; (1. itayeo;) y.aOcbiEp tä oiä
trj; xsippas 6Ai£d[isva (Doxogr. p. 382“).
158
IX. Abhandlung: Gomperz.
ßeimspiele beweise, werden auch diejenigen zugeben, die
aus der Paarung von xiyrr t und xüyv) 7 und von xövo? und
ypivo? 11 einen derartigen, wenngleich unberechtigten Schluss
ziehen zu dürfen glaubten. Auch in Schriften, die jedes rhe
torischen Schmuckes har sind, begegnet diese durch die Ver
wandtschaft der zwei Begriffe und überdies durch das
homerische ßpöai'v xe xoaiv xe jedem Griechen so überaus nahe
gelegte Verbindung; man vergleiche Epidem. II 2, 11 (V 88 L.):
Ta ßpiöp.axa y.ai xa xop.axa xei'pY)? osi y.xs., De prisca med. 15
(I 604 L.): akV olp.at sYMye xaüxa (1. xauxa mit Ermerins, der
Marcianus bietet das Wort von erster Hand ohne Lesezeichen,
von zweiter x’auxa) xop.axa y.al ßpcl>p,axa aüxoTarv üxapyecv olm xavxe?
ypwp.eGa, ib. 20 (I 622 L.): saxt yap y.ai äXkcr. xoXXa ßptijp.axa y.ai
xop.axa [ffiiast, om. AM] xovrjpa, a (so AM statt y.ai) SiaxiGr,ct xbv
avGpwxov oo xbv aüxov xpoxov, Xen. Memor. IV 7, 9: — x£ ßpwp.a
•)j x£ xwp.a •?, xoto? xövo? aup.sepoi aüxw y.xe., Plato Ges. VI 782 a :
— y.ai xwp.axwv xe ap.a y.at ßpwp.axwv sxt9up.vjp.axa xavxooaxa y.xs.,
Plato Critias 115 b : x<i>p.axa y.at ßpup.axa y.at ahsi'p.p.axa ©epwv y.xs. —
ä vor oüy. av war im Archetypus offenbar ausgefallen, und
die kleine Lücke ist in M gar nicht, in A unrichtig und nur
in dem Stammvater von R richtig ausgefüllt worden.
exepa p.ev ouv xpo? exspwv y.ai a'XXa St’ aXXwv saxt xd xs ouövxa
xd x’ s^aYYEAAovxa, aiaxs oü 0wp.aatov aüxüv xa? x’ äxiaxia? ypoviwxepa?
YtvscOat xa? x’ eYysipvjaia? ßpayuxepa?, ouxco St’ aXXoxpiwv spp.vjvsttov
xpb? xr,v Ospaxsüouaav aoveaiv epp.Yjveuop-evwv]. Dieser Satz, der bis
her nur von Cornarius annähernd richtig wiedergegeben, von
den übrigen Uebersetzern aber mehrfach in fast grotesker
Weise missverstanden worden ist, bedarf jedenfalls eines
Wortes der Erklärung. Als der Hauptgedanke erscheint
mir dieser. Die Unmöglichkeit, die Krankheitsprocesse direct
wahrzunehmen, und die Nothwendigkeit, sie auf indirectem
Wege zu erschliessen, bewirkt eine Verzögerung der ärzt
lichen Behandlung, welche viele ihrer Misserfolge entschuldigt.
Der Verfasser denkt hierbei vorzugsweise, wenn nicht aus
schliesslich, an die im Vorangehenden besprochenen Aus
scheidungen, welche wieder in überwiegendem Masse durch
künstliche Veranstaltungen dem Körper entlockt werden. Mit
diesem Gedanken verschränkt sich ein zweiter, der nicht
zu gleich unzweideutig klarem Ausdruck gelangt ist. Nicht
Die Apologie der Heilkunst.
159
nur von indirecter (dies liegt in xpoc, Sca und in aXXoxpt'wv),
sondern auch von mannigfaltiger Art (exspa — aXXa) ist
die diagnostische Erkenntniss. Um zu verstehen, wie der Ver
fasser dazu gelangen konnte, hierin nicht, wie man zunächst
denken sollte, eine Förderung der Differential-Diagnose, sondern
ein Moment der Verzögerung zu erblicken, thut es Noth, sich
einen concreten Fall auszumalen und denselben von seinem
Standpunkt aus zu beurtheilen. Der Kranke — so mögen wir
uns denken — wird von einem Schüttelfrost oder einem
hitzigen Fieber befallen. Der Arzt erkennt, dass schwere
innere Störungen vorliegen, ohne jedoch über die Natur oder
den Sitz der Krankheit irgend eine Vermuthung hegen zu
können. Er will daran gehen, den künstlichen diagnostischen
Apparat, von welchem vorher die Rede war, in Bewegung zu
setzen. Gäbe es nun blos eine oder sehr wenige Arten der
Naturbefragung, gälte es beispielsweise nur Schweisse hervor
zurufen, so wäre es — nach den Voraussetzungen unseres
Autors — ein Leichtes, eine rasche Antwort auf die an die
Natur gerichtete Frage zu erlangen. Da es aber in Wahrheit
nicht so steht, da bei verschiedenen Krankheiten verschiedene
Arten von Ausscheidungen den erwünschten Aufschluss er-
theilen, so muss der Praktiker einen Tlieil seines diagnostischen
Apparates nach dem andern spielen lassen, bis ihm schliesslich
auf Grund des einen oder des andern der angewandten Mittel
(zpb; exepuv) die durch dieses oder jenes Organ (8t’ aXXuv) er
folgende Ausscheidung die unerlässliche Aufklärung gewährt.
Was sprachliche Einzelheiten betrifft, so muss meines
Erachtens unter aüxüv, welches den ä-itniaq und sy/sip^ia; nicht
vorangestellt sein könnte, wenn es nicht zu beiden Worten
gehöi'te, ein Begriff wie voavjpaxuv, xaöüv u. dgl. verstanden
werden. Mit solch einem ,objectiven Genetiv 1 kann aber <xiu-
cx!a; ebenso gut verbunden sein, wie etwa Isaios IX 19
xöv pw) yevop.svuv rioxiv (was mit Recht durch xsp: xöv p.. y.
xicrxiv erklärt wird) oder — mit etwas veränderter Bedeutungs-
niiance — Thukydides I 10 ixoXXf,v oev olpai dztoxtav -r^ ouvap.su;
xoiq szeixa elvat geschrieben haben; eyyeipvfcia;; «’uxüv aber ist
nicht anders gesagt als sziysip^civ xöv ’EzizoXüv oder 8td xb
xaystav xr ; v eiuyefpyjctv zotsurOat uv dv yvuaiv (Thukydides VII 53
und I 70). aüxüv endlich tritt nicht minder unvermittelt auf
160
IX. Abhandlung: Gompevz.
als z. B. 11 otä to ßpaoewc autbv ssl t'ov ÖEpaxsüaovTa saGeiv, wo
der Kranke im Vorangehenden ebenso wenig ausdrücklich ge
nannt ist als hier die Krankheiten. Schliesslich sei nur darum,
weil meine Uebersetzung hier eine freiere sein musste, darauf
hingewiesen, dass spp.Y]vsuo|j,ev(öv, welches natürlich passivisch zu
verstehen ist, eben zu au-wv gehört (,da die Krankheiten —
verdolmetscht werden*).
Wenn Littre’s Wiedergabe des ersten Satzgliedes richtig
wäre (,On le voit, les excretions n’ont pas un rapport constant
avec les renseignements qu’elles fournissent, et varient suivant
les voies qu’elles suivent*), so würde der Autor, wie Da
remberg mit Recht bemerkt, einen Zweifel an dem Werth der
diagnostischen Anzeichen aussprechen, während er in Wahrheit
im Folgenden nur von dem verspäteten Beginn der ärztlichen
Behandlung spricht. Daremberg seinerseits versieht es darin,
dass er die Worte Srspa .... itpo? etepwv .... sgti durch ,les
matieres .... sont differentes suivant les maladies qu’elles
revelent* übersetzt, eine Wiedergabe, die ebenso sprachlich
unmöglich ist wie jene Littre’s. Als ein blosses Curiosum
darf es schliesslich vermerkt werden, dass die Worte St’ ak'ko-
Tptwv 6pp,Y)Vcuop.£vo)v nicht nur von Fabius Calvus, sondern sogar
noch von Ermerins auf mündliche oder schriftliche Ueber-
lieferung der ärztlichen Kunst bezogen worden sind (,cum
per aliorum scripta medica prudentia peritiaque paretur“
F. Calvus, ,cum per aliorum expositionem ad medici
curantis cognitionem narratione devenerint* Ermerins).
14. "Oti [j.ev ouv | y.a't Xöyo'J? | ev sw-ity] | sÜTripoui; | e? txc
Eitrz-oupta? £/£'. tr,Tpr/.Yj, y.ai oüy. EÜSiopOwxotat Sty.atwc oliv, av ey^stpoi'O
Tr,3t voüootatv ^ Ey/EtpEup.evac avap.apmjxou; av xaps;yo(, | oi te vüv | As-
yö[j.svot | Acyot SrjXouctv | at te tiov | siSötwv | xrjv teyyrp ETctSs^tE:,
ä? sy. töv spywv EiitSEty.vuoutJtv, oü tö Asystv jjarajjteXqffatft??, AXXa tyjv
OTUTIV TW TA^6e! si; WV 0CV t'SwatV OMElOTEpifjV r ( y£U[ASVOl fl e^ wv av
dy.oiTwtJtv]. Die rhythmische Composition des Epilogs wird zu
mal jetzt, nachdem er von einem lästigen Einschube der
jüngeren Handschriften befreit ist, jedem Ohre fühlbar sein,
ich habe insbesondere die deutlich hervortretenden, theils aus
je einem Wort, theils aus eng verbundenen Satztheilen be
stehenden Cretici und Päonen hervorgehoben, die sich am
Anfang des Neben- und des Hauptsatzes, also gerade dort
Die Apologie der Heillcunst. 16l
vorfinden, wo die Stimme des Redners naturgemäss ansteigt.
Auch die chiastische Responsion beider Stellen ist der Be
achtung werth, nicht minder der Wort-Creticus des von seinem
Bezüge gesperrten elnc6pou<;; desgleichen die Wiederholung der
zwei den Nachsatz beginnenden Versfüsse, welche dem grösseren
Nachdruck, mit dem der Hauptsatz zu recitiren ist, voll
kommen entspricht. Man vergleiche die Bemerkungen des
Aristoteles Rhetor. III 8 über die Verwendung des päonischen
Rhythmus in der Kunstprosa von der Zeit des Thrasymachos
angefangen nebst Spengel im Commentar II 389 ff. und
Blass Attische Beredsamkeit I 2 251 ff. Ob der rhythmische
Anklang an der verwandten Stelle, Plato Protag. 324° (w;
gsv oöv etzoxtoi; — (oc j spot ipalvsxai) oder 323 c (o-t pev ouv
Tid'n avopx sizöxw;;) zufällig ist oder nicht, muss dahingestellt
bleiben.
Gewiss nicht absichtslos geschieht es, dass der Autor
hier am Schlüsse der Rede, wo er den Gesammtinhalt derselben
zusammenfasst, gleichsam einen mittleren Curs einhält zwischen
dem Zuviel und dem Zuwenig früherer Aeusserungen. Weder
wird hier die Heilkunst mit ihrer blossen Naturbasis identificirt,
noch auch versteigt sich der Verfasser zu so gewagten Be
hauptungen in Betreff der thatsächliclien Leistungen der Aerzte,
wie sie uns im 9. und am Beginn des 10. Abschnittes begegnet
sind. Nicht von unfehlbaren Rettungen und Heilungen, sondern
nur von Hilfeleistungen (exizoopfat) und von der Vermeidung
schwerer Missgriffe (avapapxvjxoui; av rcapsyoi) ist nunmehr die
Rede, und die Arzneikunst wird hier im letzten Grunde als
gleichbedeutend mit dem Vorhandensein eines Inbegriffs von
Einsichten (äöyo'.) hingestellt, in ganz ähnlicher Weise wie
etwa Aristoteles im 1. Capitel der Rhetorik (merkwürdigerweise
mit einem deutlichen Seitenblick auf eben die Medicin) nicht
das roüoai für die Aufgabe dieser Kunst erklärt, sondern xb
iSsiv xa uTrap)?ovxa ■xtöavä ^sp! r/.aaxov. Unser Apologet scheint
die Hörer und Leser geradezu mit dem Eindruck entlassen zu
wollen, dass der Bestand der Heilkunst als eines Systems von
Lehrwahrheiten von dem durch die jedesmalige Stärke der
Leiden sowohl als durch die Zulänglichkeit der einzelnen Prak
tiker bedingten Mass der erzielten Heilerfolge unabhängig und
von diesem scharf zu unterscheiden ist.
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. CXX. Bd. 9. Abb. 11
-
162
IX. Abhandlung: Gomperz.
Mit dem von A dargebotenen ey/eipotr] vergleiche man
die auf ionischen Inschriften (Bechtel, Nr. 156) und hei Herodot
vereinzelt vorkommenden Formen des fälschlich so genannten
attischen Optativs, welche Curtius, Das Verbum der griechischen
Sprache II 2 109 zusammengestellt hat. Dass diese Formen in
der alten Atthis ungleich verbreiteter waren, als man bisher
annahm) hat Rutherford, The new Phrynichus 442—448, end-
giltig erwiesen. Aus den spärlichen inschriftlichen Zeugnissen
zieht Meisterhans, Grammatik der att. Inschr. 2 132 die Summe
mit den Worten: ,Der Optativ Praes. endigt auf -p,i . . ., aber
hei Contraction auf -tY)v.‘ .— y-axafAeXstv mit dem Accusativ, eine
Construction, welche die Wörterbücher überhaupt nicht kennen,
ist im Uebrigen nur aus dem IloXix:y.6c des Antiphon (mag
dies nun der Sophist oder der Redner sein): — zai Soy.stv xd
icpctYp.axa zaxap.cXe'tv m olvou vjcxtjp.svov nachgewiesen, wozu
Priscianus XVIII § 230 ausdrücklich bemerkt: y.axap.sXsiv xouxwv
y.ai xauxa (Sauppe, De Antiphonte sophista 16). Aus ionischer
Prosa kenne ich sonst nur einen Beleg des Verbums: De
articulis 14 (IV 120 L.), wo dasselbe ebenso wie sonst mehr
fach, so bei Sophokles, Plato, Xenophon, absolut gebraucht
wird. — Zum Gegensätze der maxi; des Gesichts und jener des
Gehörs — ein in jener Zeit offenbar beliebter Gemeinplatz —
vergleiche man Heraclit. Fgm. 15 Bywater: c©OaXp,oi xüv uxwv
azpißsoxepoi p.dpxupsc, Herodot I 8: wxa -fap xtrp/dvei ävOpw-oisiv sövxa
amcxcxspa offiOa/.p.MV und schliesslich allenfalls in Betreff des
Ausdrucks Antiphon: ot ydp avOpwTOt axxa ocv öpwci x-fl otki xtaxo-
xepa vjYOÜvxai ^ oic eie; aepot'/ee; vjy.st 6 IXe-p/ 0 ? V? aXrjOst'a; (Antiphontis
orat. ed. Blass 2 , p. 121) oder Thukydides, I 73, 2.
Die Apologie der Ileilkunst.
163
Anmerkungen und Excurse.
Seite
1 Lit.tre, von dem man aus vielen Gründen erwarten sollte, dass er 5
die Bedeutung unserer Schrift erkannt und gewürdigt hätte, hat ihr augen
scheinlich nur sehr geringe Aufmerksamkeit gewidmet. Er gab ihr kein
Wort der sachlichen Erklärung mit, und von den zwei Sätzen, welche die
Einleitung bilden, ist der zweite dazu bestimmt, der Schrift IIspl texvtjc
Leser nicht zu gewinnen, sondern zu entziehen: ,On prendra une idee tres-
suffisante de l’enchainement des idees et de la nature des arguments en
parcourant les sommaires que j’ai placds en tete des chapitres 1 (VI 2). Viel
leicht liefert das Sturmjahr 1848, in welches die Beschäftigung Littre’s mit
diesem Theil der hippokratischen Sammlnng fällt, die Erklärung dieser Ver-
säumniss. An einer späteren Stelle, VIII 2—3, kommt er mit einigen Worten
auf die Schrift ,von der Kunst 1 zurück, erkennt die von Spitzfindigkeit nicht
freie Geschicklichkeit des Verfassers an (,1’auteur, bien que subtil, argu-
mente avec une certaine hahiletd 1 ), reiht dieselbe saramt den Schriften
De natura hominis, De morbo sacro und De flatibus in die Kategorie der
ursprünglich zu mündlichem Vortrag bestimmten Reden ein und erinnert
hierbei an die lysianische Liebesrede in Plato’s Phädrus gleichwie an die Ge
wohnheit jenes Zeitalters, auch Fragen der Wissenschaft vor einem engeren
oder weiteren Kreise von Zuhörern zu erörtern. Dass unsere Rede ein
weitaus allgemeineres Thema in unvergleichlich kunstvollerer Weise be
handelt als die übrigen dort genannten Schriften, wird nicht hervorgehoben,
ebenso wenig erkannt, dass dieses Büchlein nicht aus der Feder eines
Arztes geflossen ist. Der letztere Umstand ist dem Herausgeber des Ilippo-
krates so vollständig entgangen, dass er dasselbe in seiner Einleitung (I 352 ff.)
im Verein mit Büchern, wie es jene De morbis, De fistulis, De ulceribus
u. s. w. sind, in die vierte seiner eilf Classen, das heisst in diejenige ver
setzt, welcher die ,<$crits de l’ecole de Cos, de contemporains ou de disciples
d’IIippocrate 1 angehören (I 435). Von der Schrift De arte wird überdies
I 356 gesagt, dass sie von den frühesten Zeiten an einen Bestandtheil der
hippokratischen Sammlung gebildet habe, woraus aber noch nicht in un
widerleglicher Weise, ,d’une maniere incontestable 1 , hervorgehe, dass sie das
Werk des Hippokrat.es selbst sei. Daremberg will das Schriftchen nicht
der Schule des Hippokrates und noch weniger diesem selbst zuschreiben, doch
entstamme es seiner Zeit, zugleich freilich auch der Zeit des Plato (,puisque
ces grands genies ont ete un moment contemporains 1 p. 26). Im Uebrigen
findet er darin eine Polemik gegen die Sophisten, zumal gegen diejenigen,
deren Haupt Gorgias gewesen sei (über Anderes s. Commentar zu 2), und
hat er die Schrift, die er zugleich für einen Bestandtheil einer dogmatischen
oder dialektischen und einer rednerischen Gruppe der hippokratischen Samm
lung erklärt, nicht minder aber offenbar für das Werk eines Arztes hält,
11*
164
IX. Abhandlung: Gomperz.
mit einem kleinen nicht ganz ausschliesslich textkritischen Commentar ver
sehen (Oeuvres choisies d’Hippocrate, traduites etc. par Ch. Daremberg, 2
p. 18—28 und 38—48).
Dass die Schrift Ilspi te^v/js ,das Werk eines Sophisten 4 sei, der im
,perikleischen Zeitalter 4 gelebt hat, habe ich in meinem in den ,Deutschen
Jahrbüchern für Politik und Literatur 4 April 1863 veröffentlichten Aufsatz
,Die griechischen Sophisten 4 ausgesprochen. Die Bezeichnung ,Sophist 4 hatte
einige Monate vorher auch Ermerins in den Prolegomena zum zweiten
Bande seiner Ausgabe des Hippokrates (Utrecht 1862) auf den Ver
fasser unseres Schriftchens angewandt. Doch unterscheidet sich seine Auf
fassung von der meinigen in wesentlichen Punkten. Er lässt den Verfasser
mit Plato’s Schriften bekannt sein; ferner unternimmt er das ungeheuer
liche Wagniss, den Nop.05, die Rede Ilspi, (die doch so deutlich wie
nur jemals ein Schriftwerk Anfang, Mitte und Ende besitzt!) und die Schrift
Ilspi ap^atrj; fyipr/.f]«; zu einem Buch zusammenzuschweissen, und er glaubt
schliesslich, in der Sprache dieses Buches die Merkzeichen einer späteren
Epoche zu erkennen, ohne jedoch für diese Behauptung irgend einen Be
weis zu erbringen oder auch nur zu versuchen. Dem ersten Theil dieser
Aufstellungen stimmt auch Johannes Uberg in seiner Doctordissertation
,Studia Pseudippocratea 4 , Leipzig 1883, zu, der im Uebrigen Ermerins’ ver
kehrten und keiner Widerlegung bedürftigen Einfall einer eingehenden Be
streitung werth erachtet hat. Derselbe hat über die Sprache und den an
geblich gorgianischen Stil unseres Autors, den er ebenso wie den Verfasser
des Nop-o; ziemlich geringschätzig zu beurtlieilen scheint, eine Anzahl von
Bemerkungen vorgebracht, welche ich, insofern sie mir nicht wohl begründet
scheinen, im Commentar stillschweigend zu berichtigen bemüht war.
Keines Beweises bedarf es, dass unser Büchlein die einzige uns er
haltene Streit rede eines Sophisten der besten Zeit ist. Aber auch sonst
bildet sie ein literarisches Unicum. Die übrigen zu mündlichem Vortrag
bestimmten Bestandtlieile der hippokratischen Sammlung sind durchweg
Fachschriften. Ihre Verfasser mögen von der philosophischen und rhe
torischen Bildung ihrer Zeit mehr oder weniger berührt gewesen sein, nichts
beweist oder macht es auch nur wahrscheinlich, dass sie selbst keine Aerzte
waren oder sich an einen ausgedehnten, über das fachmännische Publicum
hinausreichenden Kreis von Lesern oder Zuhörern gewendet haben. Dies
gilt auch von der Schrift De flatibus, die man am ehesten hieher ziehen
könnte, trotz des rhetorischen Flitters, mit welchem sie, zumal in den
ersten Abschnitten, verbrämt ist. Das Nop.o? genannte Blättchen, welches
durch Tiefe der Gedanken und Glanz des Ausdrucks hervorragt, aber durch
seinen geringen Umfang und durch den Mangel aller Merkmale einer Rede
hier ausser Betracht bleiben muss, nimmt eine Sonderstellung ein sowohl
neben den ärztlichen Fachschriften als neben unserer Sophistenrede. Ausser
halb der ärztlichen Schriftensammlung sind die im dorischen Dialekt ge
schriebenen AiaXsi-si? ohne Zweifel und anerkanntermassen das Werk eines
Sophisten; aber sie stammen aus nachplatonischer oder doch platonischer
Zeit, und es fehlt ihnen alle und jede künstlerische Form.
Die Apologie der Heilkunst.
165
An die Echtheit der zwei angeblich gorgianisehen Declamationen
zu glauben, dazu vermag ich mich auch nach Allem, was im Lauf der letzten
Jahre zu Gunsten derselben gesagt ward, nicht zu entschliessen. Dass ein
Schriftsteller, der in einer Zeit der höchsten und allseitigsten Kunstblüthe
und des entwickeltsten Kunstgeschmackes den stärksten Einfluss geübt, zu
welchem ein Antiphon, ein Tliukydides u. s. w. aufgeblickt hat, und dessen
glanzvolle Bilderpracht und Geistesfülle auch uns noch Bewunderung ab-
nöthigt, zugleich der Verfasser zweier Schriften sein soll, die sich kaum an
irgend einer Stelle über das Niveau der Mittelmässigkeit erheben, und die
wir nicht ohne Gähnen zu Ende lesen können: dies wäre, so meine ich noch
immer, einem Wunder gleich zu achten. Ein hochgeschätzter gelehrter Freund,
auf dessen Urtheil nicht nur ich grosses Gewicht lege, hat auf diese und
ähnliche Aeusserungen mit dem Bemerken geantwortet, auch in Goethe’s
Schriften fänden sich Stücke, die man auf Grund ihrer Inferiorität dem
selben abzusprechen geneigt sein könnte. Hierauf Hesse sich mit der Frage
erwidern, ob denn die allerschwächsten Erzeugnisse eines hervorragenden
Geistes begründete Aussicht haben, sich im Kampf ums Dasein, den alle
Schriftwerke zu bestehen haben, zu behaupten, auf dem Wege natür
licher Auslese erhalten zu bleiben und allein unter allen Werken desselben
Verfassers unversehrt auf die Nachwelt zu gelangen. Mein Freund würde
mir wahrscheinlich erwidern, dass auch der Kobold Zufall in diesen Dingen
sein neckisches Spiel treibe, und dass jene Eventualität zwar nicht die von
vornherein zu erwartende, aber doch immerhin keine unmögliche sei. Dies
gestehe ich bereitwillig zu, wie ich denn überhaupt weit davon entfernt
bin, den Geschmack in einer derartigen Frage als obersten Richter anzurufen.
Allein das Problem, das uns hier beschäftigt, ist, mindestens so weit die Helena
in Betracht kommt, m. E. bereits aus anderen Gründen endgiltig, und zwar im
verneinenden Sinne entschieden. Denn was Leonhard Spengel Artium
scriptores p. 73 sqq. vorgebracht hat, gestattet keine Widerrede und ist bisher
zwar oft ignorirt, aber niemals widerlegt worden. Die Art, wie Isokrates
im Proömium' seiner Helena des Gorgias und in § 14 des Verfassers der an
geblich gorgianischen Helena gedenkt, lässt die Annahme, dass hier und dort
dieselbe Person gemeint sei, als eine ganz und gar unzulässige erkennen.
Die erdrückende Gewalt dieses Beweisgrundes erhellt vielleicht aus nichts so
deutlich als aus der Art, in welcher Blass sich ihr zu entziehen versucht hat.
In der ersten Auflage seiner ,Attischen Beredsamkeit 4 ist ihm ,das ganze
Argument nicht viel wertli, weil die Identität 4 (nämlich des gorgianischen
und des von Isokrates gemeinten Enkomions) ,längst nicht genügend festge
stellt ist 4 (S. 66). Jetzt, in der zweiten Auflage, hat Blass diesen Einwurf
völlig fallen gelassen. Spengel, so heisst es daselbst S. 74, hat ,unsere Rede
als das von Isokrates gemeinte Gegenstück erkannt 4 — ein Urtheil, welches
im Folgenden noch weitere Bekräftigung erfährt. Hat es aber damit seine
Richtigkeit, dann genügt es nicht, jenen Widerspruch zwischen Proömium
und § 14, wie dies Blass jetzt thut, ,verwirrend 4 zu nennen; und gar wenig
hilft die Ausflucht, es hänge ,dies Proömium mit der Lobrede selbst nur
ganz locker zusammen 4 , oder jener Gorgias 4 (nämlich der des Proömiums)
gehöre ,wirklich einer vergangenen Periode an 4 u. s. w. Derlei Argumente
166
IX. Abhandlung: Gomperz.
Seite
beweisen allezeit nichts Anderes als die Hinfälligkeit der Sache, die sie
zu stützen bemüht sind. Allein ich gehe noch weiter. Selbst wenn Spengel
mit jener Identificirung Unrecht und Blass mit seiner früheren Bestreitung
derselben Recht haben sollte, so bliebe es noch immer unmöglich, dass Iso-
krates, falls Gorgias nur überhaupt ein ,Lob der Helena 4 verfasst hat, bei
seiner Behandlung des gleichen Themas seines Vorläufers zugleich ge
denken und so ganz und gar nicht als seines Vorläufers ge
denken sollte. Man verzeihe die Ausführlichkeit, mit welcher ich diese
Frage hier behandle. Dieselbe ist unserem Gegenstand darum nicht fremd,
weil das Bild, welches wir uns von der Sophisten-Beredsamkeit zu machen
haben, ein verschiedenes ist, je nachdem wir diese Declamationen als gütige
Beweisstücke heranziehen dürfen oder nicht.
2 Niemand bezweifelt es, dass das Schriftchen der hippokratischen
Sammlung seit alter Zeit angehört. Unser ältester directer Zeuge ist Hera-
kleides von Tarent, der das Wort U7zocppov, richtiger uTto'tpopov, welches
sich am Ende des 10. Abschnitts, sonst aber in dieser Sammlung nicht vor
findet, mit einer Erklärung versehen hat, vgl. Erotiani vocum Hippocratica-
rum conlectio, ed. Klein, Leipzig 1865, p. 128, 14: urcocppov- xpucpafov a>;
<p7)cnv 6 Tapavrlvo?. p-aprupsi yap 6 SocpoxX^ sv ’Hpiyo'vfl Xlytov . . . (Fgm.215 Nauck 2 ).
[ji(j.v7)Tai 6 auxo$ xai ev Tpiysveia • '/.cd 6 TTUtoxpaxTjs oe acccpsg TrotEf Xlytov * ,ouOev o
xi xai uTüocppov xai e/ov rapi auxo OaXap-a«; 4 . ei ouv at xaxaouaEi<; OaXap.ai Xsyovxai,
Etxo'xco; 7rav xd axeicdfievov xpucpaio'v eaxi xai fococppov. Wenn Klein hier und p. 32,
2 zu o Tapavxfvos, beziehungsweise xoü Tapavxivou den Eigennamen f Hpa-
xXeiot]^, bzw. 'HpaxXsioou nicht nur hinzudenkt, sondern auch geradezu in
den Text einfügt, so zeigt er sich mit dem Sprachgebrauch ärztlicher
Schriftsteller wenig vertraut. Denn auch Galen bezeichnet den grossen
Hippokrates-Exegeten als den Tarentiner schlechtweg, etwa wie Heraklit
der Ephesier oder Bion der Borysthenite genannt ward. Die Zeit des
selben hat bis vor kurzem in ziemlich weiten Grenzen geschwankt; erst
jüngst hat es Wellmann (Zur Geschichte der Medicin im Alterthume, Hermes
23, 556 ff.) genauer dahin bestimmt, dass die Wirksamkeit des Herakleides
zwischen 160 und 110 v. Chr. G. anzusetzen ist. Beiläufig bemerkt, die
Aeusserung des Coelius Aurelianus, Acut. I 17, die dazu verführen kann,
den Herakleides zeitlich über Gebühr herabzudrücken, ist augenscheinlich
lückenhaft überliefert. Dies hat übrigens bereits Schulze in seinem Compen-
dium historiae medicinae (Halle 1742) p. 234 erkannt, indem er mit vollstem
Rechte vorschlug, vor ,posterior 4 das Wort ,nemine 4 einzuschalten. Die Worte
haben wohl im griechischen Original des Soranos wie folgt gelautet: ouoevo?
7]Xxiov (wenn nicht ftaxepos oder ösuxspos) xat toxvxcov TuOavibxaxo; (nämlich aller
Empiriker). Nur so gewinnt die Stelle Sinn und Verstand,
ß 1 Die platonischen Stellen sind die folgenden: Gastmahl 219 R : /j
xoi xrj<; 8iavo-(ag oi|»is ap^sxai o£u ßXIrcstv oxav rj xcov op.p.axcov xf)? axp.% Xrjysiv
E^i^Eip^. Staat VII 519 b : rep! xa xaxa> axp&pouai x/jv xfj<s oduv. Ebend.
533 d : xai xd> ovxi sv ßopßopio . . . xo xrj<; u X.^1 ^ o f*- [-*- a xaxopc&puypivöv —. Sophist.
254 a : xa yap xfjs xcov tcoXXwv o p. p. a x a xapxEpstv 7cpo<; xo Osfov a^opcovxa
aouvaxa. — Im Uebrigen vergleiche man: Anaximenes [Ps. Aristot.] Rhetorik
Q. 1 (1421 a 21): Xcopi$ oe xojv Eip7]p.sva)v, si xb xof; oipOaXp.oig ßXsraiv rjbu, xo xof<;
Die Apologie der Heilkunst.
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Seite
•afc o[x[xaaiv o^uöopxeiv icm Oau(j.aaTo'v. Philo II 300 Mangey: toi; xfjs
o[X[j.aaiv und sogleich wieder tob; 0cp0 aX[j.ou<;, auch I 442:
io T7]5 oiotyvuaiv 6'p.ij.a. Lukian, Bioov Ttpaan; (I 239 Jacobitz): xu<pXb<; yap
£? Tjj$ <iu%fj<; tov ocpOaX{j.o'v (Anklang an Plato’s Wort bei Laert. Diog. VI 53).
Marcus Anton. IV 29: xucpXos 6 xaTap-ucov Tai vo£pto bfj.p.axi. Synes. Epist.
154 (p. 292 c ): to voEpov bfj.p.a. Auf Anderes verweist Creuzer zu Plotini
über de pulchritudine p. 64: outo; yap [xo'vos 6 ocpOaX|j.b<; (das geistige Auge
nämlich) to piya xaXXo; ßXErai, indem er an die reichliche Verwendung von
Ausdrücken wie opp-a ^0^; oder oiavoi'as, Ta vo7)xa bp.p.axa, 01 vrjg oiavoia? ocpOaX-
|j.ot, oi 6<p0aXp.oi T7]^ 4* U X^’ °' 1 01 voEpoi u. dgl. m. in der theologischen
Literatur erinnert, p. 378.
2 Den Bedeutungswandel des Wortes yviop.7] erschöpfend zu erörtern,
würde eine ziemlich umfangreiche Monographie erfordern. Der im Text ge
gebene Nachweis genügt, um für die Altersbestimmung der Schrift eine erste
starke Präsumtion zu schaffen. Einen vollgiltigen Beweis würde auch ein
weit reicheres Aufgebot an Belegen nicht herzustellen vermögen. Denn immer
Hesse sich von gegnerischer Seite der Einwand erheben, dass die ionische
Prosa, von der wir kaum irgendwelche mit Sicherheit datirbare jüngere Er
zeugnisse besitzen, jene ältere Gebrauchsweise länger festgehalten habe als
die Sprache der Attiker. Auch ist die hier in Frage kommende Anwendung
des Wortes niemals, selbst in byzantinischer Zeit nicht, vollständig er
loschen, so dass es sich hierbei stets nur um graduelle Unterschiede
handelt, die zwar von höchstem Belange, aber kaum geeignet sind, die Grund
lage eines strengen Beweises zu bilden.
1 Vgl. Aristot. de anima Y 3 (427 a 21): xat 01 y£ ap^aloi to <ppov£tv xat 7
to aiaOavEaOat xaüxov slvat 9<xaiv. Desgleichen Theophrast. de sensu c. 3 (Opera
ed. Wimmer III p. 8—9).
1 Das Bruchstück des Melissos ist uns durch Aristokles bei Eusebius 8
Praepar. Evang. 14, 17 und durch Simplikios in seinem Commentar zu
Aristoteles de caelo (P 1, 298 b 14), in seinem Schlusstheil aber nur durch
den Letzteren erhalten. Der Text hat in unmittelbarer Nähe des oben an
geführten Satzes eine schlimme Beschädigung erfahren, welche Bergk (Opus
eula 2, 106) und Mullack (Aristot. de Melisso etc., p. 89) durch eine, wie
ich denke, unbedingt nothweiulige Umstellung beseitigt haben. Ich glaube
ihr Werk zu vollenden, indem ich, einer gebieterischen Forderung des Ge
dankens gehorchend, das zweite pjT£ nach xa io'vxa statt vor diese Worte
stelle. Wird doch die einzige Ausflucht, mittelst welcher man die überlieferte
Wortordnung (p.7]TE opav p.7]TE xa io'vxa ytvaxjxEiv) etwa zu schützen versuchen
könnte, opav sei im Sinne von opOw; opav gebraucht — denn ein Sehen von
Unwirklichem sei kein eigentliches oder wahrhaftes Sehen —, nicht nur durch
den Parallelismus der beiden so eng verbundenen Infinitive, sondern auch
durch den vorausgehenden Theil des Bruchstückes abgeschnitten, wo zu
wiederholten Malen das ,richtige 4 Sehen, Hören, Verstehen in völlig sach-
und sprachgemässer Weise durch opOto? opav, axouEiv, auviivat u. s. w. ausgo-
drückt wird.
1 Blass, Die attische Beredsamkeit II 121. 10
2 K. O. Müller, Griech. Literaturg. II 2 330 fl*. Vgl. auch ebend. 394.
168
IX. Abhandlung: Gomperz.
Seite
3 Blass a. a. O. I 1 128-, Müller a. a. O. II 331.
4 Vgl. Dionys. Halicarnass, de comp. yerb. c. 22 init.: ipstosuÖat ßouXexai
ta ovofiaxa aa;paXcog xai ataasi; Xap.ßav£iv la^upac, San? ix 7U£pi<pav£ias exoccttov ovop.a
opaaOai xxi.
11 1 Auch an sonstigen Plurales rariores leidet unsere Schrift keinen
Mangel. Dahin kann man rechnen: axeates, cwuanai, iy^etp^ate^, evoeiat, ijütxouplai,
§pp.7)V£iai, söiropiai, Oavaxoi, GspaTCstat, cpuaie?. Einiges davon ist aus Isokrates (vgl.
Blass II 125 über ,den bei ihm sehr beliebten Gebrauch des Pluralis von
Abstracten'), aus Demosthenes (vgl. Rehdantz, Philipp. Reden, Index unter
,Plurale von abstracten Substantiven' und Blass III 1, 85) oder Plato bekannt.
