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aus einer dialogisch abgefassten, mehr populär gehaltenen und
für ein grösseres Publicum bestimmten Schrift des Aristoteles.
Es ist einleuchtend, welches Gewicht für die Entscheidung der
Controverse über die exoterisehen Reden es haben müsse, wenn
der Nachweis, dass hier Citat und noch erkennbare dialogische
Form auf Einem Punkt vereinigt seien, als gelungen zu be
trachten ist. Allein wiederholte Prüfung, zu welcher Bernays’
überaus sinnreiche und anziehende Ausführung wie von selbst
einlud, hat allmählich trotz der bestechenden und gewinnenden
Art, mit der er seine Sache zu führen weiss, gegen diese Auf
fassung des Capitels überhaupt sowie gegen die Behandlung
einiger Einzelteilen desselben Bedenken angeregt, deren un
befangene Darlegung vielleicht auch dazu beitragen wird, die
Aufmerksamkeit der Gelehrten auf die immer noch nicht all
seitiger und völlig befriedigender Erledigung zugeführte Frage
über den Sinn der exoterischen Reden von Neuem zu lenken.
In die verschiedenen Gänge dieser vielverzweigten Controverse
selbst einzudringen ist nicht die Absicht dieses Aufsatzes, der
sich nicht über die hermeneutische Behandlung jenes einen
Capitels hinaus erstrecken wird, und da der Verfasser mit
Bernays' kunstreicher Darstellung zu wetteifern weder den
Wunsch noch das Vermögen besitzt, so sollen in paraphrasi-
rendern Anschluss an den Text des Aristoteles die gram
matischen, kritischen, exegetischen Fragen, wie sie sich bieten,
mehr in der Form eines Commentars zu einem begrenzten
Abschnitt einer Aristotelischen Schrift der Besprechung unter
zogen werden.
Aristoteles geht davon aus, dass die Untersuchung der
besten Staatsverfassung voraussetze die Beantwortung der Frage
nach dem besten d. h. wünschenswerthesten Leben: denn jene
könne nicht gefunden werden ohne dieses, da man ja von dem
besten Staat mit Recht erwarte, dass es den Menschen, die
darin leben, auch am besten gehe. Zwei Fragen seien also
vor allem zu beantworten, welches der für alle Menschen
wünschenswertheste Zustand des Lebens sei, und zweitens, ob
dieser für Einzelne und für Gesammtheiten ein und derselbe
oder ein verschiedener sei: