j
.
•V. • :
i
|
-
I
■
i
SITZUNGSBERICHTE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
ZWEIUNDSIEBZIGSTER BAND.
WIEN, 1872,
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD’S SOHN
BUCHHÄNDLER DF.li KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
ZWEIUNDSIEBZIGSTER BAND.
JAHRGANG 1872. — HEFT VHI—X.
käisIkaoemiT]
DER I
„ WISSENSCHAFTEN;
WIEN, 1872.
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD’S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
300122
Druck von Adolf Holzhausen in Wien
k. k. Universitiits-Buclidruckerei,
INHALT.
XXI. Sitzung vom 9. October 187*2
Vahlen. Ueber ein Capital aus Aristoteles 1 Politik
Ficker. Ueber (las Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute
II ö fl er. Wahl und Thronbesteigung des letzten deutschen
Papstes, Adrian’s VI. 1522
XXII. Sitzung vom 16. October 1872
XXIII. Sitzung vom 23. October 1872
Pfizmaier. Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen
und Gerätlien
Horawitz. Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit in den
Jahren 1530—1547
XXIV. Sitzung vom 6. November 1872 ; . .
Ficker. Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute
Biidinger. Egyptische Einwirkungen auf hebräische Culte
Schulte. Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes von
Gratian bis auf Bernhard von Pavia
XXV. Sitzung vom 13. November 1872
XXVI. Sitzung vom 20. November 1872
Maassen. Eine Rede des Papstes Hadrian II. vom Jahre 869
XXVII. Sitzung vom 4. Deeember 1872
XXVIII. Sitzung vom 11. Deeember 1872
XXIX. Sitzung vom 18. Deeember 1872
Biidinger. Zur egyptischeu Forschung Herodot’s
Goldziher. Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei
den Arabern. II
Seite
3
55
147
243
244
247
323
.379
381
451
481
516
518
521
557
659
560
563
587
SITZUNGSBERICHTE
I>ER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTOKISCHE CLASSE.
LXXII. BAND. I. HEFT.
JAHRGANG 1872. — OCTOBER.
fk A IS. AKADEMIE 1
DER |
. WISSENSCHAFTEN^)
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft.
1
3
XXI. SITZUNG- VOM 9. OCTOBER 1872.
Der Vizepräsident begriisst beim Wiederbeginn der aka
demischen Ritzungen die anwesenden Mitglieder, und gedenkt
der während der Ferien verstorbenen wirklichen Mitglieder
der Classe, des Herrn Regierungsrath.es Josef Ritter von Berg
mann und des Herrn Hofrathes George Phillips, von denen
der erstere am 29. Juli in Graz, der letztere am 6. September
in Aigen bei Salzburg starb.
Die Mitglieder erheben sieh zum Zeichen des Beileids
von ihren Sitzen.
Der Secretär Prof. Vahlen legt einen Aufsatz vor ,über
ein Capitel aus Aristoteles’ Politik'.
Das w. M. Herr Prof. Ficker in Innsbruck sendet eine
Abhandlung ,über das Eigenthum des Reichs am Reichs
kirchengute'. ~
Das w. M. Herr Regierungsrath Dr. Höfler in Prag sendet
eine Abhandlung unter dem Titel ,Wahl und Thronbesteigung
des letzten deutschen Papstes Adrian VI. 1522'.
Herr K. Buchberger, Landesgerichtsrath in Neutitschein,
ersucht um Aufnahme eines Manuscriptes unter dem Titel
,Briefe Londons. Urkundliche Beiträge zur Charakteristik Lon
dons und der Geschichte des siebenjährigen Krieges' in die
Schriften der historischen Commission.
Herr Dr. Ad. Ho rawitz ersucht um Aufnahme des 3. Theils
seiner Biographie des Beatus Rhenanus (Rhenanus’ literarische
l*-
4
Thätigkeit in den Jahren 1530 — 1547 umfassend) in die
Sitzungsb erichte.
Dem Herrn Dr. Al. Huber einer. Universitäts-Professor
in Neumarkt bei Salzburg wird eine Subvention bewilligt zur
Drucklegung des 1. Bandes seines Werkes ,Christianisirungs-
gescbicht.e von Siidost-DeutschlancP.
An Druckschriften wurde vorgelegt:
Geschichte der Wissenschaften in Deutschland. Neuere Zeit. XII. Band.
Geschichte der Zoologie bis auf Joh. Müller und Charl. Darwin, von
J. Victor Carus. München, 1872; 8°.
Geschieht verein für Kärnten: Archiv für vaterländische Geschichte und
Topographie. XII. Jahrgang. Klagenfurt, 1872; 8°. — Archäologische Nach- '
grabungen auf dem Helenen- (Magdalenen-) Berge im Jahre 1868. Be
sprochen von R. v. Gallenstein. 8°.
Gesellschaft der Wissenschaften, k., zu Göttingen: Abhandlungen. XVI. Band
(1871). Göttingen, 1872; 4°. — Gelehrte Anzeigen. 1871. Bd. I. und II. 8°.
— Nachrichten aus d. J. 1871. Göttingen; 8°.
— geographische, in Wien: Mittheilungen. Band XV. (Neuer Folge V).
Nr. 7—9. Wien, 1872; 8».
Instituut, k., voor de taal-, land- en volkenkunde van Nederlandseh Indie:
Bijdragen. III. Volgreeks VI. Deel, 3. Stuk., ’s Gravenliage, 1872; 8 n .
Löwen, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1869- 1871.
4», 8° und 120.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 18. Band, 1872.
Heft VII. und VIII., nebst Ergänzungsheft Nr. 33. Gotha; 4°.
Prantl Carl, Geschichte der Ludwig-Maximilians-Universität in Ingolstadt,
Landshut, München. Zur Festfeier ihres 400jährigen Bestehens. Band
I. und II. München, 1872; gr. 8".
,Revue politique et litterairc“, et ,1a Revue seientifique de la France et de
l’etranger 1 . 11 Annce, 2 e Serie, Nrs. 3—14. Paris et Bruxelles, 1872; 4°.
Society, The Royal Asiatic, of Great Britain & Ireland: Journal. N. S.
Vol. VI., Part. 1. London, 1872; 8°.-
Verein für Nassauische Alterthumskunde und Geschichtsforschung: Annalen.
V. Band, 2. Heft, 1871. Wiesbaden; 8°. — Beiträge zur Geschichte des
Nassauischen Alterthumsvereins und biographische Mittheilungen über
dessen Gründer und Förderer. Einladungsschrift zur 50jährigen Gedächt-
nissfeier der Gründung des Vereins. Von Karl Schwartz. Wiesbaden,
1871; 4 Ü .
— siebenbürgischer, für romanische Literatur und Cultur des romanischen
Volkes: Transilvania. Anulu V., Nr. 14—19. Kronstadt, 1872; 4 n .
Zaviziano, Costantino, Sugli avvenimenti preistorici studii. Vol. II 110 . In
Napoli, 1872; 8°.
Vahlen Ueber ein Capitol aus Aristoteles' Politik.
5
Ueber ein Capitei aus Aristoteles’ Politik.
Von
J. Vahlen,
wirkl. Mitglied der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
J. Bernays hat in seiner geistreichen und gelehrten Schrift
über 'die Dialoge des Aristoteles in ihrem Verhältniss zu seinen
übrigen Werken (Berlin 1863)’ das erste Capitei des siebenten
Buches der Aristotelischen Politik einer eingehenden kritischen
und exegetischen Behandlung unterzogen, indem er in seiner
bekannten Manier dem berichtigten griechischen Texte eine
geschmackvolle deutsche Uebersetzung an die Seite stellt und
die wesentlichen Gesichtspunkte der Erklärung in zusammen
hängender Erörterung darlegt. Das bezeichnete Capitei, in
welchem die Frage nach der wünschenswerthesten Lebenslage
als Einleitung zu der Begründung der besten Staatsverfassung
abgehandelt wird, gehört zu denjenigen, welche durch eine
Verweisung auf die sogenannten exoterischen Reden das Inter
esse der Forscher in besonderem Grade in Anspruch genommen
haben. Bernays hat in seiner Schrift den Beweis angetreten,
dass unter exoterischen Reden die Dialoge des Aristoteles ge
meint seien, und alle derartigen Citate durch den Versuch, die
Dialoge aus den erhaltenen Zeugnissen und Bruchstücken in
ihrem wesentlichen Inhalte zu reconstruiren, gleichsam zu veri-
ficiren unternommen. Auch das Citat in jenem Capitei, sucht
er zu beweisen, gehe nicht blos auf einen ethischen Dialog
des Aristoteles, sondern es enthalte das Capitei selbst in der
Gedankenfassung, in der Art der Argumentation, sowie in der
stilistischen Form noch die deutlichsten Spuren der Entlehnung
6
V a li 1 e n
aus einer dialogisch abgefassten, mehr populär gehaltenen und
für ein grösseres Publicum bestimmten Schrift des Aristoteles.
Es ist einleuchtend, welches Gewicht für die Entscheidung der
Controverse über die exoterisehen Reden es haben müsse, wenn
der Nachweis, dass hier Citat und noch erkennbare dialogische
Form auf Einem Punkt vereinigt seien, als gelungen zu be
trachten ist. Allein wiederholte Prüfung, zu welcher Bernays’
überaus sinnreiche und anziehende Ausführung wie von selbst
einlud, hat allmählich trotz der bestechenden und gewinnenden
Art, mit der er seine Sache zu führen weiss, gegen diese Auf
fassung des Capitels überhaupt sowie gegen die Behandlung
einiger Einzelteilen desselben Bedenken angeregt, deren un
befangene Darlegung vielleicht auch dazu beitragen wird, die
Aufmerksamkeit der Gelehrten auf die immer noch nicht all
seitiger und völlig befriedigender Erledigung zugeführte Frage
über den Sinn der exoterischen Reden von Neuem zu lenken.
In die verschiedenen Gänge dieser vielverzweigten Controverse
selbst einzudringen ist nicht die Absicht dieses Aufsatzes, der
sich nicht über die hermeneutische Behandlung jenes einen
Capitels hinaus erstrecken wird, und da der Verfasser mit
Bernays' kunstreicher Darstellung zu wetteifern weder den
Wunsch noch das Vermögen besitzt, so sollen in paraphrasi-
rendern Anschluss an den Text des Aristoteles die gram
matischen, kritischen, exegetischen Fragen, wie sie sich bieten,
mehr in der Form eines Commentars zu einem begrenzten
Abschnitt einer Aristotelischen Schrift der Besprechung unter
zogen werden.
Aristoteles geht davon aus, dass die Untersuchung der
besten Staatsverfassung voraussetze die Beantwortung der Frage
nach dem besten d. h. wünschenswerthesten Leben: denn jene
könne nicht gefunden werden ohne dieses, da man ja von dem
besten Staat mit Recht erwarte, dass es den Menschen, die
darin leben, auch am besten gehe. Zwei Fragen seien also
vor allem zu beantworten, welches der für alle Menschen
wünschenswertheste Zustand des Lebens sei, und zweitens, ob
dieser für Einzelne und für Gesammtheiten ein und derselbe
oder ein verschiedener sei:
Ueber ein Capitel aus Aristoteles' Politik.
7
1323 a Ilspi TOXixei'ac äptSxv]? xov (AXXovxa TtonjaasÖai xyjv
15 TCpoavjKOuaav £>jxY)aiv ävayy.Y] StopfaaaGat rcpöxov 1 x{? atpe-
xt&xaxo? ßtoc. «SyjXou yap ovxo? xoixo'j y.at xvjv aptW)v
dvayy.aiov dSvjXov etvat roAixetar aptaxa yap irpäxxetv
Ttpoovy/.et xouc d'ptcrta TioXixsuop.evoup ly. xöv ’j~apyivx(j)v -
odizölq, lav p.v) xi yivi]xat ixapäXoyov. otb ost xptoxov
20 bp.oXoyswGai xtc 6 xxao-iv tue eiiceiv atpExibxayo; ßtoc, p.exä
oe xouxo xcoxspov »otv^ y.at yo)p\q o auxos •<} Sxepoq.
Indem Aristoteles nach dieser Ankündigung der zur Be
handlung zu bringenden Fragen in die Erörterung selbst ein-
tritt, verweist er auf die esoterischen Reden, in denen vieles
von dem über das beste Leben Vorkommenden gut sei:
vop.t-
ca'noiq ouv ly.avwc itoXXa XlyesGat y.at xwv ev xoÜ? üqone-
pty.oTc Xoyotc xxepl zrjq dpkxvjc £w?;c, y.at vüv /pyjaxlov auxol?.
Es wird gut sein, bei diesem Satz einen Augenblick zu
verweilen, um zuzusehen, zu welchen Schlüssen der sprachliche
Ausdruck für sich allein betrachtet berechtigt und ob alles
daraus Gefolgerte zu Recht bestehen kann. Bernays’ Beweis,
dass schon die Form der Verweisung der Annahme wider-
1 ;Epwxov d. i. zuvor, vor der anderen Untersuchung. Dasselbe Verhiiltniss
Politik 3,4. 1276 b 19: die nächste Frage sei jto'xEpov xrjv auxrjv «p£xi|V
avSpbs äyaOou xai teoXItou arauSaiou. Osxlov r) u.rj xi]V «uxrjv. «XX« jrrjv e'l ye
xouxo xu'/Etv oei triTrjOEw;, T7jV xou raXlxou xurao xtvi jtpwxov X^rrrlov, d. i. um
jene Frage zu beantworten, muss man zuvor die Tugend des Bürgers
bestimmen, wo daher Spengel Stud. 3, S. 21 zu jtpwxov sehr unnöthig die
Anmerkung malini npöispov schrieb. Ueber ähnliche Anwendung und Ver
kennung dieses xrpwxov namentlich in Verbindung mit Participien vgl.
Zeitschr. f. öst. Gymn. 1872. S. 506 f. Zu den dort zusammengestellten
Belegen konnte auch Nik. Etli. 6, 2. 1139 a .2 gefügt werden ropi psv
ouv xwv fjO'.xwv O'.sXrjXuOap-EV, T::pl 8s xwv Xotroov, ropt 'tuyffi 7tpwxov eIteovte;,
Xlywp-sv ouxw;. Wer neben diese Stelle die a. a. O. mitgetheilte aus
Plato’s Politeia 2, 368 d hält Epiratov «v Etpäw; ezew« jrpwxov avayvövxac
oütcü; ejuozo-eiv x« eXxxtw, wird einräumen, dass Spengel’s (S.tud. 1,43)
Verwunderung über jenes oüxto;, das ja gar nicht auf das folgende geht,
sondern das Participium aufnimmt, ungegründet war. Das richtige Ver-
hältniss verkannte auch Vermehren Aristotelische Schriftstellen 1, S. 73.
2 Nikom. Eth. 1, 11. 1101 a 2 ex xwv Ojcapyovxiov aEt xa xaXXiaxa 7ipäxxeiv.
Thucydides 2, 62, 5 yvoop.^ coto xwv u7cap-/_ovxwv.
8
V a li 1 e n
streite, es sei die in der Politik wiederholt ohne Umschweife
unter ihrem eigenen Titel genannte Nikomachische Ethik ge
meint, lässt kaum eine Instanz zu, wiewohl anderseits die
berechtigte Verwunderung darüber, dass Aristoteles für eine in
der Ethik abgehandelte Frage nicht diese, sondern lieber popu
läre Schriften anziehen wollen, durch die von Bernays voraus
gesetzte, zwar geschickt empfohlene, aber an sich in allem
Betracht höchst problematische Rücksichtnahme auf die prak
tischen Staatsmänner nicht hinreichend beseitigt scheint. Doch
wie dem sei, dass die partitive Wendung xoXXa xöv ev toi?
£?wTspi-/.oTc Xöyoi? als solche nur auf Schriftwerke Anwendung-
leide und die Annahme derer, welche bei exoterischen Reden
an mündliche Unterhaltungen denken, schon durch diesen Aus
druck ausgeschlossen werde, ist nicht einzuräumen, da mit der
selben Fassung ebenso gut und richtig 'vieles von dem in
mündlicher Discussion über das beste Leben Vorkommenden’
bezeichnet werden konnte. Vergleicht man aber mit der gan
zen Phrase vop.(oavxa? ouv btavö? xoXXä die genau ent
sprechende Wendung 8, 7. 1341 b 27 vop.fcavxe? ouv xoXXa
y.aXö? Xeysiv Tcepi toütmv töv ts vuv p.ouatxöv evtou? xal x£6v ex.
tpiXoaooi'a? oooi tuy/ocvousiv ep/xelpw? £-/ovte? tv)? vcspl xv)v p.ouoixrjv icat-
äslae, —>jv p.ev y.aO’ 'duaaxov axpißoXoYlav axoSi!)aop,ev £/]xefv toI? ßouXo-
p.evoi? xap’ ey.etvwv, vuv §e voij.r/.w? SieXtop.sv -/.xX., so dürfte man auch
an unserer Stelle Verweisung auf fremde Untersuchung so gut
wie auf eigene anzunehmen berechtigt sein, und wenigstens
ausschliesslich an 'minder wissenschaftlich gehaltene’ eigene
Schriften zu denken, nöthigt weder jenes vop.faavxa? ouv y.xX. noch
das ly.avö? X&yeaQca, dessen sich Aristoteles bekanntlich vielfach
sowohl im Fortschritt der Untersuchung von einem Gegenstand
zum andern (Metaph. 5, 4. 1027 b 18 xept p.ev ouv xou xaxa cujxßs-
ßr^oc; ovto? aosköo)- Stöpiaxai yccp ly.avö?) wie zur Verweisung auf
Abschnitte desselben Werkes (Politik 7, 3. 1325 a 30 Siwp'.sxai
ok xept auxöv ly.avw? ev xoT? xpöxot? \oyoiq) und auf andere streng
wissenschaftliche Schriften bedient, wie z. B. Metaph. 1, 3.
983 a 33 xe0e(i)p-/)xai p.ev ouv kavö? xept auxöv r)|j.1v ev xol? xept p6oew?,
und de coelo 2, 10. 291 a 31 xept Se xvj? xä^ew? auxöv (aoxpwv)
. . . ey xöv xepi aoxpoXoYt»? ÖewpetoSw Xeyexat yap ly.avö?, wenn
anders damit wirklich auf ein Aristotelisches Buch astronomi
schen Inhalts verwiesen wird.
lieber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
9
Kurz die ganze Citirformel vop.wavTac ouv ly.avoj? zoXXa
XiysaOoa y.tX., die nur nicht passen will, wenn die Ethik oder
ein anderes gleichartiges Werk gemeint war, lässt im Uebri-
gen der Auffassung der exoterischen Reden noch gar freien
Spielraum, und zu nicht verlässlicherer Folgerung über das
Verhältniss unseres Capitels zu den exoterischen Reden berech
tigt auch die Schlusswcndung y.ai xpqoxeov abrotg, die nicht so
wohl die Entlehnung und Uebertragung einer anderswo gege
benen Ausführung als vielmehr die Benutzung und Verwerthung
der anderswo gewonnenen Ergebnisse ankündigt, wie aus
Stellen hervorgeht, wie de coelo 2, 13. 295 a 2 eitel oe itepl
toutwv Subptcrrai xpotepov oca y.ata tyjv Ttapo3aav oüvap.iv efyop.ev, '/P r r
oiiov ibg {wdpj'oucrtv und Meteorol. 3, 2, 12. 372 b 10 oe
Trepi toütcdv rjp.tv TeOetopYjp.evov ev röig orspl tac akO-joetc Seixvupevo 1 .?-
oio toc p.ev Xe-fwp.ev, toTc o’&g üxäp-/ou<7i /pv)o6p.e9a auTwv, und wer sich
des nicht seltenen Herodotischen Sprachgebrauchs erinnert, wie
er z. B. 2, 120 ei /pvj ti xol« ezoitototat 5(ped)p.svov Xsyeiv ausge
prägt ist, was dem Thucydideischon 1, 10,3 ty) 'Op.ijpoo -oi-qce'. el'
-u /pij -/.avTaüOa xuneueiv entspricht, wird kaum Einspruch erheben,
wenn wir dies zweimal, hier und Ethik 1, 13. 1102a 27, mit
den exoterischen Reden in Verbindung gebrachte, aber wie wu
schen nicht auf diese beschränkte zpijtjOx'. (^pYjoreov) in demsel
ben Sinne nehmen, wie das Nik. Eth. 6, 4. 1140 a 2 gebrauchte
luoTeüop.ev 8e xept auxwv y.ai toI? eijwTepixol? Acyci;. Daraus ist klar,
dass auch dieser Ausdruck an sich weder darüber, ob fremde
oder eigene Untersuchung gemeint ist, Aufschluss gibt, noch
auch über den Grad und Umfang der Benutzung. Zuverlässi
gere Antworten auf diese Fragen müssen wir, sind sie zu ge
winnen, von dem Abschnitte selbst, dem jene Einführung dient,
erwarten.
An die Ankündigung, auf den Ergebnissen der exoteri
schen Reden zu fussen, schliesst sich als erstes Argument für
die Frage nach dem besten Leben folgende anschaulich aus
geführte Periode:
w? aArfiä: yap r.pzg -ft p.iav otaipeaiv ovoetc ap.pioß-^TY]-
25 ueiev av (bc ob Tptwv ouowv p.epiSuv *, twv ts exroc y.ai t<Sv ev
1 Dass von den Gütern die Rede ist, sieht freilich jeder, aber ist es nicht
der Bemerkung werth, dass weder hier, wo*z. B. xphov ouatov (xepfocov xtov
10
V a h 1 e n
tw <7w|j.aTi xa't twv sv ty] 4 i ' j X"Ö > iravxa xauxa uxGtp^etv
toT? p.axap(oi? Sei. ouSel? y“p “ v 9«fo) p-xxapiov töv p.v;Qev
p.ipiov ’i/o'ny. avSpta? p.rjSe awspocüvYjp p.Y)Se StxaioaüvY)«;
jj.yjSs sppovifaewc, aXXä SeSiöxa p.sv mc, xapaxsTO|i,sva<;
30 p.u!ap, äxs^op.evov Se p.^öevoc, ocv exiOup/i^vj toü sayetv
xtaTv, twv ec^aTwv, svexa Se TSTapTYjp.opfoo StacpOsfpovTa
tou? cptXTaTOuc ipfXou?, Se xat tä xspt tyjv Stavotav
oÜTiop acppova xat Stetleuap.evov 1 woxcp ti xaiSfov 9) p.atvo-
p.evov.
Um den vom gewöhnlichen Aristotelischen Stile sich merk
lich abhebenden Ton der Darstellung gleich in diesem ersten
an das Citat der eijuxepixot Xoyot sich anschliessenden Satze dem
Leser zum Bewusstsein zu bringen, bemerkt Bernays S. 77:
'Aristoteles bittet gleichsam darum, dass man ihm doch “wenig
stens Eine Eintheilung” hingehen lasse. Es ist, als wenn er
den allgemeinen Vorwurf unnöthiger Begriffsspalterei erfahren
hätte, und fürchtete, man werde denselben auch auf seine Ein
theilung der Güter ausdehnen,’ und nachdem Bernays mit ge
wohnter Gelehrsamkeit Angriffe auf den 'unaufhörlichen Ein-
theiler’ aus ganz später Zeit aufgewiesen, bemerkt er weiter:
'Aber sonst pflegt Aristoteles, unbekümmert um den Eindruck
bei der grossen Menge, seinen gemessenen und selbstbewussten
Schritt einzuhalten; die graeiöse Demutli, mit der er hier um
Erlaubniss ersucht, doch “wenigstens Eine Eintheilung” an
bringen zu dürfen, erklärt sich daraus, dass er zugleich mit
dem Inhalt des Dialogs, aus dem er schöpft, auch den popu-
ayaOtov sehr zweckmässig wäre, noch im Vorausgegangenen eine ausdrück
liche Bezeichnung derselben vorhanden ist?
1 Mit dem Ausdruck Sie^euapDov Ta Jtspf xrjv Siävoiav, an dem man An-
stoss genommen, kann man i?ajtaTr)0^vai ttjv oiavovav vergleichen bei Athe-
naeus 12. 536 e, worüber Haupt, Hermes 7, S. 9. Dass dieses letztere
mit dem formelhaften TTmsclnveif opofw; Se xat xa xxept xrjv mavoiav, der
leicht dem Missverständnis ausgesetzt ist, von dem vorigen abgehoben
und als ein besonderes den drei genannten Beispielen angereiht wird, hat
seinen Grund darin, dass Aristoteles, nachdem er eben avopia, aco^poaüvr,,
oixaiooüvr], ^pövrjao; in einer Reihe genannt hat, hier von seiner Son
derung der dianoetischen Tugenden von den anderen Gebrauch macht,
auf der es auch beruht, dass nachher wiederholt apExrj und <ppovr]<jis ver
bunden werden,
Heber ein Capitel aus Aristoteles' Politik.
11
lären Ton dieser Schriftengattung annimmt.’ Alles schön und
beredt, überhebt uns aber nicht der Frage, wie richtig und
verlässlich es sei. Oder muss nicht diese graciöse Demuth,
diese Bitte, ihm doch wenigstens Eine Eintheilung hingehen
zu lassen, muss sie nicht gar verwunderlich erscheinen bei
dieser Eintheilung der Güter, die, vielleicht mit Ausnahme des
zusammenfassenden Terminus ta sy.TÖc, dem Aristoteles gar
nicht eigenthümlich ist, die er sonst wiederholt, z. B. Nikom.
Ethik 1, 8. 1098 b 12 vsvqrqpivwv 075 twv dyaOwv rpiyr\ y.ai twv
[j.sv £x.t'o? twv 8! xcepi 4''- , X.'b v VMl , Rhetor. 1, 5.
1360 b 25 und oft beiläufig, ohne jedes rechtfertigende oder
beschönigende Wort als etwas bekanntes und völlig sicheres
hinstellt? Weder hier also in der Politik will dieses Bitten
am Platze sein, noch kann es aus dem Dialog entnommen
sein, denn irre ich nicht, so ist Zusammenhang und Fortschritt
dieser: 'da wir der Meinung sind, dass manches auch in den
exoterischen Reden über das beste Leben Vorkommende gut
sei, so dürfen wir uns darauf berufen, denn in der That gegen
die Annahme wenigstens, die eben in den exoterischen Reden
des weiteren ausgeführt und begründet war und hier nicht
noch einmal vollständig dargelegt werden soll, gegen die An
nahme wenigstens wird Niemand Einspruch erheben, dass es
drei Arten von Gütern gebe und dass an jeglicher Art Antheil
haben müsse, wer glückselig genannt werden solle.’ Der Nach
druck liegt, wie man sieht und wie man trotz dem ankün
digenden Ttrpoc; v£ [Rav Stafpsaiv aus der weiteren Fassung w? ou
-p'.wv oügwv p.cptowv erkennt', gar nicht auf der Eintheilung und
deren Berechtigung, sondern darauf, dass, da es diese drei
Arten von Gütern gibt, keine derselben dem suScajj.wv gänzlich
fehlen dürfe. Und dieser Gedanke musste von Rechtswegen,
und war es aller Wahrscheinlichkeit nach in den exoterischen
Reden, auf die ja der grösseren Vollständigkeit wegen ver
wiesen wird, für alle drei Arten der Güter durchgeführt und
nachgewiesen werden, dass weder der von allen geistigen
Gütern entblösste, noch der körperlich gänzlich verwahr
loste, noch endlich der aller äusseren Güter völlig' baare
1 Man kann Plato Politeia 5, 457 d vergleichen: oux o't|j.ai 7ü£pf ye tou w<ps-
a([j.o’j ct|j.tpK7(3r)Tero0at av, öc oo [RyiaTov äyaOov y.tX.
12
V a h 1 e n
Mensch 1 für glückselig zu halten sei. Allein Aristoteles be
gnügt sich hier — was auch für die weitere Untersuchung zu be
achten bleibt — nur das Eine darzuthun, dass ein gewisser Grad
geistiger Güter, die sofort als die ethischen (dvSpi'a, aw^poaivrj,
SizaioaüvY)) und dianoetischen Tugenden specialisirt werden,
Jedermann als Erforderniss der Glückseligkeit anerkennen und
Niemand den glücklich preisen werde, der an jenen Tugenden
nicht den geringsten Antheil habe.
Letzteren Gedanken in seiner negativen Wendung führt
Aristoteles in veranschaulichenden Exempeln drastisch und
hyperbolisch aus in den Worten aXXa osoiöra p,sv y.~X., über
welche Bernays sich also vernehmen lässt: 'Eben so deutlich
weicht von der gewöhnlichen aristotelischen Schreibweise die
zunächst folgende grosse Periode ab, welche die Gegensätze zu
den vier Cardinal tilgenden nicht einfach nennt, sondern hyper
bolisch schildert, den Feigen durch eine Fliege schrecken,
den Ungerechten für einen Dreier zum Mörder seiner Ver
wandten werden lässt’ u. s. w. 'Nichts hindert zu glauben,
dass diese kunstgerecht auf rhetorischen Effect angelegte
Periode aus dem Dialog, dessen Zierde sie war, unverändert
unserem Capitel eingefügt worden.’ Es ward eingeräumt,
dass in den angezogenon exoterischen Reden auch diese Seite
des Gedankens, bei gänzlichem Mangel geistiger Güter könne
Niemand für glücklich gelten, ausgeführt gewesen, allein 'un
veränderte’ Herübernahme dürfte aus der 'hyperbolischen
Schilderung’ wenigstens nicht geschlossen werden, da solch’
drastisch-hyperbolische Ausdrucksweise bei Aristoteles auch
da begegnet, wo der Gedanke an populäre Schriften fern
liegt, wie z. B. wenn er Nikom. Eth. 1, 11. 1101 a 8 sagt,
dass auch der Glückselige nicht glückselig sei, av lip'.ap.iy.aic
xü/at? Tceptit&jY], oder ebend. 10, 8. 1178 b 19, dass nach Aller
Meinung die Götter leben und also wirken (evepysw); ob yap 8i)
•/.aOeu&Eiv fixjxep xov ’EvSup.twva, oder 1, 6. 1098 a 18, dass zur
Gliickseligkeit ausser allem anderen auch ein ßJ.oc xeXsto? ge
höre, p.ta yctp /eX'.Suv iap ob Tcoiei, oöoe pia ■/)[jApa- oüxoi 5s obSI
p.azdptov y.ai suSafpova pia ‘/jp-spa oi)5’ o)dyoq yjpb'toc,, oder 10, 9.
1 Vgl. Nik. Eth. 1, 9. 1099 b 4 ou ~avu yap suBaip-ovixoc b ttjv toeav :rav-
crio/ri<z 7^ ouayevfj^ 7) (j.ova>T7)<; xai axsxvo$.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles 1 Politik.
13
1179 a 4, dass zur Eudaemonie zwar ein gewisses Mass xijs
iy.zbq eiwjixepl«c, aber nicht ein Uebermass erforderlich sei: ouva-
xbv Bs y.od p.rj ap/ovxa yrjq xai OaXaxxr,? -paxxsiv xd x,aXa. Vgl. Rhetor.
2, 12. 1389 a 24 xcl; äi vdoi? x'o p.ev piXXsv -oXb x'o Be TrapshrfAu-
0b<; ßpa/6. x^ yap xrpwxr) - ^p.epa p.ep.vrjaöai p.ev oboev otöv xs, eXiu'^etv
Bs savxa, und in der Poetik c. 7 das i^wov p.uptwv oxaSi'wv und exaxov
xpaywBi'ac aYwvtXecÖai, das man sogar missverstehen konnte. Die
äusserste Feigheit zu bezeichnen, wird auch Nikom. Eth.
7, 6. 1149 a 8 der analoge Ausdruck BeBtsvat Txavxa y.dv
p.uc gebraucht, und die Weise, wie Aristoteles Nik. Eth. 10, 8.
1178 b 10 den Gedanken, dass den Göttern, die Alle für glück
selig halten, nach Aussen gerichtetes Handeln nicht zukommt,
exemplificirt, ist fast allein genügend, zu zeigen, dass hierin
nicht eine auf eine besondere Schriftengattung beschränkte, son
dern allgemeine Manier des Aristoteles sich kundgibt.
Doch die Worte selbst, in denen der Gegensatz des
Massigen (ywcppwv) gezeichnet wird, aue^öp.evov Be gyjOevo?, av etv.-
Öup^cr) xoö oayftv ixietv, xwv ea/äxojv, haben ein kritisches Be
denken hervorgerufen. Coray nämlich fand den Artikel bei
"dem Infinitiv nach eTuO'jp.eiv verdächtig und änderte den Artikel
in die Enklitika xou. Bernays (S. 158) findet grössere Schwie
rigkeit im Gedanken: 'denn die sTxtöup.ta richtet sich auf noch
ganz andere Dinge als das blosse "Essen und Trinken;” und
da ein hoher Grad von Hunger und Durst auch die sonst
Massigen zu “dem Aeussersten (scyy/xa)” treiben kann, so würde
Aristoteles, wenn er diese Art von Begierde hier hätte hervor
heben wollen, gewiss eine nähere Bezeichnung dos Schlemmers
oder Feinschmeckers nöthig gefunden haben.’ Daher Bernays
blos av £7xi6üp.v;cjY) für aristotelisch hält, das ein Glossator durch das
geläufigste Beispiel von Begehrlichkeit illustrirt hätte. Allein
bei dem so verallgemeinerten und auf alle Begierden erstreckten
äv sk'.Ouij.vjcrr] verliert der Ausdruck d-eyöp.evov p.Y)0ävbc xwv eaxdxwv
an Bestimmtheit und Klarheit, wie man auch an Bernays’
Uebersetzung empfindet: 'selbst nach dem Abscheulichsten
greift, wenn ihn eine Begierde ankommt.’ Der Gegensatz der
GwcppoG’jvv) umfasst freilich, wie diese selbst, mehr als das blosse
Essen und Trinken, aber in dem hiesigen Zusammenhang war
es nicht erforderlich, den ganzen Inhalt der Giocpscuvr, von ihrer
Kehrseite aufzuweißen, sondern es genügte, Eine Seite, welche
14
Vahlen
immer, an einem drastischen Exempel zu veranschaulichen;
und wenn es nun vom Schlemmer oder Säufer heisst, dass er,
wenn ihn die Ess- oder Trinklust ankomme —•• denn av extOu-
;j.v]crf) xoü aayerj xtbtv ist etwas anderes als 'wenn ihn hungert
oder durstet’ — auch des alleräussersten sich nicht enthalte *,
so ist der Ausdruck axsyö;a£vov p.r ( 0svbc xwv ioyxxwv hinreichend
klar und bezeichnend. Dass nun diese Auffassung aristotelischer
Denkweise nicht entgegen ist, dafür bürgt, was in der Nikom.
Ethik 3, 13 mitten in der Erörterung der owcpponbvY) und ihres
Gegensatzes äy.oXacta 1118 b 15 ausgeführt wird: ev piv ouv Tai?
cpuatxati; ixtöupiatc okiyoi dp,apxavoua: y.ai ©p’ Sv, stc 1 xb x AsTov xb
Y«p eaötsiv xd xuyovxa rj xtvEiv Swc av 'jTxspixXTjaOp, üxEpßdXXfetv
Sari xb y.axd ouotv xw xrX-^Os'.- avaxA^ptooic yzp x^c iv ostac vj puooci]
ixtQyjj.:a. oto Xeyovxai oüxot vauxpigapYO 1 ., wc xapd xb Bicv xXvjpoüvxes
auT<;v. xoicüxot Se Y'-vovxa: o: X:av dvcpaxoowos:;. Und an Schlem
merei gedacht war auch, wie ich glaube, Politik 1, 2. 1253 a 35
6 8’ dvOpwxo; 5xXa eywv pÜExa: cppovifaei y.a: dpsxp, o:c ex: xavavxt'a
=3xi ypvjcöa: p,c:X:axa. Sto dvoatMxaxcv y.al aYpitöxaxov xvsu apex^c y.ai
xpoc äppoofeia y.a: eowoijv yefptaxov.
Doch der sprachliche Ausdruck erciOup/^m) xou bleibt
bedenklich. Ob Bernays wohl ohne diesen stilistischen Anstoss
seine übrigen Ausstellungen gemacht haben würde, und ob er
sie wird aufrecht erhalten wollen, wenn das sprachliche Be
denken als unbegründet- erwiesen ist? Die Frage wird nicht
verwehrt sein; denn es ist ja so unerhört nicht, dass scharf
blickende Kritiker, von einem vermeintlichen sprachlichen
Anstoss aufmerksam gemacht, sofort auch aus Gründen des
Gedankens den Interpolator ix’ auxoipc&pw zu ertappen glauben.
Für ix:0up.y;crr ( xou v) xietv nun sei auf Xenophon ver
wiesen, der Memor. 3, 6, 16 otm<; p.y; xou euSo^eiv Ex:0up.(äv sic
xouvavrtov eX9y]<;, ibid. 18 st ouv ixtSupiel? euSax.tp.etv xe y.a: 0aup.a-
^£30a: dieselbe Varietät des Gebrauches aufweist, mit welcher
Plato sowohl äp.EAv;c;ac xou dxaxpi'vaoOa: (Euthydem 287 d) als
äp.EArixac Xeystv (Phaedo 98 e) schreibt, und ebenso Xenophon
1 Man könnte an einen "atxcpayo; denken, wie der Kleonymos in Aristo-
phanes’ Rittern V. 1295 oaai p.sv yap aüxov EcETrropisvov xa xcov r/ovTtov ävd-
pwv Oux äv s^saÖsTv oltzo xrj<; cjwcujjs* xou? o 1 avxißoXsTv av 6u.o(toc* w ava,
-poc yovafcov, si-sXÖs zoci auyyvcoOt x9j xpojweC»), und die Liste bei Athenaeus
im Anfang des 10. B. bietet andere passende Exemplare dar.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
15
Cyrop. 7, 2, 17 und 5, 5, 21, und bei andern Verbis, c$(-
Sso-0at, äp^Ywöai. Beispiele für Ixt0up.siv mit xou gibt es auch
sonst (Mem. 1, 7, 3; Oecon. 14, 9), und dass es an unserer
Stelle gerade die Infinitive oixyeh und xisiv sind, macht den
Artikel um so weniger verdächtig wegen der auch sonst
nicht ungewöhnlichen Substantivirung eben dieser Infinitive,
wie bei Theocrit 10, 53 t'ov xo xistv ey/iu'na und in der Antho
logie 12, 34, 4 ei; e®spev x'o aciyeh, st? os xietv ISt'oou, beides von
Fritzsche zum Theocrit a. a. 0. gegen Meineke’s Aenderungs-
versuche, wie ich meine, mit Recht in Schutz genommen; der
überdies Plato Politeia 4, 439 b sxepov av xt di) auxou xoli SAuvxoc
xat ayovxo; coaxep 0Y)p(ov exxl xo xtctv anführt, und vergleichen liesse
sich noch anderes, wie Xenophon Hiero 1, 30 st xt; axeipo; uv
Sftpou? xou xtstv dxoXatiot.
Das nun, fährt Aristoteles fort, räumen Alle ein, dass ein
gewisses Mass all jenei’ Güter zur Glückseligkeit erforderlich
ist, aber darin sind sie verschiedener Ansicht, wieviel man von
jeder Art besitzen müsse und welcher das Uebergewicht ge
bühre. Denn Tugend, meinen sie, genüge auch ein Minimum,
die äusseren Güter aber trachten sie in’s Unendliche zu mehren:
dXXx xauxa piv Aey6p.evoc uoxsp xdvxs; av my-
35 xcopifaEiav, Staipepovxai 3’ Iv xu xoau xat xalc uxepo^alc-
xij? p.sv ydp apcv?; s/stv txavbv eüvat vopdcouatv öxouovouv,
xXouxou 3s xal 1 /pvjp.dxuv y.at 3jvdp.su; /.at 3i r zrf. itat xdv-
xuv xüv xotoüxuv si; axetpov 'Qrpöuoi xvjv ’jxspßoXiJv.
Diese Worte, die keine sachliche Schwierigkeit bieten,
geben zu einem kritischen Excurs den Anlass. Aeltere Kri
tiker nämlich stiessen sich an uoxsp und sahen darin das In-
dicium einer Lücke, die Lambin mit sipvy/.xp.sv, Schneider lieber
mit Xs-popisv ausfüllen wollte. Göttling und, wie man jetzt er
fährt, schon Scaliger, tilgte uoxsp als aus dem kurz vorange
gangenen zufällig wiederholt. Coray hatte uoxep in ü; stxstv
geändert, wogegen Bernays einwendet, es sei diese Einschrän-
1 Bernays tilgt xal lind verbindet xy.oüxou */_prjpdxuv. Ich weiss nicht, wie
er über Politik 1, 9. 1257 b 7 denkt -oiTjXtxi) yap sTvai (SoxeI; xou xXouxou
xal yprjpdx<ov, oder b 30 xs).05 Se b xoiouxo; xXouxo; xal •/prjjj.dxow xxi)ai$.
Vgl. auch 1, 8. 1256 a 15. 16 xpijpaxa xal xxrjcux, rj xX7|Ci; xal 6 xXouxoc,
1, 9. 1267 a 1 xXoüxou xal xxrjacw;.
16
V a li 1 e n
kung von xavxec neben av cr'JYX w P^ 5eiav überflüssig, und bat daher
wohl an (ocxxsp das nämliche auszustellen gefunden; überdies
entdeckte Bernays, woran bisher Niemand Anstoss genommen,
dass AsYÖp-sva so ‘kahl’ da stehend nicht richtig sein könne, und
beide Bedenken zugleich zu heben, schrieb er xaöxa piv Xs.yop.£va
äxXwc xdvxe? ä'i cuY/wpVjaE'.av d. h. 'diese Behauptung in dieser
allgemeinen Fassung.’ Die Möglichkeit dieses Gedankens sei
zugegeben, aber leicht, wie Bernays glauben machen will, ist
die Aenderung nicht. Gälte es wirklich den doppelten Anstoss
an Asy6p.£va und an u>ax£p durch die Kritik zu beseitigen, so
möchte unbedenklich jeder anderen Verbesserung folgende vor
zuziehen sein, von der zu verwundern ist, dass bei so vielfäl
tigem Tentiren der Stelle noch Niemand darauf verfallen ist,
ohne einen Buchstaben zu ändern oder zu opfern, die neben
einander stehenden Wörter AEYÖpsva amrep einfach umzustellen;
mit dieser Fassung aAAx xauxa piv aiaxEp- Xefopev Sxavxsc av myx-
gewänne man wenigstens ohne Wagniss eine Aristotelischem
Brauch und dem hiesigen Fortschritt der Darlegung durchaus
angemessene Wendung, mit der a 24 oboelq dp/pi(jßY]xv;(j£isv av
(vgl. 27) aufgenommen würde, ähnlich wie etwa 1, 5. 1254 b 3
faxt §’ oOv, (oarcep ksyopev, rcpöxov ev £a>o> Öewp^cai y.xA. auf die eben
1254 a 34 vorangegangene Bemerkung zurückweist. Doch ich
unterlasse es, sie des weiteren zu empfehlen und wende mich
lieber der Ueberlieferung von Neuem zu, um zu prüfen, ob
die Bedenklichkeiten der Kritiker überall gegründet sind. Erst
lich scheint &crx£p xdvxsc, das gleichbedeutend mit w? eIxeiv
xdvxsc, wie wexsp ouoev mit <oc sixetv ooSsv (vgl. Beitr. zur Poetik
1, 53) durch Rhetorik 1, 6. 1363 a 11 fixrxEp yap xdvxsc
ögokoYOuciv genügend gesichert und den Gegengrund, dass man
zwar wiTTsp xavxe? cruY/wpouaiv 'beinahe alle räumen ein,’ aber
bei Leibe nicht wexsp xdvxe? av Guy/(opvfcsiav 'beinahe alle möch
ten einräumen’ sagen könne, wird wohl Niemand im Ernste
Vorbringen wollen, der sich erinnert, wie sehr solch doppelte
Limitirung griechischem Gebrauch geläufig ist. Aber ÄsYÖpsva,
einmal angezweifelt, erheischt Erklärung. Man hätte das Wort
wohl entbehren können, aber es ist nicht ohne Nutzen und
nicht gegen den Usus zugefügt; natürlich ist nicht xauxa
Asyopsva sondern das Participium enger mit dem Verbum av
cvy/Mp^xs'.av zu verbinden: 'dies räumen, wenn man es ihnen
Ueber ein Capitel aus Aristoteles 1 Politik.
17
sagt, Alle ein;’ nur dass der deutsche Zwischensatz viel schwer
fälliger ist als das griechische Particip, das wir in den meisten
Fällen dieser Art kaum wiederzugehen im Stande sind. Solchen
Gebrauch des Participiums weist ein analoges Exempel der
Nikom. Ethik auf, 6, 1. 1138b 33 B'.'o osT zat xsp'i Ta? r?j? d/u-/ij?
si;s'.? [j.y; jxövov aXyjQs? sivat tout’ etp^p.evov, äXXa y.a! Suopiap-svov
Tt? eotiv o op6b? Xiyoc, wo neben dieser allein richtigen Schrei
bung in Handschriften auch dXvjöu? oder tcüto t'o sich findet,
beides Aenderungen, um das Missverstandene bequemer zu
machen. Mehr Belege bietet Plato, z. B. Leges 2, 672 a iccel
■/.cd t'o p.syiotov dyaOov, o oupslTai, Xiyeiv p.sv oy.vo? sic tou? ttoXXou?
O'.a to y.ay.w? tou? avöpdnrou? auxo uiroXaßsiv y.a! ymvai Xe-/Q sv, Po-
liticus 269 c vuv 3s 3-q Xsktsov ei? yap tyjv tou ßadXsu? a—
■rrpeijie! pv)0$v, Politeia 3, 387 c ouy.ouv sti y.ai Ta irspi Taüxa
ovi|j,afa itaVTa Ta Setvce te y.ai ipoßepd d-oßX-^Tea, Kuxdtou? te y.ai
ZTuya? . . y.ai dXXa ooa toütou tou töttou ovop.a^ op.sva cppiTrsiv o-q
Koid . . tou? dy.oüovTac, wo Stallbaum das Participium, wie ich
meine, richtig durch cum pronuntiantur wiedergiebt, Politeia
4, 436 e ouoev dpa q\J.txq tüv toioütuv Xsyo|j.£vov iy.irXi^Ei ouSs p.äXXov
Ti -efoEi, u? /.tX., und verwandter Art sind auch noch Sympo
sium 199 b Ei Tt y.a! to'.oütou \6you oeet 7cs.pl "Epono?, TaX^Ov)
XsYÖpieva dxoiisiv oder Protagoras 311 e t( ovop.a dXXo ys \syo-
[j. s v o v xspi HpwTaYÖpou ay.o6o|j,sv, >csp orepi «hsiotou dYaXp.aTOicotbv xai
TCEpi 'Op,f ( pou iroiV)Tyjv, Tt toioütov TTEpi IlpuTaYopou dy.o6op.EV. Sehr fre
quent ist dieser Gebrauch der Participia im Herodotischen
Stil, von dem typisch gewordenen TxüTa ü? ctTcs'ieiyßi'rta. ^zouoav,
bei dem Jedermann den Unterschied dieses Ausdruckes von
TauTa Ta a-Evsi^OsvTa empfindet, angefangen in den verschieden
sten Wendungen, zu denen u. A. auch 2, 146 toütuv uv dp.oo-
Tspwv irdpEaxi /päoOai toToi ti? irstcrETat ksyopiEVotai p.aXXov gehört,
worin man, wiewohl die neuesten Erklärer seltsam missver
stehen, Xsyo|asvoi? mit t.sIgszm fast wie zu Einem Begriff ver
binden muss, vgl. 4, 11 stti 31 y.ai aXXo? X6yo?, tu [j.dXiara Xsyo-
[j.evu autb? vpoay.sijj.at, wo KsyopÄ'/M mit xpoay.eip.ai zusammen gehört
und zu letzterem p.dXicxa. Kurz hsyop-sva in der Aristotelischen
Stelle ist gewählter griechischer Ausdrucksweise entnommen
und gerade wer die Eleganz dos Stiles in diesem Abschnitt
rühmt, dürfte am wenigsten an diesem Participium sich zu
stossen Ursache haben.
Sitzb. a. phil.-hist. CI. LXXII. Bä. I. Hft.
2
18
Va Illen
Jene Ansicht der Menge, dass zur Glückseligkeit auch
ein noch so geringes Mass geistiger Güter genügend sei, aber
der Besitz äusserer Güter ohne Ende gesteigert werden müsse, be
kämpft nun Aristoteles im Folgenden, indem er ausführt, es zeige
sich erstlich erfahrungsmässig, dass man die äusseren Güter
durch die geistigen erlange und bewahre, nicht aber diese
durch jene, und dass worin immer die Glückseligkeit bestehe,
ob im Genuss (ev xw yat'peiv) oder in der Tugend oder in beiden
zugleich, sie eher den an Geist und Charakter ausgezeichneten
aber mit äusseren Gütern massig bedachten als den von letz
teren ein Uebermass besitzenden aber geistig vernachlässigten
Menschen zu Th eil werde, und zweitens lasse sich auch be
grifflich darthun, dass die äusseren Güter eine Grenze haben,
über welche hinaus sie entweder schaden oder doch nutzlos
werden, während die geistigen Güter eine ins Unendliche ge
hende Steigerung ohne Beeinträchtigung ihres Werthes er
trügen.
W-sTs
Be auxoÜ; epoupsv Sri paBtov pev xepi xoixwv y.a't Bist xwv
40 epYwv Xapßdveiv vrjv xi'axtv, cpwvxac cxt y.xwvxat y.at
epuXdxxoutJtv ou xd? apexd? xot? ey.xöc, ahV ey.etva xauxatc,
1323 b y.at xb £5jv euoaipovwc, etx’ ev xw yatpetv euxtv etx’ sv apsxvj
-die, dvöp&xot? etx’ ev dpccTv, cxt paXXov üxapyet xo:;; xb
y)0o:; pev y.at xijv Btivotav y.ey.ospYjpevctc et? üxepßoXv^v,
xept Be xyjv eSw y.xvjatv 1 xwv dvaOßv pexpiä?ouotv, xol?
5 ey.elva pev y.sy.x^pevotc xXelw xwv ypYjolpwv 2 , ev Be xouxote
eXXetxoutnv ou pvjv aXXd y.at xaxa xbv Aoy.cv ay.oxcupsvoi<;
euouvoxxcv eaxiv. xd pev yäp ey.xo? l'yet xepa? uoxep cp-
yavov xr xepa? Be xb yp^c.piv eoxtv, Scxe xyjv üxepßoXvjv 9)
ßXdxxstv avaY'/.atov •)] pr,0ev otpeXo? eivat auxwv xoT?
10 eyouotv. xüv oe xept ipujr/jv ey.aaxsv dY a 60v, ccr« xep av
1 Schneider meinte, es hätte heissen müssen Trept 8s X7)v xx7)aiv xwv ayaOwv
xwv l'i-w. Doch vgl. Nik. Ethik 1, 9. 1098 b 26 xyjv sxxo? susx7]p(av. 10, 8.
1178a 24 tt}<; ixTog yoprjyia?. 10, 9. 1178b 33 xrj<; exxo«; EU7]p.sp(a<;. Darnach
wird man xtrjaiv xwv ayaOwv als Einen Begriff fassen müssen, zu dem
xrjv s?w als Attribut liinzutritt. — Zum Gedanken vgl. Nik. Eth. 10, 9.
1179a 12.
2 Politik 1, 9. 1257 a 16 xa p.sv ~Xsi'w xa 8s sXaxxw xwv txavwv sy siv. Politeia
6, 493 d r.ipx xwv avay/.akov.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
19
ÜTCspßaXXv), toc7o6xw paAAcv ypq yp'/imp-o'/ slvat, st Sei y.ai xo6-
-ot? emXeysiv jjovj p.ovov x'o zaX'ov aXXa y.at tb /pifcip.ov.
In diesem. Theile, der den Kern der hiesigen Argumen
tation enthält, findet Bernays mehr als ein sprechendes Indi-
cium des dialogischen Ursprungs dieses Capitels. Gleich das
an die Spitze gestellte vjp.st; ob auxot? epoupev rechnet er dazu,
indem er bemerkt: 'wo möglich noch weiter von der Haltung
der pragmatischen Schriften entfernt sich die lebendig persön
liche Gegenüberstellung in den Worten: “Wir aber wollen ihnen
sagen.” Man glaubt, zwei Unterredner hätten sich vereinigt,
einen gemeinschaftlichen Gegner zurückzuweisen, etwa wie der
platonische Sokrates den Phädros auffordert, sich mit ihm zu
einer Belehrung des Tisias über die Rhetorik zu verbinden
(Phacdr. 273 c).’ Wie wenig überzeugend diese Annahme sei,
ward schon anderswo (Beitr. zur Poetik 2, 37; vgl. Zeitschr.
f. österr. Gymn. 1867 S. 723) zu Poetik 15. 1454 b 8 exsi oe
[jip.Yicrt; eaxiv vj xpaywol« ßeXxiovwv, vjp.a? oe: p.ip.s7(j0ai xouc ayaOob?
eiy.ovoypäoouc bemerkt, wo man unnöthiger Weifte dieses vjp.ä<; mit
ßeXxiovwv durch -q oder ij y.aÖ’ in Verbindung bringt, zuerst
Stahr, dann Spengel (Studien 4, S. 47), der jedoch eine Aen-
derung nicht für geboten hält, und wenn man nun hinterher noch
geltend gemacht hat, die Wortstellung sei jenem selbständigen
Yjp.äc entgegen, so ist nicht überlegt worden, dass auch wenn statt
■q\j.So gesetzt worden wäre, was gemeint war, xow)xdc, dies bei
der Gegenüberstellung von eiy.ovoypdtpouc einen bessern Platz
nicht hätte finden können (wir, wenn wir dichten wollen,
müssen es machen wie die Maler), und diese Stelle halte ich
demnach auch jetzt noch durch die a. a. 0. citirte Rhetor. 1,
8. 1366 a 12 vollkommen gesichert. Aber auch die hiesige Art,
der bestrittenen Ansicht die eigene mit einem persönlich ge
wendeten Yjp.bü; u. s. w. entgegenzustellen, ist doch auch sonst
in pragmatischen Schriften so ungewohnt nicht, dass man dafür
einen besonderen Grund und Anlass aufzusuchen nöthig hätte.
Man sehe doch, wie (abgesehen von dem a. a. 0. citirten)
z. B. de anima 1, 3. 406 b 22 nach Anführung fremder Mei
nungen die Entgegnung mit v)p.sT; oe spwxifcop.sv eingeführt wird,
und vergleiche Metapli. 3, 5. 1010 a 15 'qp-v-c oe y.ai xpb; xouxov
xbv Xoyov epoupev (vgl. 1009 a 30), und in der Politik selbst 7,
2*
20
Ya lile ii
3. 1.325 a 16 icpo? Be xouc op.oXoYOÜvxa; p.sv . . SioKpspopivoüi; Be . . Aey.xsov
y)|j.Tv icpb? äp.aoxepout; . . cxt y.xA. und 4, 2. 1289 b 9 vjp.el? Be oXwc
xaüxa? £^^p.apxr ( p.£vac eivot( ©ap,£V und andere Stellen, um sich zu
überzeugen, dass diese lehrhafte d. h. den Leser oder Hörer
mit einschliessende Manier nicht erst aus der Dialogform her
geleitet zu werden braucht. 1
Aber 'auch nach sachlicher Seite,’ meint Hernays, sei 'in
dem Satz, den diese persönliche Wendung einleitet, das von
der Eudämonie Gesagte bemerkenswert!»: "mag sie in der
Freude bestehen oder in der Tugend oder in beiden zugleich.”
Ein solches neckisches Olfenlassen und unverzügliches Zu
sammenschlagen der Alternative, welches Aristoteles auch sonst
mit Vorliebe anwendet, mochte in dem hier benutzten Theil
des Gesprächs von guter Wirkung sein; bei einer Entlehnung
aus der streng forschenden und vornehmlich die Eudämonie
behandelnden Ethik würde eine derartige Unbestimmtheit selbst
an dieser Stelle, wo nur durch empirische Thatsachen der
Vorzug der geistigen vor den äussern Gütern erwiesen werden
soll, immer noch auffallen.’ Möglich, dass ich Sinn und Zweck
dieses Arguments nicht richtig verstehe; aber Entlehnung
aus der Ethik, die sich ja müsste constatiren lassen, hat Nie
mand behauptet, auch nicht wer das Citat der exoterischen
Reden glaubte auf die Ethik beziehen zu sollen, und warum *
sollte denn, wenn anders Aristoteles dieses Beweisgrundes sich
hätte bedienen wollen, diese verschiedenen Ansichten Spiel
raum lassende Formulirung der Eudaemonie in der Ethik nicht
angemessen gewesen und in der Politik nicht angemessen sein,
da ja, Aristoteles’ eigene Ansicht von der Eudaemonie gesetzt,
das ganze Argument nutzlos wird; Gegner aber bekämpft man
am wirksamsten so, dass man ihnen auf ihren Standpunkt fol
gend oder ihre Voraussetzungen einräumend, die Unhaltbarkeit
ihrer Ansicht erweist. Die hier nun in der Form der Alter
native zusammengestellten Auffassungen der Eudaemonie, aus
denen allen gleicherweise die für die Glückseligkeit grössere
Wichtigkeit der geistigen vor den äussern Gütern resultirt,
1 Auch das S. 47 von Bernays berührte Bruchstück brauchte wegen des
persönlichen ‘wir’ und ‘uns’ nicht schon aus einem Dialog’ genommen
zu sein.
lieber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
21
begegnen auch anderwärts, wie Nik. Etli. 7, 12. 1152 b 6 '/■«■’■
tvjv sb&aipovlav ot TxXetaxoi p.eÖ’ Yjoovvjc elvai ipaanv, 8tb y.a't x'ov paxapiov
wvo^äxactv curo xou -/aipstv (vgl. 7, 14. 1153 b 15) und 1, 9.
1098 b 23 xoiq p.ev yap apsrq, xbi? os <pp6vri<n<;, ä'XXoic Ss aotpfa xi;
■slvat boxet (yj subaip.ovi'a), xol? oe xauxa •); xoöxtov xt p.eO’ ■rfiorqc ij oux
aveu yjoo'% y.xX. und überdies vergleiche man die Zusammen
stellung der vulgären Ansichten über Eudaemonie und ihre Er
fordernisse in der Rhetorik 1, 5.
Was aber diesem thatsächlichen Grunde als begrifflicher
Beweis an die Seite gestellt wird, davon hat Bernays Anlass
genommen zu einer allgemeineren Ausführung über den logisch
dialektischen Charakter jener für ein grösseres Publicum be
stimmten Schriftengattung, wovon auch unser Capitel mehrere
unzweifelhafte Merkmale, als Zeugen seines Ursprungs, dem
Leser vor Augen stelle. Auf diesen für die Entscheidung
der schwebenden Controverse wichtigen Gesichtspunkt werden
wir später zurückkommen, da wir vor allem uns über die
kritische Beschaffenheit dieses zweiten Theils des weit ausge
führten Satzes verständigen müssen. Die Worte sind oben
mitgetheilt in der von Bernays zurechtgemachten Form, der
zu den von ihm cmcndirten Worten %epa.q 8b xb yjprfynp.bv eaxiv
bemerkt: 'Zu der Aenderung von to2v in rapa?, deren Anlässe
und Vortheile einem aufmerksamen Leser nicht erst dargelegt
zu werden brauchen, vergleiche man Polit. 1, 9 p. 1257 b 26
P/.acxr, xöv xe/vwv xoü xebojc sie äxeipor Sxt p.xX'.axx yap sxeTvo ßoüXov-
xat iroietv xwv 8s wpb? xb xsXo; ob/, elq fesipov nepaq yap xb rfAoq
zaca'.c.’ Anlässe zur Aenderung des Ueberlieferten sind zwar
leicht erkennbar, die Vortheile dieser Verbesserung aber mir
wenigstens so wenig klar, dass ich Bedenken trage, auch nur
den Gedanken des Aristoteles darin wieder zu finden. Denn
wie sollte er wohl sagen 'die Grenze ist die Brauchbarkeit,’
damit man von Neuem frage, welches denn die Grenze der
Brauchbarkeit sei. Dass ihm eine so ungenügende Grenzbe
stimmung nicht entschlüpft sei, dafür bürgt schon der von
Bernays selbst, zum Schutz zwar seiner eigenen Verbesserung,
angeführte Beleg, der Aristoteles’ echte Denkweise in diesem
Falle kund gibt; denn die Künste, welche nicht Künste xoü
xsaou? sondern Künste -p'oq xb xsXoc sind, haben ihre Grenze an
dem xsXo<;, für das sie sind. Nicht minder deutlich tritt der
22
V a li 1 e n
nämliche Gedanke de anima 1, 3. 407 a 24 hervor xüv
yap Txpay.x'.y.üv vovfaeuv Itm xxspaxa (iräoat yap sxepou ydpiv), al Se
Gsoip-p-iy.a: xbt? Aoyo'.p bj-tovoc öp^ovxat, denn diese ixpay.xty.ai vovfcstc,
die alle sxspou .ydp'.v sind, haben ihre Grenze an eben diesem
exepov, oü ivsy.ä eiertv. Und Metaph. 994 b 13 obOei? oäv sYX £l f% £t£V
OU0SV TtpdxXEtV p.v) fteXXuV £7x1 X£pap YjcJE'.V. OuS’ äv SW] VOU? £V XCHC
xotoixotp- svexa ydp xtvo? äst ixpdxx£t o ys vouv s/ojv xouxo '(dp icrxt Txspac-
xb yap x^Xoc ixepa? eaxfv. Endlich Nikom. Ethik 7, 14. 1153 b
22 bid oe xb xpotJOcTcGat xyj; x'jy_7]c ooxsT xtat xauxbv elvai r t euxuyta
xi) £uSatp,ovta, oux oüoa, sixst y.ai auxyj uixEpßäXXo'Jaa qAixöäto; saxiv y.at
«nos oby.sxi sbxuyjav y.aXetv Sfy.atov- ixpop yäp xvjv sboatp.ovtav 6 Soo?
auxYjc (worin cpoq nicht verschieden von ixspac), im Zusammen
hang betrachtet, zeigt klar, dass die suxuyt«, welche zum Zweck
der suoatp.ovta erforderlich ist, an dieser ihre Grenze hat, die
sie nicht überschreiten darf, ohne ihr Wesen als zhvjyja einzu-
biissen. Wollte demnach Aristoteles an unserer Stelle, nach
dem er den äusseren Gütern eine Grenze vindicirt hat, diese
Grenze näher bestimmen, so musste, statt der nichts begren
zenden Brauchbarkeit, das 'Wofür’ dieser Güter (xb ixpb? xt) als
Grenze angegeben werden. 1
Wenden wir uns nun, da Bernays’ Verbesserungsversuch
sich als unhaltbar erwiesen, zu der Ueberlieferung zurück, die
so lautet: xd piv ydp sxxbc syst Txepac, mcricep opyavcv xf ixdv os xb
Z.P'fa|*öv scrxtv, uv XY)V uTcspßoXvjv 1) ßXaxxsiv ävayxatov -i) p.vjOsv ooeXo;
eivai aüxuv xoT? syouatv. An dieser haben Mehrere Anstoss ge
nommen, und schwerlich dürfte man ihr eine befriedigende
Erklärung abgewinnen. Spengel in den Aristotelischen Studien
3, S. 30 macht zu ixdv oe xb yp^oip.ov die Anmerkung: xb
stare nequit, o vet. tr. exspectamus xoioüxc, sed verum invenit
1 Dass Bernays’ Verbesserung nicht richtig sei, hat, wie ich jetzt sehe, auch
Susemilil (Ind. lect. aest. Gryphisw. 1872 S. 13) bemerkt, der auf die
von Bernays angeführte Stelle der Politik verweist: wenn er aber den
Gedanken 'Grenze ist die Brauchbarkeit’ gelten lässt und nur bezweifelt
ob xb yp7jaip/jv diese Bedeutung habe, so theile ich diesen Zweifel nicht
und finde nur jenen Gedanken selbst nicht zulässig. Seine Vorschläge,
deren er mehre bringt, ergeben zwar einen richtigen Gedanken, haben
aber sonst wenig Wahrscheinlichkeit und liegen von meiner Auffassung
weit ab, wie denn Susemihl auch Bernays’ touxs statt Sv ausdrücklich
billigt.
lieber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
23
Scaliger oe xw. Aber dieses xo> ist ein völlig überflüssiger
und nutzloser Zusatz, und diese Conjectur Scaligers so werth
los, wie viele von denen, die man neuerer Zeit aus seinen
Marginalien aus Licht gezogen hat. Und überhaupt liegt
ja der Anstoss gar nicht da, wo ihn Spengel zu suchen
scheint, sondern vielmehr darin, dass die Worte xav Se xo
Zjptpstp.cv eotiv 2>v ttjv CixepßoXijv ßXcorteiv dvafzaTov in dieser Ver
bindung keine Definition des /pvfctp.ov ergeben — denn was
wäre das für eine Definition: 'nützlich ist, dessen Uebermass
schädlich ist’ — sondern eher einer Schlussfolgerung aus einer
Bestimmung des /p’jtjqrov ähnlich sehen. Daher Bernays darin
unstreitig richtig sah, dass der Satz xav ob xo xp'^tpov euxtv, wie
er nun immer zu schreiben sein mag, von dem Folgenden ab
zutrennen ist, nur erwächst daraus nicht sofort auch die Noth-
wendigkeit, wv mit ihm in fiicxe abzuändern. 1 Denn das Rela-
tivum knüpft gut und zweckmässig über den Zwischensatz
hinweg bei xa ezxöc wieder an: 'die äusseren Güter haben eine
Grenze, wie ein Werkzeug; deren Uebermass daher schädlich
sein muss;’ und kaum bedarf es der Belege für diese rela-
tivische Anfügung des neuen Satzes mit der hier darin liegen
den concludirenden Bedeutung, doch vergleiche man Politik
3, 4. 1277 a 37 BouXcj o’ stör, xXefa Xeyspev- al yap epyaai'at xAeioup.
S>v ev p.epo; y.axe^ouaiv ot /epvYjxee, und 1, 5. 1254 b 6 ev ot? <pavepov
eaxiv d. i. 'worin also klar ist.’ Aber das nachfolgende auxfiiv
macht Schwierigkeit und scheint wirklich einiges zu der Schrei
bung öoxe statt wv beigetragen zu haben. Die Worte fi>oxe xvjv
uxepßoXvjv •!; ßXaxxeiv ava-ptawv •?, |j.Y]0ev otpeXo; elvat abxwv xolc ej(ouatv
übersetzt Bernays: 'so dass der darüber hinausgehende Ueber-
schwang schaden oder wenigstens ohne Nutzen für die Besitzer
1 Audi 2, 7. 1267 a 24 ötj.o(t.>; ok xat XEpl tij? xx>jaE<t>s- ost yap pvov
xpÖ5 -a? jEoX'.Tixa? xpfl CT£l S 'rxavijV üjiäp'/E'.v, aXXa xxi -po? xou; e?to0£v xtvSüvou?.
Btoxsp oute xooovxov ost —XfjOot; OxapyEiv Sv ot xX^afov xat xpetxxou? E-tOuprj-
aoutjtv, ot o’e/ovte; d[j.iveiv ou Buvvjaovxat- xoli; Ixiovta;, ouO’ otirto; oXt-j-T-jV
woxE [j.x] BuvaaOat xbXE[j.ov TCEVS-pxETv wird <7>v olme Grund und zum Nach
theil der Sache in tboQ’ geändert von Spengel Ar. Stud. 3, 14; aber zu
geschweigen, dass" das Relativum in allem Betracht besser ist (1266 b
36 taüxrjv Eivat xotaüxrjv e? rjc «jovxat), warum wäre denn der Plural tov
auf xTfjuis bezogen hier anstössiger als z. B. Nik. Eth. 4, 1. 1120 a 3
ooxet 8’ trawXEict Ti? auxou etvai xat j) Ti)S ouala; tpOopä, töe; xoo trjv ota
xouxtov o'vxo?.
24
Vahlen
sein muss.’ Dabei ist auxtov unübersetzt geblieben und also
wohl als zu öircpßoXVjv gehöriger und daher einer besonderen
Wiedei’gabe nicht bedürftiger Q-enitiv angesehen worden, was
doch an dieser Stelle und bei der naheliegenden Abhängigkeit
von otpsXo? nicht wohl angeht, und soll, wie nicht blos Bernays
sondern auch die übrigen mir bekannten Uebersetzer und Er
klärer annehmen, von der üxepßoX^ gesagt sein, dass sie noth-
wendig entweder schädlich oder ohne Nutzen sei, so hätte man
wohl Grund statt aüräv vielmehr aiu% zu erwarten: &axs iv) v
■j~spßoXr ( v 9j ßXäxiEiv ava-ptaiov f, p,y)0lv sosko? elvai äu~?;c -oT; lyouaiv,
dürfte dann aber leicht bei toT? r/ouaiv wegen der nun natür
lichen Ergänzung von •JixspßoXqv anstossen. Doch was die
Hauptsache ist, der Gedanke, der über das Mass der Brauch
barkeit hinausgehende Uebersclnvang sei entweder schädlich
oder wenigstens ohne Nutzen, scheint in dieser Fassung nicht
richtig zu sein; oder liegt es nicht in der Natur der Sache,
dass man vielmehr eine Formulirung des Gedankens folgender
Art erwartet: 'die äusseren Güter haben eine Grenze, daher
sie, im Falle sie diese Grenze überschreiten, entweder statt
nützlich schädlich werden, oder wenigstens ihres Nutzens ver
lustig gehen.’ Und in der That diesen Sinn enthält der Satz,
wofern nur die unrichtige Deutung, die man dem Worte
uxepßoXyj unterlegt, aufgegeben wird. In einfacher Construction
konnte der Gedanke so ausgedrückt werden, -ra ivjzbq iyzt
Tispa; . . ä ÜTCpßaXXovxa (3v üixepßaXXv)') •/} ßXaxxetv avävy.oucv v) p/qOev
(bqpeXeTv xcb? s/ovxa:. 1 Indem aber statt der participialen die
nominale Wendung Sv xyjv uxepßoXvp gewählt ward und zweitens
statt eines mit ßXdxxeiv parallelen Verbums das eine andere
Construction erheischende ctpeXo? sivat eintrat, ward einerseits
der Zvrsatz von auxwv nothwendig — denn es hätte auch mit
Beibehaltung des participialen bxepßaXXovxa heissen müssen ä
ixEpßäXXovxa v) ßXaxxetv avayzatov r t p.yjOsv ssöXo: Eival auxiov — und
zweitens entstand eine Ungleichheit in der Satzfügung der
1 So ist der Gedanke auch fonnulirt in dem mehrfache Berührung mit un
serem Capitel aufweisenden Aristotelischen Bruchstück aus Stobaeus,
welches Bernays S. 162 bespricht: 5cto rop av aiixat päXXov ai oiocOeceis
zaO' ü:xspßoXr]V v-dpijtoct, Tocoiixe) xat -Xe!o> xai p-Eipn xov •/.EXxrjp.Evov ßXcwtxouaiv.
Vgl. auch Nik. Eth. 1153 b 23.
lieber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
25
beiden durch •?)—i) verbundenen Glieder, indem -rijv uzepßoXv^v
nicht auch für das zweite das regierende Nonien ist. Wer,
meine ich, dieses Satzgefüge richtig erfasst hat, wird zugeben,
dass in dem zweiten Satzgliede nicht auTYj; mit Bezug auf
üzspßoXyj, sondern nur aurwv stehen konnte, weil zwar von der
üzEpßoX^ in unserem Sinne richtig gesagt ward, dass sie schäd
lich sei, nicht aber auch, dass sie ohne Nutzen, sondern letz
teres nothwendig von den Dingen selbst im Zustand der
ü-spßoX/; ausgesagt werden musste. Und ferner wird Klarstellung
dieses Satzgebildes davon überzeugen, dass der Genitiv aüxwv
kein Hinderniss ist für das an die Spitze des Satzes gestellte
fiv, zumal ja die Neigung der Griechen den Relativsatz mit
dem Demonstrativum fortzuführen genügend bekannt ist, und
hier aürüv nicht als einfache Wiederaufnahme jenes Relativums
zu betrachten ist. Kurz dieser ganze unbeschadet des Zwi
schensatzes zäv oe to ypyjatp.ov egt'.v an den Hauptsatz Ta t/.-bi
syst icspa? angeknüpfte Satz u>v tyjv üzepßoXvjv v) ßXdzrstv avayzaTov
•i) p.vjQsv otpsXoc sTvai aiiTwv ~oiq sycuav ist trotz der dargelegten
aber erklärlichen Incongruenz der Satzbildung so nach allen
Söiten Aristotelischem Gedanken sowohl wie griechischer Aus
drucksweise entsprechend, dass die Vermuthung einer Verderb-
niss hier wenigstens nicht aufkommen oder bestehen kann.
Noch bevor wir dem in suspenso gelassenen Zwischen
sätzchen zav oe to ypifctp.cv eotiv uns zuwenden, ist der näclisto
Satz in Betracht zu ziehen, der bei Bernays so lautet: tmv oe
zspi tfuyijv Ezaorov ayaOwv, oow zsp Sv üzEpßaXXr,, toooutw [J.äXXov ypvj
3(pij<7ip.ov stvat, et 3st y.at toutoic sziXsystv p.övov to y.aXov aXXä y.at
to xpjo'.p.ov. Hierin ist yp-i; Zusatz von Bernays, der vielleicht
selbst sprachlich anfechtbar ist; denn wenn er übersetzt: 'da
gegen darf man behaupten, dass jedes geistige Gut’ u. s. av.,
so giebt er dem ypv' eine zwar unverfängliche, aber im Text
nicht vorhandene Verwendung. Andere haben statt -/pr ( otp.cv
slvat entweder yp^mptov sgti geschrieben oder stvat einfach ge
tilgt: alles Verbesserungen, die aus dem Einen Bemühen her
vorgehen, diesen Satz nicht mehr abhängig sein zu lassen von
dem avayzatov des vorigen. Und doch, wer es recht überlegt,
wird erkennen, dass dieser Satz, zumal com zsp av üzepßaXXr,,
togoötm p.äXXov -/pfjOtp.ov slvat, so durchaus in Analogie und Gegen
überstellung zu dem unmittelbar vorausgehenden uv rr ( v ozsp-
26
Vahlen
ßoAYjv v) ßXdxTetv ävayx.aTov '/.ta. geformt ist, dass es nur als das
allernatürlichste erscheinen muss, diese beiden in Gegensatz
gestellten Sätze von dem Einen regierenden avayxawv abhängig
gemacht zu sehen. Doch wird man einwenden, wo bleibt das
correspondirende Glied zu ta p-ev yap ex.tc? syet xspa?, wenn
der Satz töv Se xept 4 ,U X^J V Sxamov ayaOöv mit dem nächst vor
angegangenen uv tv)v 'jxepßoXvjv /.ta. in so enge Verbindung ge
bracht wird? Allerdings ist der Umstand, dass mail in dem
Satze töv os Tospl (Jwj/yjv y.vA. das Correlat zu Ta p.ev ey.To; gesucht
hat, der Anlass jener kritischen Versuche, die nichts anderes
bezwecken als die Zusammengehörigkeit der Sätze wv tyjv uzep-
ßoXrjv xtX. und töv os zspt (jwy^v xtX. zu zerreissen und letzteren
aus der Abhängigkeit von avayy.atov zu befreien. Allein man
fasse doch diese vermeintlichen Correlata Ta p.ev yap ex/to? lyv.
zspa? und töv os zspi <k>y;)]v sxacTov ayaööv, oow zep av uzepßdXXy),
TOoouTo) ij.aXXov yp/jotpov etwas schärfer in’s Auge und man muss
sich, wie ich meine, überzeugen, dass, so gewiss der Gegen
satz der äussern und der geistigen Güter den Gedanken be
herrscht, dennoch der die Unbegrenztheit der letztem aus
sprechende Satz in der Form nicht mehr als Gegenstück zu
vx p.sv sy.Toc eyet zspa; gedacht, sondern in genauer Parallele zu
dem zwischengetretenen Sv tvjv üzepßoXv)v v.tX. gestaltet worden
ist. Hat ja gerade dieser Anschluss an den letztem den Ari
stoteles verleitet, von den geistigen Gütern sich eines Ausdrucks
zu bedienen ('/pv^'.p.ov), der hier nicht angemessen war, und ihn
zu einer nachträglichen Entschuldigung et ost y.ai tsütoic eztXe-
ystv y.TX. nötliigt, und aus demselben Grunde ist es geschehen,
dass das Glied Ta piv yap sxt'oc x.tX. in der Form, nicht im Ge
danken, seines Correlates verlustig gegangen ist.
Wiewohl die Annahme dieser kaum eine Anakoluthie zu
nennenden Satzgliederung durch sich selbst genügend gesichert
erscheint, wird es doch nicht vom Ueberfluss sein, ein und das
andere Beispiel ähnlicher Satzbildung aus aristotelischen Schrif
ten herauszuheben. Man vergleiche also Politik 5,9. 1310 a 2
dtp.apTavouGi oe y.ai ev toic ofyp.oxpxTiat? y.ai ev Tale oXiyapytat?, sv p,sv
Tai? B-pp.oxpaTiaio ol Bvjp.aywyoi, ozou tg zAtjOgc y.uptcv töv vbp.wv oio
yap zotoöaiv asi tyjv zoXtv p.x'/cp.svct toic sözcpoie, Set Be TGuvavTtov asi
Sox.stv Xeyetv üzep eoxöpwv, sv os Tale oXtyapyiaic üzep toü OYjp.ou touc
OAtyapyty.o’jc. Denn auch hier hätte ja der Satz ev os Tai? oXt-
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
27
ya.pyj.Mc . . . xou? h'K’.yapyy/.oip dem Satz sv p.sv xaic OYjp.sy.paxi'a'.s os
o-pij.aybiyoi conform gebildet sein sollen, während er sich jetzt
dem unmittelbar vorangeg'angenen ost oe xoüvavxi'ov äst Soxiiv Xeyesv
ü-£p su-öpwv in genau entsprechender Fassung anschliesst und
mit ihm unter dasselbe regierende oss tritt; daher denn auch
hier das erste Glied ev p.sv xaTc OYjp.oy.paxsasc ol bryp.xyuyoi eines
formellen Correlates entbehrt; aber trotz dieser in die Augen
springenden Incongruenz des Satzgefüges, die Lambin durch
einen nicht glücklichen Versuch ins Gerade zu bringen sich
vergeblich bemühte, kann bei der Klarheit des Gedankens und
dem sichtlichen Anlass der Abbiegung an der Ursprünglichkeit
dieser Periode nicht gezweifelt werden. Dieselbe Neigung
verräth, obwohl eine Schwierigkeit der Construction daraus
nicht erwachsen ist, auch 5, 10. 1310 b 9 ü~apyss o’ rj ysvsaic
eu0u? ec svavxswv kv.a~s.pa twv p.ovap-/swv (näml. ßaaiXei'os und xupavvsc,
die im vorhergehenden wiederholt in diesem Gegensatz genannt
waren)- Yj p.sv yap ßauiXssa xp'o: ßovjOss*v xyjv äx'o xoü ovjp.ou xol?
eiue'.y.eat ysyovsv, v.ai y.aOfcxaTas ßaciXsu; ev. twv szsety-wv y.xO’ ü-spoy/jv
xpsrrjg v) npäijswv twv axb ty]? äpsxYjc -ij y.aO’ 'j-epoyjjv tosoutou -psvouc,
i os xöpavvo; sy. xou oijp.ou v.xl xoü kXvjOouc s-s xouc yvwpfp.ous:, worin
die Incongruenz nicht darin allein besteht, dass c os xüpavvcc
statt yj os Tupavvt; geschrieben ist, wie Spengel zu glauben
scheint, wenn er Stud. 3, 61 zu 5, 10. 1311 a 2 ßoüXsxas o’ 6
ßactXeuc ..öSs ÖYjp.oc . . yj os xopavvsp anmerkt: H. e. ö os xöpavvoc,
ut initio Yj p.sv ßaosXssa . . o 3s x6pavvo<;/ sondern dass der ganze
Satz c Se tupavvoc ey. xoü Sv^p.ou y.xX. im Anschluss nicht so sehr
an yj p.sv yap ßactXeta y.xX. als an den zweiten Satz y.ai y.xOscxaxas
ßacrsXsüc y.xX. geformt worden ist; und wer in unserem Capitel
selbst 1323 b 36 aXXa yap xxüxa p.sv im xooouxov sgxw xsoposp.ixo-
p.eva tw Acyw, ouxs -pap P-ij O'.vvävs’.v ocuxwv Suvaxev, ouxs Yravxac xolic
oty.esouc stie|sX0s'sv svSsysxai Xö-foüs;- exepxc yäp soxsv spyov oyoXyc xaoxa,
vuv o’ uTroy.ekOw xocouxov, exs y.xX. die Worte ouxs yxp — oyoXvjc
xxuxa als Parenthese abgrenzt, übersieht, dass vuv o’ üxoxskOo)
sich an das zuletzt vorhergegangene sxspac yxp eoxiv spyov tryoXvjc
anschloss. Doch wichtiger und instructiver, weil unrichtige
Auffassung auch hier zu unberechtigter Aenderung verleitet
hat, ist de anim. 2, 5. 417 a 22 soxs p.sv yxp oüxwc e-toxyp.ov xt
w^ av e’feotp.sv avOpwxov s-xicx/jp.ova, exs ö äv0pwTtoc xwv s-soxYjp.övwv
28
V a h 1 e n
■/.'A ejrovwov eici5Ti^(;.Y)v fern 3’ üq tjStj 1 Xisyop-Ev l-wr^xova tcv b/ovxa
77}v Ypap.p.aTiy.vjv. A.y-zpt: oe toütwv ei> tov aiixov xpczov Suv«t6? eoxtv,
aXX’ o p.sv.&rt xb yevoq toioütov "/.«i vj uXyj, o 3’ oti ßooXvjÖEi? Suvaxo?
Osupsiv, äv p.ij 7'. y.uXuuT) tüv e-uOsv 5 3’ (kupuv evTcXsy/i'a uv
y.al yjjpico? Exicxap.EVO? tooe 70 A. Denn so ist die überlieferte
und verbreitete Lesung. Torstrik war es, der zuerst den Satz
Exarspcc 0! tcjtuv — tüv etjuQev als Parenthese kennzeichnete
und sich nun an dem Fortschritt 6 3’ tjctj ösupOv stiess, worin
er die Fortführung der mit eoti jjlsv yoep 0070>c e~!crtYj[JWV 71 be
gonnenen Aufzählung sah, und um eine regelrechte Abfolge
der drei Arten zu gewinnen, auf Grund der doch gar nicht
verbindlichen Autorität des Sophonias xpixcc 0’ 0 tjStj Ösupüv
schrieb, was, genau betrachtet, auch so noch nicht ein an die
beiden vorangegangenen gleichartig sich anreihendes drittes
Glied ergiebt. Allein es kann kein Zweifel sein, dass die
ganze Noth erst aus der Parenthese entstand, dass 6 3’ {jotj
ösupüv richtig und in dieser Form sich an das von Torstrik in
die Klammern gesteckte 6 0’ 071 ßöuXTjOst; Sirmbc Osupsiv eng an-
schliesst, und auch hier also die Zwischenbemerkung von dem
regulären Anschluss au die beiden ersten Glieder der Auf
zählung, ohne Benachtheiligung des Gedankens, abgelenkt hat.
Ist nun unsere Ausführung über das Verhältniss der
beiden eng verbundenen Sätze uv ttjv uTicpßoXfjv 7) ßXokrreiv avav-
y.atov 7^ p.TjÖEV opsXo? eiva'. a'JTÜv to?c I'/cuatv, tüv os vcept drjyl;v exaorov
xya0üv, Sau ttsp xv UTtEpßäXXv), 700067(0 päXXov yp-qc.^o'/ Etvat, wie wir
hoffen, begründet, so wird dieses Ergebniss zu einem neuen
Argument für die völlige Unzulässigkeit der bereits oben ab
gewiesenen Verbindung -äv 3e 70 /p^o'.p.6v eertv uv y.xX. und die
Nothwendigkeit der Anknüpfung des Relativsatzes uv ttjv ü-sp-
ßoXijv y.7X. an den Hauptsatz ia p.ev -pap szto? 'i/v. r.ipxq uoxEp
öpyxvov 7i, von dem jener durch das erläuternde Zwischensätz
chen ~av 31 xb zpvjoip.sv E071V abgetrennt ist.
1 Den Anstoss, den Torstrik an 7)87; nimmt, wird Politik 3, 1. 1275 b 19
(T) yxp äjoucua xoivtovciv ävyijc ßouXeuTUtfJs 7| xpruxijc, ;uoXiT7)V 7]07} /.syoiJTv
=ivai Tx’jtr^c —öXeto; heben. Beides 'wir nennen bereits Bürger und
'wir nennen bereits wissend' den, der die und die Bedingung erfüllt, ist
im Gegensatz gesagt zu noch weiteren Erfordernissen des Biirgerthums
und des Wissendseins.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
29
Welches soll nun aber — diese Frage erheischt jetzt Be
antwortung — der Sinn dieses Zwischensatzes sein, der, so
wie er steht, nicht richtig- sein kann; und dass doch über das
Xpi$<ji|j.ov eine erläuternde Bemerkung- vorangegangen war, macht
das später folgende et Set y.at xoüxotc sztAsystv p,-}; p.ovov xb y.aAbv
akha vm x'o yp7 ( otp.ov nur zu wahrscheinlich. Nun ist zwar die
Begründung-, dass die äussern Güter ihre Grenze haben, in dem
Vergleichungssatz 6®tep op'pavöv xt enthalten, da in dem Begriffe
des Werkzeugs als solchem die Bestimmung des 'für etwas’
und damit zugleich der Grenze gegeben ist. Vgl. Politik
1, 8. 1256 b 35 obosv yap äpYavov azstpov cuosp.tac eoxt xsyrrfi ouxs
xa^Gs: oiixs [j.sysGs 1 ..
zAouxoc op-favojv zAijOöc sottv oty.ovcp.rAwv y.at
zoXtxr/.wv. Nikom. Etli. 1, 10. 1099 b 27 xöv os aoizwv ayaSöv
xa p.sv uzapystv ivorptMOV, xa os ouvspyä y.at yp-jotp.a zssuy.ev opyavt-
y.wc, und ebend. 1, 5. 1097 a 25 ekel os zAeuo «patvexat xa xsA-/;,
xobxwv o’ atpobp.eOa xtva St’ sxspa, otov zAoüxov ab/.obc y.at o/.toc xa opYava,
worin letzteres nicht von den musikalischen insbesondere zu
verstehen sein wird, vgl. 1, 9. 1099 b 1. Dennoch war es Bil
den hiesigen Zusammenhang angemessen, es als die Eigenschaft
alles dessen, was nützlich ist, zu bezeichnen, dass es für etwas
ist (vgl. Nik. Eth. 1, 3. 1096 a 7 y.at & zAouxoc ob xb ihjxoüp.svov
ayaOov- yfjotp.ov yap y.at aAAO'J yaptv), und diesen Gedanken, der
in der verallgemeinernden Erläuterung des zav 3 b xb yp-jotp-ov
zugleich die Begründung ergänzt — denn so nahe es läge, es
ist nicht nothwendig und nicht einmal besser yzp zu schreiben
als 3s — gewinnt man mit kaum nennenswerther Aenderung
in folgender Fassung: zav 3s xb yp-r,otp.ov sc xt d. i. 'alles aber,
was nützlich ist, ist es für etwas;’ denn diese abgekürzte Aus
drucksweise für das vollständige, hier auch graphisch nicht
schwierigere aber unnöthige zav Ss xb yp-zjatp-ov sc xt ypvjoipiv eoxtv
hat sowohl sonst bei Aristoteles als in der Politik 3, 9. 1280 a 16
ezsl xb Sty.atov xtotv d. i. oixatev xtotv oty.atov lottv eine Analogie,
und kaum braucht noch daran erinnert zu werden, wie diese
Bestimmung des yptjotp.ov der nachher folgenden Entschuldigung
st oet y.at xoixotc sztAsvstv xb ypifatp.ov zu ebenso erwünschter wie
genügender Unterlage dient. So ergibt sich denn für die ganze
Periode nunmehr folgende Fassung:
ftoTtsp opYavov xe zäv 3s xb Xpvfctp.ov sc
xa p.sv vap sy.xoc syst zepac
xf fi)V xvjv uzepßoXvjv y) ßXa-
xxetv äva-f/.alsv v; p,v)0bv coe/.oc stvat abxöv xotc syouotv,
30
V alilen
iu^vjv ?y.a<j"cv dyaGüv, oau zsp otv u-spßdXXv), tocoli-u päXXov ypvfcipov
stvat, ei oeT y.at toütoic stuXsysiv pw) p.övov to xaXov aXXa y.at x'o
Xp^CljAOV.
Auch an dem folgenden Satz
oX(>)? te ovjXov üp axoXou0Eiv ©rjcjop.sv r))V SidGsciv tyjv äpt-
oty)v Exaarou ~pc/.'(p.ci.xoi Tupbc aXXvjX« xaxa tvjv urcepo^v,
15 f] ~sp Stsuramv uv <pap.sv auxac sivai oiaOEcrEtc TOtaüta?
können wir nicht vorüber ohne eine grammatisch - kritische
Auseinandersetzung. Die hier nach Bernays’ Verbesserung
mitgetheilten Worte sind in den Handschriften so geschrieben:
dy.oXouOsTv oifcop.sv r/jv StaGsciv ty]v dpt'omjv exdcrtou Tipd'fp.a.xoc ixpo?
dXXvjXa y.axd ty)V ü-epoyvjv, yjvTtep si'Xvjffis otdaracjiv uv cpapsv au-a? stvat
otaOsasii; xaöxac. Schneider, dem Coray sich angeschlossen,
meinte durch eine gewaltsame Umstellung Licht in das Chaos
zu bringen: exocotou lipd-fp.a-ros y.axa tyjv Stdaraatv, fjvxcep stXvjyE Trpoc
dXXyjXa rp ÜTCEpoyrj, üv tpaptev y.xX. Andere Kritiker versuchten es
mit gelinderen Mitteln. So bietet Spengel mehreres zur Aus
wahl in folgender nicht eben durch Klarheit und Bestimmtheit
sich auszeichnenden Anmerkung seiner aristotelischen Studien
3, S. 30: 'otaxxxctv explicandi causa ad öüspoyriv additum videtur •
transpositum certe invenit vet. int. secundum excessum distan-
tia quam quidem sortita est quarum sic cod. an fuit y.axä
tvjv üitepoyijs StdtjTaatv yjvüsp EiXvjysv uv ? vulgatum pro utcepoyvjv
oiaaTotcsuc ex usu autoris explicari non licet.' Und ähnlich
Madvig Advers. crit. 1, 468: sententiam perspexit Schneiderus
viditque subiectum verbi eiXvjfs esse in uv, sed nimis licenter
verba mutamt. Aut tollendvm oidciactv, sit: y.axx -rijv Ü7cspoyv;v,
rp-Ep EtXqcpEV, uv oap.EV -/.tX., aut interponendum y.at: xaxd xrp ii-ep-
oyvjv, f/V-Ep stX^ä/E, y.at otdc-aatv, uv cpap.sv y.xX. Bernays äussert
sich umständlicher, als er in solchen kritischen Fragen zu thun
liebt: 'in otdcr-actv eiXv)®s der Bekker’schen Handschriften ist die
Verbindung otacxaciv Xapßdvsiv sprachlich verdächtig; Sidcrcamv
eiXti/e, welches Lambin aus einem vetus codex entnimmt, ist
für die hiesige logische Formel eben so unerträglich feierlich
wie im Deutschen “es ist ihnen ein Abstand beschieden wor
den” sein würde. Wie Aristoteles in solchen Fällen schreibt,
zeigen folgende Stellen: Polit. 1,5. p. 1254 b 16 ocot p.sv cuv
ToaouTov SiecTT&iv ccrov 4uyy; güjjixtoc; 1, 8. p. 1256 a 28; Eth.
lieber ein Capitel aus Aristoteles 1 Politik.
31
N. 5, 15. p. 1138 b 8. So hatte denn Aristoteles auch hier
Sieaxaciv geschrieben; und als dieses Verbum zu dem Substantiv
Siaaxaciv verderbt oder verlesen worden, schaffte man für die
Rection des Accusativs Rath durch Hinzufügung eines belie
bigen Verbums. Kaum braucht noch ausdrücklich bemerkt zu
werden, dass hier, wo es sich um den Abstand mehrerer
Dinge von einander handelt, der Plural 8teax«riv logisch unum
gänglich, und der Singular c”Xr ( ys oder eüXvj^e der Vulgata nicht
einmal durch die Möglichkeit, aus 5>v ein neutrales Substantiv
im Plural zu entnehmen, geschützt ist.’ Nur Güttling hat sich
mit der Vulgata abgefunden, indem er eine Construction an
nimmt, die mir in einigem unklar geblieben, in dem aber, was
ich davon begriffen, unrichtig und unmöglich zu sein scheint:
oXw? Ss ovjXov, w? öb'.oXouGsTv <pvjaog,ev toI; xpdyp. acrt xyjv StdOsatv
Tvjv äp(axijv sy.dcxou Ttpdyp.axo; -poadXXyjXa y.axd xijv öxepox$]v, vjvxep
exasiov zpccyp-a Sidaxacuv el'Xyjys xwv rcpay;j.dxwv, Sv doxa? xauxa«; O'.a-
Oecret? .dvai <pap.sv.
Ich habe es zweckmässig gefunden, die Kritiker vollstän
dig ausreden zu lassen, damit man die Art und Stärke der
Gründe, die hier in’s Feld geführt worden, ebenso wie die ein
geschlagenen Wege leicht übersehe. Um wo möglich Klarheit
in diese allmählich immer mehr verwickelte Frage zu bringen,
wird es gerathen sein, einige Punkte abgesondert zu be
sprechen.
1) In den Worten sy.d<7xou icpdyptaxo? rcp'oc aXXvjXa y.axa xyjv
ÜTtepoyyp ist xp'oc aXXvjXa (wofür Victorius nutzlos xp'o? aXX^Xa;
mit Bezug auf SiaOsai? wollte) in Verbindung mit Exdcrxou icpdy-
[j.axoq nach den in der Zeitschr. f. d. öst. Gymnasien 1872 S. 534 1
zusammengestellten Belegen ohne Anstoss, und Schneider’s Um
stellung, die ja darauf ausging, für xrp'sc d'XXy]Xa einen Plural zu
gewinnen, ist in dieser Rücksicht wenigstens der Anlass ent
zogen; doch erkannte Schneider richtig, dass von ~pbc aXXvjXa
der Begriff mspoyr; nicht zu trennen ist, und er hätte wohl auch
1 Die dort citirteu Beispiele für szaaroc, sxatepos in Verbindung mit aXX^r
Xwv sind ausser dem hiesigen Poet. 23, 1459 a 24 wv iV.aarov &>$ sxu^ev
'{/EL 7iCOc aXXrjXa, Plato Pliaedo 97 a ots Ixatepov auttov y/oplg aXXijXwv vjv,
Aescliines 1, 137 oaov ixaxspov toutcov <xk aXX^Xcov Bi&rojxs, wonach auch
Aristophanes Lysistrata 49 u-r^va avopwv hz ) aXX^Xotaiv oupsaOai oopu gegen
Meineke’s [xr^eva? in Schutz genommen wird.
32
V a h 1 o n
in der Umstellung y.xxd xtjv fespcyvy/ beibehalten, wenn er nicht
ein zweimaliges xaxa hätte vermeiden wollen.
2) Der Anstoss an Stdcrxatnv stXv;<ps ist Bernays eigenthüm-
lich: er schreibt 'die Verbindung Stdoxatriv Xap.ßdvstv ist sprach
lich verdächtig’ nicht ohne Grund, denn wenn er stXT^svat Std-
oraaiv geschrieben hätte, so weiss ich nicht, ob ihm nicht die
Verdächtigung in der Feder stecken geblieben wäre. Denn
einem solchen Kenner des Griechischen ist ja nicht unbekannt,
dass stXyjlpEvai mit einem Accusativ nicht selten statt eines ein
fachen Verbums und £tXv)®evat selbst nicht verschieden von
1/stv gebraucht wird, wie Plato Timaeus 65 a oca os x,axd apu-
y.pov xd; axo^wp-jast; sauxöv y.at y.svtfjtjsic si'Xtjps, xd; Ss TrXvjpo'wsic
aOpöac y.at y.axd ^eydAa der Zusammenhang zeigt, dass siXv)cpsvai
■/.svwcsi;, siXv^svat TcXYjptba-Eiq mit y.svoüaöat, xXvjpoOcOat gleichbedeu
tend steht, Philebus 12 c scrxt yap (vjSovvj) ay.oustv ptev ouxw; aTiXw;
sv xi, p.opcpd; Ss Strptou xavxot'a; stXv;<ps y.at xtva xpoxov avoptot'ou; aXXvjXat;
der Ausdruck p.jptpd; ixavxot'a; siX^sevat, den Schleiermacher nicht
gut wiedergibt, mit dem eben vorangegangenen towu'Xov scxt'
synonym ist, und ähnlich Sophistes 245 c ytopi; iSiav sy.axspou
püxtv siXujtpoxo; 'wenn jedes seine besondere Natur hat’, 245 e
xrcspdvxouc: dxropGq s/acrsov stXvjsb; ©avslxat, Politicus 289 b xd es
xxspt lwwv y.xijaiv . . -q Ttpöxspov ÄYS&ioxpo^iviv] Siap,sptGÖetca £xdvxa siXy;-
ouTa avaepatvsxat, 302 a Std xijv xöv y.ußspvv;xwv xai vauxwv [ac/Oy;-
ptav xwv itepl xd ^.syto-xa jAeytax^v ayvotav siXvjipoxtdV, o'i xxepi xd xcoXt-
xr/.d y.ax’ oüSsv Ytvvd)xy.ovx£p f/Yoüvxat y.axd itdvxa aapsxxaxa xractöv sst-
erxr ( [j.öv xaöxijv siXr^svat, Leges 1, 632 d Sicyj xd§iv xtva stXv)<p6xd
otdcYjXd eext d. i. xsxaYP-sva, 5, 735 a teyupbv xs ydp xat xtva ßsßato-
xvjxa ev xot; xpixroi; siX7)a>ö;, xb Ss p.aXay.wxspov y.at sirtsty.sta xtvt
oty.ala ypwp.svov, sowie analog dvSpfa; p.sxstX^saatv d. i. p.sxsyouctv
(Politik 8, 4. 1338 b 24), und -sptstXv^svat siSyj, p.sp-q (Politik
1-, 8. 1256 a 16; 1, 11. 1258 b 32). War demnach Stdoxa-
civ Xap.ßdvstv d. i. 'einen Abstand bekommen’, wie aüijrjatv
Xaptßdvstv d. i. abijdvscGat, xsXo; Xap.ßavstv d. i. xsXstooaflat und
viel ähnliches, hier durch die Natur der Sache, nicht durch
die Sprache, ausgeschlossen, stXvjcpsvat Sidcrxactv konnte von dem
gegebenen Abstand der Dinge so richtig gesagt werden, wie
Stdoxaatv systv de anima 3, 9. 432 a 28 gesagt ist: y.axd ydp xd;
Stxoopd; St’ ä; xaüxa ywpt^ouat, y.at aXXa ipavstxat p.opta p.st^o) otaxxactv
syovxa xoöxwv, und siXyjce ctdxxaxtv ist so unverfänglich wie Stsaxvjzs
Ue"ber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
33
zat Staoepst bei Aeschines 1, 137 und Ste<rer]y.s, otsaxä'at in den von
Bernays citirten und anderen analogen Stellen des Aristoteles.
Ob aber Aristoteles stXiqoe oder lieber aXrj/ä otckxocciv ge
schrieben habe, ist eine Frage, die rein nach dem Gewicht
der Zeugen entschieden werden muss. Denn Bernays thut auch
darin Unrecht, dass er letzteres, das im griechischen Gebrauch
ganz und gar keinen feierlichen Anstrich hat, um es unpassend
erscheinen zu lassen, durch 'es ist ein Abstand beschieden’
verdeutscht. Denn man vergleiche doch z. B. Philebus 49 c
xyvoia yxp rj piv xwv io/upwv iyßpd. xs v.al xh/pä' . . ’q 3’ äcröevi]?
fjpftv xr,v xöv “feXotuv eIXrp/ß xäijtv xe y.ai ipuciv, worin sowohl aus
dem hiesigen Gegensatz als aus der späteren Wiederaufnahme
des Gedankens die Wendung xv)v xwv 'ysXolwv etXrpye xct^tv xs y.x t
fflütjtv als Pai’aphrase für das einfache yeXoia eoxtv sich kund
gibt, Politicus 288 e coa ei? xb owp.a ijuYy.axap.'.yvüp.sva eaoxtöv
p.epeci pipVj awp.xxc? et? xb ÖepaTteucat xtv« oüvap.tv stXr^e, Timaeus
38 d xv)v evavxtav stXrjjröxa? auxw S6vap.iv. Wer diese Beispiele für
das eine und das andere Verbum durchmustert, wird einräumen,
dass über ei'X^tpe oder e’iXr^e zu streiten sich nicht lohnt und
das eine in das andere abznändern, wenn nicht die Hand
schriften es gebieten, vom Ueberfluss ist, hier wie an anderen
Stellen, z. B. Philebus 37 b, an denen man dieselbe Aenderung
nöthig befunden. Dass aber der Singular dXrfta oder etXrj/e
unbrauchbar und der Plural des Verbi geboten sei, wird dann
zu glauben sein, wenn Bernays darüber belehrt, warum Aristo
teles xpaywot'a? clor] Etat xecraapa' xoaaüxa y.ai xä p.spyj sXe/ör],
uXctova p.opta xoj Srjp,so y.ai xrj? öXiyapy_ta? eiotv, aber soxt y.ai
Srjpoy.paxta? stSvj xtXetio und Statpetoöw t.ogx storp saxt xbv aptÖp.ov
oy.xu geschrieben hat. Denn bestimmter kann doch der Begriff
der Mehrheit nicht in’s Bewusstsein fallen, als wenn er zahl-
massig ausgedrückt ist.
3) Den Hauptanstoss nehmen die Kritiker an dem dop
pelten Nomen ü-spoyry; und otaexaetv. Denn da sie äy.cXouOstv y.axä
xr;v ürtepcr/fii 'dem Ueberschwang entsprechen’ (nach Analogie
von Polit. 7, 14. 1332 b 15 ä'/.sXouüstV Se^ost y.ai xrjv rratSetav y.axä
xrjv otatpsatv xaüxrjv, Nik. Eth. 2, 1 1103 b 23 y.axä -j-äp xä? xoixwv
ctaoopä? äy.oXouOouotv at best?) verbinden, so war ein zweites Nomen
vom Ueberfluss und es genügte vpnrsp stXrjos (d'Xrjys) uv y.xX.
Daher sie denn otäcrxaotv tilgen als Glosse zu örxspo/rjv oder beide
Sitzt, li. phil.-hist. 01. LXX1I. Ed. I. Hft. 3
34
Valilen
als Synonyma mit einander verbinden y.o.-y. Trjv üxspoy^v, fjvirep
sl'Avjtps, y.a't ototcxacw oder zur Bezeichnung' Eines Begriffs von
einander abhängig machen (üxspoyvjq Stäavamv). Auf dasselbe
Ziel ging auch Schneider’s Umstellung. Aber um von letz
terer zu schweigen, dass Sidavaciv Glosse zu üxepoy^v sei, man
weiss nicht zu welchem Zweck boigeschrieben, oder mit
letzterem als Synonymum zu verbinden, zumal bei jener
Wortstellung, oder gar tvjv uxspoyvjc oGctkcuv zu schreiben sei,
das sind alles wenig ansprechende Einfälle, die kaum mehr
als die Bathlosigkeit der Kritiker bekunden. Auch Bernays
entledigte sich mit seiner Conjectur jjxsp 3leatamv des einen
Nomens Siaaraatv, doch ist nicht klar, wie er die Construction
gefasst wissen will; denn wenn er übersetzt: 'Ferner dürfen
wir es ja als allgemeinen Satz aussprechen, dass die ver
gleichsweise Vorzüglichkeit der besten Beschaffenheit
einer jeden Sache bemessen wird nach dem Abstand zwischen
den Sachen selbst,’ so macht er offenbar zava tyjv Oxspoyvjv nicht
abhängig von ay.öXcuOsiv, und nun sieht man nicht recht, wel
ches Nomen zu jjxep otecrtäctv gedacht sei, ausser etwa noch
einmal üxepoy-i;. Ja genau betrachtet, setzt die Uebersetzung
vielmehr zwei Nomina voraus, uxepoyjv und otdc-actv: und in der
That, was kann einfacher sein? Einander entsprechen sollen
ja die üxepsyj der besten Beschaffenheit zweier Dinge im Vei 1 -
hältniss zu einander und die otdvtactc der Dinge selbst. Und
da uns nun zwei Nomina dargeboten werden, wollen wir uns
des einen berauben, um den Gedanken hinkend zu machen?
Denn ziehen wir mit Beseitigung oder Aenderung von SidaTcratv
die Worte y.<rra tyjv üxepoyijv, abhängig von ay.oXou9eiv, zu dem
relativen fjvxep eYXvjfs (oder vjxsp Sisavautv), so lässt uns die erste
Hälfte des Satzes ty)v SidOsatv tv)v aptVnqv exdorou xpaygavoc xpop
aX7.v)Xa leicht etwas vermissen, hebt man dagegen y.a-ä ty)v üxspo-
yrpt aus der Abhängigkeit von ay.oXiuBsTv heraus und verbindet
es mit dem ersten Theil des Satzes 'die beste Beschaffenheit
zweier Dinge in dem Ueberschwang des einen über das
andere,’ so bedürfen wir zir dem Relativsatz ijvxsp eiX-qce eines
Nomens, wie es zweckmässiger als in o'Äa-ac'.c nicht wohl
gefunden werden konnte. Und dass nun dieses Nomen in
dieser Wortstellung ijvxep siX^os Siäcxaciv dem Relativsatz einver
leibt worden, ist ein Indicium mehr für die Integrität und
Ueber ein Capitel aus Aristoteles' Politik.
35
Ursprünglichkeit dieses Satzes; denn diese Formation relativi-
scher Sätze, wie sie überhaupt griechischem Gebrauche vor
züglich eignet, ist auch dem Aristoteles nicht fremd, wie fol
gende blos der Politik entlehnte Beispiele zeigen:
1, 8. 1256 b 28 8 oe? y;xoi üxdp-/Eiv •); xopt^Eiv auxrjv cxw? (natpyr) wv
£<m (hjcauptapÄs ypY)|.wcx(ov d. i. fpxpyv) x& yp^p-axa wv ecxi
0y)aaupnj|j,6<;.
4, 4. 1290 b 28 olov cxöp.a xa'i y.oiXtav, xpb? ol xoixoi? cic y.'.vslxai
[j.opioii; gy.aaxov auxwv d. i. xd p.opta of? xiveixau
4, 5. 1292 b 8 wtrxgp -fj xupavvic ev xal? p.ovapyfaic y,at xspt yjp xeXeu-
xaia? sixap.EV or]p.cy.pxx(a? ev x«T? §v;p,oxpaxi'at<;.
4, 12. 1296 b 20 evSfiyExat 81 xb p.EV XOIOV Ö~dpy£lV EXEpW [J.spsi V?
xöXswc, si; wv cruvEXXYjy.ö p.Epwv r t xcXic, aXXw Sg pipgi x'o xocriv,
dessen Analogie wohl'auch 7, 2. 1324 a 24 dvayy.akv elvai
-oAiXctav ÄpfoTYjV xaüxvjv y.aO’ yjv xdciv y.dv ocxiaouv apwxa zpdxxo'.
gegen Spengel’s (Arist. Stud. 3, S. 31) Verdächtigung von
xaijiv zu schützen geeignet ist.
Nun hätte freilich an unserer Stelle die Deutlichkeit ein
wenig gewonnen, wenn die Abhängigkeit dieses relativen Satzes
von ay.oXouOetv durch die Formation caoXouÖsTv fjxep eiX^ips diamdcei
wv y.xX. (denn, was auch möglich war, dy.oXcuOstv y.aG’ fjvxsp eiXyjse
Staxxac.v, war wegen y.axä xyjv CntEpoy/jv minder angemessen) aus-
gedrückt, worden wäre, nach Analogie von y.paxEtv o’ fj eTxov lyw
vuv xpayp.axsia oioouc, oder p.E0E<jxr)y’ wv -pöxspov Eiygv xpöxwv, oder
apyovxa? axsixa^wv ot? apxi gXeyop.sv vaüxaic u. a. Und so wie
dies in der That die einzige Aenderung ist, deren es im
schlimmsten Falle bedürfen würde, so möchte wohl bei dieser
Fassung kaum jemand an dem Satze überhaupt Anstoss ge
nommen haben. Dass jedoch diese Assimilirung des Relativ
satzes nicht notwendig erfordert war, davon überzeugt leicht
folgender in mehreren! Betracht eigentümlich geformte Satz
aus Plato’s Politeia 3, 400 d euXojife apa y.ai Euapp.oax(a xal eöoj£ir ( -
p.ocuv?) y.ai gupuGpia guvjOeta äxoXouQei, ouy yjv avoiav ofcyav uxoy.opi£äp.evoi
•/.aXoup.sv wc guvjOEiav, aXXa xi)v wc äXy]0ök s3 xe y.ai y.aXwc xb •00°;
xaxEcx£uaap.£VY)v SioEvoiav, wo ja nach dem vorangegangenen £uy)0s(d
die Fortsetzung der Relativconstruction im Dativ nur zu nahe
lag, statt dessen nicht blos hier der vom Relativsatz selbst
geforderte Accusativ eingetreten ist, sondern auch das weitere
in demselben Casus sich angeschlossen hat. Ueberdies ist zu
3*
36
V ahlen
beachten, dass die Stellung' von azoXouOelv jener strengeren Ab
hängigkeit des Relativsatzes nicht eben günstig war und Ari
stoteles auch sonst eine freiere Anknüpfung der Relativsätze
sich gestattet, wie 7, 2. 1324 b 13 ev Kap/rjoöv. <paai tov sz iC'r/
zpi'zwv xocp.ov Xap.ßävsiv oca? av cxpayeuaamat axpaTSi'ac, wo man ver
geblich durch sx toco'jtwv y.pi'y.wv genauere Entsprechung zu ge
winnen trachtet, und in unserem Capitel selbst 1323 b 34 xoAewc
StzatoaivY) za! ^pivYjau: xyjv auxfyv sys: S6vap,iv za! p.oppijv, wv p.exacr/uv
szasrcs xwv dvOpdmov Xeysxai ot'zato; za! ^povtp.s?.