Bei Herodot findet sich Derartiges, soweit ich sehe (tou; Oavarou? VI 58 gehört
nicht hieher, so wenig als p. 341), selten und fast nur in der gehobenen
Darstellung, welche den Reden und den Gnomen eigen ist; vgl. III 40, 82,
126, VI 11, 109, VII 158. Freilich ist es nicht immer leicht zu entscheiden,
inwieweit diesen Pluralen rhetorische Bedeutung beiwohnt, inwieweit
nicht. So ist der Plural von cpuat; bei Plato und in den hippokratischen
Schriften recht gewöhnlich, desgleichen in den letzteren jener von Oavaio;,
auch an Stellen, denen jeder rednerische Nachdruck fremd ist. In De
prisca medicina begegnen ausserdem: Tip-ioptai, xaxoTiaOaat, Bpip.ux7)T£s, xprJaiE?
und axprjaiai, ouvap.t£<; und aouvaplai, Xuaaai, St^iei;, avax.op.toai, auvrapa^i^, axpo-
T7)T£S, 6£uT7]T£s, ue?, xXaxuiTjTEi;, at£vdT7jt£?. Eine sehr grosse Zahl solcher
Plurale enthält die umfangreiche Schrift ÜEpt apGptov. Bei alledem ist es un
zweifelhaft, dass die Verwendung derselben auch ein in den Schriften
der alten Sophisten beliebter Redeschmuck war. Nicht nur macht oip.coya(,
orcouoas und arcouSaf? bei Gorgias diesen Eindruck (Fgg. 12 und 18 der Edit.
Turic.), auch Plato bietet in seiner Nachbildung protagoreischer Reden
vieles in diesem Betracht an sich oder doch durch die Häufung sehr Auf
fälliges dar, so: aXX7)Xocpöopiwv Siacpuyai, ttoXeiov xocjp.oi, cpGovoi te xai aXXai ouapi-
v£iai, Oup.oi, xdiv o’txtov avaxporcau Davon kehrt cpöo'voi mehrfach in den ,Gesetzen',
aber auch nur in diesen (und in den Briefen), darunter einmal mit Oup.ot
verbunden wieder: IX 134 a (vgl. ebend. 682 d : Oavarou; te xai acpaya«; xai <puya?)
— woraus man wohl nichts Anderes folgern darf, als dass, was in Plato’s
Jugendjahren als stilistische Paradoxie empfunden ward, zur Zeit seines
Greisenalters ein Gemeinplatz geworden war. Eben in den ,Gesetzen', 733 b ,
findet sich auch acpoSpo-njTes, das ich anderweitig nicht belegen kann, dem
aber das isokratische p.sTpioT7)TEs, Or. III 6, sehr nahe kommt.
2 In Betreff des Gorgias bedarf es kaum der Berufung auf Cicero’s
Zeugniss, dort, wo dieser ihn mit Thrasymachos zusammen- und Beiden den
jüngeren Isokrates gegenüberstellt: est enim ut in transferendis facien-
disque verbis tranquillior e. q. s. (Orator 176). Mit Rücksicht auf Prota-
goras vergleiche man die zahlreichen ,gewählten, sonst nur dichterischer
Rede gewöhnlichen Worte und Wendungen' in dem der Diction dieses So
phisten künstlerisch nachgebildeten Mythos, wie sie zuletzt von Sauppe, Plato’s
Protagoras 4 57 gesammelt wurden; desgleichen beachte man in dem einzigen
grösseren Bruchstück, welches durch Plutarch, Consolatio ad Apollon. 33,
auf uns gekommen ist, die zwei höchst ungewöhnlichen Sätzchen euoitj; yap
ei^eto und V7)rav0eco$ avIxXij. Für suoia in diesem übertragenen Sinne fehlt es
Die Apologie der Heilkunst.
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Seite
durchaus an anderen Belegen aus der älteren Prosa; weiss doch auch
Wyttenbach nur zwei Parallelen aus Plutarch selbst, wahrscheinlich Nach
bildungen jenes Citates, anzuführen. Das Adverb vriravOus scheint überhaupt
nicht anderweitig vorzukommen. Desgleichen mögen £'jjcoi(j.!r) und nu-
o u v 17] geradezu von Protagoras geprägt sein. Erscheint doch das Erstere
nicht vor der römischen Zeit, das Letztere überhaupt kaum wieder, so häutig
auch £Ü7toT;[jLo; und aveiouvos, zumal von Dichtern, gebraucht werden. Und wie
zahlreiche derartige Neubildungen müssten uns, selbst wenn unser Quellen
material ein ungleich vollständigeres wäre, schon darum verborgen bleiben,
weil der Strom der Sprache doch sicherlich gar viele von ihnen aufgenommen
und mit sich fortgeführt hat.
1 Blass hat die Schrift lUpi t£)(v7]; in der neuen Ausgabe seines Werkes 12
beiläufig erwähnt (I 2 89) und von ihr sowohl wie von der Schrift De prisca
medicina behauptet, dass sie ,in ihren grossen wohlgebauten Perioden und
in der Ermässigung jedes Schmuckes, auch des Figurenschmuckes, entschieden
die Entwicklungsstufe des vierten Jahrhunderts“ verrathen. Ich nehme Act
von der Bemerkung über die Ermässigung des Figurenschmuckes und von
dem darin enthaltenen Widerspruch gegen Johannes Uberg’s Versuch, die Schrift
,von der Kunst“ einem Schüler des Gorgias zuzuweisen. Im Uebrigen vermag
ich mir jenes Urtheil ganz und gar nicht anzueignen. Die Periode bei
Antiphon, Or. V 84 ist ungleich kunstvoller und verwickelter als irgend etwas,
was in unserer Schrift begegnet, z. B. 4 init. und 8 init. Bei Andokides,
dessen Reden zum Theil nur wenig jünger sind als jene des Antiphon, der
aber einer späteren, weniger dem Archaismus zuneigenden Generation an
gehört, findet man die reichste Auswahl derartiger Beispiele. Was der Ver
fasser der ,Attischen Beredsamkeit“ über die Entwicklungsstufe des vierten
Jahrhunderts auf Grund der grossen, wohlgebauten Perioden bemerkt, er
scheint mir um so verwunderlicher, da er selbst bei Lysias — hinter
welchem unser Autor nebenbei in diesem Betracht sicherlich weit zurücksteht
— den ,gewandten und gerundeten Periodenbau“ rühmt (I 2 429), während
doch einige Reden desselben noch in das fünfte Jahrhundert fallen und so
viele der Wende des Jahrhunderts angehören. Was aber die Ermässigung
des Figurenschmuckes anbelangt, so scheint Blass von der wenig gerecht
fertigten Voraussetzung auszugehen, dass ein Uebermass von rhetorischem
Schmuck den sämmtlichen Erzeugnissen der ältesten griechischen Kunstprosa
eigen gewesen sein müsse. Entschieden dagegen spricht selbst die carrikirende
Nachahmung der protagoreischen Diction bei Plato, wobei man nicht ver
gessen darf, dass das Hauptstück derselben (der Prometheus-Mythos) epideik
tischen Charakter besitzt und daher wohl auch sein Urbild noch ungleich
geschmückter sein musste als die Streitreden von der Art der Antilogien.
Zu allem Ueberflusse wird Thrasymachos geradezu als der rhetorische Be
gründer der mittleren Stilgattung und zugleich als ,Erfinder der für praktische
Rede passenden Periode“ bezeichnet, und zwar auf Grund theophrastischer
Zeugnisse (Blass a. a. 0. 251). Und wenn eben dieser Lehrer der Redekunst
(woran neuerlich v. Wilamowitz, Homer. Untersuch. 312, erinnert hat, und
was auch Blass jetzt richtig verwerthet, I 2 245) in den 427 zuerst aufge
führten AzaaXijs des Aristophanes zu Athen verspottet ward, so wird es völlig
170
IX. Abhandlung: Goraperz.
Seite
unerfindlich, wie jene zwei Argumente beweisen können, dass unsere Schrift
und das nebenbei in stilistischer Beziehung sehr verschiedene Buch ,von
der alten Medicin 4 dem vierten Jahrhundert entstammt sind.
Sehr bezeichnend für die stilistische Entwicklungsstufe unseres Rede
künstlers ist übrigens jener Rest alterthümlicher Unbeholfenheit, der in der
häufigen Wiederholung derselben Partikeln zu Tage tritt. Im 11. Ab
schnitt kehrt yap nicht weniger als zehnmal wieder, in 10 dreimal in un
mittelbarer Folge: 8uo p.sv yap • • • os« yap • • • Trav yap xo aaup.cpuxov —. Damit
kann man vergleichen das in der vorhergehenden Anmerkung erwähnte
grössere Bruchstück des Protagoras, das ich hieher setze: xwv yap |ot?> uiswv
verjvtitov so'vxtov xa'. xaXtov, iv oxxa> 8s X7jai Tcaarj'aiv 7]p.£p7]aiv ajcoOavo'vxwv V7j7tEv0sa)?
av£"Xr]- su8fo]? yap Eij(EXö, il* 7j? itoXXbv ojvt)Xo xaxa xaaav 7jpip7]v i? su;coxp.i7)V (xs)
xoct ava>8uvi7)v xai X7jv iv xotai TcoXXofai 8o'?av xa; yap ; p.iv opcov xa swuxou
ravOsa ippwpiva)? <pipovxa p.£yaXo':ppova xe xal avSpsfov iooxEt stvai xal swuxoö xplaato,
xapxa ei8w? xrjv eujuxoü iv xoioiaiOE 7up^y[j.aatv ap.7jyavt7)v.
2 Die alte Sprache meidet derlei Wiederholungen auch dort nicht,
wo keinerlei besonderer Nachdruck erstrebt wird, wie dies z. B. bei Anti
phon, Or. V 20 der Fall ist in dem Satze: iyco 8s xov p.sv TtXoüv i^oirjaaurjV ix
xfj? MuxiX^vt]?, d) av8ps?, iv xai rcXouo tcXeojv a> 'Hpcb87]? ouxo?, ov cpaatv ute’ ip.oo
aTuoOavEfv* i^Xiop.£v 8e xxs., und zwei Zeilen darauf wieder guvetcXei. Dass
Antiphon ,dadurch seiner Auseinandersetzung das Gepräge der Schlichtheit
verleihen 4 wolle — dieser Behauptung v. Morawski’s (Ztsch. f. öst. Gymn.
1879, 16-1) zuzustimmen, hindert mich die Wiederkehr derselben Erscheinung
bei den übrigen Vertretern der gleichen Stilphase. So scheut sich Anaxagoras
(Fgm. 7 Mullach) nicht, innerhalb weniger Zeilen xtvstv, xivsopivou, ixivvjas,
xiv£op.Evo)v und in denselben vier Zeilen aTisxptvsxo, oiexpCOrj, 8iax.pivop.Evwv, 8ia-
xpivEaOai zu gebrauchen. Nicht viel anders in Fgm. 6. Daher auch die
Kritik dort gleichwie bei Diogenes von Apollonia Fgm. 2 (wo ich schreibe:
Et XOUXCOV XI TjV SXSpOV, XÖ EXEpOV XOU SXEOOU, EXEpOV EOV XT) l8tf] CputJEt 7MI p.7] XtOUXO
sov—fjxspotoüxo xxi.) durch keine hierauf bezüglichen Skrupel gebunden ist.
Zahlreiche Beispiele enthält die Schrift ,vom Staate der Athener 4 , die gleich
in den ersten Zeilen eiXovxo, IXo'p.svoi und wieder stXovxo, und oux iroxivw ota
xo'8s und sogleich wieder: ota p.sv oOv xouxo oux ircaivw darbietet. Ebenso I 3
innerhalb acht Zeilen: oxo'aat . . . xwv apywv, xouxwv p.ev xwv ap^wv, iv xw p./)
auxo? ap^stv xauxa? xa? ap^a?, xou? 8uvaxa>xaxou? apysiv, OTro'aat 8’ Etatv apyat und
xauxa? ^rjxst 6 8fJp.o? ap^siv. Das Verkennen dieser Neigung hat insbesondere
den Text Herodot’s vielfach geschädigt (vgl. unsere Bemerkungen in Ztsch.
f. öst. Gymn. 1859, S. 446); auch die dort angeführte Stelle I 114: 'iizca^e . . .
bz<xi%e 8e . . . ist seither, Revue de philol. X 60, mit Unrecht angefochten
worden, nicht minder IE 1 ravOo? jcoietaOai nach tievOo? Ircoujaaxo, Mnemos.
N. S. XI 122. Wie ganz anders es in diesem Betrachte Isokrates hielt, mag
man bei Blass II 165 naehlesen.
13 1 Die Abschnitte laufen jedesmal in eine scharf pointirte Wen
dung wie in eine Spitze aus. Wie es den einzelnen Sätzen an abrundendem
Füllwerk gebricht (an TcpocrÖ^xai? xtaiv ovop.axa>v, tva b xuxXo? ExxXrjpwOrj, um
mit Dionys, de comp. verb. c. 22 zu sprechen), so fehlt es dem Ganzen an
wohlgeglätteten Uebergängen und inniger Verschmelzung der Theile. Die
Die Apologie der Heilkunst.
171
Seile
Kürze derselben und die überscharfe Markiruug der Einschnitte ent
springt, wenn ich nicht irre, einer gewissen Kurzathmigkeit der Gestaltungs
kraft im Verein mit starkem rhythmischem Gefühl, welches die Ab
schnitte fast wie Strophen behandelt, und zugleich auch dem Streben, die
mühsam erarbeiteten Original-Gedanken möglichst plastisch hervortreten zu
lassen. Es zeigt sich hierin eine frühe Phase des Prosastils, gleichwie uns
Aehnliches noch heutzutage bisweilen in den Erstlingswerken talentvoller
Schriftsteller und vor Allem in den Schriften geistreicher Frauen begegnet.
1 Blass II 135 ff. 14
2 Vgl. Heraklit Fgm. 21 Bywater: io p.sv y)p.iau yfj, zb os 7jp.tau 7rp7jat7ip,
Ilerodot 132: 7Tpoppt£ous avsTpstav und kurz vorher: TioXXa p.sv ecjxiv tosiv oder
III 82 z. E.: o’j yap ap.£ivov (vgl. Hermogenes Tuspl ?8egjv B 12 = Rhet. gr.
II 421 Spengel). Ebenso Protagoras in dem bereits mehrfach angeführten
Bruchstück: tu»<; yap ti? p.tv opwv. — Den Hiat meidet unser Autor gleich
den Dichtern mehrfach mittelst der Elision und durch Verwerthung des
paragogischen v, nicht aber durch die Wortstellung, selbst wo diese
jenem Zweck gar leicht dienstbar gemacht werden konnte. Auch hierin
berührt er sich mit Herodot, mit Protagoras und Gorgias.
3 Unsere Schrift nimmt auch in diesem Betracht eine Mittelstellung
ein zwischen dein genus grande und dem genus tenue. Jedoch steht
sie dem ersteren wohl erheblich näher als dem letzteren. Die $jj|fv7), die
ruy7], die Natur, die Rede, die Krankheiten, die Ausscheidungen werden
mehrfach personiücirt, und hierin gleicht der Autor dem Antiphon weit
mehr als etwa dem Lysias oder dem Andokides (vgl. Ottsen, De Antiphontis
verborum formarumque specie, Rendsburger Programm 1854, p. 14). Hin
gegen wird man bei ihm ein so gewagtes Bild wie jenes, worin der Giftbecher
als Mörder erscheint (Antipho, 120), vergebens suchen, um von den gor-
gianischen Ueberschwenglichkeiten, den Ip.4u^o: xaepot, den ^Xtopa xai Evaip.a
:rpayp.axa u. dgl. m. zu schweigen. Seine Kühnheit steht ungefähr auf der
selben Höhe wie diejenige Herodot’s (xiai; rfcsi I 13, 6 ttoXeixo? . . . cbuxxai i«;
upia; VII 158, te ip.7) xat yviop-rj xat iaropt7] (f\) xauxa Xsyouaa iaxi II 99)
oder jene der protagoreischen Diction bei Plato (xXotttt]«; o(x7] p.ext)X0ev Pro tag.
322 a ) oder des Bruchstücks ou ßXaaxavEt TuatbEirj xts. hier S. 11.
1 Vgl. Commentar zu 7, 11 und 13. Dass keineswegs alles Derartige 15
sich auf gorgianischen Einfluss zurückführen lässt, haben wir dort gezeigt.
Nebenbei sei daran erinnert, dass auch Plato dem Protagoras die Worte in
den Mund legt: arcoXirama; tac, ttov aXXtov cruvouata?, xat otxstcov xat bOvsttov,
xat TtpEaßutEptov xat vscoxlptov (Protag. 316 d ).
Nicht viel anders steht es mit Isokolen und Parisen, die man sicher
lich nicht durchweg als Erfindungen des Leontiners betrachten darf. Man
vergleiche Cicero’s Orator 175: ,Nam, ut paulo ante dixi, paria paribus ad-
iuncta et similiter definita itemque contrariis relata contraria, quae sua
sponte, etiamsi id non agas, cadunt p 1 erumque numerose, Gorgias pri-
mus invenit £ . Echt ciceronisch ist es, ein weitverbreitetes Stilphänomen unter
dem Gesichtspunkt der dasselbe erzeugenden Denkgewohnheiten zu betrachten
und es nichtsdestoweniger zugleich einem individuellen Urheber beizulegen.
Allein wir alle stehen noch viel zu sehr im Banne jener unhistorischen antiken
172
IX. Abhandlung: Gomperz.
Seite
Auffassung, die alles und jedes einem Erfinder zuweist. Und wie sehr ins
besondere Gorgias in diesem Betracht noch immer überschätzt wird, dies
lehrt, wie Ottsen a. a. O. p. 8 treffend bemerkt hat, ein Blick auf die chro
nologischen Momente.* War doch Antiphon zur Zeit, da der sicilische
Rhetor nach Athen kam, sicherlich schon fünfzig Jahre alt. Und auch
Thukydides wird, als er beim Ausbruch des Krieges an seinem Werke zu
schreiben begann, wohl doch schon einen nicht ganz und gar unfertigen Stil
besessen haben. Das Alterthum liebte es eben, stilistische gleich sonstigen
Eigentliümlichkeiten, die den Gemeinbesitz einer Epoche ausmachten, an
den Namen desjenigen zu heften, bei dem sie besonders auffällig hervor
traten. Und dies war zumeist derjenige, bei dem sie zur Manier geworden
waren. Sehr bezeichnend ist in dieser Beziehung der Widerspruch, welchen
die Urtheile der alten Kunstrichter in Betreff des Lysias verrathen (vgl. Blass
I 1 392). Auch daran mag bei diesem Anlass erinnert sein, dass gar manches,
was Dionysios in der Charakteristik des auatrjpov ysvos vorbringt, augen
scheinlich, wie eben unsere Schrift lehrt, zur Eigenart der archaischen
Kunstprosa überhaupt gehört hat (vgl. die Anführungen aus De compos. verb.
c. 22 in den vorangehenden Anmerkungen).