Man hat daher die diortliotische Kunst ohne Notli bei die
sem Satz bemüht, dessen Sinn aus den griechischen Worten,
wie sie stehen, klar und deutlich hervorgeht, und den ich so
wiedergeben zu können glaube: 'im Allgemeinen worden wir
behaupten, dass die besten Beschaffenheiten zweier Dinge in
dem Uebergewicht des einen über das andere sich darnach
richten, welchen Abstand die Dinge von einander haben, von
denen wir sagen, dass eben dieses Beschaffenheiten sind’ (oder
besser 'eben dieses Beschaffenheiten nennen’). Denn selbst
die von Bernays noch vorgenommene Aenderung xoiauxac statt
xaüxa; wage ich nicht mit Zuversicht mir anzueignen, sondern
meine, dass auch hier ein Exempel zu erkennen sei des beiden
classischen Sprachen gemeinsamen Gebrauchs 'für das in einem
demonstrativen oder relativen Pronomen enthaltene Subject
Geschlecht und Zahl aus dem Praedicat zu entlehnen’ (Bekker
Monatsber. 1864, S. 189), und unser deutsches 'eben dieses
Beschaffenheiten nennen’ griechisch nicht aiixd xaOxa sondern
aüxd? xaüxae ctaÜEctc eivai lauten musste, wie z. B. Philebus
57 e xaüxa; ouv Xeyop.sv axptßsiq (iiXwr’ sTvai, das Schleiei'-
macher nicht gut übersetzt.
Von diesem allgemeinen Satze macht Aristoteles sofort
Anwendung auf das Verhältnis von Seele und Körper, und
fügt gleich noch einen weitern analogen Grund an:
om’ slixep eotlv r, <4 IU X'0 * at zt^xsojc za! xou
cwp-axo; xip.Kioxspov za! dzX<3; za! Yjp.iv, ävayzy] za! xyjv
SiäOec.v xijv apwiYjv exaexou ävecXofOv xcüxwv ej(etv. sxi Ss
x% <Vj)dj; £vsz£v xaüxa rcefpuzev alpsxa za! oel Txavxa;
atpetcOat tou;; eu <ppovoövxa<;, aXX’ ouz ezstvwv Evezsv xyjv 4u-
20
Ueber ein Capitel aus Aristoteles' Politik.
37
Dieser Beweisgrund, dass, wenn die Seele mehr werth
ist als der Körper und äussere Güter, auch die besten Be
schaffenheiten derselben in demselben Verhältniss zu ein
ander stehen müssen, und der andere, dass das, um dessen
willen man anderes erstrebe, werthvoller sei, als das, wonach
man zum Zwecke jenes trachte, Argumente, die beide unter
den Mitteln logischer Beweisführung in der Topik nicht fehlen,
117 b 33 si akXw? touto toutou ßsXxiov, vtal t'o ßeXwrov tojv sv toutö
ßsXxiov tgü sv tw erepo) ßskTiTTOU, und 116 a 29 TO oi’ aCiro alpsTÖv
toj oi’ STspov aipsTOu aipeTWTspov, sind für Bernays, der ihre Fund
orte in der Topik 1 nachgewiesen, neue schlagende Indicien
der Entlehnung dieses Capitels aus dem Dialog. Denn 'in den
dialogischen Schriften sollte auf das grössere Publicum gewirkt
werden, das, wie vorsichtig man es auch mit logischen Kunst
ausdrücken verschonen muss, im Grunde doch für nichts ein
so offenes Verständniss besitzt, wie für allgemeine Logik und
nichts so sehr vermissen lässt wie den wissenschaftlichen Tact,
welcher für jedes einzelne Gebiet der Forschung gleichsam
eine besondere Logik fordert und schafft. Nothwendig- musste
daher die Behandlung in den Dialogen eine abstractere und
allgemein dialektische werden; und diese Haltung der Dialoge
ist es, welche sich in unserem Capitel der Politik wieder
spiegelt.’ lieber das Wohlgefallen des 'grösseren Publicums’
an abstracter Logik will ich nicht streiten, wiewohl Aristoteles
meinte toc y.oiva y.ai xccOoaou seien iv toTc, 5/Aoi? minder wirksam
(Rhetor. 2, 22. 1395 b 30), und auch das nicht betonen, dass
zwischen einem philosophischen Dialog und einer Volksrede
einiger Unterschied sein musste; wichtiger ist, dass, wenn wirk
lich Aristoteles’ Dialoge 'den Forderungen der Philosophie ge
nügten (S. 73)’, die in ihnen angewendeten Beweismittel keine
1 Wobei übrigens zu beachten, dass der zweite TÖ7io; mit dem in unserem
Capitel angewendeten zwar verwandt aber nicht ganz identisch ist, und
statt des ersteren vielleicht mit mehr Fug der genauer stimmende 118 b 5
eti ou 7) uuEpßoXi) Tu“spßo).7]i; aipETuTEpa, xal auA atpETioTSpov citirt
werden dürfte, der zugleich mit der in der Politik angewendeten gleich
berechtigten Umkehr Rhetor. 1, 7. 1364 a 37 xai uv 7) uTcepo/rj atpETUTEpa
5^ y.aXKiw'1 . . xai SfexEipivio? 07) twv ßEkuwvwv a\ Ü7tEpßoXai ßEVciou; xal
xaXkioviov xakAJou; wiederkehrt. Doch macht dies für obige Frage keinen
wesentlichen Unterschied.
38
V a h 1 e n
Scheinbeweise sein durften, ftiit denen man Ueberredung beim
grossen Publicum aber nicht wissenschaftliche Ueberzeugung
erzielen kann, oder wenn wirklich, was doch nur eine durch
keine Thatsache erhärtete allgemeine Annahme ist, die Dialoge
von solcher Beschaffenheit waren, so darf man sich billig
wundern, dass Aristoteles ihnen hier zur Begründung der wün-
schenswerthesten Lebenslage, die der Ausführung über die beste
Staatsverfassung zur Einleitung dienen soll, Argumente ent
lehnte, von denen er selbst am klarsten erkannt hatte, dass sie
Angesichts des 'grösseren Publicums’ vielleicht einigen Werth
beanspruchen konnten, für eine wissenschaftliche Darlegung
aber unbrauchbar seien. Und was nun insbesondere das Argu
ment betrifft, dass 'das an sich Wünschensworthe vorzüglicher
sei als das nur um eines Andern willen Wünschenswerthe’, so
möchte doch die Beobachtung, dass mit demselben Argument
z. B. auch in der Ethik 1, 5 1 operirt wird, darüber zweifel
haft machen, dass unser Capitel einen von der 'Methode der
Ethik’ erheblich abstechenden, nur populären Schriften eignen
den 'wissenschaftlichen Charakter’ an sich trage.
Aristoteles schliesst seine Deduction der grösseren Wich
tigkeit geistiger Güter für die Glückseligkeit ab, indem er
zugleich seiner Gewohnheit gemäss noch ein und das andere
Argument wie nachträglich anschliesst:
'ov. [jlv oüv S7.äcxu vqc, e’uSaip.ovta; iinßäXXst totoütov
oaov Trep dpstiji; xat <ppovv5<js(os y.ai tou upd-ctstv xaxa ra6-
i«s, 2 £cto) auvwp.o'Xo-pjp.svov v)(Av, jj.apTUpt tw Oew ^pwp.e-
1 1097 a 28 xb 8’ aptaxov xe'Xeiov ti cpa(v£xat. oSax’ ei (jev saxtv sv xt p.dvov
X^XstOV, xoux’ av £*17) xb £7jX0U[J.SV0V, El 0£ 7cXs(a), xo xsXEioxaxov XOUXOüV. xeXei-
oxepov 8s X^yop.sv xb xaO’ auxo ouoxxov xoü 8t’ sxepov xat xb
[X7]8^7uox£ 8 i’ aXXo aipExov xwv xat xaO’ aüxa xat 8ta xoüö’ alps-
xwv, xat a"Xio? 8^ xe'Xeiov xb xaO 1 auxo aipsxov a£t xat [j.7]8s~ox£ 8t’ aXXo.
xotoüxov 8 1 f\ su8at[j.ov(a [j-aXtax’ Etvat Soxst*.
2 Bernays schreibt wohl nur irrthiimlicli xax’ auxa?. Die auch für die hie
sige Stelle bezeichnende Verbindung der Tugend (d. h. der tugendhaften
Qualität) und des tugendgemässen Handelns (oder was dasselbe ist, der
tugendgemässen svs'pyEta) begegnet sowohl sonst als Nik. Eth. 10,2. 1173 a 15
X^youat 8e xb p.sv ayaOov wptaOat, X7)v 8’ 7]8ov7)V abptaxov slvat, oxt Ss'^Exat xb
p.aXXov xat xb f^xxov. st jilv oüv ex xoü 7j8Ea0at xoüxo xp(vou<jt, xat 7cspt X7jv
8txatoaüv7]v xat xa? aXXa? apsxa?, xaO’ a? svapyto? cpaa't (xaXXov xat fjxxov xou?
~otoü? UTtapystv xat (rcpaxxstv) xaxa xa? apsxa?, saxat xb auxo- 8(xatot yap Etat
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
39
votc, Sc siiSaip.orv piv exxi '/.cd [imv.pio?, St ? oi)0ev Se xwv
25 eijwxspiy.wv ayaflwv aXXa Si’ aüxov auxb; y.at tu tcoio? xi?
slvat xr,v <püatv, ixet y.at xvjv suxu^lav xrj? euSaip,ovfa; ota
xaux’ ävayxatcv sxepav sivar xwv p.sv yap ey.xop ayaöwv
T7)<; tyoyjjq alxtov xauxöpaxov y.at •q vjyjq, Gty.atoc ob oubetc
ouBs owcppwv axb xii/Yjc ouoe ota xvjv xüyyjv etrnv.
Mit grosser Beredsamkeit sucht Bernays in ausführlicher
Darlegung zu erweisen, dass die hiesige Berufung auf die gött
liche Eudaemonie nur unter der Voraussetzung des dialogischen
Ursprungs unseres Capitels begreiflich werde: ‘Endlich muss
noch beachtet werden, wie sehr die hiesige Anrufung Gottes
als Zeugen der sonstigen Behutsamkeit des Aristoteles im Ver
wenden religiöser Vorstellungen zu wissenschaftlichen Zwecken
entgegensteht. Der wissenschaftliche Aristoteles wandelt im
Licht der Natur, die er erforscht hat; und weil er dieses Licht
nicht schwächen lassen will durch den trüben Schein des
mythologischen Wahnglaubens, hat er seine Philosophie mit
der kältesten Gleichgiltigkeit gegen die hellenischen Götter
gewappnet; und seinem eigenen philosophisch erkannten Gott
hat er zwar einen prächtigen Tempel errichtet in dem Theil
seines Systems, den er Theologie nannte und wir jetzt Meta
physik nennen, aber seine Theologie durchdringt seine Philo
sophie so wenig wie sein Gott die Welt durchdringt. Höchst
selten sind ausserhalb der Metaphysik die Anknüpfungen selbst
an die reineren Vorstellungen vom göttlichen Wesen, denen
der Philosoph beistimmen muss, und nirgends wird man sie,
so wie es hier geschieht, zur Entscheidung von Fragen über
menschliche Dinge herbeigezogen linden. — — Für die popu
lären Zwecke und bei der dialektischen Haltung der Dialoge
war eine Verknüpfung des Menschlichen mit dem Himmlischen,
eine weihevolle, aus gehobener Stimmung des Spre
chenden entspringende und die Stimmung des Zuhörers
steigernde Anrufung göttlichen Zeugnisses auch dann
schon wirksam’ u. s. w. Schade, dass wir dieses kunstreiche
Gewebe, aus dem wir hier nur ein paar Perlen herausgehoben
[j.oXXov xou avBpefoi, g<m Bk xat BixaiOTrpaysTv xai aaxppovstv (xaXXov xai rjrcov.
Denn so, denke « ich, ist nach Anleitung der Exemplification zir schreiben.
40
V a h 1 e n
haben, und bei dem man gern in bewundernder Betrachtung
verweilt, aufzutrennen uns genöthigt sehen, aber ap.<poTv ovtotv
tpiXotv ocnov TupoTqj.av ty)v aXijGeiav.
1) Vor allem nimmt Bernays den Ausdruck ij.ocpwpi xw
0£w. xpOp.svoi schon in der Uebersetzung 'können dafür Gott
zum Zeugen nehmen’ und wiederholt später, indem er von
einer 'Anrufung Gottes als Zeugen’ oder ähnlich redet, viel zu
feierlich, denn der hiesige Ausdruck hat nichts zu thun mit
Wendungen, wie z. B. Osoup xouc öpziouc rj.apxupa? TOto6|j,evoi bei.
Thucydides. (1, 78, 4. 2, 71, 4), sondern hat sein Analogon an
Cicero de finibus 2, 33, 109 voluptatem bestiis concedamus, qui-
bus vos de summo bono testibus uti soletis, und dieser persön
liche Gebrauch von p.apxups? ist dem Griechischen wie dem
Lateinischen geläufig (z. B. bei Plato Phileb. 67 b xolic Gvjptwv
fptota; dlo'/vx'. y.opiou? siva 1 . y.xpvjpaq p.aAAov f) tou? zta. Thucydides
1, 73, 2 wv ay.oat gä'AAov Aoywv [AapTUpe? •)) odn? twv dzouaop.svwv) und
nichts anders sagt also Aristoteles als 'indem wir Gottes Eudae-
monie zum Beweise nehmen,’ oder 'auf Gottes Eudaemonie uns
berufen.’
2) Wenn es wahr ist, dass das 'abgelockte Zeugniss’
(womit nämlich Gottes Wesen für das menschliche zeugen soll)
'den eigentlichen Fragepunkt so wenig trifft, dass kein Nach
denkender ihm Gewicht beilegen wird (S. 82)’, so ist dem
Aristoteles der arge Vorwurf der Gedankenlosigkeit nicht zu
ersparen, womit er dieses Argument aus dem Dialog in die
hiesige Darlegung herübernahm; denn wenn, wie später (S. 84)
eingeräumt wird, 'diese Anrufung göttlichen Zeugnisses wenig
stens nach Einer Seite traf,’ und 'die damit verknüpfte einsei
tige Verherrlichung der geistigen Güter im Dialog durch andere
an andere Unterredner übertragene Erörterungen über das Recht
der. irdischen Natur des Menschen’ ausgeglichen war, so durfte
ja Aristoteles nicht übersehen, dass hier ausserhalb des Dialogs
die berichtigende Ergänzung der Einseitigkeit abging und
musste entweder auf die Benutzung dieses Beweisgrundes ver
zichten oder ihm eine andere Gestaltung geben.
3) Die Art und Weise, wie Politik 7, 3. 1325 b 28 für den
Satz, dass für die Glückseligkeit von Staaten wie von Ein
zelnen zwar Thätigkeit und Handeln, nicht aber nothwendig
eine nach Aussen wirkende Thätigkeit erfordert werde, auf die
Ueber ein Capitel ans Aristoteles* Politik.
41
Gottheit Bezug- genommen wird, sj/oXvj yap av 6 0sb? v/ot y.aXw?
y.ai irä? 6 zoa|j.oc, oi? oüy. öiaiv ll;wx£piy.al TipaJjst? i;apa xd? oiy.cta? xd?
abxwv, ist in keinem Betracht verschieden von der Berufung
auf die göttliche Eudaemonie in unserem Capitel, und wenn
Bernays für jene Stelle auf 'den rasch dahineilenden Ausruf,
mit welchem die in Frage kommende Seite des göttlichen
Wesens berührt wird’ verweist, so haben wir ja in breiterer
Ausführung denselben Gedanken in derselben Verwendung in
der Nikom. Ethik 10, 8. 1178b 7 f, ok xsXeia Eu8aip.ovta oxt
Öicopvjxiy.^ xi? eaxiv evkpysia, y.ai svxsvOsv av savsfvj. xsu? Osou? ydp
p.aXiaxa fe£iX-q<pap,£V p.ay.apio'j; y.ai sooatp.sva? £ivac -pd^sic Sk -oia?
a-xovsTp.ai /pswv aüxoi?; und nachdem die Unstatthaftigkeit sol
cher xpdijst? bei den Göttern in drastischer Weise dargethan
ist, schliesst Aristoteles woxe -q xoi 0£o3 kvepyeia, p.ay.apiovfjxi Biatpe-
pouaa, 0£(opYjxo«; av si'rj, y.ai xwv avOpwTiivwv oy; yj xaüxv) GuyysvsaxdxY)
iüBatp.ov.y.uxdxr, (Bernays S. 121 f.). Und ähnliche Verweisungen
auf die Gottheit und Besonderheiten des göttlichen Wesens
für die Aufhellung menschlicher Dinge begegnet man allein
in der Ethik so oft, dass Bernays’ Verwunderung hierüber in
der Tilgt verwunderlich erscheinen darf, so 7, 15. 1154 b 25
dass die yjäovj bei Menschen nicht einfach sei Sta xo p.vj airXYjv
■qp.Gr/ sivat xv)v (ft/ai-i . . . sxsi £i xou -q <puatc axXvj eI'y], asi yj abvq
~pa|i? 'qo'.tjvq laxat. oib ö Osb? äci piav y.ai dbcXijv ‘/aipsi Yjoovvpr ou
yap pivov y.'.v^aeoi? laxtv eyepyeta äXXa y.ai äy.tvryiac, 8, 9. 1158 b 35
dass bei grossem Abstand in Tugend oder Schlechtigkeit und
anderen Dingen Freundschaft nicht mehr bestehen kann:
kg^avkaxaxov ok xsüx’ kxi xwv 0=öv xXstaxöv yap oüxo'. maoi xot? äya-
0oi? {ntepe^ouatv y.xX., und sonst vielfach mehr beiläufig, jedoch
so, dass man aus der Häufigkeit solcher Rücksichtnahme diese
Gedankenrichtung als dem Aristoteles durchaus nicht fremd
artig oder in wissenschaftlicher Untersuchung vermieden deut
lich wahrnimmt.
4) Doch mehr noch als die Anrufung Gottes selbst ist
die davon gemachte Anwendung in unserer Stelle für Bernays
ein Zeugniss der Unursprünglichkeit dieses Abschnittes ge
wesen. Zu welchem Zwecke wird denn auf die göttliche
Eudaemonie verwiesen? Aristoteles zog aus der bisherigen
Erörterung den Schluss (ox: p. kv ouv sy.aaxw xy)? E’joa'.p.ovias im-
ßdXXct y.xX.), dass das Mass der Glückseligkeit des Menschen
42
Vahle»
sich richte nach dem Mass von Tugend und Einsicht, das er
besitzt, und fügt als nachträgliche Bestätigung hinzu — denn
jenes wird nicht hieraus erschlossen, sondern ist Ergebniss
aus dem Vorangegangenen — dass ja auch die Gottheit glück
selig sei nicht durch die äusseren Güter, sondern durch die
Qualität ihres Wesens. Aristoteles hatte, worauf schon früher
hingewiesen ward, die Frage nach den Bedingungen des besten
Lebens von der Seite gefasst, dass er entgegen der verbreiteten
Ansicht, welche auf die äusseren Güter den Nachdruck legt
(vgl. Politik 7, 13, 1332 a 25), die grössere Nothwendigkeit der
geistigen Güter betonte; für diesen Zweck war aber eine Hin
weisung auf das glückselige Leben der Götter nicht unan
gemessen: denn wenn ihre Glückseligkeit ohne den Besitz äus
serer Güter rein durch die Beschaffenheit des göttlichen Wesens
gegeben ist, so ist ja klar, dass Glückseligkeit überhaupt nicht
sowohl von äusseren Gütern abhängt als vielmehr auf geistiger
Qualität beruht, und demnach auch der Mensch nicht in den
äusseren Gütern allein oder vornehmlich seine Glückseligkeit
linden kann. Mit nichten ist hier eine 'Gleichstellung gött
licher und menschlicher Eudämonie! auch nur 'versucht (S. 82)’
und der Gedanke an ausschliessliches Erforderniss geistiger
Güter ist durch die ganze bisherige Betrachtung, die auf dem
Grunde des Zugeständnisses, keine der drei Arten von Gütern
sei ausgeschlossen, das Mass der inneren und äusseren gegen
einander abwog, völlig ferngehalten. Es war daher nicht wohl
gethan, den Aristoteles gewissermassen mit sich selbst in einen
Widerspruch zu bringen, der, wenn er wirklich vorhanden
wäre, wahrlich auch durch die Annahme der Entlehnung aus
dem Dialog nicht beseitigt oder entschuldigt würde.
Der andere mit dem beliebten exs: y.at angeknüpfte Grund
ist hergenommen von dem Unterschiede zwischen jütu/G und
süoaqj.ovia, indem man jene Bezeichnung nur anwendet für die
unter dem Einfluss der vjyr, stehenden Güter, welches die der
Seele nicht sind, Vorzüge der Seele aber, aus denen die Eudae-
monie resultirt, nicht eiiw^ta nennt. In diesen Worten, die
sonst keinerlei Schwierigkeit bereiten, haben die Kritiker an
-öv |j.ev -fäp habe ayaDüv 1% Bedenklichkeiten geheftet.
Bernays strich ayaGoiv, ohne es der Mühe werth zu finden,
diese Neuerung mit einem Wort zu rechtfertigen. Spengel
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
43
rodet deutlicher (Arist. Studien 3, S. 30): aut xwv p,ev ydp sy/cb:
xyj? 4u/_vji; ayaOwv aut delendum xvj<; idque praestat. Hieraus
entuimmt man, dass die Wortstellung es war, an der man an-
stiess. Denn dass ayaOwv unverdächtig, ja fast nothwendig war,
dafür zeugt, zu geschweigen, dass Aristoteles auch sonst so gut
xd sy.xbc ayaOd wie xd ey.xöc sagt, der Begriff der euxuyja, welche
Rhetorik 1, 5. 1361 b 39 so erklärt wird euxuyia. o’ eaxi'v, uiv vj
tuyj} ayaÖwv aixi'a, xaüta yiyvsaÖai y.al ÜTcdp/siv, und nicht minder
der Gegensatz der gleich beispielsweise genannten Tugenden,
den die Tilgung von «yaöwv auch in Bernays’ Uebersetzung
'bei allem ausserhalb der Seele Liegenden waltet das Ungefähr
und das Glück, gerecht jedoch kann so wenig wie massig
Jemand zufällig oder durch Glück sein’ mangelhaft erscheinen
lässt. Aber auch vqq tyjyjq? wird nicht missen wollen, wer
erwägt, dass unter die süur/gx auch Güter des Körpers fallen
(Rhetor, a. a. 0.), die durch den Ausdruck xd sy.xbc dyaOd xij?
fy-tyjqq 'die ausserhalb der Seele hegenden Güter 1 mit einge
schlossen und so der Gegensatz der geistigen in möglichster
Schärfe horausgestellt wird. Sollen wir also umstellen xwv piv
ydß sx.x'o? xr)? <ki/rjc dyaOwv? Aber worin unterscheidet sich denn
die Stellung xwv ey.xb? ayaOwv xrj? 4uy'qq von
ei? x'ov otcicGsv xoXtcov xrj? Mavxivr/.yjc Xen. Hell. 6, 5, 17.
ly. xvjc y.aOÜTUEpÖs yüpr,q ’Op.ßpr/.wv Herod. 4, 49, 3.
xyjv p.sxaiju toXiv TIpai'ac y.al Maxfexou Xen. Hell. 3, 2, 30.
xd? gexaiju tcoXic xouxwv Herod. 7, 124.
xo 01a p.saou s'Ovo? auxwv Herod. 1, 104.
xpotpvj? xvj? ev xw p.sxaqu ^ypov<p ytyvopivi)? ysvsaswq xe x.ai Tcaioei'a?
Hat. Politeia 5, 450 c.
xbv syyöxaxa jypovov dsl xvj? etaserswe Plat. Politic. 273 c.
xd Eyyöxaxa yjs>ph. xwv ccoXspiwv Xen. Cyr. 6, 1, 17.
xb defte, spyov xol? MapaOwvi Plat. Menex. 241 a.
xd Tcspi? ovxa dvopdccoBa xvjc xupaio? Xen. An. 7, 8, 12.
oder mit Adjectiven
xwv y.oivwv etSwv aTcaoi xolc Xöyosc Arist. Rhet. 1, 9. 1368 a 26;
2, 20. 1393 a 22.
st xvj Tcpoxepa rjp.Epa sysvsxo xvj? xpowrj? Arist. Polit. 5, 12.
1316 a 16.
ev xv] Tcpoxspvj vjy.xl xwv riava6r)va!wv Iderod. 5, 56-
44
V a h 1 e n
(AExd XOV ÜlTXSpOV XoXsjJ.OV XYJ? '/.ClOy IpEOSM? XWV ’AönjVYjal XSl%&'/
Xen. Hell. 5, 1, 35.
sxi xou? oiaipavsa? X(0ou? xw xup£ Herod. 4, 75; vgl. Xi'0ou?
£•/. xupo? Six^avsa? 4, 73.
sy. xoiv xpoosyewv xoXiwv xp IlaXX^vp Herod. 7, 123, 2.
sv xw -Xr ( (Tiaixaxw otcppw Ze60fl xaOvjp.svo? Xen. An. 7, 3, 29.
xpoaxoislxai xd ßeXxicxa oixfa xw cwu.axi siosvai Plat. G-org.
464 d.
y.oXoßov aveXr^v xivd y.spaxwv vop,stki Plat. Politic. 265 d.
sx’ avxtxopov Xotpov xco |j.acxü Xen. An. 4, 2, 18.
sic xbv dvxfeaXov spwxa auxw Xen. Conv. 8, 24.
xov evavxtov xuxov xoüxoi? Xsxxsov Plat. Politeia 3, 387 c.
XagßdvE'.v sv xaT? ij/uyat? svavxta? oölja? sy.sivai? ibid. 2, 377 b.
0ü;j.5eiScffxsp(j) V—7x<|) xov y.atpov Xen. r. eq. 9, 1.
Eüpijvxai xpsixxov? Xoyoi xwv vop.wv Aesch. 3, 11, wo Weid-
ner’s Kritik mir unverständlich.
|j.£xd xüv aup.!p6xwv voor,p.dx(ov ai)xo> ibid. 81, wo Schultz nicht
gut ou[j.ovtg)v auxw vorzog.
axb xöv abxwv xoXixsujAaxwv Ay];aoo0svei ibid. 79.
o xvjv avop.otov sycov E~wvu[j.;av Titj.dpyw xoüxw Aesch. 1, 25.
sic x-fjv op.oiav xaijiv v)[Av Xen. Cyr. 2, 1, 18.
oder mit Participien
xbv üxspßaXXovxa xooa x^c oupp.sxpi'a? Arist. Politic. 3, 13.
1284 b 9.
xb xa-/ w 0sv xpwxov xi'[ayjjxa xpo? xou? xapcvxa? y.aipoü? d. i. xa-/0sv
xpöxov xpo? xou? xapövxa? y.aipoü? ibid. 5, 6. 1306 b 9.
xoi? sy.xoxi'^ouai xupavvoi? äxo xij? oiy.si'a? ibid. 5, 11. 1314 b 9.
otd xd YiyvojAEva dystOd dxb xvj? xiy^c Arist. Ehet. 2,17. 1391 b 3.
xb Y£Y°vb? vöavj|Aa sv xw oxpaxsü|j,axi Plat. Theaet. 142 b.
xd? dy,oXou0oüaa? aiaOvfcsi? xp xoivjxtyp Arist. Poet. 15. 1454 b 16.
xb xapay.oXouOoov siSwXov sydaxto Plat. Soph. 266 c.
sv xaT? y,oiv«vo6crai? xöXsai xvj? sipvy/Y)? Demosth. 17, 15.
xd? ^s.'(V)r,\j.v)x: oup/popd? xp xoksi Lysias 13, 43.
xrjv xp.oaoouav aäo^fav xw xpaYp.xxi Demosth. 6, 8.
xd xapövxa xpaYp.axa xr) xöXsi Demosth. 8, 21.
xy)? xapoüur]? axopta? aüxw Aeschin. 2, 155.
xwv vxapy6vxo)v SoüXojv sauxw Demosth. 14, 32.
xwv uxapyövxiov «ya0wv sxacxw Lys. 20, 36. vgl. 25, 6.
xb xpöxspov Y ev ^P* evov XP'0 cr 0p lov s? KöptvOov Herod. 5, 92, 6.
Ueker ein Capitel aus Aristoteles 1 Politik.
45
xvjv xpouyouaav axpav axb xou xetyou? Thuc. 4, 107, 2.
x3«; xpoaYjxoiora? oyOa? exi tov xoxap-öv Xen. Anab. 4, 3, 23.
expaxouv xwv xexaY|j.evwv vswv xxpbt? auxw Thuc. 7, 70, 2.
tov peovxa xoxap.bv Sia xij? xöXew? Xen. Hell. 5, 2, 4.
xou? icvxa? aaxpaxa? exi xaüxa? x<ä? /wpa? Xen. Cyr. 8, 6, 6.
to xpwxov avayojAevov xaoTov et? xv;v 'EXAaoa Xen. Hell. 3, 4, 1.
o acpatpeGei? avvjp üxb ’Ayaaiou Xen. Anab. 6, 6, 19.
ev xoT? xexayp.evoi? ypbvoi? üxo xwv xpoyovwv Aesch. 3, 126.
xolc etpvjjjtevot? xpcxoi? üx’ epou Lys. 12, 77.
Dieselbe Trennung des Regierenden und Regierten durch zwi
schengeschobenes Nomen in umgekehrter Wortfolge
xo/O.at? exepai? xoöxwv xh/vat? auyyeveatv Fiat. Politic. 260 e.
xa xwv xapocwv xwv ei? IIuAa? ywpia xüpia Aeschin. 2, 132.
xvjv exeivoi? p.olpav c[AOtoxaxY)v Plat. Politeia 5, 472 d.
und besonders häufig bei Participien
ot ex xr ( ? OaAaxxv]? r/Oüe? ivaxbxxcvxe? Plat. Phaedo 109 e.
xwv ev xai? xpa^eotv epywv xapayevopivwv Sophist. 234 e, wo
Hirschig grundlos umstellt.
vj ev xot? apyouat tppovvjcrt? xe xai cpuAaxvj evouaa Politeia 4, 433 c;
vgl. 7, 518 c.
xou? extxuybvxa? uxo xwv exixuyovxwv p.uOou? xAaaOevxa? ibid.
2, 377 b.
xol? axb xwv Gewv av)p.ei'o'.? yevop.evot? Antiph. 5, 81.
xou? xap’ r/p.tv oiXogöoou? Y'.yvo>j.evouc Plat. Politeia 7, 520 a.
xov auT?j exaaxr, xoxov xpoar,xovx« Plat. Phaedo 108 c.
xvjv uxo xou oxpaxr,You xa?tv xayGetoav Demostli. 15, 32; ibid. 33.
xbv N'.xoov)ij.w Gavaxov xaxaoxeuaaGevxa Dinarch. 1, 30.
aoy'.gxixv; xai |Aexpv)xtXT) vj xa xa xexxovt xvjv xai xax’ epxopixvjv xvj? xaxa
otAoaootav yewp.expia? xe xai hoy'.op.wv xaxap.eÄexwp.evwv Plat.
Phileb. 56 e, wo das trotz dem Artikel xvj? an das zweite
Nomen sich anschliessende Participium hier so gut
fehlen konnte, wie es vorher bei vj xaxa xexxoyixvjv fehlt,
xouxo b 8v) ijvjpoT? xai üypot? xai ep.xupoic xai axüpot? xavxooaxbv
eloo? epyaaOev Politic. 287 e.
xo Sta ypovou Aeyetv av)|J.eT6v eaxtv exi xwv xaipwv xai xou oup.-
oepovxo? ävop’o? xoAtxeuogevou Aeschin. 3, 220.
xbv ev xv) exxXvjata crxecpavov avappvjOdvxa Aeschin. 3, 47, wo
die neuesten Kritiker, der eine cxeoavov, der andere
avappvjöevxa streicht, beides mit Unrecht, denn der
46
V a h 1 e n
Wechsel der Stellung des Participiums in den Hand
schriften hat hier seinen naheliegenden Grund.
kq tyjv vuv iccXtv ouuav Thucyd. 2, 15, 2.
Iv tu vuv Xöyu xapafavevTi Plat. Sophist. 231 b.
vqq sv tu -apx/p^[j,a rflmrfi 5tpooitntTo6(jY]i; Phileb. 21 c.
toT? Iv aÜTYj Xo'j-oi? XsYop.evot? iwo tüv [j.ETa/ctpkc|j,Ivuv Politeia
7, 527 a, daher man auch Euthydem. 287 b toTc Iv tu
sapovTt (Xö^oic) hsyopivoii; lieber als XsYopivoi«; Xoyo'.q schrei
ben könnte, wenn es nöthig wäre. Anders Schanz N.
Comm. 77. Diese Beispiele zeigen, dass Aeschylus
Prom. 315 xov vuv -/cXov IlapovTa p.oyjiuv Haupt im Ind.
lect. Ber. 1860/61 S. 6 an der Wortstellung wenigstens
sich nicht stossen durfte.
toutou t'o Ttsp't Tv]v xaTU0ev dvu itXyjyvjv dvaGxupivYjV, an’ aüxvj?
tv;c ’zpaqewq aco|j.o:u6ev Toüvopa, rj vuv a<7jraXieuTiy.Y) £v)Tv;0su7a
ImzXYjv vIvcvev Sophist. 221 b, von Hirschig doppelt
verdorben.
■q TipoTspov aYsXaioTpooiy.Y] otap-spioÖsToa Politicus 289 c.
t'o ouosi IzdoTU SpY«vov und t'o <juoei ixdoru Tpüiravov
-eouy.'o? neben einander Cratyl. 389 c, wie t'o trapa t$jv
te/vyjv XsYÖp.svov dp,dpTYj;j.a und t'o trapa tyjv itoXitixvjv tI/vtjv
ä[j.apTY)p.a XsYop.svov Politicus 296 b c.
Sehr Verschiedenartiges zusammengewürfelt ist in den von
Stallbaum zu Philebus 20 b t'o yötp «et ßouXsi» prfih Xus: xdvTa
ooßov S. 144 gesammelten Beispielen, von denen einige hierher,
andere zu dem oben S. 17 besprochenen Gebrauch gehören.
Das Folgende eröffnet eine neue Betrachtung: im An
schluss an ot: p,sv ouv sy.doTu tyj<; suoaip.ovfa? ImßdXXs: xtX. wird
in dem nun erst sich anknüpfenden entsprechenden Satzglied
die Anwendung des für das Leben des Einzelnen gewonnenen
Ergebnisses auf den Staat gemacht.
1/op.evov
30
3’ S5T! y.a't tüv ai)TÜv Xoyuv osop.svov 1 y.a: -oXtv suSatp.ova
v);v apicTr ( v stva: y.a: TTpaTTOuaav y.aXüc. aouvaTCV §s y.aXüc
1 Dieser Ausdruck, nickt Xoyou oeTctOoci, das mehrfach vorkommt, sondern
twv auKov Xöywv 8eÖ[j.£vov ist wohl eines erläuternden Wortes werth: wir
wenigstens würden, wenn ich nicht irre, nur der negativen Wendung r es
bedarf keiner anderen Beweisgründe’ uns bedienen. Im Griechischen ist
vergleichbar Plato Euthyphro 11c üü. Toü pou r.poyi'tou eoixev Etvai
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
47
xpaxxetv xot? p.v] Ta y.aXa xpccxTOuatr oüOev 3s y.aX'ov spyov
out' avSpo? oute 7t6aeo)c /o)p't<; apeTvj^ y.at apovifasMc, avSpta
oe xoXsm? y.at §iy.aio<jüvr ( y.at «ppowjci.? xvjv auxvjv i/i'. 36-
35 vajjwv y.at p.op^v, mv [j.sTacyojv sy.acxoc xöv d'/lpwxMV
Xiyeroa 3ty.ato; y.at tppovqj.ac y.at awtppwv.
So ist die Stelle überliefert, in der Bernays in seinem
Abdruck mehrere Abänderungen nöthig befunden hat, vor
allem äouvaxov yap y.aXto; xpäxxstv t•))v [jt-vj xä y.aXa xpdxxotMjav.
Die Aenderung xvjv . . xpäxxouaav rührt von Spengel her und ist
von Bekker in seiner Edition vom J. 1855 aufgenommen.
Sieht man sich nach dem Grund der Aenderung um, so ist
man einigermassen verwundert bei Spengel S. 4(> seiner Ab
handlung 'über die Politik des Aristoteles’ zu lesen: 'Vielmehr
xv]v (j.v; xd y.aXa xpäxxoucav, denn von xoXtc ist die Rede;’ und das
wird jetzt in den Studien S. 30 auf Latein wiederholt: civitas
enim agitur et res primaria est. Die Schreibung douvaxov -(dp
rührt von Bernays her und wird jetzt auch von Spengel em
pfohlen. Die Entscheidung dieser beiden nicht von einander
zu trennenden kritischen Probleme hängt von der richtigen
Auffassung des Gedankenfortschrittes ab. Aristoteles ging von
der Frage aus, welches das beste Leben (dpwxoc ßfop) sei; es
ergab sich, das beste Leben sei das glückselige d. i. das auf
dem Besitz der geistigen Güter, der Tugend und Einsicht, be
ruhende. Dem entsprechend, wird jetzt ausgeführt, sei auch der
beste Staat (xcXtv xrjv dpt<jxv;v) der glückselige und in gutem
Zustand sich befindende, denn sücatp.ova y.at xpäxxouaav y.aXw;
gehören zusammen, und zu Euoaip.ova, welches, nachdem die
Erfordernisse der Eudaemonie bereits dargelegt sind, allein ge-
Aatoadou xa üm> aoü ).xyöp.EVa, y.at et p.kv aixa syto E/.Eyov, 'tato? av p.E Ir.l-
ay.toTXTE?, w; apa y.at Ep.ot y.axä xyv exeIvou LYT^ v£iav T “ TO k Xöyot? k'pya
aixootSpday.Et ... vüv 3i, aal yap al ü-oOeIjei? e!a!v aXXou o>j tivo? ost"
ay.top.jj.axo?. ET0. ’Ep.ol ok 3oy.st a-/£oöv xt xou auxou ay.CL>p.p.axo? SetaSai
xa XsyöpEVa, und Tlieaetet 198 a To xoivov r.akvi r;v äv ßouXyxat xwv
E7r.axyo.tov Orjpeuetv y.at Xaßovxa V/£iv y.at aOOt; ätptfvat ay.ojrEi xtvtov oelxai
ovou.axtov, e’ixs xrov auxtov tnv xo Jtpöixov, oxs sy.xaxo, s’tXE EXEptov. Und
damit rechtfertigt sich auch ibid. 174 a xauxov Sk apy.Et ay.top. pa ete!
-ävxa?, oaot sv tptXoa&ofa otayouat, was Heindorf und Stallbaum bedenklich
erschien; denn es hätte ja auch hier xot auxotj OEtxat a/toppaxo? ebenso
gut stehen können.
48
V all len
nügt haben würde, wird das gleichbedeutende xparcouaav y.aAwc
hinzugesetzt, um daran die folgende weitere Ausführung anzu
knüpfen, die noch ein neues, im bisherigen noch nicht ent
haltenes Argument für das suSatjxoveiv und dessen Bedingungen
enthält, das gleichmässig für den Einzelnen wie für die
staatliche Gemeinschaft Geltung hat. An die Behauptung
nämlich, dass der beste Staat der glückselige und in
gutem Zustand sich befindende sei, schliesst sich die Erläu
terung: 'in gutem Zustand sich befinden 1 aber kann nicht, was
nicht das Gute thut, das Gute thun aber ist für Mensch und
Staat nicht möglich ohne Tugend. Tugend aber hat beim
Staat denselben Sinn wie beim Menschen.’ Wenn das, wie
ich meine, der Gedankenfortschritt ist, so weiss ich nicht,
warum der Satz aSüvawv 3k y.aXcSc -paxxsiv -olq fr}] ~ä y.a/.a Ttpäx-
touaiv nicht so, wie er überliefert ist, stehen soll. Denn der
verallgemeinernde Plural, des Neutrums, wie ich glaube, ist in
der syllogistischcn Formel durchaus am Platz, und um so zweck
mässiger, da die hier latirende Beziehung auf Mensch und
Staat der folgende Satz (o : j-’ avSpb? oikt ttsAswc) ausdrücklich
ausspricht, und äBuvatov Sk ist in dieser fortschreitenden De-
duction angemessener als yap.
Ehe wir weiter gehen, ist diese Argumentation auch von
sachlicher Seite in’s Auge zu fassen. Bernays findet in dem
Fortschritt von y.ahwc -patteiv zu xä y.aÄa -pdvreiv ein 'logisches
Wortspiel’, dessen Anwendung wiederum dem früher bespro
chenen logisch-dialektischen Charakter der Dialoge auf Rech
nung geschrieben wird. Auf Anlass des auch von Bernays
S. 80 angeführten Beispiels einer auf die Doppeldeutigkeit von
■xprrrsiv gebauten Conclusion, die dem Sokrates selbst im Plato
nischen Gorgias 507 c in den Mund gelegt wird, erinnerte
Bonitz (Zeitschr. f. öst. Gymn. 1859 S. 800) an die 'bekannte
Thatsaclie, dass die Eigenthiimlichkeit der Sprache, welche
als Organ zum Ausdrucke der Begriffe angewendet wird, auf
die Philosopheme selbst einen wesentlichen Einfluss geübt hat
1 Ich übersetze so hier und im Vorigen, weil ich mir des Fortschritts halber
nicht anders zu helfen weiss, Bernays 'in schönem Zustand sich befinden’,
was mir noch weniger gefällt: zxAfoc -ox-töi heisst 'er befindet sich wohl,
es geht ihm gut’, nichts weiter.
TJeber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
49
und übt.’ Und in der That, icb wüsste nicht, was man mehr
und Besseres darüber sagen sollte. Denn dass es Plato mit
jener Argumentation Ernst war, von der sich auch sonst Spuren
bei ihm finden, beweist der Umstand, dass sie einer die Ergeb
nisse der bisherigen Erörterung zusammenfassenden Recapitula-
tion einverleibt ist, mit der den Kallikles zu überzeugen, nicht
leeres Spiel zu treiben, des Sokrates bestimmte Absicht ist
(vgl. Schleiermacher zu d. St. S. 332): &axs xoXXvj avdyy.Y;, 0
KaXXlxXsi;, xsv adaopova, &ax£p 8njX0op,ev, or/.a'.oy ovxa xal aväpeiov xal
caiov dvaObv dvSpa eivai xeXsoj;, tov ob ayaObv eu xe y.al y.aXto; xpdxxscv
ä olv xpdxxp, xbv 3’ sü xpdxxovxa p.axapicv xs y.al suoatp.ova slvai, xbv
3b xovr,pbv y.al xax«; -paxxovxa aOX'.ov. Und dass nun auch dem
Aristoteles diese von der Eigenthümlichkeit der Sprache dem
Denken dargebotene Beweisführung nicht fremd war, zeigt
nicht blos Nik. Eth. 1, 8. 1098 b 20 ouvaoEi ob xü Xiyw y.al xb
su £v;v y.al xb eü xpdxxsiv xbv suoatp.ova - ajrsobv Ydp sb£(i)Ja xic si'prjxat
y.al suxpact'x — welches Zeugniss Bornays mit Unrecht in seinem
Werthe herabsetzt, denn diese Uebereinstimmung des Sprach
gebrauchs, vom Glückseligen su xpdxxsiv zu sagen, mit der auf
das evspyeTv gegründeten Definition der Eudacmonie ist dem
Aristoteles ja nicht nichts beweisend (wozu hätte er sie .sonst
auch angeführt?): x<7> p.bv ssX»j0s? xdvxa auvaosi xd uxdpjyovxa,
xw 3b (J/eu3bt xa/jj oiaouvsl xdAvjÜ ec, und in demselben Zusammen
hang, in welchem die Eudaemonie nicht Ix xou oup.xspdap.axoc, son
dern Ix xwv XsYopivwv xspl aür/j; betrachtet werden soll, steht
auch noch anderes, z. B. selbst die Dreitheilung der Güter,
was Aristoteles für zuverlässig und beweiskräftig hielt — son
dern auch andere Stellen, wie Politik 3, 9. 1281 a 2 xöXic Ss
•q y sv “v xal xiopöv xotvoivia £<üyj; xsXsiac xal auxapxouc xoüxo 3’ eoxi'v,
wc 9xp.lv, xb ITvjv su3aip.ovw; xal xaXö;' xüv y.aXßv dpa xpdljsiov ydpiy
Osxsov slvai xvjv xoXixixr,v xoivwviav, aXX’ ob xou auipTjv, denn wie
kommt er hier auf xaXal xpdpsic anders als durch dieselbe Doppel
deutigkeit des 'Cr,'> xaXöic, und wenn es Politik 7, 3. 1325 a 18
heisst ol p.bv Ydp dxoooxip.d^ouat xd; xoXtxixac dpydc, vcp.:£ovxs; xov xs
xoü IXsuöspou ß!ov Exspov xiva slvai xou xoXixixoü xal zdvxwv alpsxwxaxov,
oi 3b xouxov aptaxov äSüvaxov y“P "bv p.yj6bv xpdxxovxa xpaxxstv su, xvjv
5b suxpaylav xal xv;v su3aip,ov£av slvai xauxiv, so erkennt man nicht
blos, wie geläufig griechischem Denken diese doppelseitige
Verwendung des Begriffs xpdxxsiv war, sondern ersieht aus
Sitzb. a. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 4
50
Vallleil
Aristoteles’ in demselben Capitel sieli anschliessender eigener
Erörterung, dass ihm die Deduction, weil eüoaijj.ovia gleich
eiurpayta sei, so erfordere jene tipctvtetv und xpä^iq im Sinne von
Handeln, weder fremd noch bedenklich ist, und er nur auf
Grundlage dieser Argumentation dem activen -pehrstv einen
weitern Sinn gibt. Es war daher nach meiner Meinung un-
motivirt, aus der hiesigen Verwerthung der sprachlichen Wen
dung xaXut; vparmv, in der nichts von 'dialektischem Effect’
liegt weder hier noch bei Plato, auf die Abhängigkeit unseres
Capitels von einem Dialog zu schliessen, und nicht vergessen
sollte man, dass diese dem Griechen natürliche Vermischung 1
von transitivem und intransitivem upaxTStv, über die hei Ari
stoteles schon der nur lateinisch denkende Laurentius Valla 2
sich ärgerte, weil unserer Sprache fremd auch unserem Be
wusstsein immer bis zu einem gewissen Grade äusserlich bleibt.
In dem folgenden Satz, welcher die wesentliche Ueberein-
stimmung zwischen den Tugenden des Einzelnen und den
Tugenden des Staates ausspricht, zeigt sich eine jedem Leser
leicht in die Augen springende Ungleichheit, indem von Tugen
den avopta, §r/.at0ff6vvj, <pp6rr ( c7'.c, von entsprechenden Eigenschaften
Sfooc.os, <jpövi|jt.o;, cü(|/pwv genannt werden, daher Coray die Con-
cinnität herzustellen, den Satz mit folgenden von Bekker (1855)
und Bernays beibehaltenen Ergänzungen drucken liess: ävopia
8s traXew«; y.at oaaiocuvv) y.at ©pov^Gi? (xat cuopocuw;) ty;v ai/rqv s/et
36vap.tv y.at {j.opzfy, uv p.exacywv exacxoc töv dvOpüitwv Xsysxat (avopsTo?
xa't) Siy.aioq y.at opovt[j.cc y.at trtlxppwv. Grosse äussere Wahrschein
lichkeit haben nun wohl diese zwicfältigen Ergänzungen nicht,
auch war an sich Vollzähligkeit der vier Cardinaltugenden
1 Hierfür ist ja wohl auch zu beachten, dass man z. 15. auch xocuxa jrpäxxcov
'in dieser Lage, unter diesen Verhältnissen’ (Xenoph. Hell. 5, 3, 9) und
in ähnlichen Verbindungen ähnlich sagen konnte.
2 Dialect. quaest. 1, 10. p. 669 ed. Bas. beatitudo sive felicitas, ad quam
bene agendo h. e. bene volendo pervenitur, non ipsa est bona actio, ut
Aristoteles ait, nonnihil deceptus loquendi consuetudine, quae apud latinos
melior est: dicimus enirn l bene mecum agitur t male ctim illo actum est',
quod videlicet ego et res meae bene se habent, et Ule vel illius res male
■ . . quod apzid nos passive, id apud Graecos dicitur active eu jrpäxxEtv et
Eujtpayla sive EujcpoVa . . . quare non videtur id quod loquitur inlellexisse
Aristoteles in Poli/icis [7, 3. 1325 a 22] tr,v Eunpa-piav y.al xrjv Eu3ai|j.ov!av
stvai xauxöv u. s. w.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
51
nicht gefordert, sondern es genügte, wie kurz vorher nur
Staatoq und cjdxppMv genannt war, auch hier die beispielsweise
Nennung der einen und andern Tugend. Allein, wird man
einwenden, die Formation des Satzes verlangte doch nothwen-
dig auf beiden Seiten dieselben Tugenden, welche und wie viele
es auch sein mochten. Man sollte denken, und dennoch möchte
man irre werden, vergleicht man Nik. Eth. 1, 13. 1103 a 5
Xeyo|j.sv Y“p auxwv mc. p.ev otavovjTtxd? iaq oe fjö'.y.ac, aopiav ptev y.at
auveatv y.at opbrqv') otavo^Tty.äc, eXeuOepiÖTY]Ta Be y.at aw<ppoij6v/)v vjOixa:;-
Xiycmeq yap icep't toü -^Oou: ou ÄeSitv oxt ootpbg v) covefb? aXX’ oti
Tzp&oq -q crwspwv. Denn vollständige Aufzählung beider Arten
von Tugenden war auch hier nicht bezweckt, aber hätte man
nicht erwarten sollen, Aristoteles werde wenigstens in dem
erläuternden Satz die Attribute nach den beispielsweise ge
nannten Tugenden wählen, und also IXeuöepto? und nicht Kpäoq
oder umgekehrt nicht eXeuOeptoTrjTa sondern ttpaÖTYj-a setzen und
zu auvexbi; noch v) ^povtp.oq fügen oder vorher auch y.at ippövvjctv
bei Seite lassen ? Und Politik 1, 13. 1259 b 39 elfte yap S äpyuv
pd) eatat cüfpwv xat Staate);, ttw; aptjet '/.aXu;; etO’ o apyop-evo;, rao;
apySifcsTat y.aXü;; ctaöXatjto; -fap tbv yai SeiXo; ouOev izoiqoei twv Ttpoa-
v)y.ovTO)v. Denn zu etO’ 6 dpyop.svoc ist nothwendig gedacht pd]
eVrat acbtppoiv y.at Staatoc, und wenn das, warum wählt Aristoteles
im begründenden Satz in dy.öXaaTO; y.at BetXo; die Gegensätze
nicht von atl^puv und otaato; sondern von atbtppuv und ävopstop,
oder wenn er BetXo; nicht missen wollte (vgl. 1260 a 36), warum
ergänzte er nicht die zwei Beispiele auf beiden Seiten zu den
in demselben Capitel vorher und nachher wiederholt zusammen
gestellten drei awippoabvY) avSpta Stx,ato<j6vr), cwppova avopetxv Styatav?
Und, um noch einige Beispiele auffällig verletzter Concinnität
aufzuführen — denn bei einer Incongrueuz, wie die, von der
wir hier ausgingen, ist es wesentlich aus den Analogien die
Manier des Schriftstellers zu erkennen, um einen Massstab zu
gewinnen für das, was man ihm Zutrauen darf — Politik
4, 11. 1295 b 1 sv dtadaat; ov) xalc toXsciv satt -rpta pipr; vqq toXsiü?,
ot p.ev efcopot cpöSpa, ot Se ötaopct ctpoSpa, oi Se Tptxot ot p.ecot toutuv.
etsI xotvuv optoXofetTai tb pteTptov dptcTOV y.at to p.eaov, pavepbv ov. y.at
tüv euTUyqpictTWV -q y.Tvjai; -q p-eor, ßeXTtorr, ttxvtut paurv) -pdp tu X6yu
xetOapyetv. uwbpy.aXov Se •)) ü-eptayupov $} uitepeuYevv; •!} üirep-
xXouotov, ■?, TavavTta toüto'.; özbpitTuyov •)) ur.epacOevvj y.at
4*
52
Va lilen
aipoSpa axtp.ov, yjxXsxov xip Xoyw äx.oXou0siv hat Spengel Stud. 3, 50
meines Erachtens sich unnöthige Mühe gegeben, die Congruenz
herzustellen, indem er ixspattr/pov (oder crscSpa aicypcv) vor
fctipwn^ov zu ergänzen räth, denn so leicht ux^patoypov vor üxep-
xxtoyev ausfallen konnte, ist mit diesem Zusatz denn nun die
Uebereinstimmnng der Gegensätze wirklich gewonnen? Spengel
begehrt noch v~ ccöopa statt y.at, aber was wichtiger ist, wer in
Abrede stellt, was selbst Bonitz Ind. 119 b 43 annimmt, dass
cpääpa axtp.oc den Gegensatz bilde zu üxepeuYevtfe, wie will man
ihn widerlegen? Denn di-(s.'n i c und d'xtp.cc haben beide auch im
aristotelischen Gebrauch ihre besonderen Gegensätze *, und bei
Aufzählung der suxu/^paxa erscheint neben su-pAsia auch xtji:q
(Rhetor. 1, 5. 1360 b 22. 28). Und zu beachten ist doch auch,
dass an derselben Stelle bald nachher (b 14) die i-spoyai suxjyr r
päxwv wieder etwas verschieden exemplificirt werden durch
hyyoq y.at xXouxou y.ai cpiXiov y.at xöv oXXwv xöv xoicjxwv. Politik
3, 12. 1282 b 36 ei fap etvj xtc üxspsywv p.lv y.axa xy]v auXr,xty.Y)v, xoXu
8’ sXXst'xwv y.ax’ suysvstav -q y.dXXo c, st y.ai p,st£cv exacxov sy.ctvwv
ayaÖov £oxt sv)? auXY]xiy% 3k rryt x 1 eu^evstav y.at xb y,dXXo?)
y.ai y.xxä xvjv dtvaXo^iav üxepsyoiwi xXeov xvjc abXnjxoMj's ... cst y*P
st? xb epYOV aup.ßdXXscOat xyjv ixepoyf,'/ y.ai xou xXouxou y.ai xr ( ?
euY®vst«5, yjpßäXXovxat 8’ öiiSsv hat wiederum Spengel, ausgehend
von dem ganz grundlosen Anstoss an sy.auxov ey.etvwv mit Bezug
auf zwei, - den Einfall gehabt, wenn nicht szdxspov zu schreiben,
sei wohl xXoöxov, das im Folgenden erscheine, hier ausgefallen:
aber selbst wenn man, nicht einmal, sondern zweimal, zu ebyi-
vätav und y.äXXoc als drittes xXcüxov gefügt hätte, bliebe die
Incongruenz noch immer, wofern man nicht auch unten y.äXXou;
neben -Xoöxou und zbyz'/eixc ergänzte; und so verkehrt solch’
kritisches Verfahren wäre, bemerkenswerth bleibt immerhin
dieser innerhalb ein und desselben Vergleiches eingetretene
Wechsel zwischen y.xXXoc y.at sirfsveta und xXcjxo? y.at arfeveta.
Aber da es nur auf ein Beispiel ankam, war die Wahl gleich-
giltig, hier so gleichgültig, wie wenn Plato Theaet. 147 a ei'st
st atxcy.pivatp.sOa a'jxto xv;Xcc c xöv yuxpswv y.ai TT^Xbc b xöv t x v c-
xXaOöv y.ai xvjX'oc 6 xöv xXtvOoopYÖv schreibt und in der unmittel-
1 Vgl. u. a. Nik. Etli. 1, 9. 1099 b 2 svtav 8s TYjTtoasvoi puTraivouai xo [xaxa-
ptov, otov suysvsta;, suxsxvla?, xaXXou;* gu rcavu yap suoatjiovixo; o xrjv
tBsav 7cavai'<r^7}<; \ SuTyevrji; 7) p.ovtbxr]i; xat axsxvo;.
Ueber ein Capitel aus Aristoteles’ Politik.
53
bar folgenden Wiederaufnahme oxav sl'zwp.sv zyjXoc sl'xs 6 x£5v
zopozXaöwv zpcoÖsvxE; slxs dXXcov wvx'.vwvouv Sy)|aioupyü)v wählt,
und diese Neigung Plato’s, ein Beispiel durch ein andres und
drittes innerhalb ein und derselben Betrachtung oder Ver
gleichung zu ersetzen, welche gleichfalls mitunter den Kritikern
den Kopf warm gemacht hat, Hesse sich durch manch instruc-
tives Beispiel illustriren, wenn es uns nicht zu weit ablenkte.
Ich kehre zu Aristoteles zurück und füge dem angeführten
noch ein dem fraglichen analoges, auch durch die Kritik be
seitigtes Exempel der Incongruenz in beispielsweiser Anführung
hinzu: Rhetor. 2, 2. 1379 a 15 Sw zapwovxs;, zevo;j.svoi, Epwvxsc,
Suj/wvxs;, oAw; ez:0u|aoüvxe; za: jj.yj zaxop0ouvxs; opYiXo: svs\ za: euzap-
opjAYjxoi, p.aAwxa p.sv zpb; xou; xou zapivxo; öXcfcopouVTa?, o:ov zdp.vwv p.sv
xo:c zpb; xi)v voaov, zsvcp.svo; os xcT; zpb; xr,v zsv:av, zoAsp.wv Sb xo:;
zpb; xbv zöXspwv, spwv ob xoi; zpb; xbv spwxa, Sp.ofto; Ss za: xoT;
äXXoi;, worin man der Uebereinstimmung zu Liebe zoXfipouvxs;
hinter zevojasvoi eingeschaltet hat, aber es fehlt ja umgekehrt in
der zweiten Reihe Sttfüv, denn wollte man hierfür auf das
zusammenfassende opoto); x:w äXXo:; verweisen, so ist doch nicht
zu übersehen, dass auch oben die Reihe mit einem verall
gemeinernden Sam; Ez:0up.ouvxE; schloss, dem jenes entspricht.
Ich bin am Ende: denn auf den recapitulirenden Schlusssatz
dXXd '(kp
xaöxa p.sv sz: xooouxcv soxw zsfpoipiaapsva xio Asy« - ouxs
Ydp (J.Y) 6:yyzve:v auxöv ouvaxov, ouxs zavxa; xob; eizsiou;
ezs;sX0s:v evSs/sxa: Xoy°u;• sxspa; y«P äcruv epY®v xy_s/.•?;;
40 xauxa- vuv o’ uzozswOco xooouxcv, ox: ß:o; psv d'p’.axo; za:
ytop:; szdaxw za: zo:v?) zaT; ziXsoiv 6 ;aex’ apsrij; zsyc-
1324a pz/Y'OlASVo; sz: xcooutov öoxs iaexe‘/e:'1 xöv zax’ dpsxr;v zpd-
;stov zpb; Se xou; dp.cptaßvjzouvza;, sdoavza; ez: vuv
[asOocou, SiaazEzxsov uoxspov, s: xi; xol; s:pv)p.syoi; tuy/Gve:
jj.tj z£:0op.svo;
gedenke ich so wenig einzugehen, als die Frage über den
Zusammenhang dieses Capitels mit den nächst folgenden Er
örterungen aufzunehmen: nur das eine sei bemerkt, dass nach
meiner Ueberzeugung unser Capitel als ein in sich geschlos
senes Ganzes zu betrachten ist, aus dem man nicht irgend
einen Theil hinw r egnehmen darf, sondern das nur als Ganzes
entweder beibehalten oder verurtheilt w'erden muss.
54
Vahlen Ueber eiu Capitel aus Aristoteles’Politik.
Nachwort.
Vorstehender Aufsatz, der in seinen Grundzügen und Re
sultaten schon vor mehreren Jahren aufgezeichnet worden, war
in der Form, in der er jetzt erscheint, fertig ausgeführt, bevor
Susemihl’s neue Ausgabe der Politik durch Güte des Heraus
gebers in meine Hände kam. Eine Uebereinstimmung von
Belang, der ich hier begegne, ward schon oben nach Susemihl’s
Programm notiflcirt, an verschiedenen anderen Stellen hat der
Herausgeber sich Ansichten angeschlossen, gegen die ich mich
im Obigen ausgesprochen habe, auf die daher liier zurückzu
kommen nicht nothwendig sein wird. Was mich jedoch zu
dieser nachträglichen Bemerkung veranlasst, ist der Umstand,
dass meine Kritik des betreffenden Oapitels keinen Gebrauch
gemacht hat von der alten lateinischen Uebersetzung: einmal
war der Wortlaut derselben nicht mit hinreichender Sicherheit
festzustellen, und anderseits hatten Untersuchungen auf ver
wandtem Gebiet mir die grössten Bedenken gegen deren kri
tische Verwendbarkeit eingeflösst. Susemihl dagegen, dessen
Ausgabe erst eine verlässliche Benutzung der Uebersetzung
ermöglicht, hat ihr auch den allergrössten Einfluss auf die
Textesgestaltung der Politik eingeräumt, wonach auch einiges
in unserem Capitel anders zu behandeln sein wird, wofern
nämlich jener kritische Grundsatz sich bewährt. Darüber aber,
ob und wie weit dies der Fall sei, abzuurtheilen, gestehe ich
im Augenblick nicht hinreichend vorbereitet zu sein; auch ist
dies eine Frage, die nicht w; ev rapspyw durch sporadische
Besprechung einiger Stellen, sondern nur in consequcnter Durch
prüfung des gesammten jetzt neu dargebotenen Materials ihre
Erledigung wird linden können.
Ficker. Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
55
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchen-
gute.
Von
Julius Picker.
In den Zeiten des Durchdringens des Feudalismus, als
der früher vom Könige nach seinem Ermessen gesetzte Beamte
zu einem erblichen Vasallen mit sehr beschränkten Leistungen
geworden war, als der allgemeine Unterthanenverband nur noch
untergeordnete Bedeutung hatte, insbesondere der Reichskriegs-
dienst nicht mehr auf ihm, sondern nur auf besonderer Ver
pflichtung beruhte, fand das Königthum seine Hauptstütze in
den eigenthümlic.hcn Beziehungen, in welchen einmal die Reichs
dienstmannen, dann insbesondere die Reichskirchen zu ihm
standen. Politische und wirtschaftliche Gesichtspunkte griffen
da ineinander. Das Königthum würde seiner Aufgabe nicht
mehr haben genügen können, hätte sein Einfluss auf die
Besetzung der Bisthümer und Abteien des Reichs es ihm nicht
ermöglicht, nach eigener Wahl Personen, auf deren Ergebenheit
und Fähigkeit es rechnen konnte, in einflussreicher Stellung
in den verschiedenen Tlieilen des Reiches den Erbfürsten gegen
über zu stellen; hätten ihm weiter nicht die gewaltigen Lei
stungen, zu welchen die Reichskirchen dem Reiche verpflichtet
waren, die materiellen Hülfsmittcl zur Durchführung seiner
politischen Ziele geboten. Allerdings hatte das seine sehr
bedenkliche Seite. Es lag etwas Unnatürliches in einer Gestal
tung, welche die höchste weltliche Gewalt beim Schwinden
ihres Einflusses auf diejenigen, welche als weltliche Beamte
zunächst zur Durchführung ihres Willens berufen gewesen
56
Ficker.
wären, nötliigte, zum Ersätze einen Halt in einer Institution
zu suchen, welche ihrem Ursprünge nach gar nicht dazu be
stimmt war, den Zwecken des Staates zu dienen, welche trotz
weitgehendster Verweltlichung doch der Abhängigkeit von der
höchsten kirchlichen Gewalt nie ganz zu entziehen war, von
der nicht zu erwarten stand, dass das Reich unter allen Ver
hältnissen unbedingt auf sie werde zählen können. In einer
Zeit, wo unter Einwirkung des Feudalismus die weltliche Staats
ordnung den Dienst versagte, mochte das freilich als der einzig
mögliche Ersatz erscheinen. Und zeitweise hat das Verhältniss
dem Zwecke durchaus entsprochen. Hätten die Umstände es
zugelassen, dasselbe nur als Durchgangszustand zu Behandeln,
zeitweise durch dasselbe gedeckt, dem Königthume neue, natur-
gemässere Machtgrundlagen wiederzuschaffen, wie das unter
günstigeren Verhältnissen sehr wohl im Bereiche der Möglich
keit gelegen hätte, so würde es dann nachträglich auch nicht
gerade schwer gewesen sein, eine Doppelstellung des deutschen
Bisthums wieder zu beseitigen, welche doch nur den besondern
Verhältnissen einer bestimmten Zeit gegenüber als berechtigt
erscheinen konnte. Aber zu solcher Lösung war dem König
thume die Zeit nicht gegönnt. Je mehr dasselbe auf das
Reichsbisthum als Hauptstütze seiner Macht hingewiesen war,
um so bedenklicher war es, dass es gerade in dieser seiner
stärksten Stellung jederzeit den Angriffen der rivalisirenden
päpstlichen Gewalt ausgesetzt war. Aus dem Investiturstreite
ging das Königthum nicht ohne Opfer, aber doch in so weit
als Sieger hervor, als es sich in den wesentlichsten Befugnissen
gegenüber den Reichskirchen behauptete. Noch in der früheren
staufischen Zeit verdankte es diesen seine hauptsächlichsten
Erfolge. Aber nach dem Tode des sechsten Heinrich trat die
entscheidende Wendung ein. Der lange Streit um die Krone
ermöglichte es dem Pabstthume, die Lösung in seinem Sinne
zu erzwingen. Das Aufhören der weltlichen Stellung des Bis
thums überhaupt war allerdings 'nie das gewesen, was man
kirchlicherseits in’s Auge gefasst hatte. Was den Bischöfen
in Folge jener eigenthümlichen Gestaltung von Rechten und
Gütern des Reichs übertragen war, das blieb ihnen unverkürzt.
Das was beseitigt wurde, war der Einfluss des Kaisers auf ihre
Bestellung, die meisten der Leistungen, zu welchen sie dem
TJelier das Eigentlium des Reichs am Reichskirchengute.
57
Reiche verpflichtet waren. Was dem Bisthume einst gegeben
war, um der Krone einen genügenden Halt gegen die weltlichen
Feudalbeamten zu sichern, bot ihm nun die Mittel, sich mit
diesen auf gleiche Linie zu stellen, in derselben Unabhängigkeit
dem Herrscher gegenüber zu treten, nur noch den Lehnsherrn
in ihm anzuerkennen, welchem nun diejenigen, durch welche
er seine Gewalt in den Theilen des Reiches zu üben hatte,
wie dort durch die Geburt, so hier durch freie Wahl der Capitel
bezeichnet wurden. Damit aber hatte die einheitliche Roichs-
gewalt die Hauptgrundlage ihrer früheren Macht verloren.
Es handelt sich da zweifellos um eine der wichtigsten Seiten
der Geschichte der Reichsverfassung. Für eine genauere Ein
sicht in diese, für die Gewinnung des richtigen Gesichtspunktes
für viele Ereignisse der äussern Reichsgeschichte, insbesondere
jenes gewaltigen Kampfes mit der Kirchengewalt, wird die
Beantwortung der Frage nach der rechtlichen Natur jenes
Verhältnisses, nach dem, was die so weitgehenden Befugnisse
des Reichs gegenüber den Reichskirchen begründete, unerlässlich
scheinen. Die Frage ist denn auch vielfach Gegenstand wis
senschaftlicher Erörterung gewesen. Aber es scheint mir, dass
sie noch keine Beantwortung gefunden hat, welche geeignet
wäre, alle Erscheinungen, welche sich bei genauerer Unter
suchung des Verhältnisses ergeben, ausreichend zu erklären.
Vielfach hat man geglaubt, dabei von allgemeineren staats
rechtlichen Gesichtspunkten ausgehen zu dürfen, von einem
Rechte des weltlichen Herrschers als solchen, auch auf die
Besetzung der höchsten kirchlichen Aemter in seinem Gebiete
gebührenden Einfluss zu üben, als oberster Schutzherr von den
Kirchen desselben, die seines Schutzes ja besonders bedürfen,
auch für die Zwecke der staatlichen Ordnung entsprechende
Leistungen zu fordern. Dass solche Gesichtspunkte auf die
Entstehung des Verhältnisses eingewirkt haben, ist möglich.
Aber für die spätere Gestaltung desselben haben wir ganz von
ihnen abzusehen. Denn es handelt sich da nicht um Befug
nisse, welche dem Herrscher allen im Reiche gelegenen Kirchen
gegenüber zugestanden hätten. Solche, auf die allgemeine Ver
pflichtung aller Unterthanen gegen das Reich zurückgehende
Befugnisse finden sich allerdings erwähnt; aber sie sind ohne
alles Gewicht für das, was hier in Frage steht. Die aus-
58
Ficke r.
gedehnten Befugnisse, um welche es sich hier handelt, stehen
dem Könige nur bezüglich gewisser Kirchen im Reiche zu,
welche in einer engern Bedeutung als Reichskirchen, als
Ecclesia e, quae ad regnum 'pertinent, bezeichnet werden. Bei
den Abteien kann das gar keinem Zweifel unterliegen. Eher
scheint sich das Hineinziehen allgemeiner staatshoheitlicher
Gesichtspunkte bei den Bistkümern zu rechtfertigen. Aber
doch nur deshalb, weil fast alle im deutschen Königreiche
belegenen Bisthümer zugleich Reichskirchen im engern Sinne
des Wortes waren. Bei genauerer Untersuchung ergibt sich
auch da, dass es sich nicht um Befugnisse handelt, welche dem
Könige gegenüber jedem im Reiche gesessenen Bischöfe als
solchem zustehen. So hat beispielsweise der König auf die
Besetzung des Bisthums Gurk keinerlei Einfluss, hat keinerlei
unmittelbare Leistungen von demselben anzusprechen. Damit
wird jede Erklärung ungenügend, welche vom allgemeinen
Staatsverbande ausgehend auch zu einer gleichmässigen Ver
pflichtung aller Bischöfe und Aebte im Reiche hinführen müsste.
Ein Verhältniss, in welchem nur eine Minderzahl von Aebten
und nicht alle Bischöfe standen, wird nur in einer besondern,
von der allgemeinen Staatsangehörigkeit unabhängigen Ver
pflichtung seine Begründung finden können.
Das ist denn auch überwiegend anerkannt; und man fasst
dann die besondere Verpflichtung der meisten Bischöfe und
vieler Aebte als eine feudale auf, als beruhend auf Lehen,
welche sie vom Reiche haben, stellt weiter die Investitur der
Kirchenfürsten der Belehnung der weltlichen Vasallen gleich.
Für spätere Zeiten ist damit zweiffellos das Rechtsverhältniss
genügend genau bezeichnet. Würden sich für die frühere Zeit
der vollsten Entwicklung und Wirksamkeit des Verhältnisses
manche Bedenken erheben lassen gegen die einfache Gleich
stellung mit der Lehnsverbindung, so können wir diese auf sich
beruhen lassen; denn jedenfalls handelt es sich um ein Ver
hältniss, welches in den wesentlichsten Beziehungen dem Lehens
verhältnisse durchaus ähnlich ist. Halten wir aber auch an
der Lehnsverbindung fest, so ist damit die Frage noch in
keiner Weise genügend gelöst. Es bleibt unerklärt, weshalb
der König gerade seinen geistlichen Vasallen gegenüber zu un
gleich weitergehenden Forderungen berechtigt erscheint, als
UeLer das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
59
sie im allgemeinen dem Lehnsherrn zustehen. Für diese und
andere Eigenthümlichkeiten des Verhältnisses wird sich aber
schwerlich eine sichere Erklärung linden lassen ohne genügende
Beantwortung der Frage, was denn bei den Reichskirchen den
Gegenstand der Belehnung bildete. Darüber ist eine Einigung
noch in keiner Weise erzielt. Manche betrachten als Gegen
stand der Belehnung sämmtliche mit der Kirche verbundenen
weltlichen Güter und Rechte. Andere dagegen nicht die Gesammt-
heit der Temporalien der Kirche, sondern nur bestimmte ein
zelne Güter und Rechte, oder insbesondere nur die ihr ver
liehenen Hoheitsrechte, welche, wie die hohe Gerichtsbarkeit
und andere, überhaupt nie Privateigenthum sein können, deren
rechtlicher Besitz überall auf Verleihung durch den König
zurückgehen muss.
Diese Frage hat eine die Säcularisation der geistlichen
Fürstenthümer selbt überdauernde praktische Bedeutung gehabt,
hat noch in den letzten Jahrzehnten zu Rechtsstreitigkeiten
geführt. An diesen Umstand anschliessend hat sie zuletzt
meines Wissens 1860 Zöpfl (Alterthümer des deutschen Reichs
und Rechtes B. 2) zum Gegenstände eingehender Untersuchungen
gemacht. Er gelangt in Uebereinstimmung mit den namhaf
testen Publicisten des vorigen Jahrhunderts zu dem Ergebnisse,
dass im wesentlichen nur die Hoheitsrechte, nicht aber der
gesammte weltliche Besitz den Gegenstand der Belehnung der
geistlichen Reichsfürsten bildeten. Kann ich diesem Ergebnisse
nicht zustimmen, da manche Erscheinungen damit durchaus
unvereinbar sind, so ist freilich nicht zu verkennen, dass auch die
andere Annahme auf scheinbar kaum zu beseitigende Schwie
rigkeiten stösst.
Denn wenigstens auf den ersten Blick scheint gegen die
Beweisführung Zöpfl’s kaum eine Einwendung statthaft, dass
die Reichskirchen nachweisbar ihren Grundbesitz als allodiales
Eigenthum erworben haben, dass eine Lehnsauftragung des
selben an das Reich nie stattgefunden hat, dass derselbe dem
nach auch später kein reichslehnbarer gewesen sein kann. So
wenig das aber scheinbar zu widerlegen ist, so bestimmt er
gibt sich andererseits, dass diese Annahme zu ganz unzu
lässigen Folgerungen führt, mit manchen Erscheinungen des
Gesammtverhältnisses unmöglich in Einklang zu bringen ist.
60
Ficker.
Denn es ergibt sich vor allem, dass bei den Hoheitsrechten
der Reichskirchen, deren spätere Reichslehnbarkeit doch all
seitig zugestanden wird, dann ganz dasselbe der Fall gewesen
sein müsste; genau in denselben Ausdrücken, wie einzelne
Güter, werden auch diese an die Kirchen geschenkt; sie würden
demnach gleichfalls von diesen als Eigenthum erworben sein,
es wäre auch bei ihnen nicht abzusehen, wie sie später reichs-
lehnbar geworden sein sollten. Es ergibt sich die weitere
Schwierigkeit, dass sich die Befugnisse des Königs keineswegs
auf die Hoheitsrechte beschränken, dass sie die gesammten
Güter und Rechte der Kirchen treffen, dass da eine bezügliche
Scheidung gar nicht hervortritt. Weder das eine, noch das
andere ist Zöpfl entgangen; er sucht diese Schwierigkeiten zu
beseitigen, aber in einer Weise, welche, worauf wir zurück
kommen, als unzulässig mit Sicherheit zu erweisen ist.
Glaubte ich nie bezweifeln zu dürfen, dass später der
gesammte weltliche Besitz der Reichskirchen als reichslehnbar
galt, so war allerdings auch mir die Schwierigkeit nicht ent
gangen, die sich daraus ergibt, dass das, was später als Lehen
gilt, von den Kirchen anscheinend als Eigenthum erworben
wurde. In einer frühem Arbeit (Vom Heerschilde 64 ff.) musste
ich mich begnügen, auf den anscheinenden Widerspruch hin
zuweisen, ohne auf die Lösung einzugehen. Glaubte ich diese
Lösung schon damals in derselben Richtung suchen zu müssen,
welche mir auch jetzt die zutreffende scheint, so wusste ich
doch einige Bedenken noch nicht zu beseitigen und zögerte
um so mehr, eine Ansicht, die schwerlich ohne Widerspruch
bleiben würde, bei einer Gelegenheit auszusprechen, welche mir
eine eingehendere Begründung nicht gestattet hätte. Habe ich
auch später das Verhältnis immer im Auge behalten, so glaubte
ich mich mehr und mehr von der Richtigkeit meiner Ansicht
überzeugt halten zu dürfen. Sie jetzt bestimmt hinzustellen
und eine eingehendere Begründung zu versuchen, veranlasste
mich zunächst die Wiederaufnahme meiner Untersuchungen
über den Reichsfürstenstand, da die Lösung jener Vorfrage
unerlässlich schien, um für die Erörterung der Stellung der
geistlichen Fürsten in der Reichsverfassung einen sichern Aus
gangspunkt zu gewinnen.
Ueber das Eigentlium des Reichs am Reichskirchengute.
61
Die Ansicht nun, welche mir allein die anscheinenden
Widersprüche genügend zu lösen scheint, geht dahin, dass
überall, wo von einem Eigenthum der Reichskirchen die Rede
ist, nur an ein dauerndes Recht auf Besitz und Genuss, an das,
was man später als Nutzeigenthum bezeichnete, zu denken ist;
dass dagegen die Reichskirchen selbst als Eigenthum des Rei
ches aufgefasst wurden; dass demnach auch alle einzelnen
Güter und Rechte der Reichskirchen als Pertinenzen einer dem
Reiche gehörenden Hauptsache im Obereigenthume des Reiches
standen. Und da weiter gerade die Reichskirchen vorzugs
weise im Besitze vieler anderen Kirchen und deren Gutes waren,
so würde darnach die Hauptmasse des Kirchengutes überhaupt
Reichseigenthum gewesen sein.
Gelingt es, diese Ansicht überhaupt als richtig zu erweisen,
so lösen sich damit die angedeuteten Schwierigkeiten in ein
fachster Weise. Es erklärt sich dann ohne weiteres, dass der
König Befugnisse, welche nur dem Eigenthümer zuzustehen
pflegen, keineswegs nur bezüglich der den Kirchen zustehenden
Hoheitsrechte, sondern bezüglich des gesammten Reichskirchen
gutes übt. Stand dieses weite)- von jeher im Eigenthume des
Reichs, hatten die Kirchen schon früher nur ein Nutzungsrecht
daran, so handelte es sich lediglich um einen Uebergang zu
nächstverwandten Formen, wenn seit dem Investiturstreite die
Beziehungen zwischen Obereigenthümer und Nutz eigenthümer
bestimmter unter lehnrechtliche Gesichtspunkte gebracht wurden.
Und dass später die gesammten Temporalien der Reichskirchen
reichslehnbar waren, würde dann weder einem Zweifel unter
liegen, noch auch nur auffallen können. Gelingt die genügende
Begründung jener Annahme, so würde damit für einen der
wichtigsten, aber auch unklarsten Punkte der Geschichte der
Reichsverfassung ein fester Halt gewonnen sein. Und hatte ich
zunächst diese im Auge, so liegt es auf der Hand, dass damit zu
gleich ein Beitrag zu der vielbestrittenen Frage nach der geschicht
lichen Entwicklung des Eigenthums am Kirchengute überhaupt ge
geben wäre, der um so mehr ins Gewicht fallen dürfte, als in neue
sten Darstellungen derselben jenes ganze Verhältniss kaum berührt
wurde.
Die Anfänge desselben lassen sich bis in die früheren
fränkischen Zeiten zurückverfolgen und haben denn auch ins-
62
Ficker.
besondere in den bezüglichen Arbeiten von Waitz, Roth und
Siclcel mannigfache Beachtung gefunden. Doch ist es nicht
meine Absicht, von den frühesten unsichern Haltpunkten aus
gehend meine Ansicht auf dem Wege des Yerfolgens der all-
mähligen geschichtlichen Weiterentwicklung zu begründen. Ich
habe zunächst nur im Auge, das Verhältniss so zu erfassen,
wie es sich insbesondere im eilften und zwölften Jahrhunderte
darstellt, in der Zeit, wo es zur vollsten Entwicklung und zur
weitgreifendsten Bedeutung für die gesammte Reichsverfassung
gelangt war, und zugleich während des Investiturstreites die
Begebenheiten der äussern Reichsgcschichte aufs wesentlichste
durch dasselbe beeinflusst wurden. Wird mich das nicht ab
halten, anzudeuten, wie meiner Meinung nach das Verhältniss
in seinen Anfängen mit den Zuständen einer frühem Zeit Zu
sammenhängen dürfte, so geschieht das mit dem ausdrücklichen
Vorbehalte, dass ich da selbständige Forschung nicht beabsich
tigte, mich lediglich an das hielt, was von andern Forschern
Einschlagendes bemerkt wurde, und mir zu vergegenwärtigen
suchte, wie dasselbe aufzufassen sei, damit die Gestaltung,
welche ich für eine spätere Zeit nachwies, sich daraus habe
entwickeln können. Wird es sich da vielfach nur um Ver
muthungen handeln, bei welchen es einer genaueren Prüfung
bedürfte, um sie als genügend begründete zu betrachten, so
wird das jedenfalls den Hauptzweck nicht beeinträchtigen
können, der zunächst nur auf eine von der Richtigkeit oder
Unrichtigkeit der vermuthoten Anfänge ganz unabhängige Fest
stellung des spätem Zustandes gerichtet war.
Für manchen Fachgenossen, der bisher keine Veranlassung
fand, sich mit der hier aufgeworfenen Frage zu beschäftigen,
der ihr völlig unbefangen gegenüb ersteht, dürfte vielleicht eine
kurze, nur einzelne Haupthaltpunkte hervorhebende Beweis
führung genügt haben, um ihn von der Richtigkeit meiner An
nahme zu überzeugen. Gelangten aber früher andere Forscher
zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen und zwar grossentheils
auf Grundlage derselben Quellenzeugnisse, auf welche auch
ich mich vorzugsweise stütze, muss ich voraussehen, dass man
cher sich nur ungern mit meiner Annahme befreunden, dass
es an Einwürfen gegen dieselbe, welche gerade hier bei der
Vieldeutigkeit und Unklarheit mancher ausschlaggebender Aus-
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
63
drücke der Quellen leicht eine scheinbare Stütze linden, auch
ferner nicht fehlen wird, so schien mir eine gewisse Breite
der Beweisführung nicht zu umgehen, welche sich nicht mit
dem Verfolgen eines Hauptweges begnügt, sondern nachzu
weisen sucht, dass die verschiedensten Ausgangspunkte auf
dasselbe Ergebniss hinführen, die verschiedensten Erscheinun
gen nur von ihm aus ihre genügende Erklärung finden; welche
zugleich darauf Bedacht nimmt, den voraussichtlichen Einwen
dungen möglichst von vornherein zu begegnen. Und wo es
mir trotzdem nicht gelungen sein sollte, von der Stichhaltigkeit
meiner Annahme durch die vorgebrachten Beweise zu über
zeugen, da darf ich mich wohl noch von vornherein auf das
Gewicht des bei solchen Untersuchungen gewiss nicht zu gering
anzuschlagenden Umstandes berufen, dass ich, die jetzt näher
zu begründende Annahme unablässig im Auge habend, mich
seit einer Reihe von Jahren mit den verschiedenartigsten Quellen
jener Zeit beschäftigt habe, ohne in ihnen, von dem abgesehen,
worauf ich in der folgenden Erörterung selbst hinweisen werde,
irgend etwas zu linden, was mit jener Annahme nicht in Ein
klang zu bringen wäre.
I.
1. Das Privateigenthiiin an Kirchen im Allgemeinen. — 2. Unter
schied zwischen Herrschaft und Vogtei. — 3. Zusammenhang zwischen Herr
schaft und Patronat. — 4. Das Grundeigenthum, nicht die Gründung ist mass
gebend für die Herrschaft. — 5. Erwerb der Kirchen durch Auflassung. —
6. Nothwendigkeit eines Herrn für jede Kirche. — 7. Unfähigkeit der Kirchen
zum Grundeigenthum nach germanischer Auffassung. — 8. Die Investitur als
wesentlichste Befugniss des Herrn. — 9. Einwendungen; anscheinender Erwerb
zu Eigen durch Kirchen; Herrschaft Geistlicher, welche bei Richtigkeit der
Annahme auch für die Bisthümer einen höheren Herrn nöthig macht.
1. Haben wir uns die Aufgabe gestellt, nachzuweisen,
dass die Reichskirchen mit ihrem Gute als Eigenthum des
Reiches betrachtet wurden, so wird es angemessen sein, zunächst
das Privateigenthum an Kirchen im Allgemeinen ins
Auge zu fassen. Konnte das Reich Eigentlmm an Grund und
Boden und anderen Sachen haben, wie jeder Private, so konnte
es auch wie dieser Eigeuthum an Kirchen haben, falls die Zu
lässigkeit des Privateigenthums an solchen für jene Zeiten
überhaupt zugestanden wird. Und da das bezüglich anderer
64
Ficker.
s
Kirchen schon bisher durchweg anerkannt wurde, so gewin
nen wir damit den Vortheil eines unbestrittenen Ausgangs
punktes.
Jedes Urkundenhuch bietet Belege dafür, dass man in
den Jahrhunderten, welche dem Investiturstreite vorausgingen,
dann aber auch über diesen hinaus Klöster, Pfarrkirchen und
sonstige Kirchen als Gegenstände des Privateigenthums be
handelte. Sie stehen in proprietate des Herrn, werden von
ihm als Sachen nostre proprietatis bezeichnet, in proprium oder
iure proprietatis besessen; oder iure allodii, werden in allodium
propnum gegeben, als allodium meum bezeichnet; oder als he-
reditas, werden besessen hereditario iure; oder auch iure dominii,
sind der dominatio des Berechtigten unterworfen, der sich als
ihr dominus bezeichnet; mit Häufung der Ausdrücke entsagen
1137 in Italien neun Berechtigte patriciniatu et dominio et se-
nioradio eines Klosters (Zacharia Anecdota 326). Es wird denn
auch über dieselben ganz so, wie über jedes andere Eigenthum
verfügt. Die Kirchen werden allein oder als Zubehör einer
grösseren Gütermasse vererbt, verschenkt, vertauscht, verkauft,
werden Frauen zum Witthum, Töchtern zur Ausstattung ge
geben, werden mit anderem Gute confiscirt, werden insbeson
dere häufig zu Lehen gegeben. Streitigkeiten, welche sich aus
diesem Verhältnisse ergaben, waren vor demselben weltlichen
Gerichte zum Austrag zu bringen, welches überhaupt zur Ent
scheidung von Streitigkeiten über Grundeigenthum befugt war.
Die Kirche mochte das Verhältniss missbilligen; sie mochte es
versuchen, auf das Gewissen der Eigenthümer einzuwirken,
die Uehung gewisser Befugnisse des Eigenthums als sündhaft
bezeichnen; es konnte ihr gelingen, die Staatsgewalt zu einem
Eingreifen in ihrem Sinne auf dem Wege der Gesetzgebung
zu bestimmen; sie hatte es schliesslich in ihrer Gewalt, die
Spiritualien zu sperren, die Verwendung der Kirche für
gottesdienstliche Zwecke zu untersagen, wenn der Eigenthümer
sich ihren Forderungen nicht fügte. Konnten aber solche
äusserste Schritte ihrem eigenen Interesse nicht entsprechen,
würden sie bei der Allgemeinheit des Verhältnisses das ganze
kirchliche Leben gelähmt haben, so musste sie dasselbe in dem
Umfange hin nehmen, in dem dasselbe durch das weltliche Recht
anerkannt und geschützt war.
Ueber das Eigenthum de« Reichs am Reichskirchengute.
65
2. Zwischen der Herrschaft über die Kirche und der
Vogtei ist bestimmt zu scheiden. Schon deshalb können beide
Verhältnisse nicht zusammenfallen, weil der Vogt als weltlicher
Schützer und Vertreter der Kirche immer ein Laie sein soll,
Herren der Kirchen aber sehr gewöhnlich Bischöfe, Aebte und
andere Geistliche waren. Hie Rechte des Herrn schlossen
zweifellos auch die Verfügung über die Vogtei in sich. War
derselbe ein Laie, so war es am natürlichsten, wenn er auch
die Vogtei selbst übte; doch war auch das nicht gerade immer
der Fall. War der König durch Uebertragung der Gründer
Herr der Abtei Nienburg, so sollte der Vogt aus der Familie
der Gründer gewählt werden (Cod. dipl. Anhalt. 1, 38). Auch
sonst fehlt es nicht an Beispielen, dass weltliche Herren einen
anderen Vogt setzen oder der Kirche die Wahl desselben über
lassen. War der Herr ein Geistlicher, etwa ein Bischof, so
musste die Vogtei in anderen Händen sein; die Kirche konnte
dem Vogte des Bisthums unterstehen, es konnte ihr ein beson
derer Vogt vom Bischöfe bestellt werden, es konnte ihr die
Wahl überlassen sein. Am deutlichsten tritt die Scheidung
hervor, wenn ein Laie eine Kirche an einen Geistlichen über
lässt, sich aber die Vogtei, welche dieser ohnehin nicht üben
kann, vorbehält. So gibt 1121 der Graf von Namur das Klo
ster Floreffe, quam prius ad usus nostros iure allodii tenebamus,
an den h. Norbert; advocationem vero totius possessionis et fa-
milie nobis retinuimus (Bertholet Hist, de Luxemb. 4, 2; vrgl.
Böhmer Acta 77).
3. Mit dem Patronat dagegen fällt das Eigenthum an
Kirchen wenigstens dann zusammen, wenn wir darunter die
Gesammtheit der Befugnisse verstehen, welche nach den An
schauungen irgendwelcher Zeit Privaten an einer Kirche zu
stehen konnten und zustanden, es nicht auf das beschränken,
was die Kirche in dieser Richtung für zulässig erkannte. Aber
auch wenn wir den Ausdruck im Sinne der späteren kirch
lichen Gesetzgebung fassen, findet insofern ein bestimmter
Zusammenhang statt, als uns das Patronat eine Fortsetzung des
alten Herrschaftsverhältnisses darstellt, den Rest der Befugnisse
bezeichnet, welche die Kirche den früheren Eigenthümern da
zugestand, wo es ihr gelang, in diesen Verhältnissen ihre Auf
fassung zur Geltung zu bringen.
Sitzt, d. pMl.-Mst. Cl. LXXII. Bd. I. Hft. 5
66
Ficker.
Der Ausdruck Patronus hat in dieser Richtung erst, spät
eine feststehende Bedeutung gewonnen (vrgl. Kairn Kirchen-
Patronatrecht 33. 156; Phillips K. R. 7, 642. 660). Dem Wort
sinne nach konnte er allerdings auch verwandt werden, um
den Herrn der Kirche zu bezeichnen. Aber zunächst scheint
man dabei die Vogtei im Auge gehabt zu haben, da der Vogt
auch der Patron heisst, wo er nicht zugleich der Herr ist. Der
Vogt des Bischofs von Passau heisst 898 advocatus atque pa
tronus sanctae dei casae sub ditione illius sedis episcopi consti-
tutus; das Stift Limburg wird 940 vom Gründer anscheinend
an das Reich gegeben, unter dem Vorbehalte, dass jeder künf
tige Erbe, der Schloss Limburg besitzt, haheatur eiusdem mo-
nasterii patronus et advocatus; und 1171 heisst es geradezu
patronus, qui vulgo dinevogt dicitur (Mon. Boica 28,120; Beyer
Mittelrhein. Ulk.-B. 1, 239. 2, 50). Waren in England die
Ausdrücke Vogtei und Patronat überhaupt gleichbedeutende,
so finden sich auch in kirchenrechtlichen Quellen des zwölften
Jahrhunderts beide wohl zusammengeworfen, oder es ist vom
Vogte die Rede, wo zunächst der Patron in späterer Bedeutung
gemeint ist (z. B. C. 23. 24 X 3, 38). Waren bei Laien, welche
man zunächst im Auge hatte, Herrschaft und Vogtei gewöhn
lich verbunden, so ist es erklärlich, wenn man da nicht ge
nauer schied.
Wenigstens seit dem Ende des zwölften Jahrhunderts
ist aber auch in Deutschland in den Urkunden häufig von
einem Patronatrechte die Rede, wo es die Vogtei schon des
halb nicht bezeichnen kann, weil es Kirchen zusteht oder die
sen übertragen wird (z. B. 1200. 1202: Böhmer Acta 195. 198).
Und nun wird der Ausdruck in so weit gleichbedeutend mit
dem früheren Eigenthume gebraucht, als wir als Patrone die
Personen bezeichnet finden, welche erweislich schon früher
Herren der Kirche waren. So heisst es 1210, dass die Abtei
Laach in Spiritualien ihren Gerichtsstand vor dem Erzbischöfe
von Trier habe, vor dem Erzbischöfe von Köln aber tanquam
iudice seculari et patrono; 1216 entscheidet ein Cardinal, dass
die Abtei Komburg in Spiritualien unter Wirzburg stehe, aber
unter Vorbehalt der Leistungen, welche ratione iuris patronatus
dem Erzbischöfe von Mainz zukommen; 1219 wird der Bischof
von Bamberg als Patron der Abtei Altaich bezeichnet (Günther
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskivchengute.
67
Cod. Eheno Mos. 2, 97; Mon. Boica 37, 197; Böhmer Acta 243).
In allen diesen Fällen war der betreffende fremde Bischof
schon von früherher Herr der Abtei, handelte es sich erweislich
nur um eine Fortsetzung des alten Verhältnisses. Besonders
bezeichnend ist es, wenn ein Schriftsteller dieser Zeit von dem
ius patronatus redet, welches früher dem Kaiser an der 1166
an Magdeburg vertauschten Abtei Nienburg zugestanden habe
(Chr. Montis Sereni zu 1171), obwohl das Recht des Reiches
an den Reichsabteien weder früher noch später so bezeichnet
wurde; der Ausdruck musste ihm also geeignet erscheinen zur
Bezeichnung des Herrschaftsverhältnisses, wie es früher bestand.
Genauer zu untersuchen, in wie weit es sich auch jetzt
noch da, wo von einem Patronatrechte die Rede ist, um die
ausgedehnten Befugnisse des früheren Eigenthums handeln
kann, ist für unseren Zweck nicht erforderlich. Denn in die
ser späteren Zeit ist zumal vom Standpunkte des kirchlichen
Rechtes das Rechtsverhältniss der Reichskirchen zum Reiche
vom Patronate durchaus verschieden. Die kirchliche Gesetz
gebung des zwölften Jahrhunderts war bemüht, den Begriff des
Privateigenthums au Kirchen überhaupt zu beseitigen, dem
früheren Eigenthiuner nur noch gewisse beschränkte Befugnisse
an der Kirche zuzugestehen und auch diese dem Gebiete des
weltlichen Rechtes zu entziehen (vrgl. Kaim a. a. 0, 1, 175;
dann insbesondere die mir erst kurz vor Abschluss der Arbeit
bekannt gewordene gründliche Darstellung bei Phillips K. R.
7, 645 ff.). Wie langsam ihr das gelang, wie lange das alte
Verhältniss sich trotzdem vielfach fast ungeändert erhielt, würde
sich leicht nacliweisen lassen. Andererseits ergibt sich aber
doch, dass, wo im dreizehnten Jahrhunderte vom Patronat
rechte, zumal bei Laien die Rede ist, mehr und mehr nur die
beschränkten, von der Kirche als zulässig erkannten Befugnisse
zu verstehen sind; es ergibt sich das insbesondere daraus, dass
als Hauptbefugniss des Patron jetzt sehr häufig zunächst nur
das Rocht der Präsentation des Priesters betont wird.
Waren thatsächlich die Befugnisse der früheren Eigentü
mer noch ausgedehntere, findet sich insbesondere trotz des be
stimmten Verbots auch wohl noch von Laien die Investitur
ertheilt, so konnte das jetzt vom kirchlichen Standpunkte aus nur
noch als unzulässige Anmassung erscheinen. Nach einer Seite
68
Ficker.
hin hatte da aber die Kirche selbst eine Ausnahme gestattet;
die herkömmliche Investitur der Bischöfe und Aebte des Reiches
durch den König wurde 1122 auch von der Kirche als zu
Rechte bestehend anerkannt. Nehmen wir daher vorläufig an,
was wir später genauer zu erweisen haben werden, die Stellung
der Reichskirchen zum Könige sei ursprünglich einfach die
selbe gewesen, wie die anderer Kirchen zu ihren Herren, so
hat sich seit dem Investiturstreite das früher einheitlich ge
staltete Verhältniss in wesentlich verschiedener Richtung weiter
entwickelt. Bei den Reichskirchen setzt sich das alte Verhält
niss ohne wesentliche Aenderung seines ursprünglichen Cha
rakters fort; die Versuche der Kirche, es auch hier in seiner
Wurzel zu beseitigen, werden aufgegeben, während es ihr dann
allerdings gelingt, das Königthum zum Aufgeben bald dieser,
bald jener daraus entspringenden Einzelbefugniss zu nötliigen,
so dass es nicht blos in seinen Formen, sondern auch in seinen
Befugnissen in eine blosse Lehensherrlichkeit übergeht, insbe
sondere bezüglich des mit dem Lehen verbundenen Kirchen
amtes dem Könige schliesslich nicht einmal so viel Einfluss
verbleibt, als die Kirche selbst den Patronen verstattet. Bei
anderen Kirchen dagegen, wenigstens so weit sie Laien z\i-
stelien, wird das Verhältniss in seiner Wurzel beseitigt, das
dem weltlichen Rechtsgebiete angehörende Eigenthumsrecht
überhaupt von der Kirche nicht mehr anerkannt und nur ein
schwacher Ersatz durch die Befugnisse dos dem Gebiete des
Kirchenrechtes angehörenden Patronats gewährt.
Ist so der unmittelbare Zusammenhang zwischen dem frü
heren Eigenthume und dem späteren Patronate auch unzwei
felhaft, so wird es sich doch nicht empfehlen können, den
letzteren Ausdruck auch für das frühere, auf wesentlich ande
ren Anschauungen beruhende Verhältniss zu gebrauchen; zumal,
wie gesagt, das Patronat nicht die einzige Fortsetzung desselben
ist. Auch etwas anderes wird da zu beachten sein. Man wird
das Patronat im engeren Sinne nicht gerade als eine neue Ein
richtung betrachten müssen, man kann es als ein von jeher in
der Kirche bestehendes Institut behandeln, insofern schon in
der vorgermanischen Zeit Privaten einzelne Befugnisse, welche
wir bei dem späteren Patronate wiederfinden, kirchlicherseits
zugestanden waren. Fasst man nun alle und jede Befugnisse,
lieber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
69
welche in verschiedenen Zeiten Privaten an Kirchen zustanden,
als Patronat zusammen, so muss das die Anschauung nahe
legen, als sei jenes weitergreifende Herrschaftsverhältniss nur
als eine Ausartung des schon früher kirchlich geregelten Patrona
tes zu betrachten, während dasselbe, wie mir scheint, mit diesem
höchstens in ganz untergeordneter Verbindung steht, wesentlich
durch besondere germanische Rechtsanschauungen begründet
wurde. Wenigstens für unsere nächsten Zwecke wird da durch
aus zu scheiden sein. Ich bezeichne als Herrschaft den Inbe
griff aller der Befugnisse, welche auf das vom weltlichen Rechte
anerkannte und geschützte, von der Kirche nur geduldete Eigen
thum an Kirchen zurückgehen, während der Ausdruck Patronat
auf die Befugnisse zu beschränken ist, welche das Recht der
Kirche selbst unter Beseitigung des Eigenthumes Privaten an
einer Kirche gestattete.
4. Fragen wir nach dem Ursprünge der Herrschaft
über eine Kirche, so scheinen wir da zunächst auf die Grün
dung hingewiesen zu sein. Wo wir den Gang genauer ver
folgen können, finden wir durchweg, dass das Eigenthum der
Kirche dem Gründer und seinen Erben zustcht, oder demjeni
gen, dem diese ihr Recht übertragen haben. Dem entsprechend
heisst es oft, dass eine Kirche jemandem iure fundationis zu
stehe. Auch scheint der Ausdruck Fundator wohl gebraucht, wo
man weniger den Gründer oder dessen Rechtsnachfolger, als
den Herrn überhaupt im Auge hatte; so wenn der zeitige Erz
bischof von Trier als Fundator der ihm gehörenden Pfarrkir
chen bezeichnet wird (Beyer 2, 413. 414. 421).
Gestattete nun die Kirche von jeher dem Gründer gewisse
Befugnisse, so könnte allerdings dieses Verhältniss eine Auf
fassung befürworten, wonach die Herrschaft nur auf einer
missbräuchlichen Ausdehnung jener Befugnisse beruhen würde.
Eine genauere Beachtung der gebrauchten Ausdrücke ergibt
aber bald, dass da eine ganz andere Auffassung zu Grunde
lag, dass das Entscheidende nicht die Gründung als solche ist,
sondern das Eigenthum an Grund und Boden, auf wel
chem die Kirche gegründet ist und welches dem Gründer auch
nach der Gründung verbleibt, nicht etwa auf die Kirche selbst
oder deren kirchlichen Vorgesetzten übergeht.
70
Ficker.
Nur deshalb fiel beides tliatsächlich meistens zusammen,
weil der Gründer die Kirche in der Regel auf seinem Allod
erbaute. Gründete er sie auf fremdem Eigenthum, so standen
ihm zweifellos auch keinerlei Eigenthumsrechte an derselben
zu. Als es sich 1159 um die Aufnahme der kaiserlichen Boten
in den Pallästen der Italienischen Bischöfe handelte, erklärte
der Kaiser, dass diese nur dann den Bischöfen gehörten, wenn
sie auf deren eigenem Boden lägen; si autern in nostro solo st
allodio sunt palacia episcoporum, cum profecto omne, quod inae-
dificatur, solo cedat, nostra sunt et palatia (Mon. Germ. L. 2, 115).
Nicht anders konnte das bei Kirchen sein, wenn diese über
haupt in Privateigenthum stehen konnten. Das Kloster Ilfeld
gehört nicht dem Grafen von Honstein als Nachkommen des
Gründers, sondern dem Reiche, weil es von den Vorfahren
jenes in fundo imperii erbaut war (Böhmer Acta 300). So kann
es insbesondere keinem Zweifel unterliegen, dass an eine auf
Lehngut erbaute Kirche nur die lelmrechtlichen Erben An
sprüche hatten, dass sie in Ermanglung solcher nicht auf die
landrechtlichen Erben überging, sondern mit dem Lehengute
dem Herrn heimfiel.
Dieses Bedingtsein der Herrschaft über die Kirche durch
das Grundeigenthum wird überaus häufig betont. Es heisst, dass
die Kirche in allodio, in patrimonio des Herrn liege; noch in
der späteren Entwicklung ist Rede von dem ius pätronatus allo
dio annexwn. Bei weitem am häufigsten wird in dieser Rich
tung das Eigenthum am fundus ecclesie hervorgehoben. Dem
Herrn steht die proprietas fundi zu; eine Kirche wird einem
Andern überlassen cum pleno fundi dominio; um 1160 sagt
der Kaiser, dass, wenn der fundus ecclesie adj laice persone do
minium gehöre, so komme dem dominus fundi ein Drittel des
Nachlasses des Geistlichen zu (Böhmer Acta 107). Besonders
häufig heisst es, dass die Kirche Jemandem ex iure fundi ge
höre, ein Ausdruck, der denn auch wohl gebraucht wird, um
das weltliche Abhängigkcitsverhältniss vom kirchlichen zu
scheiden; so wenn der Erzbischof von Mainz bestätigt, ut cella
illa cum allodiis suis iure fundi Metensi attineret ecclesie, iure
autem dioecesario mihi meisque successoribus (Calmet Hist, de
Lorraine 2, 338). Oder die Herrschaft wird darauf zurückge
führt, dass die Kirche in fundo Jemandes liege oder gegründet
Ueber (las Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
71
sei; die Herrschaft der Abtei Tegernsee über Dietramszell wird
1180 dadurch begründet, dass letztere Kirche in fundo Tegern-
seensis ecclesie constructa et ex bonis eins ampliata et dotata sei
(Meichelbeck Hist. Fris. 1, 372); Heinrich der Löwe bestätigt
einen Tausch zwischen zwei Klöstern, quia utraque abbatia in
fundo nostro esse et ad nos respecüim habere dinoscitur (Stumpf
Acta Magunt. 78).
5. Dem entsprechend wird denn auch die Herrschaft einer
Kirche in derselben Weise erworben, wie anderes Grundeigen
thum, also da, wo es sich nicht um Ererbung handelt, durch
Traditio, durch Auflassung. Die Auflassung von Kirchen
wird überaus häufig erwähnt; und wo uns genauere Angaben
vorliegen, begegnen wir ganz denselben Formen und Ausdrücken,
wie sie auch sonst bei der Uebertragung von Grundeigenthum
üblich sind.
Das Kloster Lorsch wird vom Grafen Cancor und seiner
Mutter gegründet, dann sub traditionis titulo einem ihrer Ver
wandten, dem Erzbischöfe Ruotgang von Metz übergeben, und
zwar in sein persönliches Eigenthum, nicht etwa in das seiner
Kirche, da es ausdrücklich heisst, nullius quidem episcopii seu
cuiuslibet ecclesie ivri aut dominio subiicientes. Ruotgang über
gibt dann das Kloster mit allem Zubehör eo tenore, quo sibi
tradita fuerant, an seinen Bruder Gundeland, welcher nach
jenes Tode traditum sibi a fratre locum verwaltet. Von ihm
will nun der Sohn Cancor’s den Ort propnetatis titulo vendi-
care, behauptend, quod suits pater C. cum de ipso monasterio
vestitum dimisisset. Gundeland erweist dann aber im Hofgerichte
die Tradition an Ruotgang, worauf jener von seinen Ansprüchen
auf das Kloster abstelit und sich per festucam ante nos (regem)
exinde dixit exitum. Da dann aber Gundeland, obwohl in iuris
sui quieta possessione cohfirmatus, weitere Anfechtungen fürch
tete, monasterium cum omnibus illuc pertinentibus in manus et
mundeburdem regis Kqroli trad.idit; von da ab gehörte es dem
Reiche (vrgl. Chr. Lauresham. Mon. Germ. 21, 341 ff.).
Das Kloster Elten war vom Grafen Wichmann dotirt,
eine seiner Töchter zur Aebtissin bestellt und das Kloster
selbst dem Könige übergeben. Nach dem Tode der ersten
Aebtissin bestritt die andere Tochter die Rechtsbeständigkeit,
weil nach sächsischem Rechte der Vater ohne ihre Einwilligung
72
Ficker.
nullam potuisset facere traditionem. Dieser Streit wurde 996
vor dem Kaiser geschlichtet. Zunächst erhielten die Tochter
und ihr Mann durch retraditio vier Höfe aus dem Klostergut.
Weiter sagt der Kaiser dann von ihrem Manne: idipsum mo-
nasterium sua propria suaeque coniugis manu in nostrum publice
contradidit mondiburdium, et sicut mos est laicorum cum festuca
ab eodem semet exuit praedio; — insuper B. omnia eiusdem
monasterii praedia, quae prior abbatissa duntaxat in sua Tiabuit
potestate et investitura, ad reliquias sancti Viti — concessit ra-
dicitusque contradidit (Lacomblet Urk. B. 1, 78).
Von den Gründern des Klosters Ravengirsburg sagt 1074
der Erzbischof von Mainz: predia sua — ad altare s. Christo-
pliori martiris in loco R. nominato, quem locum comes idem liere-
ditario iure possederat et in dotem eidem coniugi sue donaverat,
potestativis manibus legaverunt\ ebenso ihre Servientes; dann
erst geben sie predictum locum R> et omnia, que vel prius illuc
pertinebant vel que ipsi postea illuc tradiderant, an den Altar
des h. Martin im Dome zu Mainz, -also an das Erzbisthum,
damit der Erzbischof dort ein Kloster gründe. Ea mancipatione
ita verborum nexu peracta et investitura prediorum eorundem ad
sedem nostram triduana possessione per ecclesiasticos servientes
nostros, sicut ms et mos postidat, confirmata, geht der Erzbischof
an Ort und Stelle; et bonis predictis et illius loci servientibus
in potestatem nostram per iuramenta susceptis, nec non comite B.
et uxore eins H. proprietate in eisdem prediis et mancipiis sti-
pula abrenuntiantibus omnia episcopali banno stabilivimus (Beyer
1, 431).
Nach Urkunde von 1123 gab Graf Werner einem seiner
Vasallen ins et potestatem, quam ipse habebat de dando et con-
tradendo cenobio, quod vulgariter sale vocant, damit er im Falle
seines Todes das Kloster mit allem Zubehör, cum omni propne-
tate et iusticia, qua illud hereditario iure f. m. W. comes et
filius eius R., primitivi illius ecclesie fundatores, omnisque pro-
genies usque in illum diem possiderant, an die Kirche von Mainz
in perpetuam proprietatem übergebe (Guden Cod. dipl. 1, 60).
Solche Vermittlung von Treuhändern wird auch sonst wohl
erwähnt. So heisst es 1161, dass Jemand auf seinem Eigen
ein Kloster erbaut habe, welches er ad altare C. Kyliani mar
tiris et ad episcopatum Werzeburgensem per manum FT. et B. de
lieber das Eigentlmm des Reichs am Reichskircliengute.
73
T. , in quorum potestatem per fidei commissum prefatum territo-
rium venerat, donavit et tradidit (Mon. Boica 37, 80).
Wie festgewurzelt die Anschauung war, dass das Eigen-
tlium an einer Kirche nur in den für die Erwerbung an Grund-
eigenthum überhaupt üblichen Formen erworben werden könne,
zeigt sich am deutlichsten darin, dass man später in Fällen, wo
jede weltliche Herrschaft ausgeschlossen sein sollte, an der
Form insofern festhielt, als die Auflassung an Gott und be
stimmte Heilige erfolgte. So wird 1099 ein Kloster übergeben Deo
ets. Benedicto sollemni traditione omnino in proprietatem (Wirtemb.
U. B. 1, 315); ähnliche Ausdrücke finden sich in dieser Zeit
sehr häufig, ln naivster, an Deutlichkeit nichts zu wünschen
übrig lassender Weise zeigt sich die Form 1129 bei Gründung
des Klosters Schiffenburg, wo die Gründerin den Platz mit
Zubehör per manum G. mariti sui — sunimo deo creatori et
gubernatori omnium beatissimeque dei genitrici Marie libere con-
tradidit, cirotheca in altum quasi ad deum proiecta (Beyer 1, 524).
Oder 1029 in Italien, wo solche Formen früher Vorkommen:
per cultellum, fistucam nodatam, wantonem et per ivasonem terrae
atque per ramum arboris ad eundem deum et ad praefatos sanc-
tos eius legitimam facimus traditionem et investituram (Muratori
Antiq. 1, 344).