17 1 Cabanis, Du Degre de Certitude de la Medecine, p. 160 Note: La
question que nous venons d’examiner dans ses argumens principaux, pour-
roit se poser plus generalement et plus brievement ä-peu-pres de la maniere
suivante.
1. Les phdnomenes de la sante et de la maladie, les effets des alimens,
des remedes, ou de toute substance capable de modifier l’etat du corps vivant,
ont-ils lieu suivant un ordre regulier?
2. Cet ordre peut-il etre soumis ä l’observation ?
3. Ou, ce qui est la meine cliose, peut-on etablir certains principes
fixes sur la maniere dont ces phenomenes, ou dont ces effets sont produits?
4. Et, par une consequence directe, peut-on etablir d’autres principes
correspondans, sur la maniere de les produire par art, de les prevenir, ou
de les faire cesser?
18 1 Vgl. Mill’s System der Logik, Buch III, Cap. 10, § 6 ff. (Band III,
S. 160 ff. der Gesammelten Werke).
2 Vgl. Alex. Bain, Logic II 362, desgleichen Fick, Medicinische Physik, 3
Anhang (S. 416—433) über Anwendung der Wahrscheinlichkeitsrechnung auf
medicinisclie Statistik.
23 1 Melissi Fgm. 1 (Fragmenta philosophorum graecorum ed. Mullach
I 261): st {j-sv pjosv sort, Ttsp: toutou t( av Xsyonro a>$ iovzog uvo'g;
2 Vgl. Zeller, Philosophie der Griechen I 4 989, Anm. 3. Ebendahin
gehört auch Plato Soph. 236—237 und Staat V 478 b_c (vgl. Hartenstein,
Philosophisch-historische Abhandlungen S. 147 und Grote Plato II 548 ff.),
desgleichen die Prämisse in einem Argument des Gorgias: ösf yap ta cppovou-
p.sva sivat xoci to [j.rj ov sacsp [j.7] satt p.r]bs cppovsfaOai in der Schrift Tcspt Ssvotpavou;
■/.xs. Ps.-Aristoteles 980 a 9.
* Nieschke’s hiehergehörige Schrift: De Thucydide Antiphontis disci-
pulo et Homeri imitatore, Münden 1885, ist mir zur Zeit nicht zugänglich.
Die Apologie der Heilkunst.
173
Seite
3 Diesen Zusammenhang hat bereits Aristoteles klar durchschaut
(Metaph. P 5) und sein bester Exeget Bonitz im Commentar (Aristot.
Metaphys. II 201) aufs trefflichste beleuchtet.
4 Statt, ,dass jeder Vorstellung eine Wirklichkeit entspreche 1 , sollten wir
vielleicht sagen: ,dass jedem Existentialurtheil eine Wirklichkeit entspreche 1 .
Denn das Fundament jener Lehre bildet offenbar die Erwägung: wie kämen
wir dazu, von einem Dinge zu wissen, wenn wir es nicht, sei es mit den
Sinnen, sei es mit dem Geiste (dem inneren Sinn, der Yvcip/)), geschaut
hätten? Der genauere Ausdruck wäre in mehrfacher Rücksicht der ange
messenere; hauptsächlich darum, weil unser Anonymus ja sicherlich nicht
geglaubt hat, dass jede Verbindung eines beliebigen Subjeets mit einem
beliebigen Prädicat, die irgend jemand in seinem Bewusstsein vorfindet —
z. B. der Satz: die Menschen sind unsterblich —, auf Wahrheit beruhe.
Allein die präcisere Fassung jener Doetrin würde vagen und verschwommenen
Gedanken eine Bestimmtheit verleihen, deren sie unzweifelhaft entrathen
haben. Wäre sich der Autor der Grenzen bewusst gewesen, welche die
Functionen des Vorstellens und Urtheilens von einander und andrerseits die
Existentialurtheile von sonstigen Urtheilen scheiden, so hätte seiner Lehre
die Wurzel gefehlt, aus welcher sie erwachsen ist.
1 Vermutlien darf man vielleicht, unser Autor habe mehr oder minder 24
deutlich empfunden, dass das orj-0'p.a-ov ein Beziehungsbegriff ist, nicht etwas
Substantielles oder Dingartiges, als welches ihm die Tiyyou erschienen sind.
Das auf die letzteren bezügliche Argument wird vielleicht ein oder der
andere Leser für das Ergebniss einer blossen Aequivocation zu halten
geneigt sein. Eine kann in einem Sinne existirend heissen, wenn der
Inbegriff von Hantirungen vorhanden ist, welche ihr Rüstzeug ausmachen,
ferner berufsmässige Vertreter derselben und ein von diesen fortgepflanztes
System von Lehrsätzen. In einem andern Sinne gilt eine rsyvrj nur dann
als eine wahrhaft existirende, wenn die von ihr geübten Verrichtungen das
ihnen gesteckte Ziel erreichen, in unserem Falle also, wenn Heilung der
Krankheiten oder Milderung der Leiden im Grossen und Ganzen die Frucht
ärztlichen Bemühens ist. Man würde jedoch meines Erachtens dem Verfasser
von ILpi zi-prn Unrecht tliun, wenn man ihn fähig glaubte, durch solch eine
grobe Aequivocation, sei es sich, sei es Andere, zu täuschen.
1 So drückt sich in Betreff des Protagoras Paul Natorp aus (For- 25
schungen zur Geschichte des Erkenntnissproblems im Alterthum, Berlin
1884, S. 17). Gern wiederhole ich die thatsächlich vollkommen rich
tige Behauptung Natorp’s, die auch für unseren Fall von weitreichendster
Bedeutung ist: ,und sodann darf auch wohl erinnert werden, dass überhaupt
kein Philosoph vor Platon, so viel bekannt, zwischen caoO/jai; und oo^a
genau unterschieden hat 1 (a. a. 0. S. 18).
1 D. Peipers, Die Erkenntnisstheorie Plato’s, mit besonderer Rücksicht 26
auf den Theätet, Leipzig 1874, S. 44 ff. E. Laas, Neuere Untersuchungen
über Protagoras (in Vierteljahrsschrift für wissenschaftliche Philosophie VIII
479 ff.). W. Halbfass, Die Berichte des Platon und Aristoteles über Prota
goras (mit besonderer Berücksichtigung seiner Erkenntnisstheorie) kritisch
174
IX. Abhandlung: Gomperz.
Seite
untersucht, in Fleckeisen’s Jahrbüchern Sirpplem. XIII, gesondert abgedruckt
Strassburg 1882.
27 1 Dies thun gar viele Darsteller der antiken Philosophie, darunter
auch der jüngste und nicht mindest treffliche derselben, Wilhelm Windel
band, Geschichte der alten Philosophie (in Iwan Müller’s Handbuch der
classischen Alterthumswissenschaft V 1), Nördlingen 1888, S. 186, Anm. 8:
,Die Erläuterung Theaet. 152 a erlaubt nicht, das avOpcoao; in dem bekannten
Satze auf die Gattung zu deuten. 1 Ich antworte: die Erläuterung, die
irgend Jemand, und sei es auch ein Plato, dem Satze eines Andern beifügt,
kann uns nicht hindern, denselben so zu verstehen, wie sein Wortlaut es
gebietet. Desgleichen gilt mir als das Jtpwtov ikuoos in Natorp’s im Ein
zelnen viel Werthvolles enthaltenden Auseinandersetzungen der Satz (a. a. 0.
S. 6): ,von dem vorliegenden Berichte war auszugehen, nicht von
selbstgemachten Voraussetzungen“. Weder von diesen — so erwidere ich
—, noch von jenem, sondern einzig und allein von dem protagoreischen
Bruchstück selbst, welches wir mit unbefangenster Treue auszulegen haben,
mag nun das Ergebniss mit der von Plato beliebten Verwendung desselben
übereinstimmen oder nicht. Einen Bericht 1 an die Stelle der Urkunde zu
setzen, über welche berichtet wird, dies ist nur dann statthaft, wenn der
Verlust der primären Quelle uns keine andere Wahl übrig lässt. Und auch
dann müssen wir die secundäre Quelle aufs schärfste darauf hin prüfen, ob
sie denn in Wahrheit ein historischer ,BeriehP ist, — eine Prüfung, welche
im gegenwärtigen Falle unserer Ueberzeugung nach nur zu einem nega
tiven Ergebniss führen kann.
2 Zeller a. a. 0. I 4 982, desgleichen in seinem Grundriss der Ge
schichte der griechischen Philosophie 3 (Leipzig 1889) S. 79. Vollkommen
richtig übersetzt Bonitz Platonische Studien 3 S. 50 das Bruchstück, des
gleichen F. A. Lange, Geschichte des Materialismus I 2 S. 29; nicht minder
Grote Plato II* 180 und 323, doch fügt dieser an letzterer Stelle die her
kömmliche, platonische Deutung der Worte seiner Uebertragung des Frag
mentes in einer Weise (innerhalb der Anführungszeichen) bei, welche den
Text und den ihm nachfolgenden Commentar keineswegs mit ausreichender
Strenge auseinanderhält.
3 Eine Interpretation des Bruchstücks ist aus dem Alterthum auf
uns gekommen, welche seinem Wortlaut vollkommen gerecht wird. Es ist
die auch von Diels in den Prolegomena zu den Doxographi Graeci p. 263
mit Recht gerühmte Paraphrase des Hermias, Irrisio gentilinm philosophornm
c. 9 (Doxogr. Gr. p. 653): üptotaydpas . . . tpäazwv opo? za: zpiat; xtov 7ipayp.ato>v
6 avOpcujios, za: xx jxsv ÜTCOTtijirovxa ral’c ataOrjoeoiv i'oxiv "paypaxa, xx Sk prj üra>-
TtiTixovta ouz ccrtw h xoi<; s’iosa: rrje ouoiae. Die Worte rate ataOrjasaiv dürften
dem Gedanken des Protagoras grössere Präcision verleihen, als er aller
Wahrscheinlichkeit nach besessen hat; die Umkehrung des Urtheils — das
Nicht-Wahrnehmbare ist unwirklich, wo wir eher erwarten: das Unwirk
liche ist nicht wahrnehmbar — wird schwerlich richtig sein. Allein was
will das neben dem einen entscheidenden Pnnkt besagen, dass hier klar
und deutlich von der Existenz von Dingen die Rede und der ,Mensch 1
augenscheinlich nicht individuell, sondern generisch verstanden ist? Es
Die Apologie der Heilkunst.
175
Seite
überrascht, nebenbei bemerkt, in dieser offenbar ans einer ungewöhnlich
guten Quelle geschöpften Darstellung zwei Ausdrücken zu begegnen, welche
auch dem metaphysischen Abschnitt unserer Schrift nicht fremd sind: s’iosa
und ouala.
1 Vielleicht glaubt Jemand, jenem Dilemma entrinnen zu können, 28
indem er die folgende vermittelnde Deutung vorschlägt: der Satz gilt der
Existenz, aber der Existenz von so und so beschaffenen Dingen, also mittel
bar ihrer Beschaffenheit, wodurch der individualistischen Auslegung die Bahn
freigemacht wird. Concret gesprochen, der Eine behauptet (um bei unserem
früheren Beispiel zu bleiben): Für mich existirt süsser Honig, ein An
derer: Für mich existirt bitterer Honig. Es genügt, wie ich meine, diesen
allein noch übrig bleibenden Ausweg, dessen unsere Gegner sich bedienen
können, streng zu formuliren, um ihn als das zu erkennen, was er ist, als
eine leere Ausflucht. Denn nimmermehr hätte, wer solch einen Gedanken
ausdriicken wollte, ihn in so wenig angemessene und zutreffende Worte
gekleidet. Ein x.PhF“ ist eben ein Ding und nicht die Verbindung eines
Subjects mit einem Prädicat. ,Ein Ding existirt 1 und: ,ein Ding ist so oder
so beschaffen 1 , dies sind zwei grundverschiedene Aussagen, die nur derjenige
mit denselben Worten bezeichnen könnte, der nicht verstanden werden oder
der seine Hörer und Leser absichtlich irreleiten wollte.
1 Vgl. Aristotel. Metaph. I 1, 1053 a 35: irptotaydpag o’ avOptoxov cp7]cn 21)
rcxvTwv sivat pirpov, ufaxsp av st rov sxia'U^p.ova etxcbv 7] rov aioOavdp.svov,
mit Halbfass’ Bemerkungen dazu S. 48—49, der unter Anderm vollkommen
richtig darauf hinweist, dass Aristoteles den Satz liier ,durchaus im gene
rellen Sinne nimmt“. Vgl. auch Natorp a. a. 0. 52.
2 Hat Protagoras etwas von dem, was Plato irrthümlich in seinem
Homo mensura-Satz zu finden glaubte, anderswo wirklich geäussert? Die
Frage klingt absonderlich und müsste jedem Andern als eben Plato gegen
über von vornherein verneint werden. Allein der Dichter-Denker hat uns
so sehr an Ueberraschungen gewöhnt, dass wir auf immer neue gefasst sein
müssen. Er, der mit allem Stofflichen in genialer Freiheit zu schalten und
zu spielen liebt, konnte es verschmähen, einer gegnerischen Lehre dort zu
begegnen, wo sie für Jedermann zu finden war. Ihn mochte der gewagte
Versuch reizen, sie dort aufzuspüren, wo noch Niemand sie vermutliet hatte,
den Feind in seinem stärksten, anscheinend uneinnehmbaren Bollwerk an
zugreifen und ein vielberufenes Wort, eben das Feldzeichen, welches den
Urheber jener Doctrin zu Kampf und Sieg geführt hatte, durch eine kühne
Auslegung und vernichtende Kritik seines altgewohnten Ansehens zu ent
kleiden. Mit dieser Möglichkeit ist zu rechnen, obgleich es schwerlich
jemals gelingen wird, sie zur Gewissheit zu erheben. Man wird ihr mehr
oder weniger Gewicht beilegen, je nachdem man die sonstigen mit der
platonischen Darstellung übereinstimmenden antiken Berichte bewerthet, sie
von dieser allein abhängig und aus ihr erklärbar erachtet oder nicht. Als
möglich, ja als wahrscheinlich darf uns, so meine ich, die Annahme gelten,
Protagoras habe an irgend einer Stelle seiner metaphysischen Schrift von
den sinnlichen Eigenschaften der Dinge gehandelt und — was ihm,
nebenbei bemerkt, zu hoher Ehre gereichen würde — die gleiche subjeetive
176
IX. Abhandlung: Gompel'z.
Wahrheit einander widerstreitender Empfindungen behauptet (z. B. der Honig
schmeckt dem normal Beschaffenen süss, dem Gelbsüchtigen bitter, an sich
ist er weder das Eine noch das Andere). Weiters kann man es, insbesondere
auf Grund des Berichtes über die Polemik des Demokritos gegen den So
phisten bei Sext. adv. math. VII 389 (p. 275 Bk.), nicht für ganz unwahr
scheinlich halten, dass jene Lehre von diesem nicht immer mit der Behut
samkeit ausgesprochen wurde, die sie in unverrückbar feste Grenzen bannte
und jeden möglichen Missbrauch ausschloss. Hier fühlt man sich jedoch
schon zu äusserster Vorsicht gemahnt, wenn man darauf achtet, dass gleich
verlässliche Gewährsmänner (s. die Zeugnisse bei Zeller 1 1 824—825) dem
Demokritos selbst eine mit der wirklich oder angeblich protagoreischen
identische Doctrin (das ou u.aA/.o'j toiov 5) tofov eivat rtöv jtpayfxcttcov Exaotov)
theils beilegen und dann mit gröblichstem Missverständniss als auyyuav; toü
ßiou bezeichnen, theils von ihm (eben dem Protagoras gegenüber) bestreiten
lassen! Nicht mehr auch nur möglich, sondern schlechterdings unmöglich
ist es hingegen, dass Protagoras die sogenannte extrem-subjectivistisclie, in
Wahrheit an Wahnwitz grenzende Doctrin von der gleichen Wahrheit aller
Meinungen, welche ihm im Tlieätet beigelegt wird, irgendwie als Norm der
menschlichen Erlcenntniss ernstlich aufgestellt und festgehalten habe. Denn
ihr widerspricht nicht nur der Ton der uns erhaltenen Fragmente aufs
deutlichste, auch ihr Inhalt steht zu derselben im schroffsten Gegensatz.
Das Götter-Bruchstiick vor Allem ist völlig unvereinbar mit der Annahme,
sein Verfasser habe das Dasein von Göttern für diejenigen als wahr er
achtet, die an Götter glauben, und als unwahr für jene, die nicht an sie
glauben! Vielmehr wird die Frage nach dem Sein oder Niclit-Sein der
Götter als eine vollkommen verständliche und an sich lösbare hingestellt,
deren thatsächliehe Lösung nur an besonderen (daselbst namhaft gemachten)
Umständen scheitere.
Allein auch von der soeben besprochenen Möglichkeit abgesehen
konnte Plato sehr wohl zu seiner Missdeutung des protagoreischen Dictums
gelangen, ohne sich irgend einer absichtlichen Entstellung bewusst zu werden.
(Vgl. Peipers a. a. O. 45.) Der Sophist hatte den Menschen das Mass der
Dinge genannt. ,Es gibt — so mochte Plato im Geiste zu ihm sprechen —
nicht einen Menschen, sondern viele. Nur auf diese kann dein Wort ge
münzt sein, es wäre denn, dass du den Mustermenschen meiner Ideenlehre
geahnt und auf diesen gezielt hättest. Du handelst von empfindenden und
wahrnehmenden Menschen. Wahrnehmungen und Empfindungen variiren aber
von einem Einzelnen zum andern. Wenn du somit hinter allen Wahr
nehmungen eine Wirklichkeit erblickst, so musst du eine solche auch für
jene individuellen Schwankungen annehmen. 1 Da nun ferner der Abderite
zwischen Wahrnehmung und Meinung oder Urtheil, wie schon sattsam be
merkt ward, gewiss nicht stets mit zulänglicher und durchgreifender Strenge
unterschied, so glaubte Plato, der alle in einer Lehre wie in ihrem Keim
beschlossenen Folgerungen aus ihr abzuleiten und ans Licht zu bringen
strebt, sich berechtigt, den weiteren Schluss auf die behauptete gleiche
Wahrheit aller individuellen ädcat zu ziehen. Denn dass es dem Philosophen
im Theätet, wo der im ,Protagoras 1 so scharf, wenn auch nicht ohne ver-
Die Apologie der Heilkunst.