6. Schon der Umstand, dass man in solchen Fällen das
Herrschaftsverhältniss nicht einfach unberücksichtigt liess,
wenigstens einen überirdischen Eigentliümer nicht glaubte ent
behren zu können, führt uns auf die Anschauung der Noth-
wendigkeit eines Herren für jede Kirche. Hätte das von
jeher Gott oder ein Heiliger sein können, so wäre damit aller
dings die Ausschliessung thatsächlicher irdischer Herrschaft
zulässig gewesen. Aber es handelt sich bei 'dieser Fiction um
eine Auffassung, welche wenigstens in Deutschland erst in der
Zeit des Investiturstreites aufgekommen sein wird, da ich kein
früheres Beispiel dafür finde. Auflassungen an den Heiligen
als Repräsentanten seiner Kirche finden sich allerdings sehr
häufig. Aber es ist da wohl zu unterscheiden. Was ihm auf
gelassen wird, sind einzelne Güter und Rechte, welche dann
einen Zubehör der Kirche bilden; nie aber die Kirche oder
der Fundus ecclesiae selbst. Ganz deutlich zeigt sich das in
den mitgetheilten Angaben über Elten und Ravengirsburg. Es
74
F i c k e r.
handelt sich da um eine doppelte Auflassung-; die bezüglichen
Güter werden an die Reliquien des h. Vitus oder den Altar
des h. Christopliorus aufgelassen, also an die bezügliche Kirche;
diese Kirche selbst aber dort an den Kaiser, liier an den Erz
bischof von Mainz. So überaus zahlreich die Fälle sind, dass
der Gründer oder Eigentliümer einer Kirche seine und seiner
Erben Eigentliumsrechte aufgibt, so finde ich doch in früherer
Zeit kein Beispiel, dass er dieselben der Kirche selbst oder
dem diese vertretenden Heiligen überträgt. Die Kirche wird
immer übergeben in das Eigenthum eines anderen Herrn, sei
es des Königs oder anderer Laien, sei es des römischen Stuh
les, eines Bisthums, einer Abtei; kann auch dabei die Form
der Auflassung- an einen Heiligen Vorkommen, so ist das nicht
der Heilige der Kirche selbst, sondern der Heilige der zur
Herrschaft über sie berufenen Kirche.
Das wird nun aber dadurch besonders beachtenswerth,
dass die bezüglichen Zeugnisse oft zweifellos ergeben, dass der
Herr, der auf seine Eigenthumsrechte verzichten wollte, die
Uebertragung derselben auf einen anderen geistlichen oder
weltlichen Herrn als ein nothwendiges Uebel betrachtete, als
etwas, was er gern vermieden hätte, wenn das überhaupt zu
lässig gewesen wäre. In manchen Fällen konnte allerdings die
Ueberlassung an einen anderen Herrn durch sein materielles
Interesse veranlasst sein; war das Eigenthum an Kirchen durch
weg ein nutzbringendes, so konnte die Ueberlassung durch eine
entsprechende Gegenleistung veranlasst sein. Aber das ist
keineswegs überwiegend der Fall. Man sieht deutlich, dass für
die Bestimmungen, welche der Gründer bezüglich seiner Kirche
traf, sei es, dass er sie sich und seinen Erben vorbehielt, sei
es, dass er sie einem anderen Herrn überliess, sehr häufig das
eigene Interesse gar nicht massgebend war, sondern lediglich
die Erwägung, wie das Interesse der Kirche selbst am besten
zu wahren sei. Dabei ergibt sich dann häufig, dass die Grün
der selbst sichtlich das Fortbestehen einer Herrschaft über die
Kirche als etwas für diese Bedenkliches betrachten. Die Herr
schaft lassen sie trotzdem bestehen. Aber sie treffen die ver
schiedenartigsten Bestimmungen, um wenigstens einem Miss
brauche des Eigenthums Verhältnisses möglichst vorzubeugen,
dasselbe der Kirche möglichst wenig fühlbar zu machen. Der
Ueber «las Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute.
75
Gründer verpflichtet etwa seine Erben, keinerlei Leistungen
von der Kirche anzusprechen, sie nicht unter sich zu tlieilen,
ihr keine Güter zu entziehen. Oder er gibt sie an den König
oder an einen Bischof, bedingend, dass die Kirche zu keinen,
oder doch nur zu geringen, fest bestimmten Leistungen ver
pflichtet sein soll. Für den Fall eines Missbrauches der Herr
schaft durch den Bischof wird wohl bestimmt, dass dieselbe an
die Erben zurückfallen oder auf die römische Kirche über
gehen soll. Aber auch hei dieser hielt man sich gegen Miss
brauch nicht gesichert; 1085 gehen die Gründer ein Kloster
an die römische Kirche, aber so, dass es an die Erben zurück
fallen soll, wenn der Papst es einer anderen Gewalt unterwirft
(Yerci Ecelini 3, 16). Am bezeichnendsten in dieser Richtung
dürfte die Urkunde sein, durch welche Graf Ulrich von Lenz
burg 1036 die Verhältnisse der von seinen Eltern gegründeten
und ihm gehörenden Stiftskirche Beromünster ordnet (Schannat
Vindemiae 1, 773). Lange, sagt er, habe er darüber nachge
dacht, qualiter post obitum meum eadem canonica liberaliter deo
servire väleat. Regalem nolui facere nisi cocictus, quoniam saepe
accidit, si parva res in manus magnorurn venerit, nt vel omnino
negligatur, aut partim defendätur. Auch habe er sie nicht seinen
Enkeln insgesammt überlassen wollen, da diese sie dann unter
sich tlieilen würden. Er habe sie daher schliesslich einem seiner
Enkel tradirt, und zwar so, dass sie auch in Zukunft immer
nur auf einen einzigen, und zwar den ältesten Erben über
gehen solle; diesem werden dann eine Reihe von Verpflichtun
gen auferlegt, welche die Kirche gegen Missbrauch seiner Ge
walt schützen sollen. Hält er diese nicht ein, so seil die Kirche
unter denselben Verpflichtungen an den Bischof von Constanz
kommen. Quod si idem epnscopus vel aliquis advocatus, quem
ille vice sua posuerit, suadente liumana malitia praefatam cano-
nicam neglexerit et canonicos iniuste disturbaverit et praescriptam
constitutionem irritam fecerit, tune ipse et ecclesia sua praeno-
minatum locum et omnia, quae illius sunt, penitus amittat, et
Imperatorquicumque tune temporis erit, succedat et teneat et
perpetuae libertatis privilegio eundem locum amplificet; ipsi vero
imperatori non pono auctorem vel iudicem, nisi deum regem
regum, a quo cogatur in die iudicii reddere rationem, quam, bene
et caute praedictam canonicam studuerit tueri.
76
Ficker.
Wenn man so das Bedenkliche jeder Herrschaft nicht
verkannte und zugleich bereit war, für sich und seine Erben
auf jeden materiellen Vortheil zu verzichten, weshalb sah man
dann nicht lieber von jedem Herrn für die Kirche ganz ab?
weshalb übertrug man das massgebende Grundeigenthum nicht
einfach der Kirche selbst oder dem Heiligen derselben? Aller
dings wird bei solchen Verfügungen durchweg der Schutz des
Herrn betont. Aber das Bedürfniss weltlichen Schutzes konnte
da nicht das massgebende sein. Denn für diesen war der Vogt
bestimmt, und wir wiesen bereits nach, dass Herrschaft und
Vogtei bestimmt auseinander zu halten sind. Von diesem Ge
sichtspunkte aus wären nur die Verhältnisse der Vogtei zu
ordnen gewesen. Und das zeigt sich denn auch, als man spä
ter wirklich aufing, von einem weltlichen Grundherrn abzu
sehen; so wird 1129 das Grundeigenthum des Kloster Schiffen-
burg Gott und der h. Jungfrau übertragen, die Vogtei aber
dem ältesten Erben der Gründerin (vrgl. §. 5). Und wenn man
sich später durch das Bedürfniss weltlichen Schutzes nicht ab
halten liess, das Grundeigenthum Gott oder dem Heiligen der
Kirche zu übertragen, weil man weltliche Herrschaft fern halten
wollte, so ist nicht abzusehen, weshalb man das aus demselben
Grunde nicht schon früher that.
Finden wir demnach, dass bis auf die Zeit des Investitur
streites auch da, wo man die weltliche Herrschaft als ein Uebel
betrachtete und dieselbe im Interesse der Kirche gern aufge
geben hätte, dieselbe dennoch vom Gründer oder Eigenthümer
festgehalten oder auf Andere übertragen wird, so muss das
doch nothwendig auf die Anschauung führen, dass man die
selbe damals als unerlässlich betrachtete. Dass Kirchen in jener
Zeit einen Privateigenthümer, einen Grundherrn haben konn
ten, war schon bisher allgemein anerkannt. Nach dem Gesagten,
welches in späteren Erörterungen weitere Unterstützung finden
wird, glaube ich da einen Schritt weitergehen und annehmen
zu dürfen, dass jede Kirche einen solchen Herrn haben musste.
7. Haben wir das Verhältniss nicht als Ausnahme, son
dern wenigstens im deutschen Reiche als Regel zu betrachten,
so muss dasselbe auf einem ganz allgemeinen Gesichtspunkte
beruht haben, der nicht blos bei einzelnen, sondern bei allen
Kirchen zutraf. Kirchliche Gesichtspunkte müssen bei einer
Ueber das Eigentlium des Reichs am Reichskirchengute.
77
Einrichtung, welche die Kirche immer nur widerstrebend hin
nahm, ausser Rechnung bleiben; es muss sich um Gesichts
punkte des weltlichen Rechtes handeln. Da fanden wir nun,
dass das die Herrschaft über die Kirche Begründende das Eigen
thum am Grund und Boden ist, auf welchem die Kirche erbaut
war (vrgl. §. 4). Musste aber nach unserer Annahme jede Kirche
einen Herrn haben, so ergibt sich daraus weiter, dass keine
Kirche Eigenthümerin des Grundes und Bodens war, auf wel
chem das Kirchengebäude stand. Gerade bei diesem müssten
wir aber gewiss Eigenthumsrechte der betreffenden kirchlichen
Stiftung vorzugsweise erwarten, wenn dieselbe überhaupt des
Grundeigenthums fähig war. Und damit scheint doch ziemlich
bestimmt der Weg gewiesen, wie jene auffallende Erscheinung
der Notwendigkeit eines Herrn für jede Kirche zu erklären
ist. Der Grund wird zu suchen sein in Unfähigkeit der
Kirchen zum Grundeigenthume nach germanischer, insbe
sondere wohl fränkischer Rechtsanschauung.
Das römische Recht fasste allerdings die kirchliche Stif
tung als juristische Person, welche als solche Eigenthum haben
konnte. Diese Auffassung scheint dem deutschen Rechte in
früherer Zeit durchaus fremd zu sein. Man sieht das wohl am
deutlichsten daraus, dass nicht einmal Besitz und Genuss der
kirchlichen Stiftung als solcher zustehen, sondern, worauf wir
zurückkommen, nur dem zeitigen Vorsteher. Für das Grund
eigenthum zumal verlangte man zweifellos bestimmte physische
Personen. Selbst als die alte Auffassung sich lockerte, als man
von einem irdischen Grundherrn absah, legte man, wie wir
sahen, für diesen Zweck zunächst Gott oder dem Heiligen pri
vatrechtliche Persönlichkeit zu.
Allerdings ist die kirchliche Stiftung durch eine physische
Person, den Bischof, Abt oder sonstigen Vorsteher, vertreten.
Diese kann auch zugleich Grundeigentümer der Kirche und
ihres Gutes sein. Sie kann die Kirche, wie das oft vorkommt,
ererbt, oder auf ihrem Grund und Boden gebaut haben, oder
es kann ihr dieselbe vom Eigentümer überlassen sein. Einen
solchen Zustand fanden wir zu Lorsch, wo die beiden ersten
Aebte zugleich die Eigentümer waren (vrgl. §. 5). Aber auch
damit war für das dauernde Recht der Kirche nichts gewonnen,
da es kein Mittel gab, die Eigentumsrechte des zeitigen Vor-
78
Ficker.
atehers auf den jedesmaligen Nachfolger zu übertragen. Auf
dem regelmässigen Wege der Vererbung würde die Grund
herrschaft an die natürlichen Erben gekommen, damit also
durchweg der Kirche entfremdet sein. Um das zu verhüten,
bot sich nun allerdings das Mittel, das Eigenthum schon bei
Lebzeiten der Person aufzulassen, welche zum Nachfolger be
stimmt war. In Einzelfällen wurde dieser Weg wirklich ein
geschlagen; wir sahen, dass das Kloster Lorsch vom ersten
Vorsteher schon bei Lebzeiten dem Bruder, der dann nach
folgte, aufgelassen wurde. Dass sich damit aber durchgreifend
nicht abhelfen liess, liegt auf der Hand. Wollte man das
Kirchengut nicht der Gefahr aussetzen, bei einem plötzlichen
Todesfälle den natürlichen Erben oder als herrenlos dem Kö
nige zuzufallen, so hätte der Vorsteher dasselbe schon gleich
bei seinem Amtsantritt einem zur Nachfolge Bestimmten auf
lassen müssen, was doch nicht statthaft sein konnte, oder wäre
zur Herstellung einer kirchlichen Succession auf ähnliche künst
liche Mittel verwiesen gewesen, wie sie jetzt wohl da ergriffen
werden, wo der Staat die Kirche nicht als eigen thumsfähig be
trachtet (vrgl. Poschinger Kirchenvermögen 301), welche aber,
ohne dass es nöthig sein dürfte, das genauer zu begründen,
den einfachen und andersgestalteten Rechtsverhältnissen jener
Zeit gegenüber kaum durchführbar gewesen sein würden.
Als einfachster Weg, um unter solchen Verhältnissen
der Kirche Besitz und Genuss ihres Gutes dauernd zu sichern'
erscheint zweifellos der, dass die bezüglichen Rechte der Kirche
gedeckt werden durch das Eigenthum einer Person, welche
nicht allein persönlich dos Eigenthums fähig, sondern auch
fähig ist, dasselbe in einer den Interessen der Kirche entspre
chenden Weise zu vererben. Dieser Weg wird ja auch jetzt
wohl da eingeschlagen, wo der Staat ein Eigenthum der Kirchen
nicht anerkennt, oder doch für die Zukunft befürchtet wird,
dass er es nicht achten wird. Freilich wird dem Interesse der
Kirche damit nur dann genügend gedient seiu, wenn sie über
zeugt sein darf, dass der Erbe sein Eigenthumsrecht nicht
missbraucht. Dass das in jener früheren Zeit nicht durch
weg zutraf, zeigen die Thatsachen, zeigen die mancherlei Vor
kehrungen, welche in dieser Richtung getroffen wurden (vrgl.
§. 6). Aber man wird das als das geringere Uebel haben hin-
lieber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
79
nehmen müssen. Es spricht das nur um so mehr dafür, dass
man den Rechtsverhältnissen jener Zeit gegenüber keinen an
deren hinreichend sicheren Weg zu finden wusste, als den, das
Besitzrecht der des Eigenthumes unfähigen Kirche durch das
Eigenthumsrecht des Herrn zu decken. Auf dieses Yerhältniss
ist es wohl zu beziehen, wenn es in der Chronik von Lippolds-
berg vom Sohne derjenigen, welche die Kirche dotirt hatte,
heisst: Erat enim ex successione matris quasi caracter et titulus
dotis huius ipsius ecclesiae (Mon. Germ. 20, 548).
8. Versuchte ich es, die Nothwendigkeit eines Herrn für
die Kirche durch die Unfähigkeit derselben zum Grundeigen
thum zu erklären, so scheint mir die Bürgschaft für die Rich
tigkeit dieser Annahme darin zu ligen, dass von ihr aus und,
wie ich denke, nur von ihr aus die besondere Gestaltung jenes
Herrschaftsverhältnisses ihre genügende Erklärung findet. Ver
anlasst durch die Weiterentwicklung des Verhältnisses im spä
teren Patronate, wo das Hauptgewicht auf die Präsentation
fällt, fasst man als wesentlichste Befugniss auch der früheren
Herrschaft wohl die Bestellung des Kirchenvorstehers. Das ist
zweifellos nicht richtig. Allerdings liegt diese ursprünglich
wenigstens in so weit in der Befugniss des Eigenthümers, als
niemand ihn nöthigen konnte, einer ihm nicht genehmen Person
den Besitz seines Eigenthums zu übertragen, die Kirche sich
demnach auch dazu verstehen musste, die in ihrem Interesse
zu stellenden Forderungen auf das geringste Maass zu beschrän
ken, es nur zu oft hinnehmen musste, wenn selbst diese unbe
achtet blieben. Aber der Herr kann im Interesse der Kirche
auf diese Befugniss ganz verzichten, sich da jedes Einflusses
begeben; es kann die Person, welche zeitweise die Kirche und
deren Gut besitzen soll, anderweitig bestimmt, insbesondere
auch von anderen gewählt sein, ohne dass er deshalb irgend
wie aufhört, Herr der Kirche zu sein. Haben wir angenommen,
dass das Verhältniss zunächst im Interesse der Kirchen selbst
begründet war, so werden wir das Wesentliche desselben auch
nur in solchen Befugnissen des Herrn suchen dürfen, welche
dieser, auch wenn er seinerseits dazu bereit wäre, im Interesse
der Kirche selbst nicht aufgeben kann.
Diese wesentliche, für das ganze Verhältniss massgebende
Befugniss liegt nun zweifellos vor in dem Rechte des Herrn
80
Picker.
auf Ertheilung der Investitur. Nach unserer Annahme be
ruhte das Verhältniss auf dem Bedürfnisse, der Kirche Besitz
und Genuss ihres Gutes zu sichern. Auch ein Besitzrecht konnte
strenggenommen nicht die Kirche als solche haben, sondern
nur die bezügliche physische Person, ihr jedesmaliger Vorsteher.
Dieser aber konnte ein gerichtlich geschütztes Recht auf Besitz
und Genuss von Gütern, welche nicht sein Eigenthum waren,
lediglich dadurch erhalten, dass ihm vom Eigenthümer eine
Gewere an der Kirche und ihrem Gute übertragen wird, wie
das eben bei der Investitur geschieht. Die Investitur kann
daher nicht beseitigt werden, da sie keineswegs eine nur dem
Interesse des Herrn dienende Befugniss ist, sondern das einzige
Mittel, der Kirche den Besitz ihres Gutes zu verbürgen, so
lange man an der Anschauung festhielt, dass dasselbe nicht im
Eigenthum der Kirche selbst stehen könne.
Bei der Investitur, so weit sie für uns in Betracht kommt,
übergibt der Eigenthümer dem zu Investirenden einen die Sache,
um welche es sich handelt, sinnbildlich vertretenden Gegenstand
in der Absicht, ihm dadurch ein Recht auf Besitz und Genuss
der Sache selbst einzuräumen. Dass es sich dabei nach den
Anschauungen jener Zeit selbst auf der einen Seite um Eigen
thum, auf der anderen um Besitz fremden Eigenthums handelt,
zeigt besonders deutlich eine Angabe des Placidus von Nonan-
tola: Investitura ideo dicitur, qnia per hoc signum, quod nostri
iuris est, alicui nos dedisse monstramus; quod enim nOstrum est,
cum alicui ex nostva quirle ad possidendum concedere volumus,
eum exinde investire curamus, significantes videlicet et hoc signo
illud, quod. daraus, nobis iure competere, et illum, qui accipit,
quod nostrum est, per nos possidere (De honore eccl. c. 68 bei
Pez Thes. anecd. nov. 2 b, 112). Dabei sehen wir von dem,
später näher zu erörternden Umstande vorläufig ab, dass die
Investitur nicht gerade immer unmittelbar vom Eigenthümer
selbst ertheilt wird, sondern häufig von einer Person, welche
selbst nur ein durch Investitur vom Eigenthümer erworbenes
Besitzreeht an der Sache hat.
Welches Symbol dabei angewandt wird, ist an und für
sich gleichgültig, wie ja auch bei der feudalen Investitur das
Lehngut durch die verschiedenartigsten Gegenstände vertreten
wird. Nur herkömmlich bediente man sich bei Aebten des
üeber das Eigenthum des Reichs am Reichskircliengute
81
Stabes, wozu bei Bischöfen noch der Ring kam. Als die Sache,
an welcher das Besitzrecht eingeräumt wird, erscheinen nicht
einzelne mit der Kirche verbundene Güter und Rechte, sondern
in erster Reihe die im Eigenthume des investirenden Grund
herrn stehende Kirche selbst; mit dieser Hauptsache wird dann
zugleich das Recht auf den Besitz aller Güter und Rechte er
worben, welche einen Zubehör derselben bilden. Gewöhnlich
ist daher nur schlechtweg von der Investitura ecclesiae oder
häufig gleichbedeutend von dem Donum ecclesiae die Rede. Letz
terer Ausdruck ist daraus zu erklären, dass man die Investitur
als eine Schenkung auf Lebenszeit des Empfängers fasste. Das
tritt besonders deutlich hervor in einer königlichen Urkunde
von 914, in welcher die Investitur des gewählten Abtes von
Lorsch bekundet wird. Die Mönche bitten, ut — monasterium
Liuthario ad dies vitae suae concederemus; nos — illam ab-
batiam — cum Omnibus appenditiis illuc rite pertinentibus Liu
thario predicto abbati in dies vitae suae in proprium potestative
donavimus; die Urkunde wird ausgestellt, quatinus prenotatus
abbas ad dies vitae suae securam habeat potestatem (Mon. Germ.
21, 386).
Es zeigt sich hier zugleich deutlich, wie durch die Inve
stitur nicht die Kirche selbst oder die Gesammtheit der Mönche
irgendwelche Rechte erwirbt, sondern lediglich ihr zeitiger Vor
steher persönlich. Wird allerdings, worauf wir zurückkommen,
auch der Kirche selbst ein dauerndes Recht auf die zu ihr
gehörenden Güter zugestanden, so ist doch die Auffassung,
dass dieses Recht lediglich durch Einräumung eines Besitz
rechtes an den zeitigen Vorsteher wirksam werden kann, so
massgebend, dass dieser letztere w r ohl auch da zunächst ins
Auge gefasst wird, w r o es sich um Anerkennung jenes dauern
den Rechtes der Kirche handelt. So werden 998 vom Kaiser
einem Kloster seine Güter so bestätigt, ut iam dicta abbatissa
cunctis, quibus vixerit, diebus omnia, quae suprä scripta sunt,
ad praedictum coenobium pertinentia cum omni integritate habeat,
teneat et fruatur (Böhmer Acta 27). Das hatte dann die über
aus wichtige Folge, dass lediglich der Vorsteher einen durch das
weltliche Recht geschützten Anspruch auf Besitz und Genuss
des Kirchengutes hatte, dass es von diesem Gesichtspunkte aus
ganz in seinem Belieben lag, in wie weit er die Einkünfte in
Sitib. a phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 6
82
Ficker.
rein persönlichem Interesse, oder aber im Interesse der ihm
unterstehenden kirchlichen Stiftung verwenden wollte.
Schon die angeführten Zeugnisse ergehen bestimmt, dass
das durch die Investitur erworbene Recht für Lebenszeit des
Empfängers wirksam war, dass es nicht, wie bei der feudalen
Investitur, mit dem Tode des Verleihers endete. Soll das Be
sitzrecht bei Lebzeiten des Investirten aufhören, so muss die
Investitur durch Zurückgabe des Symbols an den Herrn rück
gängig gemacht werden. Wir lesen wohl, wie ein Bischof oder
Abt den Stab freiwillig zurückgibt, oder wie der König, weil
er anderweitig über die Kirche verfügen will, Zurückgabe des
Stabes verlangt; der Abt von Malmedy, von dem das gefordert
wurde, um seine Kirche dem Erzbischöfe von Köln schenken
zu können, erklärte, dass das nie geschehen werde, wenn man
ihm den Stab nicht stückweise aus den Händen reisse (Triurn-
phus S. Remacli, Mon. Germ. 13, 441). Stirbt aber der Inve-
stirte, so endet unmittelbar die Wirksamkeit der Investitur;
auch das Recht auf Besitz und Nutzen fällt dann wieder an
den Investitor zurück. So heisst es im dreizehnten Jahrhunderte
zunächst mit Beziehung auf die Pfründen am Stifte zu Coblenz:
beneßcia — quando vacaverint, ad investitorem redibunt, donec
loco earum personarum — alie substituantur; es sei allgemeiner
Brauch, dass vacantia seu suspenso, stipendia ad eum, de cuius
manu ipsorum pendit donum, redire solent (Beyer U. B. 2, 360.
361). Wurde das Recht als zunächst am Symbole haftend be
trachtet, so ergab sich daraus der Brauch, nach dem Tode des
Bischofes oder Abtes den Stab an den König zurückzusenden.
Eigenthum und Befugniss zur Investitur erscheinen da
nach nothwendig mit einander verbunden. Bis auf die Zeiten
des Investiturstreites, wo durch das Verbot der Laieninvestitur
und insbesondere durch die vielfach nur theilweise Beachtung
desselben manche, der ursprünglichen Bedeutung nicht mehr
entsprechende Verschiebungen veranlasst wurden, ist mir kein
Fall bekannt, dass Eigentlmm und Investitur in verschiedenen
Händen waren. Wie festgewurzelt die Anschauung war, dass
der Vorsteher ein Besitzrecht nur auf dem Wege der Investitur
durch den Eigenthümer erhalten konnte, zeigt sich insbesondere
darin, dass man an der Form auch da festhielt, wo die Kirche
keinen irdischen Herrn haben sollte und demnach Gott oder
lieber das Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute.
83
Heilige als Grundeigenthümer fingirt wurden (vrgl. §. 5). Dieser
Anschauung entsprechend ist die Form dann durchweg die,
dass der gewählte Vorsteher den Stab vom Hauptaltare zu
nehmen hat, ihm somit die Investitur gleichsam durch Gott
oder den Heiligen ertheilt wird. Als die Laieninvestitur ver
boten war, zeigen sich da wohl Uebergangsformen, durch
welche die bisherigen Eigenthümer ihre Befugnisse zu wahren
suchten. In Urkunde von 1117 heisst es, dass der Abt von
St. Mihiel den Stab aus der Hand des Grafen erhalten habe;
dass man dann das Verbot in der Weise umgangen habe, ut
baculus super altare a comite — poneretur et abbas eins ductu
ad eum suscipiendum duceretur; dass man es jetzt aber durch
gesetzt habe, dass nur die Brüder den Abt zum Altare führen,
um den Stab zu nehmen, und dem Grafen die Wahl nur an-
zeigen (Calmet H. de Lorr. 2, 262).
Diese enge Verbindung zwischen Investitur und Herr
schaft entspricht zweifellos durchaus unserer Annahme, dass
die letztere unerlässlich war, weil man die Kirche selbst des
Eigenthums nicht fähig hielt. Um ihr die Nutzung ihres Gutes
zu sichern, musste sie einen des echten Eigenthums fähigen
Herrn haben, von welchem der zeitige Vorsteher vermittelst
der Investitur eine Gewere am Gute erhalten konnte.
9. Traf unsere Annahme bis dahin auf keine Schwierig
keiten, so ist allerdings nicht zu verkennen, dass sich gegen
dieselbe Einwendungen erheben lassen, welche sie wenig
stens auf den ersten Blick unhaltbar zu machen scheinen.
Zunächst wird nach Tausenden von Urkunden von den
einzelnen Kirchen durch Schenkung, Kauf und Tausch Grund
eigenthum erworben, was mit unserer Annahme unvereinbar
scheint. Da wird aber doch Alles auf eine genauere Prüfung
ankommen, ob in solchen Fällen nothwendig an Erwerb des
Eigenthums im strengen Sinne des Wortes gedacht werden
muss. Scheint es geeigneter, diese Prüfung erst später mit
nächster Rücksichtnahme auf die bezüglichen Verhältnisse des
Reichskirchengutes als des Hauptgegenstandes unserer Unter
suchung anzustellen, so mag es vorläufig genügen, auf das Er
gebnis zu verweisen. Ich hoffe feststellen zu können, dass die
Ausdrücke der Urkunden uns keineswegs nöthigen, den Erwerb
von Eigenthum im strengen Sinne des Wortes anzunehmen,
84
Ficker.
dass sie sich vollkommen erklären, wenn wir von der Annahme
ausgehen, dass für die Kirche, oder genauer für deren Vor
steher und dessen Nachfolger nur ein unentziehbares Recht auf
Besitz und G-enuss erworben wird, dass es sich, um uns der
später üblichen Ausdrücke zu bedienen, nicht um den Erwerb
des Obereigenthums, sondern des Nutzeigenthums für die Kirche
handelt. Nehmen wir das vorläufig als erwiesen an, so bleibt
damit unsere Annahme durchaus vereinbar. Was für die Kirche
dauernd erworben wird, tritt zu dieser als Hauptsache in das
Verhältniss des Zubehör; und dann liegt nichts näher als die
Annahme, dass dem Herrn der Hauptsache auch das Ober
eigenthum am Zubehör zusteht. Das bestätigt sich dadurch,
dass nach Massgabe bereits angeführter Belege und späterer
genauerer Erörterungen die Investitur durch den Herrn sich
nicht blos auf die Kirche selbst, sondern zugleich auf deren
gesammtes Zubehör erstreckt, da niemals eine Beschränkung
auf einzelnes Zubehör hervortritt, dessen Eigenthum dem Herrn
etwa aus besonderem Titel zustchen könnte. Wir sind damit
ganz bestimmt auf die Annahme hingewiesen, dass alles, was
die Kirche erwirbt, damit zugleich Eigenthum ihres Herrn wird.
Bedenklicher noch könnte ein anderer Umstand erscheinen,
den wir bisher absichtlich unberücksichtigt Hessen. Als Herrn
der einzelnen Kirche finden wir keineswegs immer einen Laien,
sondern wohl überwiegend eine andere Kirche, beziehungsweise
deren Vorsteher, dem dann auch die Investitur zusteht. Damit
erhebt sich der Einwand, dass, wenn jede, also auch die
herrschende Kirche des Grundeigenthums unfähig sein soll, in
solchen Fällen der Grundbesitz der beherrschten Kirche durch
das Eigenthum des Herrn nicht gedeckt erscheint. Damit
würde dann unsere Annahme anscheinend nicht allein un
zureichend, sondern überhaupt hinfällig.
Dieser Einwand würde aber nur dann stichhaltig sein,
wenn wir in dem unmittelbaren, die Investitur ertheilenden Herrn
zugleich immer den höchsten Herrn, den Obereigenthümer zu
sehen hätten. Das Lehnsverhältniss zeigt uns, dass eine Nutz-
gewere am Gute nicht blos vom Eigenthtimer selbst, sondern
auch von dem erworben werden kann, der selbst nur eine auf
die Eigengewere des höhern Herrn zurückgehende Nutzgewere
hat, der damit allerdings als unmittelbarer Lehnsherr des
lieber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
85
Vasallen erscheint, nicht aber auch Eigenthümer des Lehnsgutes
ist. Nichts steht im Wege, das auch für die uns beschäftigen
den Verhältnisse als massgebend zu betrachten. Unter Vor
aussetzung der Richtigkeit der vorhin aufgestellten Annahmen
bildet die beherrschte Kirche ein Zubehör der herrschenden
und steht demnach mit dieser im Eigenthum des Herrn der
selben. Es gehört etwa eine Pfarrkirche einem Kloster. Das
Recht des Pfarrers an der Kirche und ihrem Gute gründet
sich zunächst auf Investitur durch den Abt. War dieser nicht
Eigenthümer, so Avar damit an und für sich keine genügende
Sicherung gewonnen. Aber der Abt hatte seinerseits Avieder
einen Herrn, etAva einen Grafen; von diesem als Obereigen-
thümer Avar er mit der Abtei und deren gesammtem Zubehör,
also auch mit der Pfarrkirche investirt, und konnte daraufhin
sein Besitzrecht an dieser durch Investitur Aveiter auf den Pfarrer
übertragen, dessen Recht demnach unmittelbar durch das Be
sitzrecht des Abtes, mittelbar aber durch das Eigenthumsrecht
des Grafen gedeckt erscheint.
Soll diese Auffassung sich erproben, so müssen Avir übei’all
schliesslich auf einen des Eigenthums fähigen Herrn gelangen.
Das bietet keine Schwierigkeiten, Avenn als höherer Herr ein
Laie erscheint. Am häufigsten führt uns aber ein Verfolgen
dieser Verhältnisse auf einen Bischof als unmittelbaren oder
mittelbaren Herrn der Kirche. Sollen wir demnach nicht zu
dem unsere ganze Annahme bedenklich machenden Schlüsse ge
drängt Averden, dass wir wenigstens den bischöflichen Kirchen,
Avie das ja auch kirchliche Gesichtspunkte nahe legen könnten,
Eigenthumsfähigkeit zusprechen müssen, so ergibt sich die Auf
gabe, auch für diese einen Herrn nachzuweisen. Als solchen
finden wir nun allerdings in Deutschland durchweg den König
bezeichnet. Aber dafür könnte dessen staatsrechtliche Stellung
massgebend sein. Es wird genauer zu untersuchen sein, ob
das Verhältnis des Königs zu den Reichskirchen nach den
selben privatrechtlichen Gesichtspunkten zu beurtheilen ist, wie
das Herrschaftsverhältniss bei andern Kirchen. Nur dann,
wenn naclnveisbar ist, dass die Reichskirchen, insbesondere auch
die bischöflichen, mit ihrem Gute als im Eigenthume des Reichs
stehend betrachtet Avurden, würde, wenigstens so weit ich sehe,
jeder Einwand gegen die aufgestellte Ansicht beseitigt sein.
86
Ficke r.
II.
10. Eigentlium des' Reichs an den Reichskirchen. Patronatsrechte
des Reichs. — 11. Die Reichsabteien sind Eigenthum des Reichs. — 12. Ver-
fügungsrecht des Königs über die Abteien. — 13. Privateigenthum an Bis-
thlimern überhaupt; Frankreich, Burgund, Italien. — 14. Entstehung des
Eigenthums an Bisthümern. Zusammenhang mit der grossen Divisio. —
15. Mundeburdium oder Denfensio specialis, gleichbedeutend mit dem Scliutz-
eigenthume, früher nur bei Abteien nachweisbar. — 16. Bedürfniss der
Bisthümer nach einem Schutzeigenthümer. — 17. Eingreifen kirchlicher
Gesichtspunkte. — 18. Auffassung des neunten Jahrhunderts. — 19. Die
Bisthümer des deutschen Königreichs werden aus angegebenen Gründen selten
als Eigenthum des Reichs bezeichnet. — 20. Das Eigentlmm ergibt sich aus
der Investitur, welche sich ursprünglich auf die bischöfliche Kirche selbst
bezieht.
10. Die Annahme eines E i g e n t h u m s des Reichs an
den Reichskirchen setzt natürlich voraus, dass das durch
den jedesmaligen König vertretene Reich überhaupt des Eigen-
tlmms an liegendem Gute fähig war. Das bedarf keines Nach
weises. Von jeher hatte denn auch das Reich ganz so, wie
andere Herren, pine Menge einzelner Kirchen, welche auf
Grund und Boden des Reichs erbaut, waren, vorwiegend als
Zubehör einzelner Güter erscheinen, mit diesen vom Reiche
erworben oder veräussert werden.
Wie es da für die frühere Zeit keinen Unterschied be
gründet, ob das Reich oder irgend ein Privater Herr der Kirche
ist, so ist das im allgemeinen auch bei der spätem Entwick
lung nicht der Fall. Wie bei anderen Laien werden unter dem.
Einflüsse der kirchlichen Gesetzgebung, insbesondere des Ver
botes der Laieninvestitur, auch bei den dem Reiche gehö
renden Kirchen die Befugnisse des Eigenthums auf die
beschränkteren des Patronats zurückgeführt; es ist oft vom
Patronatsrechte des Reichs an einzelnen Kirchen die Rede;
und wird dabei insbesondere nur das Recht, den Priester zu
präsentiren, betont (z. B. Böhmer Acta 323. 423. 487), so haben
wir keinerlei Grund, anzunehmen, dass der König als Patron
ausgedehntere Befugnisse hatte, als irgend ein anderer Laie.
Wurde beim Wormser Concordate zu Gunsten des Reiches
eine Ausnahme vom Verbote der Laieninvestitur, zugestanden,
so traf das keineswegs alle Kirchen, deren Investitur früher
dem Reiche zustand. Nur die Bischöfe und Aebte des deutschen
Königreichs, qui ad regnum pertinent, sollen vom Könige die
Regalien mit dem Scepter erhalten, während derselbe auf die
lieber das Eigentlium des Reichs am ReichsTdrchengute.
87
Iuvestitui' mit Ring und Stab verzichtet. Von da ab nehmen Bis-
thümer und Abteien des Reiches eine von der Kirche an
erkannte Ausnahmsstellung ein. Es fragt sich nun, ob wir bei
diesen Reiehskirchen im engeren Sinne des Wortes dasselbe
Eigenthumsverhältniss anzunehmen haben, auf welches uns im
allgemeinen die Befugniss zur Investitur schliessen lässt.
11. Da kann nun zunächst nicht bezweifelt werden, dass
die Abteien im Eigenthume des Reiches standen. Schon
in fränkischer Zeit werden Abteien häufig als Eigenthum des
Königs, als zum Fiscus gehörig bezeichnet (vgl. Waitz Ver-
fassungsg. 4, 130). Aehnliche Ausdrücke finden wir auch später
immer gebraucht. Die Abteien werden bezeichnet als pertinens
ad regnum oder Imperium, ad ins regni, ad publicum ius, als
locus regiae potestati subditus, in potestate regis, vom Könige
als nostri iuris, nostre proprietatis, werden von diesem proprie-
tario iure besessen. Und auch seit dem Concordate von 1122
zeigt sich da keine Aenderung der Ausdrücke. So bestimmt der
König 1144 für das Kloster Villich: collata libertate potiatur
ad, formam et similitudinem monasteriorum, que proprie et spe-
cialiter ad regni proprietatem et ordinationem pertinent (Lacom-
blet U. B. 1, 238). Bestimmter wird das Verhältniss kaum
ausgedrückt werden können, als wenn der Kaiser 1192 be
richtet, wie er früher das Kloster Erstein mit allem Zubehör,
sicut ad Imperium spectare dignoscitur, dem Bischöfe von Strass
burg gegeben habe; wie aber später im Einverständnisse mit
dem Bischöfe und den Fürsten bestimmt sei, ut predicta do
natio facta de claustro E. ad Imperium pertinente retractaretur,
quia non est licitum, res ad Imperium spectantes alienare absque
imperii proventu et utilitate; wie demgemäss der Bischof die
Abtei in seine Hand resignirte und in pristinam fisci nostri po-
testatem restituit (Würdtwein Nova Subs. 10, 157). So rechnet
noch K. Otto 1210 S. Salvator am Berge Amiate zu den
Kirchen, que sub speciali subiectionis et dominii iure imperio
pertinere dignoscuntur (Böhmer Acta 225). Im dreizehnten Jahr
hundert wird es dann allerdings üblich, zu betonen, dass das
Verhältniss sich nur auf die Temporalien bezieht. Der König
sagt etwa, dass das Kloster nullo mediante ad nos in tempora-
libus pertinet oder nobis in temporalibus immediate subiectum
est. Liesse sich zumal der letztere Ausdruck an und für sich
88
Ficker.
auf die blosse Reichsunmittelbarkeit beziehen, auf die Be
freiung von irgendwelcher Landeshoheit, wie dieselbe auch
Klöster hatten, welche nie dem Reiche gehörten, so bezeichnen
doch solche Ausdrücke bei Reichsabteien zweifellos zunächst
nur die Fortsetzung des frühem Verhältnisses.
12. Die Abteien wurden nun aber nicht etwa nur formell
als Eigenthum des Reiches bezeichnet, sondern es ergibt sich
ein so ausgedehntes Verfügungsrecht des Königs über
die Abteien, dass dieselben einfach wie jedes andere Reichs
gut behandelt erscheinen. Sehr gewöhnlich dienten dieselben
in früherer Zeit zur Ausstattung der Königinnen; einzelne
waren wohl durch das Herkommen dazu bestimmt, wie das
nach 1066 von S. Maximin bemerkt wird (Beyer U. B. 1, 420).
Wie häufig ganze Abteien in der Carolingerzeit zu Benefizien
gegeben wurden, insbesondere auch an Laien, ist bekannt; auch
später ist das nicht selten; noch in den frühem Zeiten König
Heinrich IV. erhält der Herzog von Schwaben Kempten, der
von Baiern Altaich als Benefizium. Dann hören solche Ver
gabungen an Laien zunächst auf, wohl im Zusammenhänge mit
dem Verbote der Laieninvestitur; lässt sich auch nachweisen,
dass die weltlichen Fürsten dasselbe bezüglich der ihnen ge
hörenden Abteien vielfach nicht beachteten, so mochte man
sich doch scheuen, solche Verhältnisse neu zu begründen.
Das Verfügungsrecht des Königs selbst aber bleibt un
berührt, nach wie vor werden ganze Abteien vom Reiche ver-
äussert, verschenkt oder vertauscht; nur dass sie jetzt, wie das
auch schon früher überwiegend der Fall war, durchweg an
Bischöfe oder an andere Aebte gegeben werden (vgl. Ficker
Reichsfürstenstand 1, 332 ff.) Die Veräusserung von Abteien
bezeichnet der König wohl im allgemeinen als sein Recht; so
wenn- er 1060 Kissingen an Bamberg schenkt, ea utentes po-
testate, qua antecessores nostri in dandis abbatiis usi sunt (Mon.
Boica 29, 146). Allerdings wird die Befugniss des Königs zu
weilen bestritten. Aber nicht allgemein. So sagt 957 König
Konrad von Burgund, sein Vater habe einem Laien ein Kloster
per beneßcium gegeben, der es dann aber per poprietatem unter
seine Erben vertheilt habe; nachdem jetzt die Frage, si mo-
nasterium, quod per privilegia constructum est, per manum re-
giam in proprietatem dari liceat, verneint sei, nehme er es an
Ueber ilas Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute.
89
sich zurück (Herrgott Geneal. 2, 77); es soll also nur die Ver
leihung zu Eigen unzulässig sein, und auch diese nur bei pri-
vilegirten Klöstern. Auch in Deutschland findet sich 951 der
Rechtsspruch, ut nulla abbatia, quae per se electionem habet, acl
monasterium nee alicui in proprium dari possit; illae vero, quae
electione carent, regis donatione et privilegio ad aliud monaste
rium, quod sub eins mundiburdio consistit, subrogari possint (Mon.
Germ. 4, 26). Aber selbst bezüglich der bestgestellten Reichs
abteien, welchen wohl noch insbesondere in den Privilegien
zugesichert war, dass sie nie vom Reiche veräussert werden
sollten, wurde das nicht beachtet. Man sieht wohl, dass man
solche Veräusserungen als Unrecht betrachtete; aber doch nur,
weil sie den besondern Privilegien oder dem Rechte des zei
tigen investirten Abtes zuwiderliefen; fanden die bedrängten
Aebte genügende Unterstützung bei den Fürsten, so gelang es
ihnen wohl, die Sache rückgängig zu machen; aber sehr viele
kamen in fremde Hände.
Auch nach dem Concordate dauern diese Veräusserungen
fort. Finden sie Widerstand, so geht dieser doch nie etwa auf
die allgemeine Anschauung zurück, dass eine Kirche nicht
Gegenstand des Eigenthums sei, nicht wie ein anderes Reichs
gut veräussert werden könne. Was bestritten wird, ist das
willkürliche Vorgehen des Königs ohne genügende Beachtung
der Interessen des Reiches. Deshalb musste 1192 die Ver
gabung von Erstein rückgängig gemacht werden (vgl. §. 11),
während ein im Interesse des Reiches vorgenommener Tausch,
wie 1166 bei Nienburg oder 1213 bei Weissenburg (Huillard
H. D. 1, 277), keinen Anstand fand. War Nivelle zuerst durch
König Otto, dann durch König Philipp an den Herzog von Bra
bant gegeben, so musste König Otto das 1209 widerrufen, weil
es contra ius et Ubert.atem imperii geschehen sei, weil er die
Abtei dem Reiche so erhalten müsse, wie er sie überkommen
habe (Notizenbl. 1, 150). Dagegen wurde mit Zustimmung der
Fürsten 1232 Lorsch an den Erzbischof von Mainz gegeben
unter der Bedingung, dass dieser die Verpflichtungen gegen
das Reich erfülle, zu welchen die herabgekommene Abtei nicht
mehr im Stande war (Huillard H. D. 4, 327. 566). Hören da
mit Veräusserungen dieser Art auf, so haben da wohl ins
besondere allgemeinere lehnrechtliche Anschauungen eingewirkt,
90
Fiele er.
wonach niemand ohne seine Zustimmung einem niedern Herrn
unterstellt werden soll. Als K. Friedrich 1215 zum Nutzen
des Reichs und mit Zustimmung der anwesenden Fürsten die
Fürstabteien Obermünster und Niedermünster zu Regensburg
vertauscht hatte, musste er das zurücknehmen auf einen Spruch
des Reichsgerichtes, wonach kein Fürstenthum ohne Zustimmung
des Fürsten und der Ministerialen vom Reiche veräussert
werden dürfe (Mon. Boica 30, 36. 46). Erscheint der König
in der Verfügung über die Reichsabteien beschränkt, so ist das
in dieser Zeit bei anderem Reichsgute ebenso der Fall. Nie sind
es kirchliche Gesichtspunkte, welche da eingreifen; überall tritt
noch die Auffassung, dass die Reichsabteien Eigenthum des
Reiches sind, auf’s bestimmteste hervor.
13. Zweifle ich nun nicht, dass dieselbe Auffassung auch
für das Verhältniss der Bisthümer zum Reiche massgebend war,
so ist nicht zu verkennen, dass wir dieselbe wenigstens in
Deutschland nicht so häufig und nicht mit derselben Bestimmt
heit ausgesprochen finden. Es wird, sich schon deshalb em
pfehlen, zunächst die Frage aufzuwerfen, ob nach den An
schauungen derZeit ein Privateigenthum an Bisthümern
überhaupt möglich war. Denn wenn das für Kirchen im all
gemeinen der Fall war, so wäre es doch sehr denkbar, dass
wenigstens die Bisthümer vbn diesem Verhältnisse unberührt
blieben. Schon das muss uns da vorsichtig machen, dass jeden
falls noch in carolingischer Zeit, worauf wir zurückkommen,
die bezüglichen Verhältnisse der Bisthümer und der dem Könige
gehörenden Abteien anscheinend verschieden aufgefasst wurden.
Mag man da aber früher einen Unterschied festgehalten
haben, so finden wir später in Ländern, welche einst zum
Reiche Karls des Grossen gehörten, auf’s Bestimmteste aus
gesprochen, dass ganze Bisthümer ebenso Gegenstand des Eigen
thums sein können, wie Abteien, und zwar nicht blos Eigen
thum des Königs selbst, sondern auch anderer Grossen; wir
finden sie ausdrücklich so bezeichnet und thatsächlich über sie
verfügt, wie über jedes andere Eigenthum.
Finden wir die zahlreichsten und bestimmtesten Zeugnisse
in Frankreich, so erklärt sich das daraus, dass hier das
Königthum sich nur bei der Herrschaft über einen Theil der
Bischöfe behauptete, die Bischöfe hier sehr häufig andern weit-
lieber das Eigentlium des Reichs am ReiclisMrchengute.
91
liclien Herren unterstanden. Es mag - genügen, einige Beispiele
anzuführen. Weil es, wie er sagt, erlaubt sei, de propriis rebits
suis dare, schenkt um 1060 Graf Pontius seiner Frau episcopa-
tum Albiensem et civitatem mit angegebenem Zubehör, et medie-
tatem de episcopatu de Nemauso und anderes, so dass sie in Er
mangelung von Kindern ipsos alodes auf Lebenszeit besitzen
soll, während sie nach ihrem Tode an seine Verwandten zurück
fallen (Gallia Christ. 1, 4). Aehnlich schenkt 1095 der Sohn
des Grafen von S. Gilles seiner Frau in sposalitio et dotatione die
Städte Rhodez und Cahors cum comitato et episcopio; stirbt er
ohne Kinder, so kann sie darüber nach ihrem Belieben ver
fügen (Hist, de Languedoc 2, 389). Der Graf von Melgueil
sagt 1085: episcopatum Magalonensem — sicut et ego et ante-
cessores mei comites hactenus habuimus et tenuimus in alodiurii, —
dono et trado per rdlodium s. Romane ecclesie (Hist, de 1 .ang. 2,
321). Der Verkauf der Bisthümer wurde hier denn auch in
ungescheutester Weise betrieben. Um 1040 wird das Bisthum
Albi von zwei Brüdern, einem Vicecomes und dem Bischöfe
von Kimes, an einen Wilhelm um fünftausend Solidi für sie,
und fünftausend Solidi für den Grafen Pontius, der Miteigen-
thümer oder höherer Herr gewesen sein wird, in der Weise
verkauft, dass es ihm nach dem Tode des jetzigen Bischofs
auf Lebenszeit gehören soll, mag er dort nun sich selbst oder
irgend einen andern zum Bischof weihen lassen (Gallia Christ.
1, 4). Das Erzbisthum Narbonne war 1059 vom Vicecomes
um hunderttausend Solidi erkauft; der Erzbischof plünderte
dann die Kirche, um das Bisthum Urgel um eine gleiche
Summe für seinen Bruder erkaufen zu können (Hist, de
Lang. 2, 232).
In die Reichslande griff dieses Verhältniss in so weit
über, als wir auch im Königreiche Burgund Bisthümer wohl
unter der Herrschaft weltlicher Grossen finden; so der Grafen
von Savoyen und der Grafen von Provence; bei der Theilung
1125 werden Erzbisthümer und Bisthümer der Provence mit
getheilt. Ueberwiegend stehen die Bischöfe hier unter dem
Könige; und ist da häufiger, worauf wir zurückkommen, nur
von der Investitur oder Verleihung der Regalien die Rede, so
kommen doch auch Ausdrücke vor, welche bestimmter auf ein
Eigenthum des Königs an den Bisthümern hindeuten. So über-
92
Ficker.
lässt K. Friedrich 1152 dem Herzoge von Zähringen Burgund
und Provence praeter archiepiscopatus et episcopatus, qui spe-
cialiter ad manurn d. regis pertinent; 1162 erklärt er, quod post
nostram maiestatem millus habeat dominium in ecclesia Gebennensi,
nisi solus episcopus; und 1177 bezüglich des Bisthums Viviers,
ut ecclesia de liberalitate camerae nostrae decorata nullo unqnam
tempore aliquem, excepto suo ponti.fice, dominum habeat et pos-
sessorem praeter Eomanum regem vel imperatorem. Und bei Be
gnadigung des Grafen von Savoyen 1189 erklärt K. Heinrich:
Sedunensem episcopatum ad manurn imperii retinuimus specialiter,
— ut ecclesia Sedunensis et eiusdem ecclesie episcopi ad coronam
imperii iure perpetuo pertineant (vgl. Reichsfürstenstand 1,
290 lf.). Würden diese Ausdrücke sich theilweise auch auf die
staatsholieitliohe Stellung des Herrschers beziehen lassen, so
wird ihre Bedeutung doch kaum zweifelhaft sein können, wenn
wir in der Gegend überhaupt Bisthümer als Privateigenthum
behandelt finden.
Im Königreiche Italien finden wir eine Herrschaft von
weltlichen Grossen über Bisthümer wenigstens mit gleicher Be
stimmtheit, wie in Frankreich, nicht erwähnt. Dagegen stehen
hier Bisthümer nicht selten unter der weltlichen Herrschaft des
Metropoliten oder anderer Bischöfe. Das geht wahrscheinlich
überall, vielfach bestimmt nachweisbar, auf Schenkung durch
den König zurück; und wie schon das diesen als Eigenthümer
erscheinen lässt, so fehlt es dabei nicht an Ausdrücken, welche
bestimmter darauf hinweisen. K. Konrad schenkt 1025 dem
Erzbischöfe von Mailand Laudensem episcopatum, dann 1038
dem Bischöfe von Turin episcopatum Moriennensis civitatis mit
• allem Zubehör in perpetuam proprietatem (vgl. Reichsfürstenstand
1, 312. 296). K. Heinrich sagt 1081: Patriarche et suis suc-
cessoribus — Parentinum episcopatum — cum omnibus suis appen-
diciis nostra regia auctoritate attribuimus, attribuendo in pro
prium donamus et in perpetuum transfundimus (Stumpf Acta
imp. 79). Und bei der Verleihung des Bisthums Belluno an
den Patriarchen 1160 sagt der Kaiser: Bellunensem episcopatum,
quem antecessores nostri reges et imperatores habuerunt et usque
ad nos destinaverunt, — pleniter dedimus et concessimus; et omne
ius nostrum de praedicto episcopatu — in ipsum — de caetero
habendum transfundimus (vgl. Reichsfürstenst. 1, 309). Sache,
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
93
wie Ausdrücke, sind da durchaus dieselben, wie wir sie
bei den Veräusserungen der dem Reiche gehörenden Abteien
finden.
Auch im dreizehnten Jahrhundert finden sich vereinzelt
wohl noch solche Ausdrücke; K. Friedrich bestätigt 1226 dem
Erzbischöfe von Magdeburg episcopatum, castrwm et civitatem
Lebus in proprietatem et possessionem perpetuam, sicut ad nos
et Imperium, spectare noscuntur (Huillard H. D. 2, 602).
14. Für unsern nächsten Zweck würde das Ergebniss ge
nügen, dass nach den Anschauungen jener Zeit Bisthiimer ebenso
in Privateigenthum stehen konnten, wie Abteien und andere
Kirchen; es bliebe zu untersuchen, ob dieses Verhältniss nun
auch bei den deutschen Bisthümern zutraf. Aber es liegt doch
ganz nahe, nun auch die Frage nach der Entstehung des
Eigenthums an Bisthümern aufzuwerfen, zu prüfen, ob wir
auch dafür die Gesichtspunkte festhalten dürfen, welche wenigstens
in späterer Zeit dem Herrschaftsverhältnisse über Kirchen zu
Grunde zu liegen scheinen. Davon freilich sehe ich von vorn
herein ab, jener, Frage so weit nachzugehen, als das die vor
handenen Hülfsmittel überhaupt gestatten würden; es würde
mich zu einem mühevollen Einarbeiten in einen Quellenkreis
nöthigen, der mir überhaupt ferner liegt. Aber manche hier
einschlagende Fragen sind gerade in neuerer Zeit von anderen
auf Grundlage umfassendster Quellenstudien erörtert worden.
So mag denn der Versuch eher statthaft sein, uns in Anlehnung
an die Forschungen anderer zu vergegenwärtigen, wie das Ver
hältniss etwa entstanden, wie der Faden verlaufen sein möge,
der die frühem mit den spätem Zuständen verbindet. Muss
dabei vieles dahingestellt bleiben, bezüglich dessen für eine
eingehendere Forschung wohl noch sichere Ergebnisse erreich
bar sein würden, wird manche Annahme sich vielleicht nicht
als stichhaltig erweisen, so wird doch ein solcher Versuch,
sich nach Massgabe des genauer untersuchten späteren Zu
standes die wahrscheinliche frühere Entwicklung zu vergegen
wärtigen, auch im Falle des Misslingens nicht nutzlos sein, in
sofern dadurch wenigstens die Aufmerksamkeit auf solche Punkte
gelenkt wird, deren erst in der Weiterentwicklung hervor
tretende Bedeutung dem leicht entgeht, der zunächst die
früheren Entwicklungsstadien unmittelbar in’s Auge fasst.
94
Ficker.
Dass die Anfänge des Verhältnisses in die Zeiten des
fränkischen Reiches zurück reichen, wird nicht zu bezweifeln
sein. Wie weit, wird sich überhaupt schwer mit Genauigkeit
bestimmen lassen. Ein derartiges allgemeines Rechtsverhältniss
kann sich sehr allmählig entwickeln. Und auch wenn es sich
zweifellos festgestellt hat, fehlt uns oft jedes unmittelbare Zeug-
niss dafür, da keine Veranlassung dazu vorlag, sich über das
selbe auszusprechon. Wir werden uns häufig damit begnügen
müssen, aus den Einzelthatsachen auf das Vorhandensein der
ihnen anscheinend zu Grunde liegenden Rechtsanschauung zu-
rückzuschliessen. Und dabei sind Fehlschlüsse sein- naheliegend.
Es wird sich da oft schwer entscheiden lassen, ob die schon vor
handene Rechtsanschauung die Handlung beeinflusste, ob umge
kehrt die zunächst widerrechtlich oder aus anderem Rechtsgrunde
vorgenommene Handlung auf die Festsetzung jener ein wirkt.
So mag es denn auch fraglich sein, ob wir schon aus
den frühem Verfügungen der fränkischen Könige, insbesondere
aus der grossen Divisio unter Karlmann und Pipin, welche
auch die Bisthümer traf, auf das Vorhandensein einer An
schauung schliessen dürfen, dass der König Eigenthümer ihres
Gutes sei. War das noch nicht der Fall, so konnte zweifellos
die Durchführung einer solchen Massregel auf die Festsetzung
jener Anschauung vom grössten Einflüsse sein. Umgekehrt ist
von andern geltend gemacht, dass der Massregel bereits eine
entsprechende Rcchtsauffassung zu Grunde lag. Die Gründe,
welche dagegen insbesondere von Roth geltend gemacht sind,
möchte ich nicht als ausschlaggebend betrachten. Allerdings
scheint es mit der Annahme, dass das Kirchengut überhaupt
in der Gewere des Königs gestanden habe, nicht vereinbar, dass
zu allen Zeiten der fränkischen Monarchie Fiscalgut an Kirchen
zu Eigenthum geschenkt oder mit Kirchengut vertauscht wurde.
Aber ich denke nachweisen zu können, dass das in den folgen
den Zeiten ebenso geschah, ohne dass dadurch doch ein volles
Eigenthum der Kirche begründet wurde. Und will ich nicht
behaupten, dass das deshalb auch in der früheren fränkischen
Zeit der Fall gewesen sein muss, so wird doch, wenn jener
Beweis gelingt, zuzugeben sein, dass es wenigstens der Fall ge
wesen sein könne. Es ist weiter nicht zu bestreiten, dass die
Könige die Divisio als ein Unrecht betrachteten, welches in
Uel)er das Eigeuthum des lieiclis am Reichskircbengute.
95
der Notklage des Staates seine Entschuldigung finden müsse.
Aber das Eigenthum au einem Gute muss ja nicht zugleich zur
willkürlichen Verfügung über dasselbe berechtigen. Hatte die
Kirche ein dauerndes Recht auf Besitz und Nutzung des Gutes,
so hatte der König, auch wenn er als Eigenthümer galt, kein
Recht, ihr diese zu entziehen. So sicher später insbesondere
die Reichsabteien mit ihrem Gute im Eigenthume des Reichs
standen, so hat man doch, worauf wir zurückkommen, ent
sprechende Verfügungen des Königs immer als Unrecht be
trachtet. Eher liesse sich da sagen, dass ein die freie Ver
fügung ausschliessendes Eigenthum dann überhaupt für die Di-
visio nicht in’s Gewicht fiel, diese nicht rechtfertigen konnte.
Ist das zuzugeben, so wird andererseits nicht zu verkennen
sein, dass das Vorgehen der Könige, wie die Einwilligung der
Bischöfe doch viel leichter zu erklären sind, wenn man das
Kirchengut nicht als Eigenthum der Kirchen, sondern des Reichs
betrachtete. Dass letzteres damals schon bestimmter der Fall
war, glaube ich allerdings nicht; wohl aber scheint mir der ganze
Vorgang die Annahme sehr nahe zu legen, dass der Besitz der
Kirchen durch das weltliche Recht nicht in gleicher Weise ge
schützt war, wie sonstiges Grundeigenthum.
15. Jedenfalls wurden in der früheren Carolingerzeit Bis-
thümer noch nicht in derselben Weise als im Eigenthume des
Königs stehend betrachtet, wie die königlichen Abteien. Das
scheint mir durchaus festgestellt durch die Untersuchungen
Sickel’s über die königlichen Mundbriefe dieser Zeit (vgl. Bei
träge zur Diplomatik in den Sitzungsber. 47, 175 ff.; 565 ff.;
49, 311 ff.). Standen alle Kirchen in der Defensio des Königs,
so ist davon ein besonderer Schutz zu unterscheiden, der ein
zelnen Kirchen zugesichert, der gleichfalls als Defensio, wohl
auch als Specialis defensio, als Tuitio, Sermo, Mundium, am
häufigsten als Mundeburdium bezeichnet wird. Ist jener all
gemeine Kirchenschutz ein Ausfluss der staatsrechtlichen Stellung
des Königs, so beruht der besondere auf privatrechtlichen Ge
sichtspunkten. Siclcel (a. a. 0. 47, 244) hat schon aus älteren
Zeugnissen erwiesen, dass dieser besondere Schutz mit dem
Eigenthumsrechte an der Kirche zusammenhängt, dass er ein
Ausfluss der Dominatio ist. Das findet eine weitere Bestätigung
darin, dass auch in späterer Zeit diese Ausdrücke gerade da
96
Ficker.
angewandt werden, wo es sicli um das Eigenthum des Reichs
an Kirchen handelt. Die Uebertragung der Eigentumsrechte
an das Reich wird ganz gewöhnlich dadurch ausgedrückt, dass
es heisst, die Kirche werde in das Mundeburdium des Königs
gegeben. So findet sich der Ausdruck bei der Tradition von
Lorsch und Elten an das Reich (vgl. §. 5). So sagt der Kaiser
975 von den Gründern von Nienburg: nostro mundiburdio per-
petim imperiali nostra potestate tutandum tradiderunt (Cod. dipl.
Anhalt. 1, 45); die Gründerinnen von Kemnade bitten 1004
den König, das Kloster in nostri mundiburdio zu übernehmen,
was dieser thut, so dass nach jener Tode ad nostrum publicum
eadem abbacia ius in perpetuum pertineat (Cod. dipl. Westf.
1, 60). Würde da der Wortlaut selbst andere Erklärungen zu
lassen, so kann die besondere Bedeutung doch gar nicht zweifel
haft sein, da es sich immer um Kirchen handelt, welche dann
weiterhin erweislich dem Reiche gehören. Bestätigt der Kaiser
973 einen Tausch zwischen Magdeburg und Fulda, quoniam
utriusque loci, tuitio vel defensio nobis pertinet (Cod. dipl. An
halt. 1, 43), so handelt es sich auch da zweifellos wieder um
einen besonderen, mit der Herrschaft des Reichs über beide
Kirchen zusammenhängenden Schutz.
Man könnte nun annehmen, jene Ausdrücke hätten wenigstens
anfänglich keine andere Bedeutung, als dass der König, wenn er
auch zum Schutze aller Kirchen verpflichtet ist, doch solchen
Kirchen, welche seiner Privatherrschaft unterworfen sind, seinen
besonderen Schutz gegen Verletzungen jeder Art zusagt. Aber
diese Defensio specialis muss eine ganz bestimmte rechtliche
Bedeutung haben. Sickel macht auf einen Fall von 785 auf
merksam, wo ein Graf ein Kloster in die Hände des Königs
delegirt, aber so, dass ihm auf Lebzeiten die Defensio bleibt,
erst nach seinem Tode die des Königs cintreten soll. Dann
auf einen andern Fall von 847, wo der König dem Besitzer
ein Kloster so bestätigt, dass es auf Lebenszeit sui sit iuris atque
dominationis, nach seinem Tode noch einer andern bezeichneten
Person; erst nach dem Tode dieser soll es dann sub nostrae
tuitionis munimine seu defensione stehen (vgl. a. a. 0. 27, 210.
265.) Handelte es sich da lediglich um einen nachdrücklichem
Schutz im allgemeinen, so ist nicht wohl abzusehen, weshalb
der König ihn einem Kloster, an dem ihm später wirksam
lieber das Eigeuthum des Reichs am Reichskirchengute.
97
werdende liechte zustehen, nicht sogleich zusichern sollte. Man
sieht vielmehr, so lange ein anderer Eigenthümer da ist, be
darf das Kloster der Defensio des Königs nicht allein nicht,
sondern dieselbe erscheint offenbar als unzulässig. Es muss
eine Defensio sein, welche nur dem zeitigen Eigenthümer zu
stehen kann. Denken wir nun zurück an die Auffassung, welche
wir zunächst von den Verhältnissen einer spätem Zeit aus
gehend, der Herrschaft über Kirchen überhaupt glaubten unter
legen zu müssen, so wird doch kaum zu bezweifeln sein, dass
unter dieser Defensio der besondere Schutz, die Deckung zu
verstehen ist, welchen das Eigenthum des Herrn dem Besitze
der Kirche gewährt. In entsprechendem Sinne wird der Aus
druck auch später überaus häufig gebraucht. Wer sein Recht
auf Besitz oder Eigenthum eines Grundstückes von einem an
dern erworben hat, der ist gegen Anfechtung seines Rechtes
auf die Defensio durch den jetzigen oder frühem Eigenthümer
oder auch zunächst durch den in seinem Rechte durch den
Eigenthümer geschützten Besitzer hingewiesen; wer einem an
dern ein Grundstück überträgt, verpflichtet sich ausdrücklich
zum Defendere, zum Schutze des übertragenen Rechtes geg'en
jede Anfechtung, so lange nicht etwa die Erlangung einer
rechten Gewere diesen Schutz überflüssig macht.
16. Für die uns zunächst beschäftigende Frage scheint
es nun entscheidend, dass solche Mundbriefe sich nur für
königliche Abteien, nicht aber für Bisthümer finden, demnach
die Auffassung noch zu fehlen scheint, dass auch diese zur
Sicherung ihres Gutes einen Schutzeigenthümer, wenn wir
die Stellung so bezeichnen wollen, bedürfen. Dass ein solches
Verhältniss bei Abteien früher hervortritt, kann auch nicht be
fremden. Denn einmal war hier bei neuen Gründungen das
Privateigenthum des Gründers, wenn dieser es nicht ausdrück
lich aufgab, von vornherein gegeben. Dann aber war gerade
bei Klöstern solcher Schutz besonders nöthig, weil es sich bei
ihnen nicht blos um Eingriffe weltlicher Gewalten, sondern ins
besondere auch des Sprengelbischofs handelte. War aber in dieser
Richtung die Stellung der königlichen Abteien und der Bisthümer
anfangs verschieden, so denke ich, dass das mit der Zeit hervor
tretende Bedürfniss der Bisthümer nach einem Schutz
eigenthümer auch diese in eine entsprechende Stellung brachte.
Sitzb. d. pMl.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 7
98
Ficke r.
Die Frauken fanden die Bisthümer vor als nach römischem
Rechte des Eigenthums fähige juristische Personen. Waren
die Bischöfe anfangs vorzugsweise Romanen, galt das römische
Recht als das Recht der Kirche, so mochte da um so weniger
zunächst eine andere Auffassung massgebend werden. Dann
aber war die Kirche nicht lediglich auf den Schutz des welt
lichen Rechts angewiesen. Waren Eingriffe in ihr Gut auch
nicht als Unrecht betrachtet, so waren sie jedenfalls eine Sünde,
und zwar eine solche, die man als eine überaus schwere hin
stellte. Dieser Gesichtspunkt wird gewöhnlich vor allem be
tont; um der Kirche eine Schenkung zu sichern, wurde dem
Verletzer nicht zunächst mit der weltlichen Gerechtigkeit, son
dern mit den Strafen des Himmels gedroht (vgl. Planck G. der
christl. Gesellschaftsverf. 2, 201 ff.; Rettberg Kircheng. 2, 707).
Solche Drohungen genügten nun keineswegs, um von allen
Eingriffen in das Kirchengut abzuhalten. Und da scheint doch
früh eine abweichende germanische Rechtsanschauung einge
griffen zu haben, welcher der Begriff der.juristischen Person fremd
ist, welche nur der natürlichen Person ein Recht auf die Sache
zugesteht. Denn ganz überwiegend geschehen die Eingriffe in
das Kirchengut gerade bei Erledigung des bischöflichen Sitzes
(vgl. Thomassinus De Beneficiis P. 3 L. 2 c. 52 ff.). Das
Recht des lebenden Bischofs erkannte man an. Aber nach
seinem Tode betrachtet man das Gut der Kirche als herren
lose Sache. Erwiesen sich da die eigenen Machtmittel der
Kirche als ungenügend, so war man auf den Schutz des Königs
kiugewiesen. Erscheint dieser vorzugsweise als Schützer des
Gutes des Bisthums bei Erledigung des Sitzes, so wird das ur
sprünglich als Ausfluss seiner staatsrechtlichen Stellung auf
zufassen sein, seiner allgemeinen Verpflichtung zum Schutze
der Kirchen des Reichs. Aber manches musste doch darauf
hinwirken, dass sich damit allmählig die Auffassung verband,
dass der König Eigenthümer des Gutes der Bisthümer sei.
Am wichtigsten war dafür zweifellos der Einfluss, den
die fränkischen Könige auf die Einsetzung der Bischöfe übten.
Findet sich noch Wahl durch Clerus und Volk, so soll dieselbe
doch nur mit Zustimmung des Königs geschehen oder es hat ihr
die Ordinatio principis zu folgen; ifnter den Karolingern ist
einfache Besetzung der Bisthümer durch den König die Regel,
lieber das Eigentlium des Reichs am Reichstirchengute.
99
es erscheint als Gnade, wenn er die Wahl gestattet (vgl. Waitz
V. G. 2, 393. 3, 354). Es war jedenfalls irgendwelche Hand
lung des Königs nöthig, durch welche er seinerseits das Recht
des Bischofs auf das Bisthum anerkannte; und es ist sehr mög
lich, dass das schon früh in irgendwelcher Form sinnbildlicher
Uebertragung geschah, wenn sich die besondere Form der In
vestitur mit Ring und Stab auch erst später festgestellt zu
haben scheint (vgl. Planck a. a. 0. 3, 463). War nun das
Gut des Bisthums während der Erledigung in der Schutzgewalt
des Königs, so erlangte der Bischof den Besitz desselben eben mit
jener sein Recht auf das Bisthum anerkennenden Handlung des
Königs. Damit koimte sich denn in einer Zeit, welcher ver
schiedene Formen der Uebertragung des Nutzgenusses durch
den Eigenthümer durchaus geläufig waren, an und für sich
sehr leicht die Anschauung verbinden, dass es sich auch hier
um eine solche handle. Das Gut der fränkischen Bisthümer
rührte zum grossen Theil von Schenkungen der Könige her.
Auf die Frage, ob diese Schenkungen schon von vornherein
keine Uebertragungen zu vollem Eigenthum bezweckten, wer
den wir für unsern nächsten Zweck nicht einzugehen haben;
erfolgten in späterer Zeit die Landverleihungen der Könige
vorwiegend unter Vorbehalt des Eigenthums, so lag es nahe,
auch die früheren nachträglich unter denselben Gesichtspunkt zu
bringen. Griff weiter, wie es scheint, die Anschauung ein, dass
bei Erledigung des Sitzes das Gut des Bistlmms nach der
Strenge des weltlichen Rechtes eigentlich herrenloses Gut sei,
fiel herrenloses Gut aber überhaupt dem Könige zu, so konnte
es auch von diesem Gesichtspunkte aus als Eigenthum des
Königs betrachtet werden. Und weiter hatte sich bei den
königlichen Abteien ein solches Rechtsverhältniss schon seit
langem festgestellt; es lag überaus nahe, auch die Stellung der
für ihren Besitz auf den Schutz des Königs angewiesenen Bis
thümer nach demselben Gesichtspunkte zu bemessen.
17. Endlich wird nicht zu verkennen sein, dass zumal in
jener Zeit solche Auffassung auch durch eigentlich kirch
liche Gesichtspunkte gefördert werden konnte. Später er
scheint allerdings das Besetzungsrecht des Königs als Folge
seines Eigenthums an den Temporalien; man mochte vielfach
ohne Hintergedanken dieses, wie es in der Investitur hervor-
100
Ficker.
tritt, vor allem deshalb bekämpfen, um damit dem Besetzungs
recht seine Grundlage zu entziehen. Anders war das in früherer
fränkischer Zeit. Das früh hervortretende Recht des Königs,
die Bisthümer zu besetzen oder wenigstens massgebenden Ein
fluss dabei zu üben, war zweifellos nicht Ausfluss des erst
später nachweisbaren Eigenthums an den Temporalien; es ist
anfangs wohl nur als staatliches Hoheitsrecht in Anspruch ge
nommen, würde gewiss auch später geübt sein, wenn da jene
mehr privatrechtliche Auffassung nie eingegriffen hätte. Dieses
Besetzungsrecht konnte die Kirche nicht billigen. Hatte sie es
aber als herkömmlich und unvermeidlich hinzunehmen, so
musste ihr um so mehr daran liegen, dass wenigstens die An
schauung fern gehalten werde, es sei die kirchliche Stellung
des Bischofs, über welche der König verfüge, es ständen diesem
irgendwelche Befugnisse bezüglich der Spiritualien zu (vgl. die
Aeusserung des Florus bei Waitz Y. G. 3, 355 Anm. 5). Dem
konnte vor allem eine Auffassung dienen, welche die Einfluss
nahme des Königs bestimmt auf das' weltliche Gut bezog; je
ausdrücklicher und unumwundener man ihn als Herrn der
Temporalien anerkannte, um so leichter Hess sich jene für die
Kirche besonders anstössige Auffassung hintanhalten. Dann
hatte man sich kirchlicherseits, wenn man die Sache einmal
hinnehmen musste, wenigstens grundsätzlich nichts vergeben.
Denn von rein kirchlichem Gesichtspunkte aus liess sich ja
das weltliche Gut als ein schnöder Anhang der Spiritualien be
handeln, auf den diesen gegenüber keinerlei Gewicht zu legen
sei. Das tritt etwa hervor, wenn zur Verhöhnung des Bischofs
von Lüttich, der weltlicher Herr der Abtei Lobbes war, wäh
rend dem von Kammerich die Spiritualien zustanden, bemerkt
wird, quod Cameracensis animas, ipse vero vaccas et capras no-
bis custodire haberet (Gesta abb. Lobb. Mon. Germ. 21, 323).
Daher wird auch später von kirchlich Gesinnten die Herrschaft
des Königs über das Gut wohl anstandslos zugegeben, um ihm
jede Befugniss bezüglich der Spiritualien um so bestimmter ab
zusprechen. So weigert sich 1046 Wazo von Lüttich bei einer
die Spiritualien betreffende)! Klage gegen einen Bischof zu ur-
theilen, indem er erklärt, dem Kaiser gebühre Treue, dem
Papste Gehorsam; wie jenem bezüglich der Temporalien, sei
der Bischof diesem bezüglich der Spiritualien Rechenschaft
lieber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
101
schuldig'; si quid vero in secularibus, quae a vobis illi credita
sunt, negligenter sive inßdeliter gessit, so habe ihn der Kaiser
zur Rechenschaft zu ziehen (Gesta ep. Leod. Mon. Germ. 9,
224). So sagt Gottfrid von Vendöme: Alia utique est Investitura,
quae episcopum perficit, alia vero, quae episcopum pascit; illa ex
iure divino habetur, ista ex iure humano; subtrahe ius divinum,
spiritualiter episcopus non creatur; subtrahe ius liumanum, pos-
sessiones amittit, quibus ipse corporaliter sustentatur; non enim
possessiones haberet ecclesia, nisi sibi a regibus donarentur et ab
ipsis, non quidem divinis sacramentis, sed possessionibus terrenis
investirentur (vgl. Phillips K. R. 3, 136). Nach allem ist es
mir doch sehr wahrscheinlich, dass die Entwicklung solcher
Auffassung in der fränkischen Zeit vom kirchlichen Standpunkte
vielfach eher gefördert als gehindert sein mag.
18. Die Zeugnisse, welche uns für die Auffassung des
neunten Jahrhunderts vorliegen, scheinen mir einerseits
zweifellos zu ergeben, dass man wenigstens in den spätem
Zeiten desselben den König schon bestimmt als Eigenthümer
der Temporalien der Bisthiimer betrachtete, während sie anderer
seits manchen Halt dafür bieten, dass die Gründe, welche eine
allgemeine Erwägung der Sachlage uns nahe legte, wirklich
die massgebenden waren. Zumal in den Briefen des Hinkmar
von Reims wird das Verliältniss mehrfach berührt; und da sind
es nicht die Rechte des Königs am Gut, welche er bestreitet,
sondern die schon jetzt daraus gefolgerte willkürliche Ernennung
durch den König. In dem Briefe an den König wegen Be
setzung des Bisthums Beauvais, wendet er sich gegen die Be
hauptung derjenigen, welche sagen, quia res ecclesiasticae epi-
scoporum in vestra sint potestate, ut cuicumque volueritis, eas do-
netis; aber er gibt zu, dass der Gewählte zum Könige geführt
werden müsse, ut secundum ministerium vestrum res et facultates
ecclesiae, quas ad defendendum et tuendum vobis dominus commen-
davit, suae dispositioni committatis (Bibi. vet. patrum, Colo-
niae 1618, 9 b, 234). Auch sonst führt er die Einflussnahme
des Königs bei der Wahl darauf zurück, quia res ecclesiasticas
divino iudicio tuendas et defensandas suscepit. Mag sich das
dem Wortlaut nach auf den Schutz während der Erledigung
beschränken, so ist mindestens zugegeben, dass der Erwählte
die Temporalien nur vom Könige erhalten kann. Und wenn
102
Ficlrer.
er 858 an Ludwig den Deutschen schreibt: Ecclesiae siquidem
nobis a deo commissae, non talia sunt heneficia et huiusmodi re-
gis proprietas, ut pro libitu suo inconsulto illas possit dare vel
tollere, so bestreitet er nicht das Eigenthum überhaupt, sondern
betont nur, dass es sich um ein freie Verfügung ausschliessen-
des Schutzeigenthum handelt; res et facultat.es ecclesiasticae non
in imperatorum atque regurn potestate sunt ad dispensändum,
sed ad defendendum atque tuendum, wie er an anderer Stelle
schreibt. Wird es daher als Unrecht betrachtet, wenn das Bis
thum Reims zur Zeit Karls des Grossen in dominicatu regis
war, so wird das nicht gerade beweisen müssen, dass der Kö
nig überhaupt noch nicht als Herr der Temporalien des Bis
thums betrachtet wurde (vgl. Waitz V. G. 4, 134; Sichel a. a.
0. 47, 244); es handelte sich da um eine, auch sonst wohl er
wähnte längere Nichtbesetzung des Bisthums nach der Er
ledigung, um dessen Gut zu nutzen, zu welcher der König
auch als Eigenthümer nicht befugt sein sollte. Stellt Hinkmar
in einem Schreiben an den Pabst es als selbstverständlich hin,
dass bei einem Zerfalle mit dem Könige ihm das Kirchengut
entzogen werde; bemerkt .er, wie ihm gedroht sei, si in mea
sententia permanerem, ad altare ecclesiae meae cantare possim,
de rebus vero et hominibus nullarn potestatem höherem; recht
fertigt er Leistungen der Kirchen an den König damit, dass
diese ihre Besitzungen vom Könige haben; befahl er, falls das
genau überliefert ist, dass man den vom Könige willkürlich ge
setzten Bischof von Kammerich als solchen nicht anerkennen,
ihm aber usumfructum terrae, quod imperatoris erat, nicht vor
enthalten solle (Gesta ep. Camerac. Mon. Germ. 9, 418); schreibt
K. Karl der Kahle dem Pabste, als ihm dieser aufgetragen hatte,
das Gut des Bisthums Laon während der Abwesenheit des Bi
schofs vor Schaden zu hüten: reges Francorum ex regio genere nati,
non episcoporum vicedomini, sed terrae domini hactenus fuimus
computati; ■— non autem episcoporum villici extiterunt (Bibi. vet.
patrum 9 b, 222): so ergibt sich doch überall die Auffassung,
dass das Gut nicht Eigenthum der bischöflichen Kirche selbst
ist, sondern des Königs, dass der zeitige Bischof einen rechtlich
geschützten Besitz desselben nur vom Könige erhalten kann.
Auch in den frühem Zeiten des neunten Jahrhunderts
finden sich schon manche Andeutungen, dass man auch die
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
103
Bisthümer als öffentliches Gut betrachtete, wie sie insbesondere
auch bei den Reichstheilungen so behandelt zu sein scheinen
(vgl. Waitz V. G. 4, 135). Bestimmteren Halt könnten die
Urkunden gewähren, wenn sich aus ihnen etwa ergäbe, dass
die mit dem Eigeuthume zusammenfallende besondere Defensio
nun auch den Bisthümern gewährt wäre. Das ist aber nicht
der Fall; ist seit Beginn der Regierung Ludwigs des Frommen
auch in den Privilegien für Bisthümer immer von Defensio die
Rede, so scheint das nur auf den allgemeinen Kirchenschutz
zu beziehen zu sein, während zugleich, wenn auch weniger
regelmässig, wohl noch von besonderem Schutz für königliche
Abteien die Rede ist (Sickel a. a. 0. 47, 236. 245. 276). Letz
teres aber wird sich auch kaum umgekehrt dafür geltend
machen lassen, dass das Gut der Bisthümer noch nicht als im
Schutzeigenthume stehend betrachtet wurde. Der früher betonte
Unterschied scheint mir von Bedeutung insbesondere nur in
sofern, als er zeigt, dass ursprünglich die Stellung der Bis
thümer allerdings wesentlich anders aufgefasst wurde, als die
der königlichen Klöster. Und manche Unterschiede mochten
da auch jetzt noch geblieben sein. Aber die Stellung konnte
sich im wesentlichen schon lange ausgeglichen haben, ohne
dass sich das beim Einflüsse älterer Vorlagen gerade in den
Urkunden bestimmter aussprechen musste. Dafür aber, dass
im neunten Jahrhunderte die Ansicht, dass jede Kirche eines
Schutzeigenthümers für ihr Gut bedurfte, vollständig durch
drang, scheint mir insbesondere zu sprechen, dass Klöster,
welche unter keiner Herrschaft standen, keinem gehörten, wohl
noch im achten Jahrhunderte, nicht aber mehr im folgenden
erwähnt werden, dass inzwischen auch sie zu königlichen
Klöstern geworden sind (vgl. Sickel a. a. 0. 315).
Fasste man einmal das Gut der bischöflichen Kirchen als
Eigenthum des Königs, so lag es nahe, diese selbst als
im Eigenthume des Königs stehend zu betrachten, zumal ja
auch für die Hauptkirche selbst ein Grundeigentümer vor
handen sein musste und keine Veranlassung war, da einen
Unterschied festzuhalten. Es handelt sich da wesentlich um
einen Sprachgebrauch ohne weitere Bedeutung; redet Hinkmar
durchweg vom Gute der Kirchen, so spricht er doch auch schon
104
Pick er.
von der Ecclesia als Gegenstand der königlichen Rechte. Und
ein solcher Sprachgebrauch musste um so näher liegen, als er
für Abteien längst in Uebung war.
War noch im neunten Jahrhunderte in den Franken
reichen nur der König Herr der Bisthümer, so kann es nicht
befremden, wenn wir sie später mehrfach auch im Eigenthume
anderer Personen finden. Das war schon dadurch angebahnt,
dass mit der Sorge für das Gut des erledigten Bisthums zu
nächst der betreffende Graf betraut war. Wussten schliesslich
die Grafen vielfach alle königlichen Rechte in ihrem Sprengel
an sich zu bringen, so mussten da die Rechte an den Bis-
thümern nicht gerade eine Ausnahme machen. Und wie der
König sich zur Veräusserung der verschiedensten andern Ho
heitsrechte für befugt hielt, so konnte er auch Bisthümer au
geistliche oder weltliche Grosse überlassen.
19. Haben wir es versucht, uns die Entstehung des Eigen
thums an Bisthümern zu vergegenwärtigen, so können wir es
für unsere nächsten Zwecke dahingestellt lassen, ob unsere
Auffassung sich auch bei eingehenderer Untersuchung als zu
treffend erweisen wird. Für den nächsten Zweck genügt es,
dass wir in den dem Investiturstreite zunächst vorhergehenden
Zeiten das Eigenthum an Bisthümern überhaupt nachweisen
konnten (vgl. §. 13). Das Vorkommen des Verhältnisses über
haupt kann freilich noch nicht erweisen, dass es überall zu
traf; es wird sich fragen, ob wir insbesondere nun auch ein
solches Eigenthum an den Bisthümern des deutschen
Königreiches anzunehmen haben.
Im allgemeinen ergibt sich kein Grund, das Verhältniss
der Bisthümer anders aufzufass.en, als das der deutschen Reichs
abteien, bei welchen sich überall die bestimmtesten Zeugnisse
für das Eigenthum des Reichs ergaben. Insbesondere finden
wir zur Zeit des Investiturstreites die Rechte des Reichs an
beiden Arten von Kirchen als durchaus gleichartige behandelt.
Wie sonst überaus häufig, tritt das insbesondere beim Wormser
Concordate deutlich hervor. Der Pabst bewilligt, dass die
electiones episcoporum et abbatum Tentonici regni, qui ad regnum
pertinent, in Gegenwart des Kaisers vorgenommen werden
sollen; es wird doch kaum zulässig sein, den Zusatz nur auf
die Aebte zu beziehen. Auch später rinden wir Reichsbischöfe
Ueber das Gigenthum des Reichs am Reichskivchengute.
105
und Reichsäbte nicht selten in ähnlicher Weise zusammen-
gefasst; so wenn 1191 der Rechtsspruch erfolgt, dass nullus
episcoporum vel abbatum imperio pertinentium Mensalgüter ver-
äussern soll (Mon. Germ. 4, 194). Andererseits ist nun
freilich nicht zu verkennen, dass die einzelnen deutschen Bis-
thümer nicht in derselben Weise, wie die Reichsabteien oder
wie ausserdeutsche Bisthinner als Eigenthum des Reichs be
zeichnet oder behandelt werden. In dieser Richtung wird aber
zunächst zu beachten sein, dass im deutschen Königreiche im
Gegensätze zu andern Ländern die Bisthiimer durchweg un
mittelbar dem Könige unterstanden und diesem die Voräusserung
eines Bisthums vom Reiche zweifellos nicht gestattet war, wenn
auch Versuche vorkamen. Thietmar, von der Ausnahmsgewalt
Arnulfs über die haierischen Bischöfe sprechend, erklärt es als
gegen das Recht verstossend, dass Bischöfe sub aliquo sint do-
minio, ausser dem der Könige; erwähnt er dann weiter, dass
manche unter der Gewalt der Herzoge und sogar der Grafen
seien, so hat er zweifellos fremde, zunächst wohl französische
Verhältnisse im Auge (Mon. Germ. 5, 742). Dieselbe Auf
fassung,- dass nur die Könige episcoporum. clomini sein sollen,
findet sich auch bei Helmold in Veranlassung der Ansprüche
Heinrich des Löwen auf die Investitur der überelbischen
Bischöfe ausgesprochen (Mon. Germ. 21, 64). Als Kaiser Frie
drich I. den Bischof von Kammerich dem Grafen von Flan
dern untergeben wollte, wurde das nicht ausgeführt, weil geltend
gemacht wurde, dass das gegen das Recht des Reichs verstosse
(Anm. Camerac. Mon. Germ. 16, 523); ebenso bei dem Ver
suche K. Wilhelms, 1252 die überelbischen Bischöfe dem Her
zoge von Sachsen zu unterwerfen (vgl. Reichsfürstenst. I, 275).
Sehen wir ab von der zeitweisen Unterwerfung der baierischen
Bischöfe unter Arnulf, der überelbischen unter Heinrich den
Löwen, weiter von der dauernden Ueberlassung der Bisthümer
Prag und Olmütz an den König von Böhmen durch K. Philipp,
endlich der eigenthümlichen Stellung der jüngeren Salzburger
Suffragane, welche nie in unmittelbarer Verbindung mit dem
Reiche gestanden haben (vgl. Reichsfürstenst. 1, 274. 282. 285),
so unterstanden alle deutschen Bischöfe unmittelbar dem Kö
nige. Zumal in der Zeit vor dem Investiturstreite bis zur
Stiftung des salzburgischen Bisthums Gurk 1072 war das aus-
106
Ficker.
nahmslos der Fall. Werden demnach einzelne Abteien überaus
häufig als dem Reiche gehörend bezeichnet, während das bei
Bisthümern nicht der Fall ist, so kann das nicht befremden,
da hier der Gegensatz fehlte.
Wurden überhaupt Versuche gemacht, Bisthümer vom
Reiche zu veräussern, wurde das wenigstens zeitweise oder ver
einzelt durchgeführt, so wird das doch auch wieder darauf hin
deuten, dass man das Verhältniss der Bisthümer nicht anders
auffasste, als das der Abteien. Und finden wir auch für die
Gesammtheit der Bisthümer keine Ausdrücke gebraucht, welche
sie unmittelbar als Eigenthum des Reichs bezeichnen, so wird
auch das nicht befremden können. Boi der Allgemeinheit des
Verhältnisses fiel den Bisthümern gegenüber der Herrscher mit
dem Herrn zusammen; heisst es, dass der König 'Dominus der
Bischöfe sei, so konnte das das eine, wie das andere bezeich
nen; es lag keine Veranlassung vor, sicli da schärfer bezeich
nender Ausdrücke zu bedienen. Zudem pflegte man bei Er
wähnung solcher Beziehungen gewöhnlich, nur die einzelnen,
äusserlich bestimmt hervortretenden Befugnisse und Verpflich
tungen in’s Auge zu fassen, nicht das allgemeine Rechtsver-
hältniss, aus welchem sich dieselben ergaben. Würde der Be
griff eines Eigenthums des Reichs an den bischöflichen Kirchen
auch nie ausgesprochen, den Anschauungen der Zeit überhaupt
nicht gegenwärtig gewesen sein, so müssten wir das Eigenthum
doch als vorhanden annehmen, wenn sich nachweisen lässt,
dass dem Könige die Befugnisse des Eigenthümers zustehen.
Und das war zweifellos der Fall.
20. Entscheidend dafür ist, dass dem Könige die In
vestitur des Bisthums zusteht. Als Gegenstand der In
vestitur wird in früherer Zeit nicht das Gut des Bisthums, son
dern ganz allgemein das Bisthum oder die bischöfliche Kirche
selbst bezeichnet; es ist Rede von der Investitura oder dem
Donum episcopatus oder ecclesiae; es heisst mit Bezug auf die
Investitur durch den König episcopatum dare, tradere, suscipere.
Solche Ausdrücke werden wohl noch bis in die Zeiten K. Frie
drichs I. gebraucht; 1152 verbrieft er für Kammerich, dass das
ponurti episcopatus beim Reiche bleiben soll (Sitzungsb. 14, 167);
1154 verleiht er Heinrich dem Löwen investituram trium epis-
copatuum (Or. Guelf. 3, 470); 1160 sagt er, dass der neu-
Ueber das Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute,
107
gewählte Erzbischof von Ravenna sich um die investitura archi-
episcopatus an ihn gewandt habe (Fantuzzi Mon. Rav. 5, 288)
und verleiht dem Patriarchen von Aglei die investitura episco-
patus zu Belluno (Ughelli 5, 151).
Und man wird nicht einmal sagen können, dass es sicli
dabei nur um einen bedeutungslosen Sprachgebrauch handelte,
dass man selbstverständlich nur das Glut der Kirche im Auge
hatte. Allerdings wurde das wohl schon früh von Vertheidigern
der Investitur geltend gemacht. Aber die üblichen Formen
widersprachen dem. Petrus Damiani (Epp. 1. 1 ep. 13) wen
det sich gegen diejenigen, welche behaupten, dass sie durch
die Investitur non ecclesiam, sed ecclesiae praedia erhalten: Sane
cum, baculum Ule tuis manibus tradidit, dixitne: ,Accipe terras
atque divitias illius ecclesiaean potius, quod certum est: ,Ac-
cipe ecclesiamV — quod si ecclesiam suscepisti, quod omnino ne-
gare non potes, proculdubio factus es simoniacus. Auch sonst
findet sich der Unterschied wohl beachtet. Als 1119 der Kaiser
sich bereit erklärte, der Investitur mit den Worten zu ent
sagen: Dimitto omneni investituram omnium ecclesiarum, meinten
die Bischöfe, das bedürfe einer genaueren Bestimmung, ne forte
aut possessiones antiquas ecclesiarum sibi conetnr vendicare aut
iterum de eisdem episcopos investire (Jaffe, Bibi. 5, 358); man
fürchtete also, er könne das so auslegen, dass er wohl auf die
Investitur der Kirchen selbst, nicht aber des Gutes derselben
verzichtet habe.
Die Befugniss zur Investitur ist aber Ausfluss des Eigen
thums an der Sache (vgl. §. 8), sei es nun, das sie unmittel
bar durch den Eigenthümer ertheilt wird oder durch jemanden,
der sein Recht vom Eigenthümer ableitet. So hebt der König
1081 bei Schenkung des Bisthums Parenzo an den Patriarchen
(vgl. §. 13) als Folge beim Tode des Bischofs hervor: pa-
triarcha nostro iure, nostro more, nostra lege alium in locum eius
eligendjO pastorale virga> et episcopali anulo investiat. Steht dem
Könige die Investitur aller deutschen Bisthümer zu, so ist er
damit auch Eigenthümer derselben. Man hat das zur Zeit des
Investiturstreites auch nicht anders aufgefasst. Gerade mit
Rücksicht auf die Investitur durch den König betont Placidus
von Nonantola, wie wir sahen (vgl. §. 8), dass die Investitur
Eigenthum an der Sache voraussetze, und fügt hinzu, schon der
108
F icke v.
Ausdruck erweise demnach, quantae impietatis sit, sanctuariim
clei investire. Oder er sagt: Quo enivi modo unquam gravius
addici ecclesia imperatori potest, quam ut in ea pastor, nisi ipse
miserit et investierit, esse non possit? quo etiam modo amplms
imperator ius vel dominium in ecclesia liabere potest? Oder er
bemerkt, der Kaiser erstrebe investituram ecclesiarum, quo
signo possessio et dominatio demonstratur, oder spricht von der
investitura, quae ideo adinventa est, ut hoc signo sanctuarium
dei se possidere imperator monstraret (De hon. eccl. C. 19.
81. 118). Mag man früher vielleicht nur die äusserlich hervor
tretende Investitur in’s Auge gefasst haben, ohne sich zu ver
gegenwärtigen, dass damit der Begriff eines Eigenthums am
Bisthum gegeben sei, so konnte das bei der genaueren Er
örterung dieser Dinge während des Investiturstreites nicht un
beachtet bleiben.
Als nächsten Gegenstand der Investitur wird man die auf
dem Grunde des Reichs erbaute und damit im Eigenthume des
Reichs stehende bischöfliche Hauptkirche betrachtet haben, deren
Pertinenz dann das gesammte Gut des Bisthums ist. Selbst
bei dieser schroffsten Form liegt wenigstens grundsätzlich noch
keine Verfügung des Königs über die Spiritualien vor. Er
überträgt nicht das bischöfliche Amt, sondern die materielle
Grundlage, die Kirche, in welcher der Investirte die Spiritualien
üben kann, sobald er durch die Consecration die Befugniss
dazu erhalten hat; um das bestimmter hervortreten zu lassen,
hat man später wohl zwischen der zu den Temporalien ge
hörenden Kirche und dem die Spiritualien bezeichnenden Altar
unterschieden (vgl. Phillips K. R. 7, 337). Es ist doch eine ganz
verwandte Anschauung, wenn jemand von einem Fürsten ein
Gericht erhält, aber nicht richten darf, ehe ihm der König die
Befugniss -durch Verleihung des Bannes ertheilt hat. That-
sächlich liegt auch hier die Sache so, dass der König den Bann
ertheilen muss, wenn das Gericht nicht ohne Richter bleiben
soll. Sollen die Spiritualien.überhaupt geübt werden, so kann
die Consecration nur dem ertheilt werden, dem der König die
dazu unentbehrliche materielle Grundlage verliehen hatte. So
verfügte der König thatsächlich allerdings auch über die Spi
ritualien; und bezog sich die Investitur nicht blos auf das
Gut der Kirche, sondern auf die Kirche selbst, so lag die
Ueber das Eigeuthum des Reichs am Reichskirchengute.
109
Anschauung um so näher, dass er auch das an sie geknüpfte
Kirchenamt verleihe, wenn man da theoretisch auch jederzeit
den Unterschied festhalten mochte.
III.
21. Eig’entlmm des Reichs am Reichskirchengute. Seit dem Iuvesti-
turstreite wird nur die Investitur der Regalien beansprucht. — 22. Die Re
galien gleichbedeutend mit dem gesummten Gute der Kirche. — 23. Einwen
dungen. Angebliche Beschränkung der Regalien auf das vom Reiche Herrührende.
Erster Vertrag von 1111. — 24. Anscheinende Schenkungen zu Eigenthume.
Unbestimmtheit der Ausdrücke des deutschen Sachenrechts. Verwandtes Ver-
hältniss des Gutes der Ministerialen. — 25. Scheinbar Eigenthumsübertragung
bezeichnende Ausdrücke. Schenkung. — 26. Verleihung zu Eigen; — 27. zu
lebenslänglichem Eigen; — 28. zu immerwährendem Eigen. Gewere der Kirche
an ihrem Gute. Investitur der Kirche. — 29. Gegen das Eigenthum sprechende
Bestimmungen der Schenkungen. Die Ausdrücke der Urkunden sind nicht aus
schlaggebend; aber für das Eigenthum des Reichs am Verschenkten sprechen
andere Gründe. — 30. Verleihung von Hoheitsreehten in denselben Ausdrücken.
— 31. Das Reichskirchengut als Reichsgut bezeichnet und aufgefasst. — 32. Die
Reichskirchenlehen als Reichslehen behandelt. — 33. Auflassung an Reichs
kirchen durch die Hand des Königs. — 34. Zustimmung des Königs bei Ver-
äusserungen oder dauernder Belastung des Reichskirchengutes; — 35. auch
bei Verleihung zu Lehnrecht, — 36. und bei Vertauschung. — 37. Bei den
Befugnissen des Königs handelt es sich weder um staatshoheitliche Gesichts
punkte, noch um ein nur formelles Oberaufsichtsrecht des Herrn.
21. Ist nach dem Gesagten nicht zu bezweifeln, dass die Reichs
kirchen selbst als im Eigenthum des Reichs stehend betrachtet
wurden, so hatte der König kein Interesse daran, auf der Auf
rechthaltung gerade dieser Auffassung zu bestehen, an der man
kirchlicherseits besonderen Anstoss zu nehmen schien. Ihm
konnte es durchaus genügen, wenn als Gegenstand der Inve
stitur das Gut der Kirche betrachtet und damit das Eigen
thum des Reichs am Reichskirchengute gewahrt blieb.
Denn abgesehen davon, dass für die Leistungen an das Reich
nur das Gut in Betracht kam, sicherte ihm das eben so aus
reichend seinen Einfluss auf die Besetzung der Bisthümer; wies
ja schon Hinkmar von Reims darauf hin, wie dem Bischöfe
mit der Kirche, in der er singen könne, wenig gedient sei
ohne das Gut der Kirche (vgl. §. 18).
Kaiserlicherseits besteht man nicht auf der Investitur der
Kirche selbst, sondern auf der Investitur der Regalien der
Kirche. So heisst es von den Verhandlungen von 1111, dass
der Papst dem Kaiser die Investituren verweigerte, quamvis
ille per investituras illcis non ecclesias, non officia quaelibet, sed
110
Ficker.
sola regalia se dare assereret (Mon. Germ. 4, 71). In der dann
doch ertheilten Concessionsurkunde des Papstes wird nur die
Form, nicht der Gegenstand der Investitur betont; der Kaiser
soll Bischöfe und Aebte mit Ring und Stab investiren. Im
Wormser Concordate ist wieder der Gegenstand bestimmter
bezeichnet: Electus regalia per sceptrum a te recipiat.
Die geänderte Auffassung macht sich denn auch im Sprach-
gebrauehe der folgenden Zeit bemerkbar. Grosses Gewicht
scheint man allerdings nicht darauf gelegt zu haben; bei den
Abteien gebraucht man noch lange anstandslos Ausdrücke,
welche diese selbst als Eigenthum des Reichs bezeichnen (vgl.
§. 11); auch von Investitur der Bisthümer ist später noch
mehrfach die Rede (vgl. §. 20). Ueberwiegend finden wir nun
aber doch insbesondere bei den Bisthümern Ausdrücke gebraucht,
bei welchen nicht mehr die Kirche selbst als Gegenstand der
Investitur erscheint. Es ist etwa ohne Bezeichnung des Gegen
standes nur von Investitur der Bischöfe die Rede; so bestätigt
1212 K. Friedrich dem Könige von Böhmen ins et auctoritatem
investiendi episcopos regni sui (Huillard H. D. 1, 217). Häu
figer werden nun als Gegenstand der Investitur die Regalien
der Kirche bezeichnet; es heisst regalibus oder de regalibus in-
vestire, regalia per investituram concedere, es ist Rede vom ins
investiturae regalium, von der concessio sive investitura rega-
lium. Auch auf den Ausdruck Investitur wird kein besonderes
Gewicht gelegt; es Heisst ganz gleichbedeutend regalia conce
dere, conferre, ab imperio teuere, de manu imperii accipere, reci-
pere, ins regalium conferre; das Investiturrecht wird als ins in
regalibus concedendis bezeichnet. Den Ausdruck Temporalien
habe ich im urkundlichen Sprachgebrauche des zwölften Jahr
hunderts noch nicht gefunden; wohl aber sagt der gleichzeitige
Laurentius - in den Geschichten der Bischöfe von Verdun zu
1131, dass der König den neugewählten Bischof bestätigte datis
ei per sceptrum temporalibus episcopii (Mon. Germ. 12, 508).
Später werden dann als Gegenstand der Belehnung der geist
lichen Fürsten die regalia feuda seiner Kirche oder die regalia
sive feuda temporalia, die regalia nec non temporalia sive feuda
oder Regalien, Leiten und Werentlichlceit des Stiftes bezeichnet.
22. Soll unsere Auffassung richtig sein, dass der Kaiser
zwar auf die Anschauung eines Eigenthums an den Kirchen
Ueber das Eigenfchum dos Reichs am Reicliskircliengute.
lli
selbst keinen Werth legte, wohl aber das Eigenthum am ge-
sammten Gute der Reichskirchen beanspruchte und im Wormser
Concordate behauptete, so müssen die Regalien gleichbe
deutend mit dem gesummten Gute der Reichskirche
sein, da später nur bezüglich der Regalien die Verleihung und
damit das Eigenthum dem Reiche zusteht.
Darauf deutet nun schon, wenn in späteren Lehnbriefen schlecht
weg die Temporalien oder die Weltlichkeit der Kirche als Gegen
stand der Belehnung- bezeichnet wird. In Einzelfällen geschieht das
so bestimmt, dass da ein Zweifel kaum möglich ist. So erklä
ren 1291 Bischof und Capitel von Genf, quod episcopus — ipsavi
civitatem Gebennensem — et universa bona temporalia ad Geben-
nensem ecclesiam pertinentia a solo imperatore Romano immediate
dignoscitur obtinere (vgl. Reichsfürstenst. 1, 292). Oder es ist
etwa 1298 Rede von den römischen Kaisern und Königen, a
guibus principatus Leodiensis in temporalibus tenetur titulo feo-
dali (Böhmer Acta 390). Beim genaueren Verfolgen des spä
teren Sprachgebrauches wird man sich leicht überzeugen, dass
als Gegensatz der Regalien immer die Spiritualien gefasst werden,
nicht etwa- solche Temporalien, welche nicht vom Könige zu
leihen wären.
Und das scheint denn auch durchaus mit der früheren
Entwicklung dieser Verhältnisse zu stimmen. Trat ursprüng
lich das Eigenthum an der Kirche selbst in den Vordergrund,
so umfasste dasselbe doch auch alles derselben gehörende Gut.
Wir führten schon Beispiele an, dass die Investitur zugleich
ausdrücklich alle Zubehörungen umfasst (vgl. §. 8), und könn
ten dieselben leicht vermehren. Ein Unterschied, je nachdem
das Gut aus königlicher Schenkung herrührt oder anderweitig
erworben wurde, wird dabei nicht gemacht. Einem Abte be
stätigt der Kaiser 978 sämmtliche Besitzungen seines Klosters
und investirt ihn ex bis omnibus; dazu gehört aber nach der Ur
kunde selbst nicht blos, was das Kloster aus königlicher Schen
kung, sondern auch, was es monachorum donatione aliorumque
hommum oblatione besitzt (Böhmer Acta 14). Dem entsprechend
werden wir denn auch später sehen, dass die Befugnisse, welche
der König als Ausfluss seines Eigenthumsrechtes übt, sich immer
auf das gesammte Gut der Kirche erstrecken.
112
Ficke r.
Das findet denn auch durchaus seine Bestätigung in der
Art und Weise, wie diese Verhältnisse zur Zeit des Investitur
streites erörtert werden. Kirchlicherseits wird allerdings be
ansprucht, dass das gesammte weltliche Gut Eigenthum der
Kirche sei. Dem gegenüber wird die Investitur durch den
König damit vertheidigt, dass dieser Herr der gesammten Tem
poralien der Kirche sei. Und lässt man da wohl von der
schroffen Auffassung ab, dass die Kirche selbst zu diesen Tem-
poralien gehöre, so tritt eine Unterscheidung bezüglich der
übrigen nicht hervor. So redet Petrus Damiani schlechtweg
von den praedia ecclesicie (vgl. §. 20). Auch im Werke des
Placidus von Nonantola zeigt sich deutlich, dass die Ansprüche,
welche er bekämpft, immer auf das gesammte Kirchengut ge
richtet sind. So besonders bestimmt, wenn er sagt: Sunt vero
nonnulli, qui dicant: Ecclesia quidem et circuitus ejtis deo con-
secratus vere hominum nulli pertinet, nisi deo et eins sacerdoti-
bus; ea vero, qnae ecclesia possidet nunc per orbem glorißcata,
id est ducatns, marcliias, comitatus, advocatdas, monetas publiccis,
civitates et castra, villas et rura, et cetera Immsmodi ita ad im-
peratorem pertinent, ut nisi pastoribus ecclesiae semper, cum sibi
succedunt, iterum dentur, nequaquam ea habere debeant (c. 150).
Oder es heisst, ganz in Uebereinstimmung, mit unserer Be
gründung der NothWendigkeit eines Herrn für die Kirchen:
Sunt autem, qui dicant, ecclesiis non competere, nisi decimas,
primitias et oblationes, in mobilibus tantum scilicet rebus; nam
immobilia, videlicet castra, villae vel rura ei non pertinent, nisi
de manu imperatoris pastor susceperit (c. 43). Denn die Mo
bilien Hessen wir überhaupt ausser Acht, hatten immer das
liegende Gut im Auge, wenn wir vom Kirchengute im allgemeinen
sprachen.
Bezog sich nun die frühere Investitur auf das gesammte
Kirchengut, so kann auch nur dieses unter den Regalien ver
standen werden, welche nach dem Wormser Concordate vom
Kaiser mit dem Scepter zu leihen sind; es sei denn, es Hesse
sich naehweisen, der Kaiser habe in dieser Richtung eine Con-
cession gemacht. Davon ist nicht die Rede; der Kaiser macht
nur eine Concession bezüglich der Form, nicht bezüglich des
Gegenstandes der Verleihung; in der päpstlichen Gegenurkunde
dürfte nicht schlechtweg von Regalien die Rede sein, wenn
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichslrirchengute.
113
gewisse Theile des Reichskirchengutes ausgeschlossen sein soll
ten. Denn in Beziehung auf dieses Verhältniss bezeichnet der Aus
druck Regalien einfach alles, was der Bischof vom König zu empfan
gen hat; gleichbedeutend mit dem Ausdruck regalia recipere
heisst es auch recipere, quod regii iuris est oder que ad donum
regle maiestatis spectant. Im Concordate kann demnach der
Ausdruck auch nur bezeichnen, was bis dahin herkömmlich
vom Könige verliehen wurde, also das gesammte Kirchengut.
Und damit stimmt, dass wir auch später den Ausdruck in
derselben Weise gebraucht fanden.
23. Wird uns nun für die Richtigkeit dieser Annahme
insbesondere die Prüfung der dem Könige am Reichskirchen
gute zustehenden Befugnisse eine Reihe weiterer Belege brin
gen, so dürfte es sich empfehlen, zunächst einige Einwendun
gen zu beseitigen, welche gegen dieselbe geltend gemacht sind
und sie auf den ersten Blick allerdings unstatthaft erscheinen
lassen können. Dahin gehört zunächst die angebliche Be
schränkung der Regalien auf das vom Reiche Herrüh
rende, während wir den Ausdruck auf das gesammte Gut be
zogen. Dafür wird, insbesondere auch von Zöpil (Alterth. 1,
112. 2, 18), der erste Vertrag von 1111 geltend gemacht, bei
welchem der König auf die Investitur verzichtet. Der Papst
verbrieft dabei dem Könige: Tibi — et regno regalia illa dimit-
tenda praecipimus, quae ad regnum manifeste pertinebant tem
pore Karoli, Ludevici, Heinrici et ceterorum praedecessorum tuo-
rum; interdicimus enim —■, ne qui episcoporum seu abbatum, vel
praesentium vel futurorum, eadem regalia invadant, id est civi-
tates, ducatus, marchias, comitatus, monetas, theloneum, mercatum,
advocatias regni, iura centurionum et curtes, quae manifeste regni
erant, cum pertinentiis suis, miliciam et castra regni; nec se
deinceps nisi per gratiam regis de ipsis regalibus intromittant;_
— porro ecclesias cum oblationibus et liereditariis possessionibus,
quae ad regnum manifeste non pertinebant, liberas mauere decer-
nimus (Jaffe Bibi. 5, 273).
Aus dieser Stelle wird nun gefolgert, zu den Regalien
hätten nur die Güter und Rechte gehört, welche den Kirchen
vom Reiche verliehen waren; die sonstigen Besitzungen würden
hier bestimmt von den Regalien unterschieden. Es ist aber
doch in keiner Weise gesagt, dass die Bischöfe auf die Rega-
Sitzb. d. phil.-liist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 8
114
Pickel*.
lien überhaupt verzichten sollen, demnach auch nur das einzeln
Aufgeführte zu den Regalien gehöre; wäre hier von den Rega
lien überhaupt die Rede, so wäre die Einzelaufführung minde
stens überflüssig, es würde hier der Ausdruck regalia dimittere
ebenso genügt haben, wie das regalia recipere im Wormser
Concordate. Die Fassung ergibt vielmehr umgekehrt, dass nur
gewisse Regalien aufgegeben werden sollten; liessen die Aus
drücke eadem und ipsa regalia da an und für sich noch eine
andere Auslegung zu, so ist das bei illa regalia durchaus nicht
statthaft; wobei allerdings zu bemerken, dass dieser massgebende
Ausdruck in dem von Zöpfl und anderen benutzten ungenauen
Texte der Mon. Germ. 4, 69 ausgefallen ist. Nicht alle Rega
lien, also nach unserer Annahme die gesammten, bisher vom
Könige durch die Investitur übertragenen Güter und Rechte,
sollen aufgegeben werden, sondern nur diejenigen, welche er-
weislich vom Reiche herrühren.