177
zerrende Uebertreibung gezeichnete Charakterkopf des Abderiten ganz und
gar zurücktritt, weit mehr um die Beurtlieilung und Bestreitung von Doctrinen
als um die geschichtliche Würdigung einer bestimmten Persönlichkeit zu
thun ist, dies hätte niemals verkannt werden sollen. Der Widerspruch zwischen
dem extremen Skeptiker, der im ,Theätet‘ gegeisselt wird, und dem nicht
an einem Mangel, sondern an einem Uebermass von Dogmatismus leidenden
Namensträger des Dialogs Protagoras springt in die Augen und ist längst
bemerkt worden. Und dass die uns erhaltenen Ueherreste protagoreischer
Weisheit nur zu jenem Bilde und nicht zu diesem stimmen, wer möchte es
bezweifeln? (Der Satz vom rj-rnov Xo'yo; hat nur rhetorische Bedeutung, und
die Behauptung, dass es in jeder Sache oio Xo'yoi aviixEipEvot ccXXijXotai gibt,
enthält nur den für uns ziemlich trivialen, aber bedeutsamster Nutzanwendung
fähigen Gedanken, dass in Betreff jeder Frage ein Pro und ein Contra vor
handen ist. Nur Seneca, Epist. moral. 88, 43, hat den Satz dahin missver
standen, als ob die zwei Xo'yot einander gleichwertig wären. Dies liegt, wie
schon Bernays, Rh. Mus. 7,467, einsah, keineswegs im Wortlaut jener durch
Eurip., Frg. 189 N 2 , vortrefflich illustrirten Aeusserung [vgl. Isokrat 10 in.]
und widerlegt wird diese Auffassung dadurch, dass Arkesilaos dem ganzen
Alterthum als der Urheber der von Seneca dem Protagoras beigelegten Lehre
galt.) Welch eine wunderliche Vorstellung müssten wir übrigens von Plato’s
Verfahren gewinnen, wenn wir mit Natorp annehmen wollten, er sei in der
einen Hälfte des Gespräches ängstlich bemüht gewesen, die wirkliche Er-
kenntnisslehre des Protagoras getreulich wiederzugeben und sorgfältig zu
zergliedern, während er in der anderen, dort, wo er von der angeblichen
,Geheimlehre 1 desselben spricht, seinem iibermüthigen Humor rückhaltlos die
Zügel schiessen lässt und den Abderiten mittelst einer völlig freien und durch
sichtigen Fiction* zum Träger von Ansichten macht, die diesem — wie Plato
selbst so unverhohlen als möglich andeutet — nicht, wohl aber, wie wir
mit Schleiermacher hinzufügen dürfen, dem Aristipp angehörten. Dem von
Schleiermacher, Platos Werke II l 3 , S. 127, von Dümmler, Antisthenica
p. 57 und von Natorp a. a. 0. S. 25 hierüber Gesagten sei im Vorübergehen
noch Eines beigefügt. Theät. 157 c ist in dem Satze: <5> ärj «6 po! apart avOpcomiv
rs TtOsvtai xal XtOov xal sxaatov ftoov ts xal eldoj — der rein phänomena-
listische Standpunkt der Kyrenaiker so unverkennbar ausgesprochen wie
kaum sonst irgendwo. Ein Ding oder Einzelwesen gilt ihnen und nur ihnen
als eine Gruppe stets wiederkehrender Vorkommnisse oder Phänomene, ganz
ähnlich wie Mill in seinem Buche über Hamilton von ,groups of Per
manent Possibilities of Sensation“ spricht, Examination of Sir William Ha-
milton’s philosophy 3 p. 222 ff. Dass Protagoras diesen Standpunkt einge-
* Dies ist hauptsächlich von Dümmler, Antisthenica p. 56 ff. in ent
scheidender Weise erwiesen worden. Die jetzt von Windelband (Geschichte
der Philosophie, Freiburg 1890, S. 70 und 80) vertretene Ansicht in Betreff
der vermeintlichen ,Wahrnehmungstheorie‘ des Protagoras war auch
lange, lange Jahre hindurch die meinige. Allein ich habe schliesslich erkannt,
dass es durchaus nicht angeht, auch nur diesen Theil des Theätet als ernst
hafte geschichtliche Quelle zu betrachten.
Sitzungsber. d. pkil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh.
12
178 IX. Abhandlung: Gompera.
nominell habe, kann, wenn irgend etwas in der Geschichte der antiken
Philosophie, als eine Unmöglichkeit gelten. Nicht nur ,natura“, auch philo-
sophia ,non facit saltus“. Auf die weitere Frage aber, wie denn Plato dazu
gelangen konnte, in Protagoras einen Vorläufer der Kyrenaiker zu erblicken,
vermag ich liier nicht näher einzugehen. Der Denker, welcher in erkenntniss-
/ theoretischen Fragen den ,Menschen“, den subjoctiven Erkenntniss-Factor,
so bedeutsam in den Vordergrund gerückt hat, konnte in gewissem Sinne
mit gutem Recht als einer der Ahnherren subjeetivistischer und relativistischer
Doctrinen gelten. Ja selbst mit den eigentlichen Skeptikern, zu welchen ich
die Kyrenaiker nicht rechne, verknüpfte ihn, der so ganz und gar Dogma
tiker war, insofern ein verwandtschaftliches Band.
Doch, um von dieser Abschweifung zurückzukehren — ungleich natür
licher ist die Annahme, dass für Plato in beiden Fällen die Sache weit mehr
bedeutete als die Person, und dass es ihm dort, wo er selbst nach klarer
Einsicht in die Natur des Erkenntnissprocesses und nach Ueberwindung der
sie umgebenden Schwierigkeiten nicht ohne gewaltige Geistesanstrengung
ringt, einzig und allein darum zu tliun ist, die verschiedenen auf diesem
Gebiete möglichen und grossentheils durch Zeitgenossen, die er — aus
künstlerischen wie aus persönlichen Rücksichten — nicht nennen konnte
und wollte, vertretenen Richtungen zu kennzeichnen, in ihre Consequenzen
zu verfolgen und sich mit ihnen auseinanderzusetzen. Da bot sich dem
Künstler, der stets nach plastischer Gestaltung strebt, der Name eines ein
flussreichen Denkers der Vergangenheit, in dessen Lehren er die Wurzel
mancher zeitgenössischer Doctrinen zu erkennen glaubte, als ein willkom
menes Merk- und Erkennungszeichen dar, von welchem er den ausgiebigsten,
durch keinerlei historisch-kritische Bedenken eingeengten Gebrauch macht.
Hier peinliche Genauigkeit oder philologische und geschichtliche Treue im
Einzelnen von ihm verlangen, dies heisst an Plato einen Massstab legen,
der seiner Eigenart wenig gerecht wird und den er selbst als der Erste
zurückgewiesen hätte. Und an dieser Stelle ist es mir überaus erwünscht,
an einen eifrigen Gegner der von uns vertretenen Ansicht das Wort abtreten
zu können, ich meine Paul Natorp, der sich a. a. O. S. 17 wie folgt ausspricht:
,Und in der That, wenn schon der Hauptsatz den „Menschen“, ohne Unter
scheidung, zum Masse des Seins oder Niclit-Seins „aller Dinge“, ohne Unter
scheidung macht, so ist die Deutung auf die beliebige Ansicht eines belie
bigen Subjects mindestens nicht ferngehalten.“* Vollkommen richtig!
Dass Protagoras es an sorgfältiger Verclausulirung seiner Aeusserungen
fehlen Hess, dass er Missdeutungen derselben nicht bestimmt genug ,vorge
beugt“ hatte (vgl. Natorp S. 17, 18, 19, 37), dass man ihm Verschwommenheit
und ,Unbestimmtheit des Ausdrucks“ mit Recht vorwerfen konnte (vgl. Laas
a. a. 0. S. 485) — dies halten wir ja alle gegenwärtig für so gut als aus
gemacht. Mehr aber bedarf es nicht, damit wir uns nicht vor die peinliche
Alternative gestellt sehen, entweder Plato’s unzulässige Deutung des
Homo mensura-Satzes anzunehmen oder den grossen Denker bewusster
Fälschung zu zeihen.
* Die drei letzten Worte habe ich im Drucke hervorgehoben.
I
Die Apologie der Heilkunst.
179
Seite
1 Warum die Meldung des Porphyrios bei Eusebios (Praep. evang. X 3), BO
die metaphysische Schrift des Protagoras sei "obc tou? ev io Sv siadyovTcic gerichtet
gewesen, von Natorp a. a. 0. S. 61 ,ein wenig“, von Laas a. a. O. 488, 4 ,leider
mehr als ein wenig' verdächtig genannt wird, dies ist uns völlig unerfindlich.
Porphyrios hat Stellen aus der Schrift angeführt und somit diese Stellen und
höchst wahrscheinlich die ganze Schrift gelesen. Auch haben wir nicht den
mindesten Grund, dem Verfasser der laropia in diesem Punkte zu
misstrauen, umsoweniger, da der Neuplatoniker jenen literarischen Kämpfen
die sich 700 Jahre vor seiner Zeit abgespielt hatten, völlig unbefangen und
frei von jedem Sehulvorurtheile gegenüberstand. Natorp’s Bedenken ist um so
befremdlicher, da er ja selbst gleich Bernays, Rhein. Mus. 7, 464 ff. = Ges.
Abli. I 117 ff. (dem er auch in der Identification der ’ALjOsia, der KatajBaXAovrs;
und der Schrift rapl xou SVros folgt) nicht daran zweifelt, dass die ,Nieder
werfenden Reden“ gegen die Eleaten gerichtet waren (a. a. 0. S. 61). Als
bedeutungslos kann es übrigens, nebenbei bemerkt, nicht gelten, dass die
antike, wenn auch anekdotenhafte Tradition von einem Wortgefechte zwischen
Protagoras und dem Eleaten Zeno zu melden wusste, vgl. Simplikios zu
Aristot. Pliys. VII 5, 250“ 20 (Schol. ed. Brandis, p. 423, 45).
2 Diels fasst Melissos und Protagoras mit den Worten zusammen:
,Die Epoche von Tliurioi gilt auch für diese beiden Philosophen.“ Die 84.
Olympiade stellt die Bliithezeit des Einen wie des Andern dar, indem Melissos
Olymp. 84, 4 als samisclier Feldherr den bekannten Seesieg errungen, Prota
goras in derselben Olympiade an der Coloniegründung von Thurioi als Ge
setzgeber mitgewirkt hat (Diels, Chronologische Untersuchungen über Apol-
lodor’s Clironika, Rhein. Mus. 31, 40—41). Das Geburtsjahr des Melissos ist
uns unbekannt, als jenes des Protagoras lässt sich mit hoher Wahrscheinlichkeit,
wie ebendort Diels ausführt, Olymp. 74, 3 = 482/1 festsetzen.
3 Der tiefe, aber bisher, soviel ich sehen kann, nicht gehörig ver
standene Sinn jener Stelle ist dieser. Die Naturphilosophen, von denen der
Eine die Luft, der Andere das Feuer u. s. w. für das einzige Reale, für das
sv xal itav erklärt, stehen, soweit ihre positive Aufstellung reicht, auf dem
Boden des Sinnenzeugnisses — denn wie kämen sie sonst dazu, von Erde,
Luft und Wasser u. s. w. zu sprechen? —, verlassen aber denselben, insoweit
sie die Realität der übrigen Stoffe verneinen. Indem nun jeder von ihnen
die Behauptungen der Anderen bestreitet, erschüttern sie vollends ihre ge
meinsame Basis, jeder vernichtet den Rest von Autorität, welchen der
Andere der Erfahrung noch zuerkannt hatte, und auf ihrer wechselseitigen
Widerlegung fusst die Lehre, welche die Giltigkeit der Wahrnehmung über
haupt bestreitet und die Realität der Sinnenwelt durchaus und folgerichtig
leugnet. Es ist dies mehr als eine witzige und scharfsinnige polemische
Wendung. Sie zeugt meines Erachtens auch von richtiger Einsicht in die
Genesis der eleatischen Doctrin. Auf die Discreditirung des Sinnenzeug
nisses, welche in der Stofflehre der alten Physiologen gelegen ist, hat
Lucrez mit treffenden Worten hingewiesen, welche nur eben Heraklit,
gegen den sie unmittelbar gerichtet sind, am wenigsten treffen, I 690 ff.:
Dicere porro ignem res omnis esse neque ullam | rem veram in numero
rerum constare nisi ignem, | quod facit hic idem, perdelirum esse videtur. j
12*
180
IX. Abhandlung: Gomporz.
Seite
nain contra sensus ab sensibus ipse repugnat, | et labefactat eos,
unde omnia credita pendent, | unde hic cognitus est ipsi quem nominat
ignem: | credit enim sensus ignem cognoscere vere, | cetera non
credit e. q. s. Verallgemeinert und auf die übrigen Naturpliilosoplien aus
gedehnt wird dieser Gedanke V. 705 ff.
31 1 Diese persiflirt Plato augenscheinlich durch eine Wendung, wie sie
uns Protag. 327 a begegnet: si yap 87) o Xsyio oürco? fysi — l'^st 8s p.aXtaxa
7zdvtwv ouxto«; — xxi. oder 324 ä : c«ro8l8eixxa( croi, io Sioxpaxss, ixavio;, to<; y’
iixoi cpaivsxai.
2 Vgl. S. 134. Die Wiederholung derselben Worte und Wortstämme,
die in unserer Schrift so auffällig ist, haben wir allerdings als eine Eigen-
thiimlichkeit des alten Stiles kennen gelernt (vgl. Einleitung S. 12), doch
hat Plato auch diese Besonderheit der protagoreischen Diction sicherlich mit
Absicht verspottet, an vielen anderen Stellen und zumal 32G d : aXV axs^vto;
wcjTtsp oi ypap.p.axiaxai xois p^TCio Ösivofi; ypassiv xiov Tiaiocov uTUoypa^avxsi;
ypap.ij.as ^ ypacp(8i ouxio xo ypap.p.axsfov 8i8o'aai xai avayxa£ouai ypassiv xaxa
x^v u^yrjtjiv xiov ypap.p.wv, a>; 8s xai 7] äoXi? vo'p.oj<; ujroypa^aaa xxi. — Hier
ist auch der Alliteration zu gedenken, eines Kunstmittels, von welchem
unser Anonymus einen zwar sehr massigen, aber doch, wie ich meine, als
bewusst und absichtlich erkennbaren Gebrauch macht. Vgl. 1: xous p.sv ouv
is ras aXXas xs^vas xouxio xin xpo'mp ep.:u7CXovxa<;, 8: ayvosi ayvoiav app-o'^ouaav p.avi7)
p.aXXov 5] ap.a0i7]. Auch Verbindungen wie 8uvap.svo; 8s 8ia ao^v (1), X7)v
maxiv xo) TxX^Ost (14), op.oXoy7jasxat :rapa Tcaaiv (4), wo utco rcavxiov so viel näher
lag, oder 8ia ko.vxos tcoislv kurz nach Tuoisf und unmittelbar vor rapt xouxou (3)
werden kaum zufällig sein. Und dies gilt auch von Protagoras in: — r\ xs
a87)Xo'xrjs xai ßpay^us swv 6 ßio; xou avOpiorcou oder in: <&u<7io$ xai acrx^aios 8i8aa-
xaXirj 8sixai, xai cctio vso'xrjxoc 8s apHapivou; 8sT (nicht xp7j) p.avOavsiv. Wie wenig
die Alliteration mit gorgianischem ,Parisosen-Geklapper‘ zu thun hat, kann
das Beispiel des Demosthenes lehren. Vgl. Volkmann, Die Rhetorik der
Griechen und Römer 2 51G.
3 Wie viel auf Hermias zum Pliädrus p. 192 Ast zu geben ist, der
die xupioXs£ia des Protagoras hervorhebt (8ia yap xiov xupicov ovop.axtov p.sx-
7]p^sxo o Ilpioxayo'pac xov Xo'yov xai ou 8ia TtapaßoXiov xai ItuGsxcov), steht dahin.
Doch bedarf es dieses Zeugnisses nicht, da die Bruchstücke und die plato
nische Nachahmung vernehmlich genug sprechen.
4 Vgl. Einleitung S. 13. Als besonders charakteristisch mag noch
hervorgehoben werden 5 das Satzglied: xai oxs sßXaß^aav xoi ßXaßijvai oxi f^v
xi xo ßXa^av, und wieder bei Plato 317 b : xai euXaßsiav xaux7)v o!p.ai ßsXxito
ixsivr,!; sivai, xo op.oXoysiv p.aXXov r\ xo I<-apvov elvai. Man beachte, dass
Protagoras hier noch keine eigentliche Rede hält, sondern sich mit dem
eben eingetretenen Sokrates und dem jungen Hippokrates allein unterhält.
Darum dürfen wir in dem Nachdruck, der Feierlichkeit und der übergrossen
Deutlichkeit der Rede um so sicherer die persiflirende Absicht erkennen.
Dies gilt ebenso sehr von 316 d : iauxio suvsivai co; ßsXxiou; iaopivoui; 8ta xrjv
sauxou auvoua(av, ferner von d—e: xai o vuv cxi übv oOSsvbi; fjxxiov aocpiax7)S
f Hpo'8ixo<; o 2y)Xup.ßpiavo;, xo 8s ap^afov Meyapsu?. Am unverkennbarsten
tritt aber die Parodie protagoreischer Ueberdeutlichkeit 334 c zu Tage in
Die Apologie der Heilkunst.
181
Seite
dem Satze: oaov po'vov Tr;v Suayfpsiav zaTaaßlaai tt)v fjtl Tode ataOijasat Tai; oict
twv ßivcov yiyvopEvrjv iv raf; aruoi; te zai oij/oi; — eine Stelle, die von völlig
grandiosen Aenderungsvorselilägen lieimgesucht worden ist. Die persiflirende
Tendenz erhellt ebenso sehr aus dem Contrast zwischen der gesuchten Rede
weise und der Widrigkeit des Gegenstandes, dem üblen Geruch der Nahrungs
mittel, welchen der Gebrauch des Oeles zu mildern bestimmt ist, als aus
dem unmittelbar darauf losbrechenden Applaus der Hörer. Man gedenkt
unwillkürlich Moliere’s, der die Redeweise der ,Pr6cieuses ridicules“ verspottet,
indem er seinen Masearille statt: ,Riechen Sie an diesen Handschuhen! 1 sagen
lässt: ,Heften Sie ein wenig auf diese Handschuhe die Reflexion Ihres Ge
ruchsinns!“ Wenn übrigens Protagoras sich wirklich jemals so ausgedrückt
hätte, wie ihn Plato hier sprechen lässt, so hätte er etwas gethan, was ihm
sehr hoch angerechnet werden müsste. Er hätte es versucht, zwischen Sinnes
empfindungen und ihren Objecten gleichwie zwischen den ersteren und den
sie begleitenden Lust- und Unlustgefühlen scharf zu unterscheiden — ein
Streben nach Präcision des Gedankens und des Ausdrucks, von welchem jenes
Zeitalter nicht zu viel, sondern, wie Plato’s eigene Erörterungen, nicht
zum mindesten auch in eben diesem Gespräche, zeigen, viel zu wenig be
sessen hat!