Ich vermag demnach in dieser Stelle nur einen Beweis
mehr für meine Annahme zu sehen. Auch sachlich steht ihr
hier nichts im Wege. Wir nahmen an, dass die Rechte des
Kaisers auf das Kirchengut nicht daraus abzuleiten seien, dass
dasselbe zum grossen Theil aus Vergabungen der Könige hei’-
rührte, sondern aus dem Eigenthume an der Kirche selbst,
welche nach unserer Auffassung für ihr gesammtes liegendes
Gut, auch für das anderweitig erworbene, das Obereigenthum
ihres Herrn nöthig hatte. Dieses der Kirche anstössige Ver-
hältniss sollte durch Aufgeben der Investitur gelöst werden.
Die Könige sträubten sich dagegen insbesondere, weil sie ihr
Eigenthum an der Masse von Gütern und Rechten des Reichs,
welche nur unter Voraussetzung der Fortdauer des alten Ver-
hältnisses an die Kirchen gekommen waren, nicht aufgeben
wollten. Andererseits konnten sie natürlich nicht bestreiten,
dass bei einer Auseinandersetzung die Billigkeit fordere, den
Kirchen foi-tan wenigstens das als freies Eigenthum zu belassen,
was nicht vom Reiche herrührte. Erklärte der Kaiser sich
bereit, darauf zu verzichten, so kann das natürlich nicht er
weisen, dass ihm da an und für sich kein Recht zustand.
Da der Vertrag nicht ausgeführt wurde, war der König
auch an denVei’zicht nicht gebunden. Der für denselben mass
gebende Gesichtspunkt wird auch sonst in dieser Zeit wohl
Ueber das Eigentlmm des Reichs am Reichslrirchengute.
115
betont. Die Schenkung der Abtei Pfäfers an das Bisthum
Basel erklärt der Papst 1116 unter Anderem auch deshalb für
ungültig, weil das Kloster nicht von Königen und Kaisern, son
dern von anderen Gläubigen gegründet sei, nec donorum rega-
lium munificentia, sed cdiorum fidelium oblatione ditatum (vgl.
Reichsfürstenst. 1, 338). Aber wenn Pfäfers trotzdem Reichs
abtei war und blieb, so spricht das nur dafür, dass jener Um
stand in diesen Dingen nicht der massgebende war. Konnte
man sich kirchlicherseits zu einem Verzicht auf die vom Reiche
herrührenden Regalien nicht entscliliessen, so hat es nichts
Befremdendes, wenn im Wormser Concordate dem Reiche die
Regalien überhaupt gewahrt blieben. In der Urkunde des Kai
sers ist keinerlei Verzicht in dieser Richtung ausgesprochen;
und glaubt Zöpfl Alterth. 1, 112 auch da einen Unterschied
zwischen Regalien und anderweitigen Possessiones der Kirche
zu finden, so glaube ich mich mit einer Verweisung airf Ein
sicht des Wortlautes begnügen zu dürfen.
24. Erheblicher erscheint der schon mehrfach berührte
Einwand, der aus den anscheinenden Schenkungen an
Kirchen zu Eigenthum hergenommen wird. Für die ent
sprechenden Verhältnisse früherer Zeit sind dieselben insbe
sondere von Roth geltend gemacht. Für die uns zunächst be
schäftigende Zeit stützt darauf insbesondere Zöpfl seine Annahme,
dass die Reichskirchen auch später die ihnen vom Reiche über
lassenen Güter nicht als Lehen, sondern als freies Eigenthum
besessen haben; kommt er dadurch in Conflict mit dem Wort
laute des besprochenen Vertrags von 1111, wonach alle vom
Reiche herrührenden Güter zu den zurückzustellenden Regalien
gehören, so sucht er diesen Alterth. 2, 17. 18 dadurch zu lösen,
dass er annimmt, einige Reichsdomainen seien den Kirchen
als Regallehen, andere zu freiem ewigen Eigen verliehen; ein
Unterschied, den die Urkunde nicht allein nicht kennt, sondern
der mit ihrem Wortlaute geradezu unvereinbar ist. Ich selbst
wusste früher die betreffenden Ausdrücke der Schenkungsur
kunden trotz der sich daraus ergebenden Schwierigkeiten nicht
anders zu deuten (vgl. Heerschild 64. 69). Und doch muss
eine andere Deutung zulässig sein, da mit dem so bestimmt
hervortretenden Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute
8*
116
Ficker.
allerdings Schenkungen zu Eigenthum an die Kirchen nicht
vereinbar sein würden.
In dieser Richtung dürfte nun insbesondere die Unbe
stimmtheit der Ausdrücke des deutschen Sachenrechts
zu beachten sein. Es fehlt ihm durchweg an Ausdrücken,
deren Bedeutung eine so feststehende wäre, dass sie unter allen
Umständen immer nur ein und dasselbe Verhältniss zur Sache
bezeichnen können. Ausdrücke, welche zunächst nur das Eigen
thum im strengen Sinne des Wortes zu bezeichnen scheinen,
werden doch auch wieder da gebraucht, wo es sich nur um
ein Recht auf Besitz und Nutzung handelt. Es hängt das damit
zusammen, dass ein Eigenthum auch da noch anerkannt wurde,
wo dem Eigenthiimer die freie Verfügung über die Sache
dauernd entzogen war, wo fast alle aus dem Eigenthume abgelei
teten Befugnisse nicht dem Eigenthümer, sondern dem Nutz-
niesser zustanden. Konnte dieser mit Ausnahme weniger Fälle
die Sache behandeln, als ob sie sein Eigenthum wäre, so lag
in der Regel kein Bedürfniss vor, im Ausdrucke sein Recht
von dem des Eigenthiimers im strengen Sinne zu unterschei
den ; war dann einer der Ausnahmsfälle zu berücksichtigen, wo
die höheren Rechte des Obereigenthümers wirksam werden, so
waren die üblichen Ausdrücke wenig geeignet, das beidersei
tige Verhältniss scharf hervortreten zu lassen; zur Beurthei-
lung desselben sind wir dann mehr auf die Sache, als auf
die Ausdrücke hingewiesen.
Nichts scheint mir dafür bezeichnender, als das Verhältniss
des Gutes der Ministerialen. Von dem Dienstgute oder
auch Lehengute des Ministerialen werden oft seine allodia,
bona proprietaria, patrimonialia, propria hereditas, oder was er
iure dominii besitzt, unterschieden. Sieht man nur auf die Aus
drücke, so sollte da doch völlig freies Eigenthum gar nicht zu
bezweifeln sein. Er kann auch wirklich viel freier darüber
verfügen, als über sein Dienstgut, kann es willkürlich vererben,
veräussern, zu Lehen geben. Dennoch ist es nicht sein Eigen
thum, wenn wir uns nicht an die Ausdrücke, sondern an die
Sache halten. Der Ministerial als Unfreier ist des Eigenthums
gar nicht fähig; was er besitzt, ist Eigenthum seines Herrn,
nur durch diesen ist er in seinem Besitze rechtlich geschützt.
Das Eigenthum des Herrn macht sich allerdings in der Regel
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reicliskirchengute.
117
gar nicht bemerkbar. Er kann das Gut dem Ministerialen nicht
entziehen, kann ihn in den verschiedensten Verfügungen dar
über nicht hindern; trotz seines Eigenthums finden wir, dass
er Güter von seinem Ministerialen erkauft oder ertauscht, oder
dass ci- ihm Güter anscheinend zu Eigen schenkt. Denn die
ganze Befugniss des Herrn als Eigenthümer erscheint wesent
lich auf den einen Punkt beschränkt, dass er verlangen kann,
dass das Gut unter seiner Gewalt verbleibt, dass es hei Ver-
äusserungen nur an solche Personen kommt, welche gleichfalls
mit ihrem Gute in seinem Eigenthume stehen. So lange diese
Gränze, wie das in der Kegel der Fall war, nicht überschritten
wird, macht sich das Eigenthum des Herrn gar nicht bemerk-
lich. Wohl aber, sobald das ausnahmsweise nicht zutraf. Die Unfä
higkeit des Ministerialen zum Grundeigenthume tritt hervor,
sobald er Gut ausserhalb der Gewalt des Herrn veräussern
oder erwerben will. Nur mit Zustimmung des Herrn und durch
die Hand desselben kann er Gut an einen Fremden veräussern;
nicht von ihm, nur vom Herrn kann dieser das Eigenthum
erwerben. Und auch das, was der Ministerial von Fremden
erkauft oder sonst erwirbt, gehört dem Herrn; nur durch die
Hand desselben kann er es erwerben; nicht ihm, sondern dem
Herrn wird es aufgelassen.
Wären wir nun berechtigt, die Verhältnisse des Reichs
kirchengutes nach denselben Gesichtspunkten zu beurteilen,
so wären damit die Schwierigkeiten gelöst. Wir sehen, dass
von einem Eigenthume in den bestimmtesten Ausdrücken die
Rede sein kann, ohne dass doch im strengen Sinne des Wortes
ein solches vorliegt. Wird dagegen das Eigenthum des Herrn
am Gute des Ministerialen fast nie betont, weil es selbstver
ständlich ist, weil das Gut nur Zubehör einer in seinem Eigen-
thume stehenden Person ist, so kann dasselbe für das Gut der
Kirche zutreffen, wenn diese selbst im Eigenthum des Reichs
steht. Kann dort der Herr trotz seines Eigenthums die freieste
Verfügung des Besitzers bis zu einer gewissen Gränze hin
nicht hindern, so könnten auch den Reichskirchen durchweg
die Befugnisse des Eigentümers zugestanden sein, ohne dass
das ein Obereigenthum des Reichs ausschliessen müsste. Und
bei näherer Prüfung scheint sich allerdings zu ergeben, dass
da ein vielfach entsprechendes Verhältnis vorlag, nur mit dem
118
Ficker.
Unterschiede, dass die Befugnisse der Kirchen an ihrem an
scheinenden Eigenthume keineswegs so wenig beschränkt waren,
wie die der Ministerialen.
25. Prüfen wir zunächst die, insbesondere bei den könig
lichen Schenkungen an Reichskirchen gebrauchten, scheinbar
das Eigenthum bezeichnenden Ausdrücke, so scheint es
mir, dass sie auch dann ihre Erklärung finden, wenn wir an
nehmen, es solle durch dieselben nicht freies Eigentlmm, son
dern nur ein unentziehbares Recht auf Besitz und Genuss
übertragen werden.
Es ist da zunächst Rede von Schenkung; es heisst dare,
donare, largiri, trcidere, concedere. Dass diese Schenkungen
von folgenden Königen bestätigt werden, wird nicht gerade
erweisen müssen, dass sie ohnedem keine dauernde Wirkung
gehabt haben würden (vgl. Roth, Feudalität 43). Auffallender
könnte es sein, dass häufig bei den Bestätigungen wieder die
selben Ausdrücke gebraucht werden, dass der König dem Wort
laute nach abermals schenkt, was schon sein Vorgänger geschenkt
hatte, wonach also streng genommen entweder früher oder jetzt,
dann aber am wahrscheinlichsten in beiden Fällen der Ausdruck
keine eigentliche Eigen thumsüb ertragung bezeichnen kann.
Doch wir können davon absehen. Denn jedes Urkundenbuch
gibt Belege, dass solche Ausdrücke auch da gebraucht werden,
wo es sich erweislich nur um das Nutzeigenthum handelt. So
heisst es 1164 bei einer persönlichen Verleihung an den Erz
bischof von Köln zuerst in beneficio atque in feodo damus, dann
gleich nachher ganz gleichbedeutend largimur atque donamus
(Lacomblet U. B. 1, 280); oder 1208: donamus — et confirma-
mus tarn ipsi, quam universis successuris heredibus ducatum Ba-
wariae (Mon. Boica 29, 542).
26. Es ist nun aber allerdings in der Regel bestimmter
von einer Verleihung zu Eigen die Rede; es heisst in pro
prium, in proprietatem, iure proprietatis habendum donare. Und
darauf pflegt das meiste Gewicht gelegt zu werden, da Pro
prium allerdings häufig in bestimmtem Gegensätze zum Bene-
ficium, zum blossen Nutzungsrechte steht.
Deshalb muss der Ausdruck aber nicht gerade immer
freies Eigenthum bezeichnen. Selbst in jenem Gegensätze ist
er berechtigt, sobald es sich um ein weitergehendes Recht an
Ueber das Eigentlium des Reichs am Reichskirchengüte.
119
der Sache handelt, als die Anschauung der betreffenden Zeit
dem nur zu Benefiz Besitzenden zusprach. Wir bemerkten be
reits, dass auch bei Ministerialen von Proprietas die Rede ist.
So sagt der Kaiser 1123 bei einer Schenkung an einen seiner
Ministerialen und dessen Erben: quoddam iure imperii nostrae
proprietatis praediwm — donavimus et in proprium concessimus;
hoc autem sine deminutione regni fecimus, quia parem eum eius-
dem praedii esse cognovimus (Mon. Boica 29, 244). Auch hier
ist der Ausdruck zweifellos zum Unterschiede vom Benefiz ge
braucht; er soll das Gut nicht als blosses Dienstlehen haben,
sondern als Eigen; aber natürlich nur als Eigen, soweit ein
Ministerial solches überhaupt haben kann, wie das hier durch
den Zusatz noch bestimmter angedeutet ist. Denn dass das
Reich trotz der Verleihung zu Eigen nicht verkürzt wird, hat
darin seinen Grund, dass der Beschenkte selbst dem Reiche
gehört, demnach auch das Eigenthum des Gutes dem Reiche
verbleibt.
Bei den Ministerialen ist nun freilich auch später der
Unterschied zwischen Eigengut und Dienstlehen noch von Be
deutung, obwohl beide im Eigenthume des Reiches stehen. Bei
den Reichskirchen tritt später ein solcher Unterschied nicht
hervor; was vom Reichsgut in ihrem Besitze ist, erscheint als
eine einheitliche Masse, welche wenigstens seit der Mitte des
zwölften Jahrhunderts als Lehen bezeichnet wird (vgl. Heer
schild 68). Es liegt daher die Frage nahe, weshalb man denn
nicht auch in früheren Zeiten an die Kirchen nur zu Benefiz
gab, wenn dieselben wirklich nur einen Nutzgenuss erwerben
sollten? Ich glaube diese Frage dahin beantworten zu dürfen,
dass allerdings in späteren Zeiten die Vergabung zu Lehen an
die Kirche für den Zweck genügen konnte; dass dagegen in
früherer Zeit der Ausdruck Beneficium hinter dem zurückblieb,
was man der Kirche gewähren wollte; dass andererseits der
Ausdruck Proprium nach dem Sprachgebrauche der Zeit nicht
zu viel sagte, wenn auch nur ein Nutzungsrecht zugestanden
werden sollte.
Auch in früherer Zeit finden wir nicht selten blosse Ver
leihungen zu Benefiz an Bischöfe und Aebte. Dann handelt
es sich aber sichtlich nur um eine persönliche Begünstigung,
aus welcher ihrer Kirche kein dauerndes Recht erwachsen
120
Picker.
sollte, wie das durch den Zusatz ad dies vitae suae, vereinzelt
auch vitae nostrae (979: Mon. Boica 28, 230) wohl bestimmter
bezeichnet wird. Es scheint nicht einmal herkömmlich g'ewesen
zu sein, das nach dem Tode des Beliehenen der Kirche zu
belassen, da dann anderweitige Verfügungen des Königs über
das Gut wohl ausdrücklich erwähnt werden (z. B. 970: Cod.
dipl. Anhalt. 1, 36).
Sehr häutig wird nun insbesondere dasjenige, was jemand
bisher zu Benefiz besessen hatte, ihm zu Proprium verliehen.
Handelt es sich dabei um Laien, so ist wohl in der Regel an
Verwandlung in freies Eigenthum zu denken, zumal sich da
durchweg noch Ausdrücke finden, welche bestimmter auf ein
ganz freies Verfügungsrecht hinweisen; es wird in proprium
gegeben, so dass er liberam deinceps potestatem liabeat tenendi,
dandi, vendendi, commutandi, precariandi, posteris relinquendi,
vel quicquid sibi placuerit faciendi; vereinzelt auch wohl prout
voluerit testamentum faciendi (Böhmer Acta 26).
27. Wo aber solche Bestimmungen fehlen, da wird der
blosse Ausdruck in proprium nicht gerade Ueberlassung zu
freiem Eigen bezeichnen müssen. Das ergibt sich insbesondere
daraus, dass wir seit der Mitte des neunten Jahrhunderts sehr
häufig Verleihungen zu lebenslänglichem Eigen finden,
in proprium oder in ius et proprietatem ad dies vitae suae oder
usque in finem vitae suae (vgl. Roth Benefizialw. 419. Feudali-
tät 49. 176. 199. Waitz V. G. 4, 175). Ist damit ein freies
Verfügungsrecht, wie es der Begriff des Eigenthums erfordert,
unvereinbar, so wird bei den näheren Bestimmungen auch wohl
nur der Besitz betont: quatinus easdem res integriter omni tem
pore vitae suae proprietatis iure liabeat, teneat atque possideat
absque aUcuius impedimento (Mon. Germ. 21, 383); oder es wird
auf das blosse Nutzungsrecht hingewiesen, das Gut wird ge
geben in ius et proprietatem sub usu fructuario usque in finem
vite oder quatinus supra nominatas res, quam diu vivat, sub usu
fructuario teneat atque possideat (U. B. des L. ob d. Enns 2,
49; Mon. Germ. 21, 387; vgl. Waitz. V. G. 4, 175 Anm. 3).
Häufig wird dabei sogleich für den Todesfall über das Gut
verfügt; es soll dann an eine bestimmte Reichskirche fallen,
oder es wird dem Beschenkten die Wahl unter mehreren Reichs
kirchen, denen er es vermachen kann, gelassen (Wirtemb.
Ueber (las Eigentliura des Reichs am Reicliskirchengute.
121
U. B. 1, 186). Trotzdem tritt irgendwelcher Vorbehalt in den
Ausdrücken der Verleihung selbst zuweilen gar nicht hervor.
So heisst es 907: perenniter in proprium donavimus — quatinus
de ipsa proprietate ab liodierna die et deinceps liberam et secu-
ram teneat potestatem; niemand sollte doch denken, dass es
sich da um etwas anderes, als um Schenkung zu freiem Eigen
thum handeln könne; dennoch ergibt sich die Bedingtheit
weiterhin dadurch, dass der König bestimmt, das Gut solle
nach seinem Tode der Abtei Lorsch zufallen (Mon. Germ. 21,
385). Wird weiter von den Vertheidigern des Eigenthumsrechtes
der Kirchen wohl besonderes Gewicht .auf die Formel gelegt,
deren der König sich bei Schenkungen an dieselben bedient:
toturn ex integro de iure et dominatione nostra ei in ius et do-
minationem — donamus, tradimm atque transfundimus, so wird
eben diese Formel auch bei Verleihungen auf Lebenszeit ge
braucht (U. B. des L. ob d. Enns 2, 32), kann demnach an
und für sich nichts für die Uebertragung des Eigenthums er
weisen.
Wird nicht selten jemandem das, was er bereits als Be
nefiz besaäs, nachträglich zu lebenslänglichem Eigen verliehen,
so muss man da einen Unterschied gefunden haben, der mit
Roth (Benefizialw. 419) doch wohl nur darin gefunden werden
kann, dass das Benefiz dem Empfänger noch nicht für Lebens
zeit gesichert galt, dass es, wenn nicht vom Verleiher selbst,
wenigstens von dessen Rechtsnachfolger wieder genommen wer
den konnte. Ist daneben auch von Benefizien auf Lebenszeit
des Empfängers die Rede (vgl. Roth Feudalität 183. 201), so
zeigt das wohl nur, wie wenig es in diesen Dingen einen
durchaus feststehenden Sprachgebrauch gab; das sachlich Ent
scheidende war die Hinzufügung der Bestimmung auf Lebens
zeit, wobei es gleichgültig scheinen mochte, ob dieselbe dem
Ausdrucke Proprium beschränkend, oder dem Ausdrucke Be-
neficium erweiternd angehängt wurde. Mit der Zeit gewährte
die Verleihung zu Benefiz mindestens eben so ausgedehntes
Recht, wie die zu lebenslänglichem Eigen, wenigstens wenn
wir auf die Wiederholung der Belehnung beim Thronfall kein
Gewicht legen wollen. Es war damit kein Bediirfniss mehr
vorhanden, beide Verhältnisse bestimmter zu scheiden; hätte
von einer Verleihung zu lebenslänglichem Eigen insbesondere
122
Ficker.
bei Geistlichen noch recht wohl die Rede sein können, so wird
doch auch da im eilften Jahrhunderte der Ausdruck Benefiz
vorgezogen.
Als Ergebniss wird festzuhalten sein, dass der Ausdruck
in proprium clonare an und für sich keineswegs eine Verleihung
zu freien: Eigenthum erweisen muss, dass er je nach der nähe
ren Bestimmung sowohl die Verleihung zu Eigenthum, wie
zu Nutzgenuss bezeichnen kann, dass, wenn wir bei den Schen
kungen an die Reichskirchen ersteres annehmen wollen, es
jedenfalls einer Prüfung bedarf, ob die näheren Bestimmungen
darauf hinweisen.
28. Da ergibt sich nun allerdings jenen zeitlich beschränk
ten Verleihungen gegenüber alsbald in so weit ein Unterschied,
als es sich bei den Reichskirchen um eine Verleihung zu
immerwährendem Eigen handelt. Der Unterschied tritt
deutlich hervor, wenn etwa der König 909 die Abtei Traunsee
einem Grafen und dem Erzbischöfe von Salzburg schenkt usque
in finem vite utriusque in proprietatem, et deinceps ad sanctam
luvavensem sedem perpetualiter in proprietatem (U. B. des L.
ob d. Enns 2, 56). Selten fehlt denn auch ein Ausdruck,
der das ausdrücklich betont; es heisst donare perpetuo iure
possidendum, in perpetiium proprietatis usum, in proprium et
perpetuum usum, perpetualiter oder perpetuis temporibus in pro
prium habendum. Dabei tritt bald der zeitige Vorsteher in den
Vordergrund, indem geschenkt wird episcopo suisque successori-
bus oder et per ipsum in perpetuum successoribus. Oder es wird
das dauernde Recht der Kirche selbst betont; es wird geschenkt,
ut ad ecclesiam perpetuo deserviat, perenniter ad utilitatem
ecclesiae permaneat, illuc respondeat et in perpetuum pertineat;
oder etwa auch, damit die Kirche es hereditario iure besitzen
solle (U. B. des L. ob d. Enns 2, 40).
Hat im einen, wie im anderen Falle die Kirche ein dauern
des, unentziehbares Recht an dem Gute, so erklärt es sich,
wenn nicht blos dem zeitigen Vorsteher eine Gewere zuge
sprochen wird, sondern auch wohl von einer Gewere der
Kirche an ihrem Gute die Rede ist. So sagt der Kaiser
980, dass er etwas Entäussertes in ecclesie NiveUensis investi-
turam zurückgegeben habe (Oorkondenboek van Holland 1, 35),
oder er bestätigt 1026 einem vom Erzbischöfe von Mailand
lieber das Eigentdram des Reichs am Reichsldrchengute.
123
dotirten Kloster seine Besitzungen so, ut — abbas, qui nunc
superest, eiusque successores, qui pro tempore fuerint, de omnibus
superius nominatis investitus sit, und bewilligt, dass beim Ver
luste von Urkunden der Schwur genügen soll, dass die Abtei
zur Zeit des Verlustes investituram hoher et de rebus, welche
darin verzeichnet waren (Böhmer Acta 43). Zur Begründung
oder Anerkennung des dauernden Rechtes der Kirche wurde
denn auch wohl die Investitur in derselben Form angewandt,
wie wir sie dem zeitweiligen Vorsteher ertheilt finden. So sagt
der Kaiser 998: monachos coenobii s. Ambrosii per bacidum de
omnibus rebus ad partem ipsius cenobii pertinentibus investivimus,
(Aresius Series abb. s. Ambr. 46); und in unmittelbarer Be
ziehung nicht auf irgendwelche die Kirche vertretenden Personen,
sondern auf die Kirche 1029 bei Restitution eines Hofes an
Obermünster: baculo quoque nostro eiusdem imperialis nostrae
concessionis investituram eidem monasterio contulimus; bacidum
quoque ipsum in testimonium perpetuum ibidem reliquimus (Mon.
Boica 29, 29). Wurde der bei solchen Investituren gebrauchte
Stab, bei dem hier doch jede Beziehung auf das Hirtenamt
fehlt, mit -demselben Ausdrucke bezeichnet, wie der, mit dem
Bischöfe und Aebte investirt wurden, so dürfte das für die
Ansicht sprechen, dass es sich auch bei diesem letzteren ur
sprünglich nur um den bei Investituren der verschiedensten
Art üblichen Stab gehandelt habe (vgl. Planck, Gr. der Christ.
Gesellsch. Verf. 3, 462).
Wird eine solche, dauernde Rechte der Kirche begrün
dende Investitur nur vereinzelt erwähnt, so kann sie trotz dem
allgemein üblich, nur nicht gebräuchlich gewesen sein, sie in
den Urkunden zu erwähnen; wie denn auch die Erwähnung
von 1029 erst nachträglich hinter der Siegelformel angehängt
erscheint. Jedenfalls werden wir nicht anzunehmen haben,
dass die dauernde Investitur der Kirche die persönliche des
jedesmaligen Vorstehers überflüssig gemacht habe. Wir würden
das sonst auch anzunehmen haben bei jeder Schenkung, welche
nicht blos dem zeitigen Bischof, sondern sogleich in den be
stimmtesten Ausdrücken allen seinen Nachfolgern gemacht wird.
Die der Kirche zugesprochene dauernde Gewere wird uns
nicht einmal erweisen müssen, dass die Kirche als solche auch nur
des Besitzes von Grund und Boden fähig war. Eine Gewere
124
F i c lc e r.
wird auch dem zugesprochen, der selbst keinerlei Anspruch
auf Besitz der Sache, wohl aber ein die freie Verfügung des
Eigentümers oder Besitzers beschränkendes Recht an dersel
ben hat. Da, wie wir sehen werden, selbst beim Nichtvorhan
densein eines Vorstehers der Besitz des Gutes nicht der Kirche,
sondern dem Könige zusteht, so hat die dauernde Gewere der
Kirche nur die Wirkung, dass das Gut ihr nie ganz entfrem
det, keinem anderen, als ihrem jedesmaligen Vorsteher über
geben werden darf.
Jene die Verleihung zu Proprium als immerwährend be
tonenden Ausdrücke begründen allerdings ein dauerndes Recht
der Kirche. Aber auch dann muss dieses Recht nicht gerade
mit dem Eigenthmu zusammenfallen, nachdem erwiesen ist,
dass Proprium auch ein blosses Nutzungsrecht bezeichnen könne.
Denn ein unentziehbarcs und vererbliches Nutzungsrecht und
damit eine Gewere am Gute haben auch der Vasall, der
Ministerial, der Zinsbauer aber kein Eigenthum.
29. Auch bei den Verleihungen zu immerwährendem Pro
prium würde eine Uebertragung zu Eigenthum nur dann mit
Bestimmtheit auzunehmen sein, wenn sich das aus den zuge
fügten näheren Bestimmungen ergäbe. Eben wegen dieser glaub
ten wir das oben (§. 26) annehmen zu müssen bei den Ver
wandlungen von Benefiz in Eigen für Laien. Prüfen wir da
gegen hier genauer den Wortlaut, so finden wir überaus häufig
gegen das Eigenthum sprechende Bestimmungen der
Schenkungen.
In dieser Richtung wird doch zunächst zu beachten sein,
dass alle jene Bestimmungen, wonach das Gut für immerwäh
rende Zeiten zu dieser Kirche gehören soll, zugleich eine Be
schränkung der Verfügung über dasselbe bezeichnen, eine Ver-
äusserung desselben, wie sie wenigstens nach unseren Anschau
ungen dem Eigenthümer zustehen müsste, nicht gestatten. Es
ist nun richtig, dass nach germanischer Rechtsauffassung das
Eigenthum, zumal an Grundstücken, nicht nothwendig mit der
Befugniss willkürlicher Veräusserung verbunden sein muss.
Aber hier gewinnt der Umstand doch Bedeutung durch den
Gegensatz. Finden wir bei Schenkungen an Laien oder etwa
auch bei nur persönlichen Schenkungen an Geistliche die Be
fugniss zu jeder Art der Veräusserung ausdrücklich eingeräumt,
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskircliengute.
125
so scheinen hier die näheren Bestimmungen überaus häufig
jede freiere Verfügung auszuschliessen, weil gewiss nicht ab
sichtslos nur von Besitz, Nutzung und Verwaltung des Gutes
die Rede ist. So schenkt schon 762 K. Pipin perpetuum ha-
bendum, ut — predicti monachi eternaliter gaüdeant usu fructua-
rio, excolant atque possideant (Beyer U. B. 1, 18; vgl. Waitz
V. G. 4, 174 Anm. 2). Später heisst es bis auf die Zeit, wo
die auf ein Lehensverhältniss deutenden Ausdrücke üblich
werden, etwa, das Gut solle immer in iure et potestate des
Bischofs bleiben; es wird geschenkt, ut in perpetuum teneant
ac possideant; possideant et ad eorum usum retineant; habeant,
teneant et fruantur; teneant, disponant, ordinent et perfruantur ;
sie erhalten liberam facultatem tenendi atque possidendi; tenendi
et regendi; possidendi, ordinandi, disponendi. Oft finden sich
dann noch weitere, das Verfügungsrecht beschränkende Be
stimmungen. So besonders häufig die, dass das Geschenkte
nicht zu Benefiz verliehen werden soll. Oder es wird betont,
dass auch die Nutzung nicht nach Willkür, sondern wie es
das Interesse der Kirche erheischt, erfolgen soll. Es heisst:
teneant, usitent et ad servicium divinum disponant; sie sollen
nur ad utilitatem ecclesie darüber verfügen, oder non pro suo
libitu vel propiio commodo, sed pro utilitate ecclesiae-, oder bei
Schenkung einer Abtei erhalten die Bischöfe liberam potestatem
tenendi, constituendi vel quiequid ad communem utriusque eccle-
siae utilitatem voluerint faciendi (Mon. Boica 29, 169).
Wie schon in dieser letzten Stelle, so scheint allerdings
auch sonst nicht selten ein ausgedehnteres Verfügungsrecht
eingeräumt zu werden. Der Bischof erhält liberam facidtatem
quiequid placuerit exinde faciendi oder tenendi, dandi (oder
tradendi), commutandi vel quiequid ei placuerit inde faciendi.
Vergleichen wir das mit der entsprechenden Formel für Laien,
so muss doch auffallen, dass das dort gewöhnlich vorkommende
vendendi hier durchweg fehlt (vereinzelt Mon. Boica 29, 93),
während bei dem dare oder traä&re wohl zunächst nur an Be-
nefizien zu denken ist. So zeigen sich auch hier noch wesent
liche Beschränkungen, will man nicht auf den allgemeinen
Schlussausdruck Gewicht legen. Dieser aber findet sich nur
selten so unbeschränkt; es wird überwiegend hinzugefügt ad
utilitatem tarnen ecclesiae oder salvo iure ecclesiaej ausnahms-
126
Ficke r.
weise auch in Bestätigungen ©der Schenkungen für Bamberg
cum consensu cleri et popidi.
In dieser Richtung liesse sich nun aber geltend machen,
dass bei diesen Beschränkungen von vorbehaltenen Rechten des
Königs nie die Rede ist; dass sie nur bestimmt sind, die dauern
den Rechte der Kirche gegen Willkür des Bischofs zu sichern;
dass demnach wohl dem zeitigen Bischöfe die Befugnisse des
Eigenthümers nicht zugestanden sind, ein Eigenthum der Kirche
aber mit ihnen durchaus vereinbar erscheint.
Das führt uns denn wieder auf die Frage, in wie weit die
Kirche selbst, die doch auch bei Erledigung des Stuhls in
Clerus und Volk durch natürliche Personen vertreten ist, als
rechtsfähige Persönlichkeit zu betrachten ist. Wir sahen aller
dings (§. 28), dass ihr ein dauerndes Recht auf die Sache zu
gestanden wird, wie darauf auch durchweg diese oder jene Wendung
in den Schenkungsurkunden hindeutet. Es heisst wohl, dass das
Gut immer zur Kirche gehören soll. Nie aber wird der Kirche
als solcher Besitz, Nutzung oder irgend welche Verfügung über
das Gut zugesprochen, sondern immer nur ihrem Vorsteher und
dessen Nachfolgern. Soll die Kirche dennoch an dem Gute
Eigenthum haben, so müsste der Vorsteher zu ihr im Verhält-
niss des Nutzeigenthümers zum Obereigentliümer stehen, er
müsste also insbesondere die Investitur von Personen erhalten,
welche seine Kirche vertreten. Das war wirklich auch wohl
früher schon da der Fall, wo die Anschauung der Eigenthums
unfähigkeit der Kirchen nicht durchdrang, wie das insbesondere
für Italien mehrfach zuzutreffen scheint. So erklären 915 die
Nonnen eines Klosters zu Lucca nach Wahl der Aebtissin:
Regulam et ferulam de manibus nostris in manum tuam — de-
dimus atque tradimus (Muratori Antiq. 5, 525; vgl. 1, 343).
Davon kann bei den Reichskirchen nicht die Rede sein.
Würden wir davon absehen, annehmen, dass man in einer
Zeit, wo man mehr die einzelnen Befugnisse, als das zu Grunde
liegende Rechtsverhältniss in’s Auge fasste, da nicht genauer
zwischen der Kirche und ihrem Vorsteher habe unterscheiden
wollen, so würden allerdings jene die freiere Verfügung betonen
den Ausdrücke zunächst auf Eigenthumsübertragung schliessen
lassen. Aber an und für sich wird uns das doch schwerlich
massgebend sein dürfen. Es stehen ihnen zahlreiche andere
Ueber das Eigcntlmm des Reichs am Keicliskirchengute.
127
Fülle gegenüber, bei welchen nur von Besitz und Genuss die
Rede ist. Und zwar handelt es sich dann um Formulare,
welche sichtlich zunächst nur auf Vergabungen an Kirchen be
rechnet sind. Hängen dagegen jene andern auf’s engste mit
den bei Vergab ungenau Laien üblichen Ausdrücken zusammen,
so liegt doch der Gedanke sehr nahe, dass da Formulare, welche
zunächst auf Eigenthumsübertragung berechnet waren, angewandt
wurden, ohne für den besondern Zweck genügend abgeschwächt
zu sein. Denn mit andern Zeugnissen stehen jene Ausdrücke
vielfach im bestimmtesten Widerspruch. Wird sehr häufig
eine anscheinend unbeschränkte Befugniss zur Vertauschung
gewährt, so wissen wir anderweitig auf’s bestimmteste, dass kein
Reichskirchengut ohne ausdrückliche Erlaubniss des Kaisers
vertauscht werden durfte. Und darauf dürfte besonders Ge
wicht zu legen sein; stand überhaupt fest, dass das Reichs
kirchengut insgesammt Eigenthum des Reiches sei, dass dem
Könige da überall bestimmte Befugnisse zukämen, so war gerade
bei solchen Vergabungen kein Gewicht auf Genauigkeit der
Fassung zu legen, es war kein Grund, im Einzelfalle die vor
behaltenen "Befugnisse des Reichs zu betonen, wenn dieselben
ohnehin feststanden.
Ich glaube demnach als Ergebniss festhalten zu dürfen:
Die bei Schenkungen an Reichskirchen gebrauchten Ausdrücke
deuten selbst vielfach nur auf Besitz und Genuss. Ist in an
dern Fällen von ausgedehnteren Befugnissen die Rede, welche an
und für sich die Annahme einer Eigenthumsübertragung nahe
legen können, so scheint diese auf Widersprüche zu führen,
während die Ausdrücke andererseits doch auch mit der An
nahme eines dem Reiche verbleibenden Obereigenthums wenig
stens nicht durchaus unvereinbar scheinen. Man wird unter
diesen Verhältnissen den bei den Schenkungen gebrauchten
Ausdrücken an und für sich weder nach der einen, noch nach
der andern Seite hin ausschlaggebendes Gewicht beilegen dürfen.
Die zutreffende Bedeutung jener Ausdrücke wird von der Be
antwortung der Frage abhängig zu machen sein, ob das Ge
schenkte weiterhin als Eigenthum der Kirche, oder aber als
Eigenthum des Reichs bezeichnet und behandelt wurde.
30. Diese Frage sollte nun allerdings schon gelöst er
scheinen durch den früheren Nachweis, dass die Investitur eine
128
Ficker.
Befugniss des Eigenthümers ist, dass sich weiter bei den Reichs-
kirchen die Investitur auf das gesammte Gut, also auch auf
das Geschenkte bezieht (vgl. §. 22). Haben wir die dagegen
erhobenen Einwendungen zu beseitigen gesucht, so ist es doch
sehr möglich, dass sich gegen die Stichhaltigkeit jenes Nach
weises noch andere Gründe geltend machen Hessen. Jedenfalls
aber wird jenes Ergebniss wesentlich fester begründet erscheinen,
wenn es uns gelingt nachzuweisen, dass sich auch ganz abge
sehen von jener aus der Investitur gezogenen Folgerung ein
Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute ergibt.
Da dürfte nun in näherem Anschlüsse au das zuletzt Er
örterte zunächst zu beachten sein, dass es sich bei den Schen
kungen häufig um Verleihung von Hoheitsrechten
an die Kirchen handelt und dass da durchaus dieselben
Ausdrücke gebraucht werden, wie bei den Schenkungen von
Grundstücken und andern des Privateigenthums fähigen Gegen
ständen. So übergibt beispielsweise 1091 der Kaiser dem
Bischöfe von Brixen und dessen Kirche ein Comitat in pro
prium, mit der Befugniss possidendi, obtinendi, precariandi, com-
mutandi vel quicquid sibi ad ■utilitatem ecclesie placuerit inde
faciendi (Mon. Boica 29, 217). Und ganz entsprechend in vielen
andern Fällen.
Damit wird nun zweifellos die oft aufgestellte Behauptung
hinfällig, dass zwar Hoheitsrechte nur zur Nutzung oder als
Lehen, die Güter aber als Eigenthum gegeben seien. Die über
einstimmenden Ausdrücke der Schenkungsurkunden lassen da
einen Unterschied durchaus nicht zu. Will man in diesen über
haupt Eigenthumsübertragungen sehen, so muss man das auch
da annehmen, wo es sich um Hoheitsrechte handelt. Es ist
nur consequent, wenn Zöpfl, Alterth. 2, 67 annimmt, dass zwei
Grafschaften der Kirche von Wirzburg zu freiem Eigen, als
sogenannte allodiale oder freie Grafschaften verliehen seien,
weil sie gegeben werden in proprium de nost.ro iure et dominio
in ius et dominium episcopi; Ausdrücke, von welchen wir aller
dings nachwiesen, dass sie sogar bei blossen Verleihungen auf
Lebenszeit gebraucht wurden (vgl. £5. 27).
Dem gegenüber will ich nun nicht einmal Gewicht darauf
legen, dass Hoheitsrechte der Natur der Sache nach nicht zu
freiem Eigen verschenkt werden können, dass insbesondere die
Ueber das Eigentkum des Reichs am Reichskirchengute.
129
hohe Gerichtsbarkeit nur reichslehnbar sein kann. Aber wenn
wir annehmen, dass auch die TToheitsreclite Eigenthum der Kirche
waren, Vas soll dann überhaupt den Gegenstand der Belehnung
der Kirchenfürsten gebildet haben? Auch Zöpfl ist diese
Schwierigkeit nicht entgangen; er bedarf natürlich eines Gegen
standes für die spätere Belehnung und findet diesen eben in den
Hoheitsrechten, auf welche er den Ausdruck Regalien be
schränken will. Um nun den Widerspruch zu beseitigen, der
sich daraus ergibt, dass auch diese seiner Ansicht nach früher
zu Eigen geschenkt sind, nimmt er an (vgl. Alterth. 2, 13 ff.),
sie seien zwar früher nicht Lehen gewesen, aber sie hätten
allerdings nur in Lehnsform übertragen werden können; habe
das ursprünglich keinen Lehnsverband begründet, habe es sich
da nur um eine allodiale Investitur gehandelt, so habe man
erst in der Zeit nach dem Investiturstreite die Auffassung einer
feudalen Investitur untergelegt. Dass das Verhältnis der Bischöfe
zum Reiche erst im zwölften Jahrhunderte als Lelmsverbindung
im engern Sinne des Wortes aufgefasst wurde, will ich nicht
bestreiten. Eben so wenig, dass der Ausdruck Investitur nicht
immer die Ueberlassung zu blossem Nutzgenuss bezeichnen
muss, dass es sich dabei ebensowohl um Eigentliumsübertragung
handeln kann (vgl. Heerschild 34). Dass aber die Investitur
der Bischöfe und Aebte auch früher insofern eine feudale im
weitern Sinne war, als es sich dabei um Ueberlassung blossen
Nutzgenusses durch den Eigenthümer handelte, dass man das
insbesondere auch zur Zeit des Investiturstreites nicht anders
auffasste, werde ich nach früher Gesagtem (vgl. §§. 20. 22)
nicht weiter begründen dürfen. Legt Zöpfl Gewicht darauf,
dass gerade bei Gerichten die Lehnsform keine Lehnsverbindung
bedingen müsse, weil noch nach dem Sachsenspiegel der Bann
ohne Mannschaft geliehen wird, so ergibt sich doch leicht, dass
sich daraus für das liier vorliegende Verhältniss nichts folgern
lässt. Er selbst iveist ja darauf hin, dass den Bischöfen über
haupt der Bann nicht geliehen wurde; was ihnen geliehen wurde,
ist das Gericht, also gerade das, was mit Mannschaft . ge
liehen wird.
Es scheint nicht statthaft, dieselben Ausdrücke nach Be
dürfnis verschieden zu fassen. Entweder wurde den Kirchen
alles, Güter und Hoheitsrechte, als Eigenthum geschenkt; und
Sitab. d. hist.-phil. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 9
ISO
Picke v.
dann ist nicht abzusehen, wie sie später zu blossen Lehen ge
worden sein sollen. Oder aber es handelte sich umgekehrt bei
dem einen, wie dem andern, von vornherein um ein dauerndes
Nutzungsrecht; dann unterliegt die spätere Auffassung als Lehen
keinem Anstande.
31. Es fehlt weiter nicht an Zeugnissen, wonach das
Reichskirchengut als Reichsgut bezeichnet und
aufgefasst wird. Bezeichnete man früher die gesammte
Kirche als Eigenthum des Reiches, so lag allerdings gerade
dann, wenn zugleich ihr gesammtes Gut als Eigenthum des
Reichs betrachtet wurde, in der Regel keine Veranlassung vor,
einzelne Güter als Reichsgut zu bezeichnen. Doch findet sich
auch das wohl vereinzelt. Die Mönche der Reichsabtei S. Sal
vator in Monte Amiate wenden sich 1081 mit einer Klagschrift
an den König, und gebrauchen dabei nicht blos die Ausdrücke
monnsterium vestrum, domus tua, sondern bezeichnen auch ein
zelne ihrer Güter als villulae tuae, sagen von einem ihnen vor
enthaltenen Castrum: quod vestrum esse iusta ratione cognoscimus
(Ficker Ital. Forsch. 4, 127).
Wurde es später insbesondere bei Bisthümern weniger
üblich, die Kirche selbst als dem Reiche gehörig zu bezeichnen,
so sollte man nun bestimmter erwarten, das Gut der Kirchen
als Reichsgut bezeichnet zu iinden. Das trifft denn auch zu,
da der jetzt allgemein übliche Ausdruck Regalien der Kirche,
wenigstens nach unserer Annahme, sich auf das gesammte Gut
der Kirche bezieht, und dieses als vom Könige zu leihen, dem
nach als Eigenthum des Reichs bezeichnet (vgl. §. 22). Das
gibt uns nun freilich keinen weitern Haltpunkt denen gegenüber,
welche mit unserer Auffassung der Regalien nicht einverstanden
sind. Wold aber gibt einen solchen eine Stelle des sächsischen
Lelinreclites 2 §. 6, wo es heisst, dass im allgemeinen an
Lehen von Geistlichen und Weibern keine Folge sei, it ne si
dat en pape oder en wif des rikes gut bi köre untva und den
Heerschild davon habe; das Gut mögen sie zu Lehen geben,
und dem mag man folgen an den andern Herrn. Das Reichs
gut, welches Bischöfe, Aebte und Aebtissinnen auf Grund der
Wahl empfangen, ist einfach das Gut ihrer Kirche, das hier
schechtweg als Reichsgut, wie sonst als Regalien bezeichnet
wird; und zwar nach Massgabe dieser Stelle das gesammte Gut
ttebor das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
131
wenigstens in so weit, als sie Lehen daraus bestellen dürfen.
Indem im Deutschenspiegel (Lehnr. 6) das dem Verfasser wohl
unverständliche bi köre ausfiel, wurde der Satz unverständlich,
was dann wieder für den Verfasser des Schwabenspiegels (ed.
Lassb. Lehnr. 4) Veranlassung geworden ist, an ritterbürtige
Pfaffen und Weiber zu denken und damit der Stelle eine durch
aus andere Bedeutung zu geben.
Nicht gerade so unmittelbar, aber nicht weniger bestimmt
wird auch sonst das Reichskirchengut als Reichsgut bezeichnet.
Ist unsere Annahme richtig, so muss alles, was einer Reichs
kirche geschenkt wird, dadurch zugleich Reichsgut werden.
Das nun findet sich in den Lehnrechtsbüchern ausdrücklich
ausgesprochen. An Eigen gibt es im allgemeinen keine Folge;
wohl aber soll man nach sächs. Lehnr. 71 §.5, womit das
Lelinrecht des Deutscliensp. 235 und des Schwabensp. 135 genau
stimmen, den belehnten Mann von der Folge nicht weisen,
of egen des rikes gut wert, so dat it in't rike erstirft oder dcit
man’t in en goddeshus gift. Die Stelle scheint doch keiner an
dern Auslegung fähig zu sein, als dass das an ein Gotteshaus
geschenkte Eigen zum Reichsgute wird; und bei dem Gottes
hause wird nur an eine Reichskirche gedacht werden können,
da nur bei dieser überhaupt eine Verbindung mit dem Reichs-
lehnsverbande besteht, das Eigen bei Vergabung an andere
Gotteshäuser in lehnsunfähige Hände kommen würde.
Nach derselben Auffassung muss Gut, welches einer Reichs
kirche entfremdet wird, damit auch dem Reiche entfremdet
werden. So bestätigt 1173 der Kaiser alle Besitzungen der
Reichsprobstei Beromünster, aber unter dem Vorbehalte, ne ab
imperio alienentur (Herrgott Geneal. 2, 191).
Umgekehrt aber wird dann Reichsgut, welches einer Reichs
kirche gegeben wird, damit dem Reiche nicht entfremdet, wie
wir eine entsprechende Auffassung schon bezüglich des an
Reichsdienstmannen geschenkten Reichsgutes fanden (vgl. §. 26).
K. Wilhelm gestattet 1252 dem Kloster Ilfeld Reichsgut bis zu
einem gewissen Betrage von Vasallen und Ministerialen des
Reichs erwerben zu dürfen: Nam et si a feudatariis mbtralian-
tur, ex quo tarnen perveniunt ad usus ecclesie in fundo imperii
constitute, non videmus nobis aut imperio aliquid deperire; was
K. Rudolf 1290 ebenso wiederholt (Böhmer Acta 300. 360).
9*
132
Ficker.
Auf Bitten des Bischofs von Bamberg, ad quem periinet ins
fundi Gliunicensis ecclesiae, bestätigt 1220 der Herzog von
Baiern dem Kloster Gleink auch die possessiones ditioni et regno
Ba.uwarie pertinentes, welche demselben etwa geschenkt sind;
siquidem patenter constat, propensius licitvm atque esse bene meri-
torium cenobia Babenbergensi ecclesie ex iure fundi attinencia de
rebus regni ditari, quia ipsa probatur regno devote famulari.
Derselbe gestattet 1225 seinen Vasallen Vergabungen an das
Hospital am Pihrn, ex iure fundi Babenbergensi ecclesie sub-
iectum, nachdem die baierischen Grossen es für statthaft er
klärt hatten, possessiones regni Ulis ecclesiis licite conferri, que
ad Babenbergensem ecclesiam spectare videntur, quia et ipsa per
regnum fundata eidem fideliter obsequi dinoscitur (U. B. des L.
ob d. Enns 2, 620. 656). In beiden Fällen wird die Ver
gabung des zum baierischen Fürstenamte gehörenden Reichsgutes
an eine Kirche sichtlich durch die Behauptung gerechtfertigt,
dass es dadurch dem Reiche nicht entzogen werde. Und diese
Stellen sind für uns von doppeltem Wertlie, weil sich daraus
bestimmt ergibt, dass man nicht blos das Gut der Reichs
kirchen selbst, sondern auch das Gut der diesen gehörenden
Kirchen als Reichsgut betrachtete, wie das allerdings bei der
Richtigkeit unserer ganzen Auffassung nothwendig der Fall
sein musste.
Bedarf es zu Vergabungen von Reichslehngut oder von
Gut der Reichsdienstmannen an Reichskirchen trotzdem einer
besondern Bewilligung des Königs, so widerspricht das jener
Auffassung nicht. Denn dem Eigenthümer wird nicht blos
daran liegen, dass sein Eigenthum überhaupt gewahrt bleibt; es
wird ihm auch nicht gleichgültig sein können, in welchen Hän
den sein Gut ist. Finden wir solche Bewilligungen zu Ver
gabung von Lehngut oder Dienstgut an Kirchen oft allgemein
oder für einen Einzelfall ertheilt, so sehen wir dabei durchweg
das Herrschaftsverhältniss beachtet. Wie die Bewilligungen
anderer Herren die von ihnen gegründeten und ihnen gehören
den Kirchen treffen, so handelt es sich bei den Bewilligungen
zur Vergabung von Reichslehngut oder Reichsdienstgut fast
immer um Reichskirchen oder von diesen abhängige Kirchen.
Oder die Bewilligung ist ausserordentlich beschränkt, wenn sie
ausnahmsweise eine andere Kirche trifft. So gestattete K. Adolf
Ueber das Eigeiithum des Reichs am Reichskirchengute.
133
Vergabungen an das Kloster Stams nur auf seine Lebenszeit
und nur de bonis proprietariis der Reiclisdienstinannen (Böhmer
Acta 380), welche zwar auch streng- genommen Reichsgut sind
(vgl. §. 24), aber doch nicht dem Reichsdienstg-ute gleichstehen.
Auch das wird gegen unsere Annahme nicht in’s Gewicht
fallen können, wenn vereinzelt Kirchengüter als nicht dem
Reiche gehörend bezeichnet werden oder anscheinend aus Kirchen
gut zu Eigen des Reichs werden. So wenn K. Konrad III.
erklärt, dass Ilöfe von Lorsch, welche als Reichslehen von
Andern beansprucht werden, ad proprietatem et beneficium regni
nullatenus pertinere, oder dass er gegen Verzicht auf die Königs
steuer der Abtei drei Höfe derselben in servitium et proprieta-
tem regni recepimus (Mon. Germ. 21, 439. 440). Haben wir
einmal nachgewiesen, dass auch das blosse Nutzeigenthum als
Proprietas bezeichnet wurde, so können solche Stellen keinen
Anstand bieten; es handelt sich um Besitz und Nutzung, welche
dem Reiche bisher nicht zustanden. Von diesem Gesichtspunkte
aus kann es denn überhaupt nicht auffallen, wenn der König,
obwohl er Eigenthümer ist, häufig mit den Reichskirchen tauscht
oder sonst Gut von ihnen erwirbt; sollte das gegen das Eigen
thum sprechen, so müsste das ebenso der Fall sein beim Reichs
lehengut und Reichsdienstgute, bei welchen sich gleichfalls solche
Erwerbungen für das Reich finden.
32. Für unsere Annahme spricht weiter, dass die Reichs
kirchenlehen als Reichslehen behandelt werden. War
alles Gut der Reichskirchen Reichsgut, so musste nach völliger
Ausbildung der lehnrechtlichen Gliederung der König für alle
Lehen aus Reichskirchengut der obere Herr sein; war es da
gegen Eigenthum der Reichskirchen, so war kein Grund, diese
Lehen anders zu behandeln, wie Lehen, welche von andern
Herren aus ihrem Eigen bestellt wurden. Da war nun zweifel
los das Erste der Fall.
Sind Geistliche im allgemeinen lehnsunfähig, so haben die
geistlichen Fürsten überhaupt nur deshalb den Heerschild,
weil sie selbst mit dem Gute des Reichs belehnt werden und
dieses weiterleihen dürfen (Sächs. Lehnr. 2 §. 6; vgl. oben
§. 31). Deshalb finden wir auch wohl die beneficia de regno aut
de ecclesiis gleichgestellt; so 1123 in Italien bezüglich der Ver
pflichtung, am königlichen Hofe zu Rechte zu stehen (Mon.
134
Ficker.
Germ. 4, 77). Auch sonst werden solche Lehen ganz wie andere
Reichslehen behandelt; es ist inbesondere der Reichsdienst von
ihnen in derselben Weise zu leisten. Nur ein wesentlicher
Unterschied ist da meines Wissens nachweisbar. Wegen des
uncntziehbaren Rechtes der Kirche auf das zu ihr gehörige
Gut konnte ihr das aus diesem bestellte Lehen nicht dauernd
entfremdet werden, es gab bei demselben keine Folge an den
höheren Herrn (Sachs. Lehnr. 76 §. 3; vgl. Heerschild 52).
Entscheidend in dieser Richtung wird aber insbesondere
die Bestimmung sein müssen, dass der geistliche Fürst nichts
zu Lehen geben darf, ehe er selbst die Belehnung vom Könige
empfangen hat, wodurch dieser zweifellos für alles Gut der
Kirche, mindestens so weit, als dieses überhaupt zu Lehen ge
geben werden durfte, als der obere Herr erscheint. Im sächs.