5 Vgl. Plato Protag. 325 tl : oti to psv Slzaiov, xb bk aSucov zte. und noch
mehr 334 — eine Stelle, an welcher Plato, wie Peipers a. a. 0. S. 46
richtig bemerkt, den Sophisten ,einige Kenntnisse in medicinischen Dingen
verrathen lässt“ — und in unserer Schrift 5: 5) yap aai-iy r) raXucpayü) zt£.
0 Paradoxe Wendungen begegnen im Dialog 326°: äXX’ ob yorj Oau-
pafsiv, aXXä TtoXu paXXov £? pr) oioazTo'v, in Ilspt ziyyry 8: oi piv oüv xoüxct Xe-
yovTE; y.zL, in geringerem Grade 5: zai sotiv ouSev f](raov zte. Hieher gehört
auch das dritte Glied der Definition: xai to p>j sy^sipsiv zte. in 3. Die heftige
Polemik des historischen Protagoras bezeugt die Bezeichnung seiner meta
physischen Hauptschrift: 01 xaraßdXXovTE;. In unserer Schrift wird den Gegnern
an Wahnwitz grenzende Unwissenheit vorgeworfen (8).
1 Vgl, Halbfass a. a. 0. S. 8 Aum. 25. Mit dem öpOÖTaroc Xo'yoc bei 32
Plutarch Pericl. 36 vgl. G: öpOw Xo'yip, im Uebrigen insbesondere i und 5 z. E.
2 Vgl. Protag. 328 d , wo der die lange Rede abschliessende versiculus
v£oi yxp die carrikirende Absicht wieder deutliclist verrätli durch den Ueber-
schwang ironischer Bewunderung, den unmittelbar darauf Sokrates äussert.
In fLpl xi'/yt}i steht der Schluss von 11 dem nicht ferner, als das Original
einer Carrikatur zu stehen pflegt.
1 Die Stelle lautet also: EE. Ta yg pfjV jtEpi xacunv te xai zarä plav 33
EZXOTrjV TSyVJJV, X OE! Jtpo; SZaUTOV aOxÖv TOV OJ)|J.lO'Jpybv XVTEUISIV, OEO/|[J.OOIlop.£Va JtOU
xaTaßlßX^xai y£ypap.p.sva zu) ßouXopsvcp paOsiv. 0EAI. Ta IIptoTaydpEtd poi cpalvEi
jcEpl te "dX‘/j; zai Tnjv aXXiov zoyyojo slprjxEvai. SE. Kal jtoXXSv yE, w pazdpis, STspcov.
Richtig bis auf eine Kleinigkeit ist die Stelle übersetzt von Jo wett, The
Dialogues of Plato, London 1871, IH 494: Str. In all and every art, what
the craftsman ought to answer on each occasion (vielmehr: to everyone)
is written down and popularised and he wlio likes may read.
Theaet, I supp ose that you refer to the precepts of Protagoras about
wrestling and the other arts?
182
IX. Abhandlung: Gomperz.
Ebenso hat Campbell (The Sopliistes and Politicus of Plato, Oxford
18G7), von dem ich wieder nur darin abweiche, dass ich exaaxov als Mascu-
linum, nicht als Neutrum (,Probably neut.: sc. aixcpiaß^r/j^a 4 ) ansehen zu
müssen glaube, die Stelle verstanden, was aus seiner Bemerkung erhellt:
,aüxov implies, Tliey dictate even to tlie masters of eacli craft.‘ Dass irgend
Jemand darauf verfallen konnte, Plato’s Worte anders zu deuten, dies war
mir (ich gestehe es) niemals in den Sinn gekommen. Allein Sclileiermaclier
und Hieronymus Müller, Heindorf und Stallbaum übersetzen und erklären
den ersten Satz in der Tliat so, als ob ganz andere Worte vor uns stünden.
(,Wie man jedem Meister darin widersprechen muss, 4 ,was man . . . jedem
Werkmeister derselben zu entgegnen habe 4 ). Die vereinigte Autorität dieser
Männer müsste uns imponiren, wenn auch nur Einer von ihnen den leisesten
Versuch gemacht hätte, seine Auslegung zu rechtfertigen. Allein nichts
Derartiges ist geschehen. Der Sophistenhass hat hier den Interpreten ge
spielt, und die Grammatik hatte das Nachsehen! Dass a npo<; sxaaxov
auxov xov 8rj{j.ioupyov avxsiraiv so viel ist als ä oet auxov xov Ö7][j.ioupybv avxsirafv
7xpog exaaxov, wem braucht man das zu sagen? auxov wird jedoch in jenen
Uebersetzungen einfach als nicht vorhanden betrachtet, und die Erklärer
zeigen zwar, wie sie die Stelle verstanden wissen wollen, verrathen aber
mit keinem Worte ihre grammatische Auffassung derselben. Man dachte
offenbar, dass von Protagoras eher Streitschriften, die gegen den Bestand
der einzelnen xlyvai gerichtet waren, als ihr Gegentheil vorauszusetzen
seien, und fand sich in dieser Präsumtion durch den gesammten Tenor der
platonischen Erörterung gleichwie durch den Satz 233 a bestärkt: tcw; oOv av
7toxi xt«s TCpo; ye xov i7uaxaij.svov auxos avsTCiax^p.cov tbv ouvaix’ av uyts<; xi Xeytov
avxaraiv; Allein man übersah dabei, dass die letztere Stelle sich auf die
ganze vorangehende Darstellung der Eristik sammt der in dieser enthaltenen
Voraussetzung menschlicher Allwissenheit — zl roavxa ImaxaaOai xiva avOpwTtcov
2axi buvaxo'v — bezieht. Auch hätte jene Präsumtion höchstens dazu ver
anlassen können, die obige Stelle für verderbt zu halten, nicht aber
ihr einen dem klaren Wortlaut widersprechenden Sinn unterzulegen. In
Wahrheit ist jedoch natürlich zu conjecturalen Aenderungen nicht der
mindeste Grund vorhanden. Auch wenn Protagoras eine Gesammtapologie
der Künste und Schutzschriften für eine Anzahl einzelner Künste verfasst
hat, konnte Plato diese Thatsaohen für den Zweck, den er hier im Auge
hat, gar wohl verwerthen. Eine Prätension der Allwissenheit liess sich selbst
in diesem Bemühen erkennen. Als anmasslich durfte es gelten, wenn der
Sophist besser als die Vertreter des fachmässigen Wissens und Könnens ihre
Leistungen Angreifern gegenüber darstellen und vertheidigen zu können
glaubte. Endlich, der Verfasser der Antilogien, der Urheber des Wortes,
dass es in jeder Sache ein Für und ein Wider gebe, hat es gewiss nicht
unterlassen, die Vertheidigung mit dem Angriff derart zu verbinden, dass
der Leser gleichzeitig mit den Argumenten bekannt wurde, die sich zu
Gunsten und zu Ungunsten der aufgestellten These Vorbringen Hessen.
Man vergleiche hier 5 init.: ’Epef bq b xavavxta Xiyojv und viele andere
derartige Wendungen. Dass aber Plato, dem es um die Schilderung und
um die Verkleinerung der a;j.9'.aß7}xixrj und avxtXoyix/j zu thun ist, diese Seite
Die Apologie der Ileilkunst.
183
Seite
der Sache mit Vorliebe betont, wie sollte uns dies wuudernelimonV Schliess
lich sei noch auf einige Erwägungen zweiter Ordnung hingewiesen. Wie
schlecht würde die vermeintliche Generalanklage aller Künste und Gewerbe
zu der Vorsicht und Behutsamkeit stimmen, deren Plato den Abderiten sich
berühmen lässt Protag. 317 b ~ d , welche auch Timon ihm nachrühmt (xäcr«v
'iyyi') cpuXa/ujv Ijueizelr);, frg. 48 Waehsmuth 2 ), und die für den überall und
nirgends heimischen Wanderlehrer in der That ein Gebot unabweislicher
Nothwendigkeit war! Wie schlecht auch zu seiner Neigung, die ganze
Lebenspraxis auf xiyyai zurückzuführen, zu seiner von Plato behaupteten
Gewohnheit, sich selbst zu den rsjivfcat zu zählen, gleichwie zu seinem Preis
der Gymnastiker und Aerzte Ikkos und Herodikos! (Vgl. das S. 115 und 127
Angeführte nebst Prot. 317°: zaitot TtoXX« ys strj rjor; sip.1 iv rij T£j(vrj, eiue
Aeusserung, deren Form viel zu auffällig ist, um absichtslos zu sein, und
schwerlich jeder thatsächliehen Grundlage entbehrt. Zum Mindesten wird
der älteste Sophist und der Begründer des ganzen Berufszweigs diesen
von den übrigen rsyyai und orjpioupyiai, wozu ja auch der ärztliche Beruf
seit Homer gerechnet ward, nicht scharf unterschieden haben, wovon der
die Banausen verachtende philosophirende Aristokrat mit schmunzelndem
Behagen Kenntniss nimmt). Was wollen daneben die Sticheleien gegen
Ilippias besagen Protag. 3 IS °, die Plato ihm in den Mund legt, und durch
welche man seine Gegnerschaft gegen die ti/vai erhärten zu können glaubt?
2 Ueber die Worte OEOr]|j.oaiwjj.iva jtou xaraßlßXrjTat Sophist. 232 d , die
Schleiermacher und H. Müller wenig zutreffend übersetzten, habe ich Herodot.
Stud. I 38 (176) gehandelt und daselbst meine Auffassung auf den aristo
telischen Sprachgebrauch gleichwie auf den Nachweis gestützt, wie xaTaßäXXw
zu der Bedeutung des Ausstreuens und Verbreitens gelangt ist; auch
Antipho Fgm. 57 (58) Blass 2 hätte erwähnt werden sollen. Längst vorher
hatte Campbell, dessen Ausgabe ich damals nicht kannte, die Stelle ebenso
verstanden und an Aristot. Eth. Nie. I 3 erinnert.
1 Man könnte gegen den protagöreischen Ursprung der Schrift vielleicht 34
die folgende Erwägung ins Feld führen. Ein Widerspruch, wie wir einen
solchen zwischen der subjectivistischen Auffassung des Homo mensura-Satzes
und dem Götterfragment nachgewiesen haben, besteht (so lässt sich nicht ohne
Sclieinbarkeit behaupten) auch zwischen diesem und der auf den Bestand
der xlyyxi bezüglichen Beweisführung (2). Ebenso weit, wenn nicht weiter
verbreitet als der Glaube an die Existenz der tl'/yai, war jener an das Dasein
von Göttern; und wem in jenem Falle die Frage zulässig erschien: woher
sonst als aus dem wirklichen Bestand der riyyzi hätte der Glaube an ihr
Dasein erwachsen können? — dem musste, so mag jemand meinen, auch
das Dasein von Göttern auf Grund der gleichen Beweisführung als zweifellos
gelten. Hierauf erwidere ich, dass unser Anonymus jenes Argument eben
nicht mit starrer Consequenz angewendet hat, wie die auf das auTop.atov be
zügliche Erörterung unzweideutig lehrt. Auch sind wir, da uns die h aXXoim
Xoyorai (3 init.) gegebene vollere und deutlichere Ausführung des ontolo
gischen Argumentes unbekannt ist, nicht im Stande zu beurtheilen, ob und
inwieweit jene Einschränkungen seiner Anwendung gerechtfertigt oder er
klärbar sind. Jedenfalls besteht zwischen den zwei Fällen ein tiefgreifender
fl
184
IX. Abhandlung : Go mp er z.
Seite
Unterschied. An das Dasein von Göttern glaubte die ungeheure Mehrzahl
der Menschen, aber die Vorstellungen in Betreff der Götterwelt waren
bereits als von Volk zu Volk und von Zeitalter zu Zeitalter vielfach schwankend
und veränderlich, ja auch (zumal durch Xenophanes) als in sich wider
spruchsvolle erkannt worden. Von den xsj^vai hingegen galt nichts Aelin-
liclies. Man glaubte nicht bloss an ihre Existenz, sondern ihre Eiosa standen
sicher und scharf Umrissen vor dem geistigen Auge der Gebildeten.
2 Ein Beispiel statt vieler liefern Galen’s höchst merkwürdige Mit
theilungen über die Schicksale, welche mehrere seiner eigenen Schriften
noch bei seinen Lebzeiten erlitten hatten (De libris propriis XIXSsqq. K.).
35 1 Zu dem, was Littre in diesem Betracht mehr oder minder sicher
ermittelt hat (VI 88), möchte ich noch Eines hinzufügen. Die Schrift De
prisca medicina verräth einen directen polemischen Bezug gegen das Buch
De victu. Man vergleiche:
De prisca med. 20 init. (I G20 L.).
Asyouai Se xive? xai tyxpoi xai aocpi-
atai oux svt [ouvaxov secl. Reinhold]
i7)TptZ7)v EiSsvai oaxi<; p.7) oioev o xi eotiv
avOptoTO?, aXXa xoüxo 5st (1. osiv) xaxa-
paOsiv xov piXXovxa opOaSs Osparaucrsiv
xou$ avOptorcou«;- xsivsi ös auxoi«; 6 Xo'yoi;
£<; cpiXoaocpirjv, xaOcbcEp 1 E[j.tcsooxXt]<; .7)
aXXot o't 7XEpl cpuato; ysypacpaatv apj(7]s
0 xt saxlv ävOptoTco; xai otcco; sysvExo
xpwxov xai oOev* auvs7iay7j.
2 Die Gründe, welche v. Wilamowitz neuestens bestimmt haben, den
Nopo? dem Demokritos beizulegen (s. das Motto seines Herakles, Bd. I), sind
mir unbekannt. Gelingt es ihm, diesen Nachweis zu führen, so wird man
sich freuen dürfen, das schöne und gedankenreiche Blatt mit dem Namen
eines Denkers und Schriftstellers ersten Ranges schmücken zu dürfen.
3 Die von Bernays a. a. O. 466—467 geäusserte Vermuthung, dass
die ’AvxtXoytat des Protagoras wieder ein anderer Titel seiner dialektischen
Hauptschrift seien, scheint mir so wenig als Schanz (Beiträge zur vor-
sokr. Philos. I 31) ausreichend begründet. Nebenbei bemerkt, sollte
wirklich Aristoxenos die tolle Behauptung aufgestellt haben, ,Plato’s Politik
habe fast ganz schon in den ’AvxiXoyixa des Protagoras gestanden 4 ? Ich
vermag dies nicht zu glauben und möchte die Vermuthung wagen, dass
bei Laert. Diog. ni 37 das Wort üoXixstav auszuscheiden ist, so dass die Stelle
zu lauten hat: Eucpopunv oe xai Ilavaixio? stp/jxaat TtoXXaxu; scrxpa(j.(j.sv7]v sup^aOai xVjv
a PX/l v HoXixEias t}v [IIoXixEl'av] ’Apiaxo^svo's cpqat Tiaaav a^soov ev xoi; Ilpioxayppou
ysypacpOai ’AvxiXoyixoi«;. Dabei wäre natürlich nicht an die scenische Einkleidung
des Dialogs, wohl aber an die argumentative Erörterung zu denken, welche
mit, 331° ihren Anfang nimmt und bis 33G a reicht. Etwas diesen Versuchen,
* So M, A hat oto'Oev, die Uebrigen otco>£.
De victu I 2 (VI 468 L.)
ff>/)p.i 8e Öeiv xov piXXovxa opOwi; auy-
ypacpsiv Tcspi oia(x7)i; av0pa)7ttv7]<; TCptjxov
p-Ev Tiavxo; cpuaiv avOptorcou yvtovai xai
oiayvwvai • yvcnvai [xsv goto xiviov cjuv-
ecjx7)X£v apyffe, Siayvwvai 5s 6716 xiviov
[XEpiiov x£xpax7)xar e’ixe yap X7jv e£ apyijs
auaxaaiv p.7) xxe.
Die Apologie der Heilkunst.
185
Seite
(len Begriff der Sixaioauvr) zu umgrenzen und die gangbaren oberflächlichen
Begriffsbestimmungen dialektisch zu widerlegen, Verwandtes oder Aehuliches
kann mindestens sehr wohl in den ,Antilogien‘ zu lesen gewesen sein. In
ähnlicher Art, jedoch ohne den hier empfohlenen kritischen Eingriff, deutet
die aristoxenische Meldung K. F. Hermann, Gesell, und System d. plat.
Philos. S. 694, desgleichen Ern. Havet, Les origines du Christianisme I 101.
Hass bereits Favorinus bei Laert. Diog. III 57 die Mittheilung des Aristo-
xenos missverstanden hat, braucht uns nicht zu beirren.
Weit weniger befremdet es, dass die Schrift Ilept Qsiuv in jenem Ver
zeichniss nicht genannt ist. Der Mangel jeder Erwähnung derselben und
ihres Inhalts (mit alleiniger Ausnahme der vielberufenen Eingangsworte),
selbst dort, wo wir eine solche am ehesten erwarten könnten, z. B. bei Phi
lodem icept eotjsß&as, macht es wahrscheinlich, dass dieselbe früh verloren
ging, vielleicht auch gar nicht in den Buchhandel gelangt ist. Vgl. Laert.
Diog. IX 52, wo die Worte xat xa ßißXP auxou xaxsxaucrav iv x9j ayopa wahr
scheinlich auf Missverstand dieses Scribenten beruhen, dessen Gewährsmann
wohl nicht von den Schriften' des Protagoras überhaupt, sondern von den
Exemplaren eben dieser einen unmittelbar vorher genannten, gerichtlich ver
urteilten Schrift gesprochen hat. (So versteht die Nachricht auch Bergk,
Gr. Lit.-Gesch. IV 337.) Usener’s Annahme, ,ad eosdem Protagorae Kocxa-
ßaXXovxas . . . illam quoque disputationem pertinuisse quae de deis erat 4
(Rhein. Mus. 23, 162), vermag ich mir nicht anzueignen. Dass Euripides
Bakch. 195 —196 vorzugsweise Protagoras im Auge gehabt habe, mag als
nicht unwahrscheinlich gelten. Dass er, um diese Beziehung erkennen zu
lassen, absichtlich das an diesen und sein Hauptwerk erinnernde Wort
xaxaßaXsf gebraucht habe, ist immerhin möglich; aber dass er nur dann so
sprechen konnte, wenn der Zweifel an dem Dasein der Götter eben in den
KaxaßaXXovx£<; ausgesprochen war, dies will mir nicht einleuchten. Zu dem
von Bernays und neuerlich von Natorp a. a. O. S. 60 beigebrachten Belegen
für den dialektischen Gebrauch von xaxaßaXXco füge ich hinzu Galen III 316:
— aXX 1 avxciTCEiv xai xaxaßaXsfv ia^upafi; aTroOc^eaiv E^sXEyi-avxa, V 12: — (j^o 1
iXeyxxixw; p-rjos xo cpiXovsixcog sp/paivcov (so mit Iw. Müller, dessen xi cpiXovsixss aber
unnöthig ist) tx7]os xo xaxocßaXXstv iOsXstv exeivov, XVIII 1, 206: aüx7) p.Ev rj ß-fjat?
saxi . . . oux avapivouaa xov e^ojOev sXsy^ov, aXX’ iaux^v xaxaßaXXooaa. Ebenso
Aristokles bei Euseb. Praep. ev. XIV 17: o’iovxai (sc. die Eleaten) yap bsfv
xa<; p.Ev aiaOrjaEi? xai xa; ^avxaaia; xaxaßaXXstv, auxw oe p.o'vov xto Xo'yto maxsustv.
1 Einen ,Verächter der Wissenschaften, insbesondere der mathema- 37
tischen 4 nennt Natorp (a. a. O. 9, vgl. auch 52) den Protagoras, weil dieser
— nun weil dieser in genauer Uebereinstimmung mit dem, was in unseren
Tagen Sir John Leslie, Sir John Herschel, John Stuart Millj Alexander
Bain und kein Geringerer als Helmholtz gelehrt haben, die geometrischen
Erkenntnisse aus der Erfahrung ableiten zu dürfen glaubte, und demgemäss
die Definitionen dieser Wissenschaft nicht für streng, sondern nur für an
nähernd wahr erklärt hat, — wobei nebenbei noch an die nichtssagenden
Nergeleien erinnert wird, welche Plato ihn dem Rivalen Hippias gegenüber
äussern lässt. Wie weit des Abderiten hiedurch veranlasste Polemik gegen
die Vertreter der Geometrie gereicht hat (iXly^tov xou; yEtopixpoci;, Aristot.
186
IX. Abhandlung: Goiuporz.
Metaph. B 2, 998 a 4), dies ist uns völlig unbekannt. Nicht wenig gewagt
scheint mir schon Zeller’s Behauptung-, er müsse in seinem Buche lUpi pa-
Or)pattov die ,wissenschaftliche Sicherheit“ der Mathematik bestritten ,und nur
ihre pralctisclie Anwendung in engen Grenzen übrig“ gelassen haben (I 4 991).
Natorp’s Ausspruch aber ist eine sich selbst richtende Ungerechtigkeit,
welche wir selbst daun schwer begreifen, wenn wir uns des das Urtheil
trübenden säculären Missverstaudes des Homo mensura-Satzes erinnern.
2 Ich denke hierbei an jenes Gespräch des Perikies und des Protagoras,
welches durch seinen, der Umgebung des Ersteren nur halb verständlichen
Inhalt und durch seine ungewöhnlich lauge Dauer zu dem Gerede Anlass
gab, der leitende Staatsmann Athens habe mit dem fremden Sophisten einen
ganzen Tag hindurch eine miissige und spitzfindige ,Doctorsfrage“ verhandelt
(Plut. Periei. 36). Den Ausgangspunkt ihrer Unterhaltung mag sehr wohl
das dort angeführte actuelle Vorkommniss und die Rechtsfrage gebildet
haben, wer bei der unfreiwilligen Tödtung jenes Epitimos der eigentlich
Schuldige sei: der AVurfspiess, derjenige, der ihn warf, oder endlich die
Veranstalter des Kampfspiels. Die Frage erinnert, wie einst Blass, Att. Be
redsamkeit I ! 26 und kürzlich wieder v. Wilamowitz, Göttinger Winter-
Programm 1889/90, S. 19—20 bemerkt haben, an den Gegenstand der zweiten
Tetralogie des Antiphon. Allein dass die zwei grossen Männer bei dieser
Detailfrage nicht stehen bleiben konnten, dies ist selbstverständlich und
überdies längst von Hegel erkannt worden. ,Es ist ein Streit,“ sagt dieser
(Gesell, der Phil. II 28), ,über die grosse und wichtige Frage der Zurechnungs
fähigkeit.“ Vielleicht noch mehr — so dürfen wir hinzufügen — über jene
des Strafzwecks. Protagoras war ganz der Mann dazu, an den extremen Fall
greller Unvernunft, wie ihn derartige vor dem Gerichtshof beim Prytaueion
verhandelte Streitsachen — die Verurtheilung lebloser Gegenstände nicht
minder als vernunftloser Thiere — jedermann vor Augen stellten, eine
schrittweise zu den höchsten Zielen vordringende dialektische Erörterung zu
knüpfen, Werth und Wesen des geltenden Criminalrechts kritisch zu prüfen,
seine vornehmsten Wurzeln — den animalischen Vergeltungstrieb und das reli
giöse Siihnbedürfniss — blosszulegen, hieran die Frage zu reihen, ob denn
die Gesellschaft befugt sei, aus solchen Gründen schweres Leid Uber ihre
Mitglieder zu verhängen und schliesslich nach einer haltbareren und vernunft-
gemässeren Grundlage des Strafrechtes zu suchen. Wie weit auch die Willens
frage in diese Erörterung hineinspielte, mag dahingestellt bleiben; wer unsere
Ansicht über die Autorschaft der Schrift ,von der Kunst“ theilt, wird vielleicht
geneigt sein, auch den Schluss des 6. Abschnitts liieherzuziehen. Doch dem
sei, wie ihm wolle. Wenn Plato dem Protagoras im gleichnamigen Gespräche
324 b einen nachdrücklichen Protest gegen die blosse brutale Vergeltung
vergangenen Unrechts in den Mund legt und ihn zugleich mit Emphase die
Absehreckung-stheorie verkünden lässt (cbtoTporojs youv evEzce /.oWJei), so
glauben wir, in dem Gemache des Perikies zu stehen, der ernst und eifrig
geführten Wechselrede, vielleicht neben der gespannt aufhorchenden geist
vollen Milesierin, zu lauschen und ihren tiefen Sinn besser zu begreifen, als
des weisen Staatsmanns entarteter Sohn Xanthippos und der klatschsüchtige
Stesimbrotos dies wollten oder konnten. Ob die Schrift Ilepi raLraas, ob
Die Apologie der Ileilkunst.
187
Seite
jene Ilepi twv oux opOio? toi? avOpioTCoi? Ttpaaffopivcov, ob der üpocjTaxT'xo? Xo'yo?,
ob endlich die zwei Bücher der Antilogien der Ort waren, an welchem der
Abderite seine strafrechtlichen Theorien entwickelt oder erhärtet hat, wer
möchte dies noch auszumitteln versuchen?
1 Dass dies der Sinn des überlieferten Buchtitels Ilepi T7j? ev ap^fj 38
xaTaaraaio? ist, gilt mir gleich Johannes Frei, Quaestiones Protagoreae,
p. 182, und Sauppe, De Antiphonte sophista, p. 15, als zweifellos. Die Worte
sind an sich mehrdeutig und Hessen sich ebenso gut auf die uranfängliche
Welt- wie auf die ursprüngliche Gesellschaftsordnung beziehen. Im ersteren
Sinne erscheint fast genau dieselbe Wortverbindung in dem kürzlich von
Ruelle herausgegebenen Madrider musikalischen Fragment (Oeuvres de
Charles Graux II 544): üuOayo'pa? 8e jcpö? T7)v ££ ap^fj? acpoptov xaraaracnv
xts. Zu Gunsten der letzteren Deutung spricht die doppelte Erwägung, dass
uns über physikalische oder kosmogonische Lehren des Sophisten ander
weitig nicht das Mindeste bekannt ist, und dass es der platonischen Dar
stellung, wie sie uns im Prometheus-Mythos vorliegt, doch nicht wohl an
jedem Urbilde gefehlt haben kann. Für den Gebrauch von xaTacrraai? in
dem hier erforderten Sinne vergleiche man vor Allem Moschion Fgm. 6 N. 2 :
rcpäkov 8’ avsifju xai §§pju a c6$&> Xo'yio | apy^v ßpotefou xai xaiaaiaaiv ßiou (worauf
Sauppe a. a. O. hingewiesen hat), desgleichen Democrit. Fgm. Moral. 184
Mull ach: avOptoTtoiai tgjv avayxaicov ooxsf eivai, Traf 8a? xr/jaaaOai ajuo cpuaio? xat
xaiaataaio? tivo? ap^airj?. Ferlier Fgm. Moral. 205: oüSepia p.rj^av^ tw vuv
xaOeaTeioTi ßua[j.o) p.7j oux äSixeiv tou? apyovTa?. Ebenso gebrauchen das Wort
Herodot, Isokrates, Plato und viele Andere. Hieher gehört auch der Titel
einer verlorenen Rede des Antiphon Ilepi trj? p.£TaaTaa£to?, was durch ,de
mutato rerum publicarum statu- wiedergegeben wird (Orat. attici II 138). Die
naheliegenden Gründe gegen Bernays’ Vermuthung (Rhein. Mus. 7, 466), die
Schrift sei rhetorischen Inhalts gewesen und habe über das Proömium ge
handelt, brauche ich um so weniger auszuführen, da dieselbe bisher wohl
keinen einzigen Anhänger gefunden hat.
1 Annähernd richtig urtheilen hierüber die zwei jungen Gelehrten, 60
welche sich im Laufe der letzten Jahre um die Vorbereitung einer neuen
Hippokrates-Ausgabe mit regem Eifer bemüht haben. Vgl. Kühlewein,
Hermes 22, 181, und Johannes Ilberg, Studia Pseudippocratea (Leipzig 1883)
p. 60, desgleichen Rhein. Mus. 42, 449.
1 Petrus Lambeccius, Commentarius bibliothecae Vindob. 1. VI p. 154. 73
1 Der Auffassung der galenischen Aeusserungen,- welche v. Wila- 77
mowitz (Homerische Untersuchungen S. 316) vorbringt, vermag ich nicht
beizupflichten. Der pergamenische Arzt hat den hippokratischen Schriften
das eindringendste Studium gewidmet*, er kennt aufs genaueste die Lesarten,
welche den alten Commentatoren Vorgelegen hatten (z. B. XVII1, 1005 Kühn),
darunter auch solche aus Handschriften, welche drei- bis vierhundert Jahre
vor seiner Zeit geschrieben waren (XV 21—22 Kühn, XVIII 2, 630); er
erörtert mehr als einmal die Schreibungen, welche ein Rufus (av7jp cpu-
Xaaa£tv . . a£t 7r£ipt6[j.£vo? Ta? TtaXaiä? ypacpa?) und ein Sabinus als die ältesten
bezeichnet hatten (XVI 468, 474, 636), — und wenn er nun den zwei im
Text genannten Herausgebern dreiste Neuerungssucht in dialektologischer
188
IX. Abhandlung: Gompcrz.
Seite
gleichwie in vielfacher anderer Rücksicht, zum Tlieil mit eingehendster Be
gründung, vorwirft (so XIV 474, XV 22, XVIII 2, 631), so sollen wir ihm
trotz alledem die schlimmste Ignoranz Zutrauen und voraussetzen, ,dass
vielmehr Galen sieh durch pseudionische Texte täuschen liess 1 ? Ich will
keineswegs behaupten, dass der vielbeschäftigte Arzt und unermüdliche Viel
schreiber zugleich ein gediegener Textkritiker war, aber seine tliatsäcklichen
Angaben über das, was in den Texten des Hippokrates alte Ueberlieferung
war und was darin von seinen Zeitgenossen geneuert ward, werden wir für
unbedingt glaubwürdig halten müssen.
2 Vgl. ,Beiträge zur Kritik und Erklärung griechischer Schriftsteller“
111 32 (592).
82 1 ETErj ist Littrd’s schöne Besserung, die er aus rj-cir) des Vind. gewonnen
hat. Sie wird durch M’s Schreibung glänzend bestätigt. Genau in
derselben Verhüllung tritt das Wort nicht weniger als dreimal nach einander
bei Demokritos auf (ap. Sext. Emp. adv. math. VII 135—137), wo Estienne
und Menage gebessert haben, oüoev entnehme ich gleichfalls M, während
0 das an sich nicht minder mögliche ouoevo's darbietet.
91 1 Wer unsere Vermuthung theilt, dass der Verfasser von IIspi xej(vr)5
ein Abderite gewesen sei, wird es vielleicht nicht für ganz irrelevant halten,
dass der Name dieser Stadt in den attischen Tributlisten als Habdera er
scheint. Die Bruchstücke Demokrit’s sind zu schlecht überliefert, um bei
Erörterung derartiger Kragen ernstlich in Betracht zu kommen. Doch
lehrt uns das in einer Corruptel bei Clem. Al. Strom. I 357 Potter erhaltene
y.'jj, dass Demokritos jedenfalls in diesem und in verwandten Wörtern die
/.-Formen gebraucht hat.
92 1 Tyclio Mommäen schreibt, Beiträge zu der Lehre v. d. griech. Präpos.,
Frankfurt 1887, S. 112, Anm. 50: ,Denn in der Ionischen (Prosa), abgesehen
von dem höchst unsicheren Gebrauch des Hippokrates, wird dieser Genetiv“
(nämlich in der ,Verbindung des pEta mit sachlichen Begriffen, nament
lich abstracter Art“, die vor Euripides kaum nachweisbar ist) ,im Sin
gular ganz, im Plural beinahe ganz vermieden.“ Mommsen übersieht hierbei,
dass in dem Bruchstück des Demokritos bei Clemens a. a. 0. p'et’ cöio8e1!;eco;
klar überliefert ist. Ausserdem vergleiche man De prisc. med. 10 (1594 L.):
p.Eri cnrpo'oou ts Mil io'cpou und 17 (I 612 L.): pETa ouvaplcov. aüv ist dieser
Schrift völlig fremd. Auch No'po; 2 (IV 640 L.) begegnet psrä :ppov7)aco;.
2 Weniger hat es zu bedeuten, dass auch äxstp diesem wie manchem
andern Bestandteil der hippokratischen Sammlung, darunter auch einem
der ältesten, nämlich der Schrift über die Kopfwunden, fremd ist. Nichts
will das Fehlen von jrayyu und '/.xpxa besagen, da unsere Schrift überhaupt
kein Beispiel einer Verstärkungspartikel aufweist; das Gleiche gilt von p!v,
da ocjvd gar nicht, aütöv und «ur/jv zwar zusammen viermal — 5 (bis), 10
und 11 —, jedoch mit stärkerer Betonung auftreten, als dass wir füglich
das enklitische p!v erwarten könnten. In Betreff des Partikel-Gebrauches
unseres Autors sei noch bemerkt, dass er prjv nur in drei Verbindungen
verwendet. Wir finden ou pr ( v — oilre — oute 8 fin. und ou prjv schlechtweg
5 init. und 11 init., also hierin mit Thukydides (oü pijv — ouos) übereinstim
mend. Ferner mci prjv — ys 7, wie Antiphon mehrmals in der o. Rede.
Die Apologie der Heilkunst.
189
Seite
Endlich ye pjv 9 fin. und 10 init., Letzteres in Uebereinstimmung mit
Pindar, den Tragikern u. s. w. iXkct p.rjv und oüoe (rijv fehlen gänzlich wie
bei Tlmkydides, in den drei Gerichtsreden des Antiphon und den drei zweifel
los echten Reden des Andokides. Die Frequenz ist gemäss dem argumen
tativen Charakter der Schrift eine grössere als selbst in der 5. Rede des Anti
phon. Die Schrift De prisca medicina, die, wie bemerkt, in Bezug auf u.std
und oüv mit den Attikern übereinstimmt, kennt pojv überhaupt nicht, während
die wohl sicherlich ältere De articulis, welche niemals p.Eid und sehr oft oov,
ferner dptpi mit dem Dativ, jtot! statt xpo?, desgleichen zdp-rac rrnd ärap ver
wendet, von pijv ziemlich reichen Gebrauch macht, darunter auch einmal in
der Verbindung <xXkx pjv, die den ältesten Phasen der attischen Prosa durch
aus fremd ist. Das vergleichsweise häufige, zweimalige Vorkommen von
touto p.EV — tou-o oe (in 12) erinnert an den Sprachgebrauch des Antiphon
ebenso wie das starke Uebenviegen von oüv über toivov (11:4) mit dem
selben übereinstimmt, vgl. Ernst Kalinlca, De usn coniunctionum quarnn-
dam apud scriptores att.icos antiquissimos, Wien 1889, p. 48—49.
3 Dass übrigens die älteren Formen in der O-Declination früher als
in der A-Declination zu weichen begannen, dafür bietet jetzt auch die grosse
eleusinische Inschrift einen interessanten Beleg (C. I. A. IV B 27 b). Vgl.
auch Fritsch, Zum Voealismus des herodotiselien Dialekts, Hamburg 1888,
S. 34 und J. G. Renner in Curtius’ Studien I 1, 212.
1 Wenn Fritsch a. a. O. S. 35 nicht übel Lust zeigt, die bei Herodot 93
ausnahmslos überlieferte Artikelform toT'cji durch xoXi zu ersetzen, weil die
gleichzeitige lialikarnassische, die sogenannte Lygdamis-Inschrift (Bechtel’s
Nr. 32) einmal diese Form aufweist, so ist es nicht leicht, einen derartigen
Einfall in ernstem Tone zu besprechen. Wie nun, wenn diese Inschrift ein paar
Zeilen mehr enthielte und dann auch einmal Tolai darböte, etwa wie eine olyn-
tliische Inschrift aus dem Anfang des 4. Jahrhunderts (Bechtel’s Nr. 8) dXX7j>.oi<ji
neben ap-^OTspoi; — Letzteres vor einem Consonanten — zeigt? Nicht minder
erscheint toioi neben Tot; C. I. A I 1 B. Sollten wir in solchem Falle etwa
rot; und -oicn einmal um das andere in den herodoteischen Text setzen?
Zum Allermindesten hätte Fritsch seiner Folgerung den Vorbehalt beifügen
sollen, welchen Beclitel S. 141 ausspricht: ,Hätte Herodot halikarnassisch ge
schrieben, so dürfte sein Text. . . kein tokji mehr aufweisen. 1 In Wahrheit ist
es völlig unzulässig, Texte, die aus Uebergangsepochen stammen, in welchen
ältere und jüngere Formen um die Herrschaft rangen, auf Grund inschrift
licher Zeugnisse, selbst wenn diese ungleich zahlreicher wären und weit un
zweideutiger lauteten, von Anfang bis zu Ende umzuschreiben. Die Gewalt der
falschen Analogie und jene der ungehörigen Reminiscenz ist eine grosse,
aber doch keine allmächtige. Und die Kunstprosa, wie sie von hervorragenden
Stilisten vom Range eines Herodot oder auch unseres Autors geschaffen,
festgehalten oder umgebildet wurde, kann zwar vielfach, aber muss sicherlich
nicht in allen Einzelheiten mit der Sprache des täglichen Lebens überein-
stimmen. v. Wilamowitz’ gelegentlich geäusserte Vermuthung, ,dass auch
das Ionische so gut wie das Äolische zuerst die Formen des Artikels ver
kürzt hat 1 (Hom. Unters. 317, Anm. 26), spricht das aus, was von vornherein
mit einiger Wahrscheinlichkeit zu erwarten stand. Allein solch eine allgemeine
190
IX. Abhandlung: Gomperz.
Präsumtion ist doch gewiss nicht stark genug, um vollgiltige Zeugnisse
aufzuwiegen. Wer hätte jemals aus Erwägungen von solcher Art die nun
mehr urkundlich feststehende obenerwähnte Thatsache erschliessen können,
dass die längeren Formen des Dativs der A-Stiimme in Ionien wie in Attika
,viel später* verschwunden sind als jene der 0-Stiimme (Fritsch a. a. 0.
32—34 und Meisterhans, Gramm, der att. Inseln-. 2 94—95, 98—99)? Endlich,
wenn der milesische Dialekt in Wahrheit zur ionischen Schriftsprache er
hoben ward (was unter Anderen auch Fritsch, Fleckeisen’s Jahrbücher 187G,
S. 110 behauptet), warum soll in dieser nicht auch im 5. Jahrhundert jener
Dativ -ohi gelautet haben, wie er in der milesischen Volkssprache des
G. Jahrhunderts unzweifelhaft gelautet hat (Fritsch a. a. O. S. 33)?
Nachträge.
Durch ein unliebsames Versehen, dessen Schuld den Verfasser trifft,
ist eine Anmerkung ausgefallen, in welcher einige gelegentliche Erwäh
nungen unserer Schrift besprochen und erörtert werden sollten. Herakli-
tischen Einfluss glaubte Lassalle (Die Philosophie des Herakleitos II 394)
in den auf Sprachphilosophie bezüglichen Sätzen des zweiten Abschnittes zu
erkennen. Einer Widerlegung bedarf diese Meinung um so weniger, als
sie einerseits auf der unseres Erachtens unmöglichen Schreibung tputrto;
vop.oOETi5p.ax« (2 fin.), andererseits auf der falschen Voraussetzung beruht, dass
die Schrift ,von der Kunst* das Werk des ,IIippokrates* sei. Nicht besser
steht es um Steinthal’s Behauptung, die Schrift Ihpi tI^s sei das Werk
,eines späten Sophisten*, dem ,klägliche Wortzusammenklauberei* vorgeworfen
wird. Derselben liegt gleichfalls jene widersinnige Schreibung und über
dies die urkundlich falsche Vulgat,-Lesart zu Grunde in dem also mit.getheilten
Satze: oipai o’ ’s'ytoys zai t« ovo'pata auTij; (statt aurac) 8ia ta eIoeä Xaßeiv, was
angeblich besagen soll: ,ich glaube aber, dass auch die Namen einer Kunst
durch die Begriffe zu erfassen seien* (Geschichte der Sprachwissenschaft bei
den Griechen und Römern I 90). Zeller theilt Lassalle’s Irrtlmm nicht,
doch ist er durch Steinthal’s Vorgang zu der gleich unrichtigen Auffassung
jenes Satzes verführt worden, wie aus seiner Bemerkung hervorgeht: ,der
Verfasser .... legt der Kenntniss der Begriffe grösseren Werth bei, als der
der Namen* (IP 529).
S. 69 hätte auch der Möglichkeit gedacht werden sollen, dass die
letzte Stufe der Verderbniss in der dort besprochenen Stelle der Schrift
IIspl äialtr;;, die Schreibung prj ovto; oOev, von Cornarius herrühre. Im Mona-
censis wenigstens findet sie sich nicht, wie mir Wecklein freundlichst mit
theilt; vielmehr bietet jene Handschrift den Satz wie folgt dar: xa: yäp äjcoOa-
VEiTat. oute to ü-f, ov yEvEoOa! te (sic)xal oOev TiapayEvrjoETai. Es bleibt daher hier wie
in anderen Fällen unentschieden, ob die Lesart einer der zwei verschollenen
Handschriften des Cornarius entstammt ist oder nur einer Conjectur des
Begründers der Vulgata ihr Dasein verdankt (vgl. S. 144).
Neue Beispiele der Verwechslung von uix*l und (S. 129) s. jetzt,
bei Nauck, De scholiis in Sophoclis tragoedias a . . Papageorgio editis p. 32.
Die Apologie der Heilkunst.
191
Jbi egister.
I. Namen- und Sachverzeichnis«.
Aischines 100.
Anaxagoras 157.
Andokides 133, 169, 171, 189.
Antiphon der Redner 12, 15, 97, 98,
102, 122, 124, 169, 170, 171, 172,
189.
Antiphon der Sophist 6 —7, 156.
Argumentationsweise 17 ff.
Aristoteles 29, 173, 175.
Aristoxenos 184.
Arkesilaos 177.
Artemidoros Kapiton 77, 187 f.
Auge (des Geistes)* 5, 145, 166—167.
Baco 152.
Bildungsfactoren 139.
Burke 150.
Cabanis 16, 172.
Causalitiit (ausnahmslose) 15—16.
Cicero 171.
Coleridge 152.
Cornarius 143 — 144, 158, 190.
Demokrites 16, 115, 120, 176, 188.
Diätetik 126—127.
Diagnostik 17, 158 f.
Dialexeis 164.
Dioskurides 77, 187 f.
Eleaten 8 f., 25, 29—30, 179.
Empedoldes 156.
Epikur 113.
Erkenntnisstheorie 22 ff., 107 11'.
Euripides 100, 101.
Fevre Albert 74.
Fielding 146.
Folterzwang (des Experiments) 15,151.
Forscliungsprocess (mit Gerichtsver
fahren verglichen) 145.
Fredegisus 111.
Galen 116, 157, 184, 187—188.
Geometrie (Grundlage der) 185.
Gorgias 11, 31, 35, 91, 106, 168, 171.
„ Declamationen des 165 f.
Grote 111, 174.
Hegetor 117.
Ilerakleides von Tarent 166.
Herakleitos 14, 96 f., 113, 136f., 171,
179.
Hermias 174.
Herodikos von Selymbria 127, 154
—155.
Herodot 14, 33, 40, 97, 115, 120, 133,
135, 137, 170, 171.
Herophilos 117.
Hesiod 101.
Hippias von Elis 101, 113, 183, 185.
Hippokrates (= Corpus Ilippocrati-
cum) 66.
Hippokrates Epidem. 131.
„ Lex 101, 164, 184.
„ De flatibus 164.
„ De prisca medicina 132, 184,
189.
„ Prognost. 131.
„ De victu 184.
Ikkos von Tarent 127.
* Man vgl. auch das Grimm’sche Wörterbuch unter ,Geistesauge 1 ,
,Geistesblick 1 , ,Auge' (18) und ,Geist 1 (18 l1 ).
192
IX. Abhandlung: Gomperz.
Isokrates 10, 98, 99, 100, 102, 130,
131 f.
Kritias 6, 7, 23, 106.
Kyrenaiker 28, 177—178.
Littre 67, 163.
Lucrez 179.
Lysias 130, 154, 169, 171.
Medicin (ihre Realität erwiesen) 17 ff.
Melissos 8, 23, 24—25, 29 f., 179.
Mercuriale (Gii'olamo) 73, 74.
Metrodoros 157.
Mill 18, 114, 152, 172, 177.
Moliäre 181.
Moltke 152.
Müller K. O. 10.
Natur (und Satzung) 104, 113.
Naturbefragung 151, 155.
Paradoxie 31, 95, 106, 117, 181.
Plato 10, 23, 27, 40, 99 f., 101, 102,
104, 108, 115, 117, 120, 127, 131,
134, 139, 175 ff.
Porphyrios 29 f., 35, 128, 179.
Prodikos 35, 114.
Protagoras 11, 14, 26 ff., 111 ff., 122,
127,168f., 171, 173 ff., 180ff., 184ff.
II. Sprachliches
Adverbialbildungen (ungewöhnliche)
134 f., vgl. auch III oso'vrtn;.
Alliteration 180.
Anakoluth 142, 149.
Antithesen 14.
Artikel (sein Fehlen) 130 f.
Artikelformen (statt jener des Rela
tivpronomens) 78.
Assimilation (unterlassene) 142.
Canon Dawesianus 154.
Congruenz 124.
Contraction 88 ff., 120.
Dative (zwei instrumentale verbun
den) 155.
Dativformen 92, 138, 189 f.
Disjunctivsätze (dreigliedrige) 133.
Emphase 12, 31, 180.
Epanaphora 141.
Figura etymologica 31, 134.
Realismus (naiver) 24.
Relativität 122.
Sambucus 73.
Schopenhauer 152.
Schweisse 155 ff.
Seneca 177.
Servin (Louis) 74—75.
Sophisten 4 f.
Sophistenberedsamkeit 39 f.
Spraehent.stehung 111 ff.
Strafrechtstheorie 186.
Themistios 149.
Thrasymachos 14, 113, 161, 169.
Tlmkydides 15, 40, 97, 98, 102, 128,
172, 188.
Turnebe 74.
Wahrnehmung (und Urtlieil nicht ge
schieden) 7, 23, 25, 104—105,
167, 173.
Wassersucht 132.
Xenophanes 104, 136.
Xenophon (Pseudo-) 12, 170.
Zwinger 73.
und Stilistisches.
Frage (rhetorische) 42, Z. 18—19; 46,
Z. 1; 48, Z. 7; 50, Z. 15, Z. 18;
52, Z. 15, Z. 16; 60, Z. 3; 146.
Genetiv (objectiver) 159.
Gesammtbegriff (sprachlich zerlegt)
136.
Gorgianiselie Figuren 31.
Hiat 14, 100, 171.
Hippokratische Sammlung 34 f.
I-Iomoioptoton 62, Z. 4—7.
Hypallage 101.
Hyperbaton 62, Z. 6.
Infinitiv (substantivirter) 97, 146.
(passiv) 144.
Isokolon 103, 130.
Kappa (ionisches) 84, 86 ff.
Lex (liippocratica) 35, 184.
Litotes 58, Z. 6.
Metaphern 14, 31, 145, 166—167, 171.
Die Apologie der Ileilkunst.
193
Metaplasmus 148.
Neutrum 146, 150, 154.
Ny paragogicum 92.
Optativ (ohne av) 121 f.
Optativformen 162.
Paromoiosis 58, Z. 5—6.
Paronomasien 15, 118, 145, 157f., 171.
Periodenbildung 10, 169.
Periphrase 98, 122.
Plurales rariores 11, 151, 168.
Polysyndeton 46, Z. 17 ff.
Prägnanz 13, 50 Z. 19-, 60 Z. 1; 62
Z. 10; 146.
Präpositionale Ausdrücke 128, 131.
Psilosis (ionische) 77—78, 90 — 91.
Proprietät (des Ausdrucks) 14, 180.
Relativsätze 102, 135.
III. WortY«
ayystbv (ayyo«;) 142.
aov]Xos, (aSrjXdtr);) 143.
aivsr/ji; 137.
a’ipsiv (asipsiv) 129.
aiay.pos7tsfv 11, 97.
(ap.91) 189.
avay/.ai 151.
(avtoouvbj) 169.
arcecrüEprjpivoi; 151.
a izo 125.
aGuixcpopov 150.
aGup/puTOi; 141.
(axap) 188.
atEyviT) 101.
auxop-atov 20, 23, 120, 173.
au tos 159 f.
cKpaipstv (tiva ti) 128 f.
Rhythmus 14.
„ Cretici, Päonen 160 f.
„ Hexametrischer Klang 171.
„ Rhythmische Antithesen 150.
Satzglieder (abschliessende, kleine)
32, 181.
Satzverbindung (anreihende) 12.
„ (lockere) 135, 146.
Schärfe (polemische) 14, 96, 181.
Sprachrichtigkeit (Streben nach) 13,
114f., 154.
Stil (archaischer) 10, 170—171, 172.
Stilgattungen 10 f., 169 f.
Synonyma (unterschieden) 13, 31.
Ueberdeutlichkeit 13, 31, 180—181.
Wiederholung von Worten und Wort
stämmen 12, 170.
L’zeiclmiss.*
a4u^(a 129 f.
ßXaatavsiv, ßXaar7)p.a 11, 149.
yap 170.
yvo)|J.7] 6, 167.
OEÖE/.tai 80.
osr/.vuvat 11, 107.
osovtoj?** 50, Z. 18.
orjp.ioupysl’v 149.
oia xi (xo) 128.
diaßaXXsiv 102.
oiaaTaOixaaOai 151.
Bugotütoc 138.
Etoo? 107 ff.
ixßiaaOai 154.
IfjjüopsuEaOai 103.
i7u0uij.7][j.a 11, 99.
iTupiXsaOai (iTup-EXsiaOat) 134.
* Die in runde Klammern eingeschlossenen Worte sind nicht der
Schrift Ilspi xiyyr\<; entnommen.
** Das Wort ist im Thesaurus nur aus Polybios und noch Späteren
nachgewiesen. Tn Wahrheit begegnet es überdies je einmal in Plato’s be
setzen 4 8, 837 c und im Kleitophon 409 c . Es mag Sophistenerzeugniss sein
wie wahrscheinlich auch oVutos (vgl. v. Wilamowitz, Herakles II 164). Die
Atthis hat die regelrechte Neubildung verschmäht, doch wohl nicht nur
darum, weil ihr auch dsov fremd war; vgl. Usener über jtcXeiv und oeiv‘ in
Fleckeisen’s Jahrbüchern 1872, 741 ff.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXX. Bd. 9. Abh.
13
194
IX. Abhandlung: Gomperz.
spsuva 144.
k's ti 142.
(suoi7]) 168.
EuoiopOtoTOs; 148.
sösTcavopOcoxos 147.
EÜOTUTO; 188.
(sÖ7coxfJ.w)) 169.
feos 143 f.
qaaovcog 134.
OsXsiv (iOIXstv) 93.
Qüjjj-oc, Otojj-a^Eiv 81.
(ipo's) 82.
laxopi7) 96.
xaxayysXuj 11, 100.
xajj.axo; 11.
(xapxa) 188.
(xaxaßaXXsiv) 183, 185.
xaxajj.eXEiv 162.
(xaxaaxaats) 187.
xax7)yopstv 154.
xaxr]yopov 154.
xsivog, ixsivog 93.
XEVEtüV 142. '
xuxXo? 141 f.
Xoyoi 115.
(XEyaXuvsaOai 146.
pjv 188—189.
p]vusaOat 152.
p-sia, auv 92, 188, 189.
(jj.iv) 188.
jj-o/Oeov (xö) 146.
vrfi'jq 141.
(vrjTCEvOsü);) 169.
voffetv 84.
vcoaoci 85.
<K07]jj.a 138.
ojj-oXoy^cjEaOai 118.
6'vojj.a, oüvojj.a 128.
opOo; 32, 181.
opoq 125.
ouv 189.
TusXa? 102.
:tXsov 123.
7cdjj.ata, ßpcojj.axa 157 —158.
Tcovos, XP 0V0 ? 145.
(tzozl) 189.
Ttpoc 131.
7tp0(70~XS0V 146.
GIXIOV 141.
axs^öffvai 144.
axsya£siv 141.
axsyvox7]<; 146.
auv und £uv 82, 85.
auvsai; 99—100.
auvxpocpov 152 f.
acpoopdxr]TE5 11.
xaXaiTUtopoc 140.
xapaj^ij 123.
XExjj-aipEaöai 154.
X£p7], ZJ-/7] 118 119.
xotvuv 189.
XOUXO [J.EV — xouxo ds 189.
xu^rj 120.
uyistrj 128.
uTcspßaxw; 149.
uTcdcpopos 142 f.
(&v) 81, 91.
IV. Kritisch behandelte Stellen.
Seite
Alexander De figuris III 32 Sp. . 98
Aristides, ltliet. graeci II 530 Sp. . 105
Coelius Aurelianus I 17 . . . 166
Diogenes Apolloniat. Fgm. 2 Mul-
lach 170
Doxograplii graeei p. 381 382“ . 157
Erotian s. v. ürcoppov 166
Galen V 12 185
Herodot I 114 170
Seite
Herodot II 1 170
„ V 6 133
Hippokrates (= Corpus Hippo-
craticum) De aer., aqu. et
loc. 8 157
Ibid. 21 77
De arte 1 (Glosse zu) . 103
Epidem. VI 3, 18 . . . . 127
De flat. 1 78
Die Apologie der Heilkunst.
195
De flat. 7 . . .
* 12 . . .
Lex i ... .
De nat. hom. 2 .
De prisca medic. 20
De victu 14. .
» 15..
,, I 35
Seite
77, 156
... 79'
.101
77, 109
70, 158, 184
... 69
... 79
70,82, 134
Jambliehus De vita Pytliagor.
p. 66, 11
Laertius Diog. III 37 . .
Melissos bei Simplikios 509 b 36
Brandts (Frg. 17 Mullach)
» n n „
Protagoras bei Plutareh Consol.
ad Apollon. 33 ... .
Seite
96
184
109
167
170
Berichtigungen.
Seite 14, Zeile 17 von oben statt iSetv lies tösiv.
„ 35 „ 8 von unten st. tä 1. xx.
„ 40 „ 7 von unten st. Entwicklung 1. Entfaltung
„ 42 „ 7 von oben st. prjosv, 1. pvjäsv,
„ 47 „ 9 von unten st. unterlassend, 1. unterlassend
„77 „13 von oben st. Dioskorides 1. Dioskurides
„ 92 „ 12 von unten st. O-Declination. 1. O-Deelination 3 .
„ 98 „ 14 von oben st. paraphrastische 1. periphrastische
„ „ „ 15 von unten st. Paraphrasen 1. Periphrasen
„136 „ 11 von oben st. oedvrai 1. Siovrat
„ 149 „ 1 von unten st. nur 1. vor Aristoteles nur
„ 150 „ 4 von unten st. Dem 1. Den
13*
196
IX. Abhandlung: Gomperz. Die Apologie der Heilkunsfc.
Inhaltsübersicht.
Seite
Vorwort 1
Einleitung 3
Griechischer Text (nebst kritischem Apparat) und deutsche Uebersetzung 42
Vorbemerkungen zum Commentar: I. Handschriftliches 66
„ „ „ II. Dialektologisches 76
„ „ „ III. Gliederung der Rede .... 94
Commentar 95
Anmerkungen und Excurse 163
Nachträge 190
Register: I. Namen- und Sachverzeichniss 191
„ II. Sprachliches und Stilistisches 192
„ III. Wortregister 193
„ IV. Kritisch behandelte Stellen 194
Berichtigungen . , 195
Ausgegeben am 10. April 1890.
■