Landr. 3, 59 §. 1 ist das ausdrücklich gesagt und es fehlt da
für auch nicht an sonstigen Zeugnissen. Bei einer Belohnung
durch den neugewählten Bischof von Trient 1189 wird aus
drücklich betont, dass derselbe vom Kaiser die Regalien bereits
empfangen habe (Cod. Wangian. 83). Auf Frage des Fürst
abtes von Corvei erfolgt 1223 vor dem Könige der Rechts
spruch : Donationes mansorum, concessiones feodorum, obligationes
pignorum ante regalium receptionem facte sint in irritum revo-
cande (Mon. Germ. 4, 252); eine um so beachtenswerthere
Stelle, als es sich hier nicht blos um Leihen zu Lehnrecht,
sondern um alle Verleihungen aus dem Kirchengute überhaupt
handelt. Der Pabst selbst erklärt 1338, quod abbatissa eiusdem
ecclesie (Assindensis), que magna;m t emporalitatem multosque no-
biies et barones ac odios vasallos, feuda nobilia et alia a dicta
ecclesia obtinentes, liabere dinoscitur, de antiqua consuetudine Ala-
manie dicte temporalitatis Investitur am ab imperatore seu Roma
norum reger, qui est pro tempore, debet recipere, quodque de simili
consuetudine in Ulis partibus observatur, quod eadem abbatissa,
priusquam investituram recipiat supradictam, non potest suos sub-
ditos et vasallos de feudis, que tenent ab ipsa ecclesia, infeudare,
nec liomagia et fidelitatem sibi ab eis debita recipere consueta
(Lacomblet U. B. 3, 258). Will man darin nicht, wie es am
nächsten liegt, überhaupt einen weitern Beweis sehen, dass die
Investitur mit den Regalien sich auf das gesammte weltliche
Ueber <las Eigentliuiu <1his H«icliss am Keichskircheugute.
135
Gut der Kirche bezog 1 , so wird man das mindestens bezüglich
des zu Lehen zu gebenden nicht bestreiten können.
33. Weiter wird zu beachten sein, dass mehrfach Auf
lassung an Reichskirchen durch die Hand des Königs
erwähnt wird. Wer selbst des Eigonthums nicht fähig ist, für
seinen Besitz einen Obereigenthümer bedarf, kann nach der
Strenge des Rechts Grundbesitz nur dadurch erwerben, dass
das Gut in die Hand seines Herrn zu Eigen aufgelassen wird,
der ihm dann den Besitz überträgt. Ebenso kann er seinen
Grundbesitz nur veräussern, indem er sein Besitzrecht dem
Herrn auflässt zu dem Zwecke, das Eigenthum dem Erwerber
zu übertragen. Das trifft insbesondere das Eigenthum der
Ministerialen (vgl. §. 24). Ganz entsprechend finden wir nun
auch bei Reichskirchen Erwerb und Veräusserung des Guts
durch die Hand des Königs.
Der Kaiser sagt 1037, dass der Patriarch von Aglei ein
Gut, welches er ihm geschenkt hatte, in nostrum ins reflexit, zu
dem Zwecke, um es per nostre traditionis auctoritatem dem
Bischöfe von Cittanuova zu übergeben (Böhmer Acta 47); es
muss da doch auffallen, dass der Patriarch das ihm geschenkte
Gut nicht unmittelbar weiterschenkt.
Der Kaiser bekundet 1167, dass der Bischof von Merse
burg mit Zustimmung seines Bruders predia et mancipia sua et
fratris — nobis in proprietatem tradidit mit der Bitte, dass wir
dieselben der Kirche von Merseburg eo tenore et iure, quo et
ipse nobis tradidit, integraliter tradere vellemus, wie das denn
auch geschehen sei. Und wieder 1169, dass ein Domherr von
Merseburg duos mansos, qui legitime possessionis absoluto iure
sui erant, in manus nostras resignavit ad honorem et utilitatem et
perpetuam possessionem Merseburgensis ecclesie; — nos itaque ■—
eosdem mansos ecclesie M. perpetuo iure cum omni eorum utili-
täte possidendos concessimus et absoluta traditione donavimus
(Böhmer Acta 120. 121).
Der Abt von Burtscheid sagt 1179, dass er vier Mansen
von den Brüdern von Nisweiler kaufte, welche dieselben früher
von den Edeln von Schleiden erkauft hatten; preterea usuca-
pium possessionis Jiuius, quod theotonica exprimitur lingua sala,
quod ipsi quidem, quia liberi non erant, verum ministeriales ducis
II. de Limburcli, usucapere a prefato libero et nobili vivo nequi-
136
Ficker.
bunt, immo dominus eorum in iisits ipsorum susceperaf ; ut ecciesia
nostra ex integro possideret, quod suuni, futurum erat, ab ipso
domino duce iiii. mar eis redemi, fidelesque domini imperatoris,
cuius dicioni subicimur, — in dicionem domini imperatoris, rata
legatione legatorinn bonorum, cum iure usucapii suscipere feci, ut
liec actio eo firmior fieret (Lacomblet U. B. 1, 330). Diese An
gabe ist tun so beachtenswerther, da das Herrsckäftsverhältniss
ausdrücklich betont ist und die Verwandtschaft der Stellung
der Ministerialen und der Kirchen zu ihrem Herrn deutlich
hervortritt.
Um 1190 sagt der Erzbischof von Mainz, dass er vom
Herzoge von Limburg Gut um zweihundert Mark erkauft habe,
cuius proprietatem domnus rex accepit Mogontine ecclesie conser-
vandam, quas duci in feoduni dedimus (Stumpf Acta Magunt.
117). Bleibt hier der Besitz nicht einmal der Kirche, noch
weniger dem Könige selbst, so tritt deutlich hervor, dass es
sich da nur um ein das Beeilt der Kirche schützendes Ober
eigenthum handeln kann.
Bei einem Tausche zwischen der Reichsabtei Weissenburg
und dem Kloster Hemmerode sagt der Kaiser 1194 von den
beiderseitigen Tauschgegenständen, dass sie per manus nostras
in proprietatem gegeben wurden: um dieselbe Zeit verpfändet
der Erzbischof von Trier einen Hof per manus des Kaisers;
1195 wird ebenso ein Allod an die Kirche von Worms gegeben
(Beyer U. B. 2, 177. 197. Böhmer Acta 182).
Solche einzelne Stellen werden uns freilich nicht zu der
Annahme berechtigen, dass eine Reichskirche überhaupt nur
durch Auflassung an das Reich Grundbesitz erwerben konnte.
Die Auflassung geschieht bei Schenkungen an Reiekskirchen
überwiegend in die Hand einer die Kirche unmittelbar ver
tretenden Person, des Bischofs oder Vogtes (vgl. Poschinger
Kirehenvermögen 150). Auch wird nicht anzunehmen sein, dass
immer eine bezügliche Form eingehalten wurde, etwa, wie in
dem Falle von 1179, Vertreter des Königs eingriffen, und das
nur als selbstverständlich in den Urkunden nicht bemerkt
wurde. Denn auch da, wo besonders eingehend über die Auf
lassung berichtet wird, wie etwa 1074 bei der Schenkung von
Ravengirsburg an Mainz (vgl. 5), fehlt jede bezügliche An
deutung; nicht etwa durch Mannen des Reichs, sondern der
Ueber das Eigentlmm des Reichs am Reichskircheugute.
137
Kirche von Mainz wird die Ge wo re ersessen. Unserer Auf
fassung- steht das nicht entgegen. Denn insbesondere dem Ver-
hältniss des des Eigenthums unfähigen Ministerialen gegenüber
besteht da insofern ein Unterschied, als der die Kirche ver
tretende Vorsteher allerdings persönlich des Eigenthumserwerbes
fähig war. Stand nun aber fest, dass das, was er für seine
Kirche erwarb, dadurch an und für sich Eigen des Reichs
wurde, so war wenigstens im Interesse des Reichs eine das be
stimmter aussprechende Form überflüssig. Dagegen scheint es
dann, dass man in einzelnen Fällen, wo etwa spätere Anfech
tung besonders zu fürchten war, im Interesse der Kirche selbst
die Uebertragung des Eigenthums an das Reich durch eine be
stimmter darauf hinweisende Handlung zu kennzeichnen suchte;
auch in dem besonders bezeichnenden Falle von 1179 wird die
Uebernahme an das Reich nicht gerade als nothwendig be
zeichnet; sie geschieht, ut 7iec actio eo firrnior fieret.
34. Anders lag dieses Verhältniss, wenn nicht Gut für
die Kirche erworben, sondern Gut derselben veräussert wurde.
Dabei kam natürlich auch das Interesse des Reichs in’s Spiel,
dem das Gut dadurch entfremdet wurde. Geschah die Veräusse-
rung, wie das bei einigen der angeführten Fälle zutrifft, durch die
Hand des Königs, so war damit natürlich auch dessen Zustimmung
ausgesprochen. Doch scheint es, dass auch da die Form der
Auflassung durch den König nicht nothwendig war, dass man
diese Form nur in Einzelfällen zur grösseren Sicherung an
wandte. Dagegen machen die Eigenthiunsrechte des Reichs
sich regelmässig dadurch geltend, dass Zustimmung des
Königs zu jeder Veräusserung oder dauernden Be
lastung von Reichskirchengut nöthig war.
Dem Bischöfe stand allerdings ein ausgedehntes Yerfügungs-
recht am Gute seiner Kirche zu; er konnte es andern zu Nutz
genuss überlassen, konnte es verpfänden oder anderweitig be
lasten. Aber durch die Investitur waren ihm nur auf Lebens
zeit Rechte am Gute übertragen; darüber hinaus konnte er
nicht über dasselbe verfügen, wie das in einem Gesetze K. Otto's
998 ausdrücklich ausgesprochen ist (Mon. Germ. 4, 37); hatte
er das Gut dauernd belastet, so verloren alle bezüglichen Ver
fügungen mit seinem Tode ihre Rechtskraft.
Ficker.
138
Das würde sich nun freilich auch erklären, wenn wir die
Kirche selbst als Eigentbümerin zu betrachten hätten, deren dauern
des Recht durch den zeitweiligen Vorsteher nicht beeinträchtigt
werden soll. Finden wir diesem Gesichtspunkte in früherer
Zeit nur vereinzelt durch Forderung der Zustimmung von Cle-
rus und Volk Rechnung getragen (vgl. §. 29), so wird später
allerdings bei dauernden Verfügungen Zustimmung des Capitels,
wohl auch der Ministerialen, regelmässig gefordert. Hätte es
sich da nicht blos um dauerndes Nutzungsrecht, sondern um
Eigenthum der Kirche gehandelt, so hätte diese Zustimmung
genügen müssen. Aber wir sehen bestimmt, dass sie nicht ge
nügte, dass auch die Zustimmung des Königs hinzukommen
musste, zweifellos deshalb, weil hier auch das dauernde Interesse
des Reichs als Eigenthümer geschädigt werden konnte. Nicht
das Interesse der Kirchen, sondern das des Reichs, welches
unter solchen Veräusserungen leide, wird in jenem, sie ver
bietenden Gesetze von 998 betont.
Diese NothWendigkeit der Zustimmung des Königs wird
auf’s unzweideutigste bezeugt. Durch Reichsrechtsspruch von
11S4 wird erklärt: quod nullus princeps ecclesiasticm tenetur sol-
vere debita predecessoris sui, que non per consensum imperatorie
maiestatis et consilium capituli sui mutuo accepit, et bona eccle-
siastica nec ei vendere licet, nec pignori obligare, nisi per eum-
dem imperatorie maiestatis consensum (Böhmer Acta 141); und
wieder mit nächster Rücksicht auf die Reichsäbte durch Rechts
spruch von 1255: quod nec vendere, nec alienare aut distrahere
seu donare potest aliqua feuda vel bona sui nwnasterii non re-
quisito consensu nostro et sui capituli et obtento (Mon. Germ.
4, 373). War das dennoch geschehen, so konnten alle solche
Veräusserungen und Belastungen durch den König für nichtig
erklärt werden. So 1194 bezüglich der Reichsabtei zu Fueecchio
(Böhmer Acta 177. 218). So annullirt 1300 K. Albrecht auf
Bitten des Abtes von Kornelimünster vendiciones, alienaciones,
distractiones, obligaciones seu mufructuum constituciones per ipsos
abbatem et conventum seu eorum predecessores in bonis allodialibus,
predialibus, seu aliis quibuscunque bonis ipsius monasterii, que
a nobis tenentur ei imperio, quibuscunque personis preter consensum
nostrum et permissionem seu predecessorum nostrorum — factas,
— non obstante, si dyocesani locorum premissis consensum ad-
Feber <las Eigentbum dep Reichs am Reichskireliengute.
139
hibuerunt (Forsch, zur deutschen Gesell. 12, 456). Weitere
Zeugnisse für die Befugniss des Königs geben dann die zahl
reichen Fälle, wo seine Zustimmung nachgesucht und ertheilt wird.
Bei allem dem wird nie ein Unterschied gemacht, jenachdem
es sich um ursprüngliches Reichsgut oder um Gut handelt,
welches die Kirche anderweitig erworben hat. So ertheilt
K. Philipp 1204 dem Erzbischöfe von Mainz die Erlaubniss
zur Veräusserung eines Gutes, obwohl ausdrücklich bemerkt
wird, dass dessen Vorgänger es für die Kirche erkauft hatte
(Böhmer Acta 199). Scheint mir die Stelle von 1300 einen
weitern Beleg zu geben, dass das gesammte Gut der Kirche
als reichslehnbar galt, so würde der Wortlaut es etwa auch ge
statten, einen Unterschied zwischen dem Allod der Kirche und
ihrem Reichslehngut festzuhalten; dann aber würde sie für
unsern nächsten Zweck nur um so beweiskräftiger, insofern die
Befugniss des Königs auf’s Bestimmteste auch auf das als
Allod bezeichnete Gut der Kirche ausgedehnt erscheint.
Ist das, wenn wir es als Ausfluss des Eigenthums fassen,
mit der Ansicht Zöpfl’s natürlich unvereinbar, so sucht er
(Alterth. 2/40) diesen Beweis dadurch zu entkräften, dass er
behauptet, es handle sich bei der Zustimmung des Königs ledig
lich um die bei solchen Geschäften überhaupt nöthige richter
liche Bestätigung; der König als Richter über die Fürsten sei
da die competente Behörde gewesen. Der competente Richter
über Grundeigenthum war aber zunächst der Graf; und der
Umstand, dass der Eigenthümer ein Fürst war, begründete da
in älterer Zeit keinen Unterschied. Noch 1226 wurde bei einer
gegen einen Reichsfürsten, den Herzog von Brabant, gerichteten
Ansprache wegen Erbgut vor dem Reiche das Urtheil gefunden,
ut universi, qui se aliquid iuris habere contenderent in haere-
ditate memorata, coram illo comite, in cuius cornitia esset haere-
ditas ipsa sita, deberent ad invicem experiri\ worauf im Gerichte
des Landgrafen von Niedereisass endgültig entschieden wird
(Sehöpflin Hist. Zar. Bad. 5, 174). Es wird nicht nöthig sein,
darauf näher einzugehen, Stellen nachzuweisen, denen gegen
über diese Auffassung schlechterdings unhaltbar erscheinen
würde. Denn wenn der Fürstenstand als solcher da ausschlag
gebend gewesen sein soll, weshalb fehlt uns jedes Zeugniss
für die Nothwendigkeit der Zustimmung des Königs bei Ver-
*
140
Ficker.
äusserungen von Eigen durch weltliche Fürsten, weshalb trifft
das immer gerade Reichskirchengut?
Für spätere Zeit fasst Zöpfl die. Zustimmung des Königs
als lehnsherrlichen Consens. Das würde ganz mit unserer
Auffassung stimmen, wenn er nun demgemäss auch anerkennen
würde, dass das gesummte Kirchengut reickslehnbar war, da
ja jener Consens nicht blos für einzelne Theile desselben nöthig
war. Will er ihn aber beschränken auf Regalien, und will er
weiter unter Regalien nur einzelne den Kirchen geliehene
Hoheitsrechte verstehen, so wird es genügen, auf die vorhin
angeführten Stellen und auf das früher (vgl. §. 22) über die
Bedeutung des Ausdrucks Regalien Gesagte zu verweisen; woran
natürlich nichts ändern kann, wenn in einem von ihm geltend
gemachten Einzelfalle von 1238, auf den wir zurückkommen,
zunächst nur die Nothwendigkeit des Consenses bei Verleihungen
von Zoll, Münzen und Gerichtsbarkeit betont wird.
35. Es ist aber überhaupt nicht statthaft, j enes Zustimmungs
recht dem gewöhnlichen lehnsherrlichen Consense gieichzu-
stellen. Hat man allerdings später die Investitur der Bischöfe'
als eine lehenrechtliche gefasst, das ganze Verhältniss als Lehens-
verbindung behandelt, wie das ähnlich beim Dienstgut der
Ministerialen der Fall war, so haben sich da doch noch lange
Eigenthümlichkeiten erhalten, welche darauf zurückweisen, dass
ursprünglich diese Verhältnisse doch vielfach verschieden ge
staltet gewesen sein müssen. Insbesondere sind die Befugnisse
des Königs bezüglich des Reichskirchengutes viel ausgedehnter,
als bezüglich sonstigen Reichslehngutes. Bei dem uns zunächst
beschäftigenden Gegenstände tritt das dadurch hervor, dass auch
die Zustimmung des Königs bei Verleihungen zu Lelin-
recht aus Reichskirchengut nöthig ist, wenigstens so weit es
sich da um Bestellung neuer Lehen mit Wirksamkeit über die
Lebensdauer des Bischofs hinaus handelt. Schon das würde
genügen, um jene Erklärungsversuche Zöpfl’s zu widerlegen.
Denn sein Eigen darf Jemand zweifellos zu Lehen geben ohne
Mitwirkung des Richters. Und wieder ist für den Vasallen,
der das Lelmgut weiter leiht, dazu im allgemeinen die Zu
stimmung des Herrn nicht erforderlich.
Finden wir bei den Schenkungen der Könige an Kirchen
überaus häutig die Bestimmung, dass das Geschenkte nicht zu
Ueber das Eiß;entlram des Heiclis am Reicliskirchengute.
141
Lehen gegeben werden soll, so ist das freilich für das Ver-
hältniss im allgemeinen nicht beweisend, da es dem Könige frei
steht, die einzelne Schenkung an Bedingungen zu knüpfen.
Aber wir finden solche ausdrückliche Verbote auch da, wo es
sich nicht um Neugeschenktes handelt. Als K. Heinrich 1023
der Reichsabtei S. Maximin den grössten Theil ihres Grund
besitzes nahm, verbot er dem Abte, von dem gebliebenen Gute
irgend etwas an einen Freien oder an Dienstmannen fremder
Kirchen zu Lehen zu geben, so dass nur noch Verleihungen
zu Dienstgut an die eigenen Ministerialen gestattet waren (Beyer
U. B. 1, 350). Dem Abte von Reichenau wird 1065 vom Kö
nige untersagt, auf der Insel, auf welcher das Kloster liegt,
irgend etwas in beneficium vel in proprietatem zu verleihen, er
soll alles ad usum fratrum nostrumque servitium conservare (Dümge
Reg. Bad. 110); das Verbot erfolgt also im Interesse nicht blos
der Kirche, sondern auch des Reichs. Dem Abte von Hersfeld
und dessen Nachfolgern wird 1184 untersagt, die Burg Krein
berg zu Lehen zu geben (Böhmer Acta 143).
Insbesondere werden mehrfach von Reichswegen Verlei
hungen oder Verpfändungen des bischöflichen Tafelgutes unter
sagt oder für nichtig erklärt. So 1153 bezüglich der -Cölner
Mensalgüter und zwar eo quod regno et ecclesiae debeantur, also
mit Rücksicht auf die dem Reiche davon gebührenden Leistungen.
Durch Rechtsspruch wird 1191 entschieden, quod nullus epis-
coporum vel abbatum imperio pertinentium possit vel dsbeat, aliquid
de bonis ad coquinam vel ad aliud officium suum pertinentibus
infeödare vel alienare. Verpfändungen der Einkünfte der erz
bischöflichen Mensa zu Bremen werden 1219 für ungültig er
klärt (Mon. Germ. 4, 95. 194. 233).
Danach könnte es scheinen, als habe das Verbot der Be
lehnung nur gewisse Theile des Kirchengutes getroffen; für
unsere nächsten Zwecke wäre das insofern gleichgültig, als sich
doch gewiss nicht annehmen liesse, dass etwa nur das Mensal-
gut, nicht aber das übrige Kirchengut reichslehnbar gewesen
wäre. Eine gewisse, wenigstens herkömmliche Beschränkung
des Erfordernisses königlicher Zustimmung bei Belehnungen
wird auch zweifellos anzunehmen sein; dass bei Wiederverleihung
von Kirchengut, welches schon früher zu Lehen gegeben und
heimgefallen war, eine solche Zustimmung im allgemeinen nicht
142
F i ck o r.
üblich war, würde sich leicht nachw eisen lassen. Sehen wir
aber davon ab, so umfasste das Mensalgut alles Gut, bei welchem
von einer Neubestellung von Lehen überhaupt noch die Rede
sein konnte, da das übrige bereits zu Mannlehen oder Dienst
lehen verwandt, oder dem Capitel oder sonstigen kirchlichen
Instituten dauernd zugewiesen war.
Es begründet demnach wohl keinen wesentlichen Unter
schied, wenn in andern Zeugnissen für Belehnungen schlecht
weg die Zustimmung des Königs verlangt wird. Zu Gunsten
des Bischofs von Brixen wird 1225 geurtheilt, quod universas
obligationes pignorum, concessiones feudoruni, seu quascunque aliena-
tiones bonorum episcopatus Brixinensis specialiter cibsque nostro et
imperii ac etiam capitidi sui consensu et assensu factas licite possit
et debeat revocare; und 1234 erfolgt ein Rechtsspruch, ut mdlus
episcoporum Theutonie de hiis, que spectant ad regalia et ab im-
perio tenet, aliquem infeodare possit preter assensum nostrum
(Mon. Germ. 4, 254. 305). Dem Bischöfe von Trient wird
1236 vom Kaiser schlechtweg verboten, irgend etwas de bonis
sui episcopatus zu Lehen zu geben, zu verpfänden oder sonst
zu veräussern; widrigenfalls soll es ungültig sein (Huillard H.
D. 4, 900). Dass der König Belehnungen, die ohne seine Zu
stimmung geschehen sind, für nichtig erklärt, findet sich nicht
selten (z. B. Böhmer Acta 177. 190. 218). Doch ist dabei
zweifellos immer nur an neue Lehen zu denken. Betont wird
das, wenn nach Rechtsspruch von 1234 dem Bischöfe von Worms
gestattet wird, wieder an sich zu nehmen omnia feoda illa, que
ex novo a predecessoribus suis L. et H. sunt concessa (Huillard
4, 694).
36. Die Vertauschung von Kirchengut ist nur eine be
sondere Art der im allgemeinen untersagten Veräusserungen.
Dass die Zustimmung des Königs bei Vertauschung von
Kirchengut nöthig ist, kann daher an und für sich in keiner
Weise befremden. Wohl aber im Hinblicke auf die Schenkungs
urkunden, in welchen da, wo über den blossen Besitz hinaus
gehende Befugnisse überhaupt erwähnt werden, fast regelmässig
dem Bischöfe das Recht, das Gut zu vertauschen, zugestanden
wird. Hat er dazu dennoch im Einzelfalle die Bewilligung des
Königs nöthig, so spricht das besonders deutlich dafür, dass wir
uns zur Beurtheilung ihrer Tragweite nicht ausschliesslich an
I
tiefer das Eigenthütn den Reichs ain UeichsIdrchengnW. 14B
den Wortlaut halten, uns immer vergegenwärtigen müssen, dass
die Uebung der zugestandenen Befugnisse doch immer inner
halb der Schranken bleibend zu fassen ist, welche durch das
dem Reiche verbleibende Eigenthum der Verfügung über das
Reichskirchengut überhaupt gezogen sind (vgl. §. 29).
Finden wir überaus häutig erwähnt, dass der König einen
eingegangenen Tausch bestätigt, so ergibt sich freilich nicht
unmittelbar, dass eine solche Bestätigung zur Gültigkeit nötliig
war. In vielen Fällen lassen aber die besondern Umstände
keinen Zweifel. So wird wohl darauf hingewiesen, dass die
Bestätigung erfolgt, weil es sich um Reichskirchen handelt. Der
Kaiser bestätigt 973 einen Tausch zwischen Magdeburg und
Fulda, quoniam utriusque loci tuitio vel defensio nobis •pertinent
(Cod. dipl. Anhalt. 1, 43). Auch wird die Nothwendigkeit wohl
ausdrücklich betont. Bezüglich eines Tausches zwischen dem
Bischof von Speier und seinem Capitel sagt der Kaiser 1114:
Quod quici absque nostro corisensu et voluntate fieri non potuit,
res ad nos delata est et diligenter examinata complacuit; er be
stätigt ihn, aber unter Hinzufügung einer das Interesse des
Capitels genügender wahrenden Bestimmung (Dümge Reg. Bad.
121). Um dieselbe Zeit wird ein ursprünglich dem Kloster
Moyenmoutier gehöriges, dann dem Herzoge zugewiesenes Gut
vor den Fürsten mit Einwilligung des Kaisers vertauscht,
quoniam aliter fieri non licebat (Calmet H. de Lorr. 2, 76).
Dass es sich da um eine allgemeine, nicht etwa auf be
stimmte Güter beschränkte Befugniss handelt, tritt insbesondere
auch hervor, wenn Tausch von vornherein gestattet wird, aber
unter Vorbehalten, welche das als Ausnahme erscheinen lassen.
So gestattet der König 848 dem Abte von Lorsch, Kirchengut
zu vertauschen, aber nur zum Nutzen der Kirche und nur bis
zum Betrage von drei Mansen; si vero plus fuerit ad commu-
tandum, ad nostram interrogationem veniat (Mon. Germ. 21, 366).
Zu Gunsten des Klosters Salem bewilligt der Kaiser 1187 dem
Abte von Reichenau, demselben Güter vertauschen zu dürfen;
Iv. Philipp dehnt das 1200 auf alle dem Reiche gehörenden
Kirchen, Vasallen und Ministerialen aus (Böhmer Acta 148;
B^esslau Dipl, centum 73). Unbefugten Tausch konnte der
König, wie jede andere Veräusserung für nichtig erklären.
Einer der Ottonen befahl allen Bischöfen, nt inlegales iniustasque
144
Picker.
commutationes, quae de aecclesiasticis rebus factae fvissent, red/'re
fecissent (Meichelbeck H. Fris. 1, 463). Werden ohne Zu
stimmung’ des Königs vorgenommene Veräusserungen cassirt,
so werden dazu wold ausdrücklich auch die commutationes ge
zählt (Böhmer Acta 177. 218).
37. Allerdings würden alle diese Beschränkungen, welchen
der zeitige Inhaber der Kirche bei der Verfügung über das
Kirchengut unterlag, an und für sich ein Eigenthum der Kirche
nicht nothwendig ausschliessen. Sie Hessen sich etwa auffassen
als Beschränkungen des Eigenthumsrechtes, welche auf Gesichts
punkte des öffentlichen Rechts zurückgingen, auf ein Ober
aufsichtsrecht. des Königs als solchen, durch welches die dauern
den Interessen der einzelnen Kirche gegen Benachtheiligung
durch den zeitigen Vorsteher geschützt werden sollte. Man ist
in dieser Richtung wohl so weit gegangen, auch die für alle diese
Verhältnisse massgebende Investitur wenigstens bei den Bischöfen
als Majestätsrecht zu fassen (so Kaim Kirchenpatronatrecht
1, 100).
Bei näherer Erwägung ergibt sich aber leicht, dass in
jenen Beschränkungen kein Ausfluss staatlichen Ober
aufsichtsrechtes zu sehen ist. Allerdings war der König
als solcher auch später zum Schutze aller Kirchen im Reiche
verpflichtet. Es tritt das insbesondere hervor, als seit dem
Investiturstreite nicht mehr alle Kirchen einen Herrn hatten,
als dann insbesondere bei den Cisterzienserklöstern nach den
Satzungen des Ordens auch jede besondere Vogtei ausgeschlossen,
dieselben nur auf den Schutz des Königs als Landesherren
hingewiesen sein sollten (vgl. Reichsfürstenst. 1, 327). Das
führte denn auch wohl zu gewissen Befugnissen des Reichs.
Aus einer Erzählung der Ursperger Chronik (ed. Basilcae 1569
S. 311) ergibt sich, dass die Prämonstratenser- und Cisterzienser-
klöster, welche keinen Herrn hatten, zwar auf den Schutz des
Kaisers als Landesherrn angewiesen waren, aber keine Rega
lien hatten und für die imperialis defensio nur einen ganz ge
ringen jährlichen Zins zahlten; wie sie denn auch später, so
weit sie unmittelbar blieben, in den Reichsmatrikeln erscheinen
und an den Reichslasten Theil nahmen. Dagegen finden wir
sie nie ähnlichen Beschränkungen bezüglich ihres Gutes unter
worfen, wie die Reichskirchen, während das doch gerade bei
TJeber das Eigentlmm des Reichs am Reicliskirciiengute.
145
ihnen zu erwarten wäre, wenn wir darin einen Ausfluss des
staatlichen Oberaufsiclitsrechtes zu sehen hätten.
Mögen bei der Begründung- des Verhältnisses, zumal bei
Bistliümern, staatshoheitliche Gesichtspunkte vielfach eing-egriffen
haben (vgl. §. 16), so hat dasselbe später einen durchaus privat
rechtlichen Charakter angenommen. Die Befugnisse des Königs
bezüglich des Gutes der Reichskirchen sind nicht die des
Herrschers, sondern des Herrn; jedem andern Herrn einer
Kirche stehen durchweg dieselben Befugnisse am Gute der
selben zu. Bei Bisthümern kommt anderweitige Herrschaft in
Deutschland allerdings nur vereinzelt vor (vgl. §. 19). Wird
aber etwa 1179 durch Rechtsspruch entschieden, dass der
Bischof von Gurk nichts zu Lehen geben darf, ehe er selbst
vom Erzbischöfe von Salzburg die Investitur erhielt, so ent
spricht das genau dem Verhältnisse anderer Bischöfe zum Kö
nige; und ich zweifle nicht, dass eine genauere Untersuchung
ergeben würde, wie durchweg dieselben Befugnisse, welche dem
Könige bezüglich des Gutes der Reichsbisthümer zustanden,
auch dem Erzbischöfe von Salzburg bezüglich des Gutes der
ihm gehörenden jüngeren Suffraganbisthümer zukamen (vgl.
Reichsfürstenst. 1, 285; Hirn, Kirchen- und reichsrechtliche
Verhältnisse des Bisth. Gurk, Krems 1872). Bei Abteien aber
würden wir überaus häufig nachweisen können, wie die Ver-
äusserungen von Gut der Bestätigung nicht etwa dek Königs,
sondern des besondern Herrn bedurften, mochte dieser nun ein
Geistlicher oder auch ein Laie sein. So bestätigt Heinrich der
Löwe 1162 einen Tausch zwischen zwei Klöstern, quia utraque
abbatia in fundo nostro esse, et ad nos respectum liabere dino-
scitur; Pfalzgraf Conrad genehmigt 1183 ein Abkommen der
Abtei Springirsbach, weil es sich handelte de bonis a nostra
donatione defluentibus (Stumpf Acta Magunt. 78; Beyer U. B.
2, 99).
Ist danach nicht zu bezweifeln, dass jene Befugnisse vom
Könige nicht als Herrscher, sondern als Herrn geübt werden,
so wäre auch damit immerhin noch die Ansicht vereinbar, dass
jene Befugnisse dem bezüglichen Herrn nicht zustanden, um
die eigenen Rechte am Kirchengute zu wahren, sondern um
das dauernde Recht der Kirche an ihrem Gute gegen Eingriffe
der zeitigen Vorsteher zu sichern, dass demnach dem Herrn
Sitzl). d. phil.-hist. CI. I.XXII. Bd. I. HR. 10
146
Ficker. tJeber das Eigenthum des Reichs am Keichskirchengute.
überhaupt nur ein im Interesse der Kirche zu übendes Ober
aufsichtsrecht zugekommen wäre, sein Eigenthumsrecht am
Kirchengute, wenn wir ihm ein solches zugestehen wollen, eine
rein formelle Bedeutung gehabt hätte. Bei Begründung des
Verhältnisses mag eine solche Auffassung vielfach vorgeherrscht
haben. Bei der spätem Entwicklung war das keineswegs der
Fall. Wird bei den beschränkenden Bestimmungen wohl auch
auf das Interesse der Kirche hingewiesen, so fanden wir dabei
docli schon mehrfach zugleich das Interesse des Reichs betont.
Es erklärt sich das daraus, dass es sich bei dem Herrschafts
verhältnisse keineswegs nur um ein formelles, aller nutzbringen
den Befugnisse entkleidetes Obereigenthum handelt. Wie an
dere Herren, so hat auch das Reich an dem Gute seiner Kirchen
sehr ausgedehnte Nutzungsrechte, unter gewissen Verhältnissen
sogar Rechte auf den Besitz. Und sollten unsere bisherigen
Beweise für das Eigenthum des Reichs noch nicht genügend
erscheinen, so sind diese Rechte zum grossen Theil der Art,
dass sie da den letzten Zweifel beseitigen müssen.
!
Hofier. Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VT.
147
Wahl und Thronbesteigung des letzten deutschen
Papstes, Adrian’s VI. 1522.
Von
C. Höfler.
§• 1.
Die Wahl Adrian’s von Utrecht zum Papste.
9. Jänner 1522.
Die Wahl K. Karls I. (V.) von Spanien zum römischen
Kaiser veränderte die Lage Europa’s von Grund aus. Das
französische Königthum, welches durch die Eroberung Italiens
die Kaiserkrone zu gewinnen hoffte und Italien verlor, ohne
sie zu erlangen, und das dann seine Hebel an Deutschland
angelegt hatte, die Kaiserkrone durch Zustimmung der Chur
fürsten zu erlangen, sah sich so nahe seinem Ziele von einer
Herrschaft bedroht, die auf der Südseite der Pyrenäen, an der
Schelde, der Maas, in Hochburgund, in den östlichen Alpen,
an der Donau wurzelte, das Königreich beider Sicilien wie das
vielgespaltene deutsohe Reich besass. Von dem Augenblicke
der Wahl Karls zum deutschen Kaiser war der König von
Frankreich sein Todfeind geworden und der Todfeind aller
seiner Bundesgenossen, der Freund und Bundesgenosse aller
seiner Feinde, die politische Magnetnadel war verrückt. Jahr
hunderte hindurch war die Geschichte von Westeuropa die
Geschichte der unheilvollen Kämpfe Frankreichs und Englands
gewesen, schwanden alle grossen Fragen der Zeit vor dem
Antagonismus dieser beiden Mächte wie in Dunst und Nebel:
jetzt trat der unversöhnliche Kampf zwischen Spanien - Habs
burg und Frankreich ein und stemmte sich Europa nicht bald
dagegen, so hatte der Erdtheil für die nächsten Jahrhun
derte keine andere Geschichte als die des Kampfes dieser
beiden Mächte, von welchen die eine bald ebensosehr über
10*
148
HSflei*.
den Osten wie über den Westen verfügen zn können schien.
Franz I. war ganz der Fürst, um auf halbem Wege nicht
stehen zu bleiben. Er verstand es aus Frankreich in Verbin
dung mit den Schweizern und dem Königreiche Schottland,
einerseits auf Mailand, andererseits auf Navarra sich stützend,
eine Defensivmacht zu bilden, welche selbst beinahe unangreif
bar, nach Belieben wie aus sicherer Ausfallpforte einen Offen-
sivstoss zu führen im Stande war. Aber auch der jugendliche
Kaiser, der Kämpfe liebte, im Scherze wie im Ernste, in allen
ritterlichen Uebungen wohl erfahren war und das Blut Maxi
milians wie Karls des Kühnen in seinen Adern fühlte, war
geneigt, die grosse Frage der Zeit so aufzufassen, entweder
selbst ein armer Kaiser zu werden oder seinen Gegner zum
armen König von Frankreich zu machen. 1 Er hatte Ursache
so zu sprechen, denn Iv. Franz hatte in dem Aufruhr der casti-
lianischen Städte seine Hand im Spiele, 2 wie im Kampfe Sultan
Solimans gegen das christliche Europa. Dafür gedachte jetzt
K. Karl zwei Armeen aufzustellen, jede von 150000 M., die
eine gegen Frankreich, die andere in Spanien (gegen Navarra). 3
Karl war von der gänzlichen Unzuverlässigkeit des französischen
Königs überzeugt, so dass er seiner Tante Margarethe, welche
ihn für eine Aussöhnung mit seinem Gegner zu gewinnen
suchte, zur Antwort gab, wenn er heute die Hand zum Frieden
reiche, werde K. Franz nach zwei Monaten ihm aufs Neue
Störung bereiten. Die Welt musste sich darauf gefasst machen,
dass zwischen den beiden mächtigsten Fürsten der Christen
heit ein Kampf auf Leben und Tod entbrannte, der das Zeit-
1 Als der Kaiser, Juli 1521, vom Einbrüche der Franzosen in das Lüttich-
sche hörte, hob er die Hände zum Himmel und dankte Gott, dass nicht
er diesen Krieg begonnen habe, „and that this King of France seeks to
make me greater than I am. Thanks be to thee always that thou hast
given me the means to dofend myself. I hope sliortly either I sliall be
a poor Emperor or he a poor King of France. Brewer, letters and pa-
pers of the reign of Henry VIII. Vol. III. T. II. p. 559.
2 All these tronbles were stirred up by the King of France. 1. c. p. 560.
Ulrich von Würtemberg war bei ihm und wurde sehr freundlich aufge
nommen. p. 587. Auch in Neapel suchte K. Franz Unruhe zu stiften,
p. 598.
2 1. c.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
149
alter umzugestalten vermochte. Man meinte damals, dass die
Vermählung K. Karls mit der Tochter Heinrichs VIH. von
England, die Verbindung des doch immer geldbedürftigen Kaisers
mit dem reichen England die Vernichtung Frankreichs herbei
führen werde. 4 In der That häuften sich die Klagen über die
französische Treulosigkeit von allen Seiten. P. Clemens be
schwerte sich, dass der König niemals seine Verträge halte,
den Herzog von Urbino gegen ihn unterstütze, ihm Ferrara
nicht ausliefere, wozu er verpflichtet sei. Er machte kein Hehl
daraus, dass es hohe Zeit sei, die Frechheit der Franzosen zu
züchtigen, er wolle sein Blut dafür verspritzen, sie aus Italien
zu treiben. Als die Franzosen auch noch Reggio besetzten,
kannte der Aerger des mediceischen Papstes keine Grenzen. 2
Damals erhielt Cardinal Wolsey, der England neben Hein
rich VIII. regierte, seine grossen kirchlichen Vollmachten; Cle
mens empfing den weissen Zelter von Neapel als Huldigung des
Lehenkönigreichs. In der Furcht, durch ein Bündniss der Ve-
netianer mit dem französischen Könige erdrückt zu werden, sah
Clemens keinen andern Ausweg, als sich den Spaniern zu nähern.
Damals versuchte Cardinal Wolsey in Calais zwischen Karl
und Franz (Juli und August) zu vermitteln, 3 aber der Papst
hatte bereits K. Karl als päpstlichen Vasall wie als katholischen
König und Kaiser 4 gegen, den König von Frankreich aufge
rufen, jener ihm alle Hülfe versprochen. Leo X. dachte im
Hochsommer 1521 nur an den Krieg mit Frankreich. Er hatte
12000 M. z. F., 1400 Reiter, und glaubte, dass die Franzosen
diesen Streitkräften nicht gewachsen seien. Er hoffte auf eine
1 Which will be the destruetion of France.
2 He says it is high time to punish the insolence of France and he will
spend his blood to drive them out of Italy. Vorher aber hatte er mit den
Franzosen und Venetianern zur Vertreibung der Spanier aus dem König
reiche Sicilien unterhandelt. Brewer p. 575. n. 1419.
3 The two chiefs powers in Christendom liave sent tlieir Chancellors to Ca
lais to debate their matters before your lieutenant. Brief von Hein
rich VIII. v. 13. Juli.
4 Karl war in Kraft der goldenen Bulle zur vollen kais. Administration ge
langt: The Pope also in aclcnowledging him Emperor has dispensed with
his oatli. Bericht de Prat’s. p. 601.
150
II 511 er.
Schilderhebung gegen die Franzosen in Mailand und den König
von England gleichfalls zum Kampfe gegen sie zu vermögen. 1
Schon am 8. Mai 1521 war der grosse Vertrag zwischen
P. Leo X. und Karl V. erfolgt, der engste Anschluss des Papst
thums an das Kaiserthum, die innigste Verbindung der beiden
grossen Weltmächte des Mittelalters. Der Streit der früheren
Tage um Sic.ilien, der den Untergang der Staufer herbeigeführt,
war vergessen, päpstliche und kaiserliche Macht, von Gott als
die oberste eingesetzt, verbanden sich zu gemeinschaftlicher
Thätigkeit, zur Beseitigung der Irrthümer in der Christenheit,
zur Aufrichtung des allgemeinen Friedens, zur Bekämpfung der
Türken; in allen Dingen und durch Alles, erklärte der Papst,
wolle er die Angelegenheiten des Kaisers wie die eigenen
halten. Ein grösserer Sieg der spanisch - kaiserlichen Politik
liess sich kaum denken. Das Papstthum verstand sich das
Interesse des Kaiserthums zum eigenen zu machen. Allein
auch der Kaiser war gebunden. Er war, wie Gattinara dieses
in einem Schreiben an Karl V. 2 auseinandersetzt, verpflichtet,
keinen Frieden oder Waffenstillstand mit Frankreich einzugehen,
während anderseits der Papst rücksichtslos gegen sich selbst mit
ihm sich verbunden, als die Franzosen Navarra besetzten und
die spanische Armee in Neapel widerstandslos war. Schlug
nun K. Karl nicht los, so lief er Gefahr, dass der Papst die
Investitur Neapels, den Dispens in Betreff der römischen Kaiser
krone, den Titel eines Königs von Navarra, die Zehnten, die
einträgliche Kreuzbulle von Spanien und andere Indulgenzen
zurückzog. Der Papst konnte Frankreich, Venedig und die
Schweizer gewinnen und Karl verlor dadurch seinen italieni
schen Besitz vollständig. Andererseits verlangte das kaiser
liche Interesse selbst Erfolge; die Armee stand da und musste
beschäftigt werden; des Kaisers Ehre stand auf dem Spiele,
sein Ansehen nicht blos den geworbenen Soldaten gegenüber,
sondern auch den Bürgern und Herren, welche ihm das nötliige
Geld bewilligt hatten. Spanien war unterworfen, Italien und
Deutschland ihm günstig, die Schweizer eingeschüchtert; das
Jahr 1521, die Verbindung des Kaisers und des Papstes schienen
eine äusserst folgereiche Wendung der Dinge zu versprechen.
1 to punish their pride and insolency.
2 30. Juli 1521.
Walil und Thronbesteigung Adrian's Vf.
151
Sie war bereits im J. 1519 (17. Jänner) durch den Ver
trag P. Leo’s X. mit K. Karl unmittelbar nach dem Tode
K. Maximilians eingeleitet worden. Der mediceische Papst
gab um die Herrschaft seines Geschlechtes und seines Neffen
in Urbino zu retten, alles preis, was im Mittelalter von den
grössten Päpsten mit geistlichen und weltlichen Waffen ver-
theidigt worden war. Er begann sich vor jenem Frankreich
zu fürchten, aus welchem einst seine Vorgänger sich Hülfe
gegen die Staufer erholt, das aber seine Dienste sich noch
theurer hatte zahlen lassen, als den Nachfolgern Innocenz III.
die Erhebung des sicilianischen Staufers (Friedliches II.) auf
den deutschen Thron zu stehen gekommen war. Hatten die
Päpste, um nur Italien und das Königreich Sicilien zumal nicht
mit dem Kaiserthum vereint zu sehen, den Himmel wie den
Acheron in Bewegung gesetzt, so genügte es dem Mediceer,
,wenn nur Rom als gemeinsames Vaterland Aller angesehen
würde', dem Könige von Spanien seine sicilianischen und ober-
italischen Besitzungen zu garantiren und ihm damit den Sche
mel zur Besteigung des römischen Kaiserthrones mit eigenen
Händen zu halten. Der Vertrag des Papstes mit dem erwähl
ten Kaiser Karl am 8. Mai 1521 stellte sich aber auf eine
ganz mittelalterliche Basis und konnte seinen Grundsätzen
nach ebensogut im XIII., ja vielleicht noch besser als im
XVI. Jahrhunderte abgeschlossen werden. Es ist das ein für
die Reformationsgeschichte unendlich wichtiges Moment, dass
gerade jetzt die extreme Richtung des Mittelalters zum Siege
kam, gerade jetzt Kaiser und Papst sich verständigten und
gegen eine Welt von Feinden, die zum Theil ihr Antagonismus
gross gezogen, sich die Hände reichten. Wie bemerkt, wurde
die päpstliche und kaiserliche Gewalt als die höchste, die Gott
eingesetzt habe, bezeichnet, als diejenige, welche Rechenschaft
zu geben habe über die Verwaltung und Regierung der ganzen
Christenheit. An ihnen ist es die Sitten zu bessern, den all-
• gemeinen Frieden herzustellen, den allgemeinen Krieg gegen
die Türken zu unternehmen, Alles in einen bessern Stand und
in bessere Form zu bringen. ,Da alles Uebel nur daraus ent
standen war, dass einige Fürsten gegen die wahren und
1 Urbs, quae semper communis patria est liabita. Cino Cappom, trattato
segreto.
152
Höfler.
ersten Häupter, Papst und Kaiser, den gehörigen Respect
nicht übten', so war die jetzige Verbindung beider bestimmt
die Welt zu erneuern, alle Feinde des Glaubens, alle Lästerer
des römischen Stuhles zu verfolgen, durchzuführen an der
Schwelle der neuen Zeit, was das Mittelalter durch den Streit
zwischen Kaiser und Papst zu vollenden verabsäumt hatte, da
mit es abzuschliessen, eine neue Aera zu beginnen, das geist
liche und weltliche Schwert zu vereinigen und den gesammten
Erdkreis durch diese Lichter zu erleuchten. 1 Mit Italien müsste
begonnen, Mailand und Genua den Franzosen abgenommen,
Parma, Piacenza, Ferrara, das klarer als das Sonnenlicht dem
römischen Stuhle gehöre, 2 diesem überliefert, das Haus Medici
als das herrschende in Florenz erhalten, Neapel bei dem Reiche
bewahrt, Venedig nöthigen Falles angegriffen werden. Die
Zwecke der Kirche Gottes und der Nutzen des Hauses Me
dici, die Feststellung der spanischen Herrschaft in Unteritalien,
des kaiserlichen Regimentes in Mailand und Genua verbanden
sich in fast wunderbarer Weise zu einem .Ganzen. Nur wie
die eigentlichen Zwecke des Christenthums dadurch gefördert
werden sollten, war etwas schwerer einzusehen. Nicht das
Papstthum hatte die Verwirrung jener Tage herbeigeführt,
nicht das Kaiserthum, beide waren daran unschuldig! Aber
die Fürsten waren rebellisch geworden, sie trugen die Schuld
am Verderbniss der Zeit, und war nur Florenz mediceisch,
Mailand und Neapel spanisch geworden, dann war Alles in
Ordnung, geistliche und weltliche Gewalt schlugen Alles nieder,
der Papst triumphirte über die Lästerer, Karl über K. Franz,
Italien war mit Ausschluss jedes Dritten getheilt, und mehr
bedurfte es ja nicht, um ungestört fortzuwirthschaften, wie man
es nach Beseitigung der grossen Reformbewegung des XV.
Jahrhunderts zu thun gewohnt war.
Endlich schien sich die Sache für Leo auf das glück
lichste zu wenden. Die Franzosen sahen, von dem Cardinal
von Medici, dem Marchese von Mantua, Antonio de Leva,
Prospero Colonna und dem Marchese di Pescara am 19. No-
1 Universus orbis his luminaribus illustrationem aceipiat. Erklärung
K. Karls.
2 Lanz, gesch. Einleitung. S. 257.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
153
vember 1521 vor Mailand überfallen, 1 keinen andern Ausweg vor
sich, als mit Zurücklassung einer Besatzung im Mailänder
Schlosse die Stadt zu räumen. Nur das abscheuliche Wetter
hinderte die päpstliche Armee, die Abziehenden zu vei’folgen.
Sie mussten sich auf das venetianische Gebiet zurückziehen,
ohne in Bergamo, wohin sie sich gewendet, Aufnahme zu finden. 2
Pavia, Parma, Piacenza und Cremona, letzteres mit Ausnahme
des Schlosses, endlich auch Como, waren für sie verloren. Der
Feldzug hatte die schlimmste Wendung genommen, nur Genua
hielt noch zu den Franzosen.
Nichts konnte P. Leo eine grössere Freude machen. 3 Er
erhielt die Nachricht zu Magliano am 24. November. 4 Von da
begab er sich nach Rom zurück, verfiel aber sogleich in eine
so heftige Krankheit, dass in der Nacht vom 30. November
auf den 1. December die Aerzte schon glaubten, er werde den
Tagesanbruch nicht erleben. Er erlebte noch den ersten
December, starb aber am zweiten. 5 Er hatte in Magliano ge
jagt, sich dann erkältet, in der Herzensfreude über die Nieder
lage der Franzosen die Erkältung nicht geachtet. Den nächsten
Tag hatte er das Fieber. Niemals war er fröhlicher gewesen,
als bei seiner Rückkehr nach Rom, wo er bereits den Tod im
Herzen trug. 3 Ein Bund mit dem Kaiser, den Königen von
Polen, Ungarn, Dänemark, Portugal und den Schweizern stand
in Aussicht. Frankreich, der Heerd alles Uebels, sollte nieder
gekämpft werden. 7
1 Schlaehtbericht bei Brewer n. 1831.
2 Fast gleichzeitig hatte sich Tournay dem Kaiser ergeben. Am 3. Dec.
zog der Graf von Nassau daselbst ein. Brew.
3 Siehe hierüber die beiden Briefe Clerk’s an Card. Wolsey vom 1. u. 2. Dec.
1521. Brewer.
4 Me thought I never saw bim more lusty. Brewer n. 1825. Die Angabe
Banke’s, dass er nicht Zeit gehabt habe, die Sacramente zu empfangen,
ist irrig. Die Krankheit dauerte nach Clerk, welcher als Augenzeuge
berichtet, acht Tage, bis sie den tödtlichen Ausgang nahm.
5 at 8. p. m. Brew. n. 1868.
6 There was a suspicion tliat the Pope was poisoned and sunie of bis
chamber were examined but dismissed as iuuoceut. Campeggio. 15. Dec.
7 Schreiben des Kaisers vom 6. Dec. an den Bischof von Badajos,
154
lifli’i.i'
Mau hoffte endlich diu Schweizer, sei es durch Geld, sei
es durch Abtretung von Land, zu beständigen Feinden der
Franzosen zu machen. 1 Selbst für den Schutz Ungarns konnte,
nichts geschehen, so lange nicht Frankreich niedergeworfen
war. 2 Parma und Piacenza sollten dem Papste zu Theil werden.
Allein trotz des Sieges von Mailand und der darauf er
folgten Zurückweisung der Franzosen vor Cremona nahmen
sich die Dinge näher betrachtet gar nicht so ausserordentlich
günstig aus. Die Sieger befürchteten eine Vereinigung der
französischen und venetianisehen Streitkräfte mit denen des
Herzogs von Ferrara, die Besetzung von Reggio und Modena,
wie sie selbst ihre Stellung verliessen, ein Auftreten der Benti-
vogli in Bologna und selbst der Medici zu Grünsten Frank
reichs, die Rückkehr des Francesco Maria nach Urbino, Un
ruhen von Seite der Baglionis (Bayllons). 3 Im päpstlichen Lager
war unmittelbar auf die Nachricht vom Tode Leo’s von den
beiden Cardinälen Medici und Sion Kriegsrath gehalten worden. 4
Während diese mit der Post nach Rom ritten, wo sie am 13. De-
cember ankamen, 5 sollte Prospero mit 2000 Schweizern und
seiner Compagnie in Mailand bleiben und die Stadt gegen das
Castell in Schutz nehmen, Pavia, Piacenza, Parma, Modena,
Reggio, Bologna durch die päpstlichen Schweizer besetzt bleiben.
Der Krieg selbst, dessen Last in Italien auf den Kaiser fiel,
sollte fortgesetzt werden, neigte sich aber durch die Natur der
Dinge mehr dem Stillstand zu. Karl selbst war entschlossen,
den Franzosen, die sich nach Lona zwischen Brescia und Pe-
schiera zurückgezogen hatten, Cremona und Genua zu entrelssen; 6
allein sein beständiger Geldmangel hinderte an kräftigerem
Auftreten und nur die pecuniäre Hülfe K. Heinrichs VIII. von
England konnte sein Heer in achtbare Lage bringen. Fort
während wurde mit den Schweizern unterhandelt, diese von
Frankreich abwendig zu machen; es galt als Grundsatz der
1 Der Bischof von Badajoz an K. Karl V. London, 12. Dec. 1521.
2 AVolsey an den ungarischen Gesandten.
3 Schreiben vom 18. Dec. 1521. Br. n. 1881.
4 Brew. n. 1890.
5 Brew. n. 1892.
O Schreiben des Kaisers vom 23. Dec.
Wahl uml ThronbßHleiguiig Adrian’« VI.
155
kaiserlichen Politik, die Könige von Polen und Ungarn nur
dann zu unterstützen, wenn sie sich gegen Frankreich erklärten. 1
Dazu kam noch vieles Andere.
Man berechnete das Einkommen P. Leo’s auf 300,000 Du-
caten jährlich an weltlichen Bezügen, 100,000 an geistlichen und
auf dem Wege der sogenannten Compositionen mehr als ebensoviel,
im Ganzen über 500,000 Ducaten. 2 Er hatte Aemter und Würden
geschaffen und verkauft, um Geld zu erlangen, seinen Haushalt
zu bestreiten, seine Kriege zu führen, seiner Familie Florenz
zu wahren. Trotz einer Million Schulden, die er hinterliess, 3
trotzdem dass er nicht die Schweizer in seinem Dienste be
zahlte, reichte nichts und starb er so arm, dass zu seinem
Leichenhegängniss die Kerzen von den Exequien dos Cardinal
San Giorgio verwendet werden mussten, der eben gestorben war.
Sein Tod war das Signal für alle mit seiner Regierung
unzufriedenen, von dieser Vertriebenen, die Rückkehr in ihre
Heimath mit Gewalt zu versuchen. Francesco Maria aus dem
Hause Rovere setzte sich in den Besitz von Urbino, Gismondo
di Verano in den von Camerino, Sigismunde Malatesta, Sohn
des Pandolfo, bemächtigte sich Rimini’s. Man befürchtete, die
Venetianer wollten sich in den Besitz von Ravenna Und Cer-
via setzen und Modena und Reggio dem Herzoge von Ferrara
nehmen. Kirche und Kirchenstaat befanden sich in gleich
grossem Gedränge; der Einsturz beider schien durch die ver
fehlten Massregeln Leo’s und seiner Vorgänger unausbleiblich,
und was lange mit Mühe sich gehalten, wie mit einem Male,
aber jetzt auch unaufhaltsam zum Bruche zu kommen. Das
Schlimmste aber war der Zustand des Cardinais - Collegiums
selbst, das seit mehreren Jahrzehnten der Sitz der Verschwö
rung gegen die Kirche wie gegen die Päpste gewesen war
und wo Anschauungen und Gewohnheiten herrschten, die mit
der Aufgabe der Kirche im directestcn Widerspruche standen.
1 Karls Schreiben vom 20. Dec. 1521.
2 Gradenigo relaz. p. 72.
3 K. Franz meinte: 1,200,000 Kronen. Brew. n. 1947. K. Franz verstand
es jedoch gründlich, sich und Andere zu heiligen, wie die Franzosen
denn schon damals als diejenigen galten, welche ganze Historien ersannen
Und in Umlauf setzten, zuletzt wohl sie selbst glaubten,
156
Hofier.
Der ruhige Beobachter dieses Verderbens kann es daher nur
begreiflich finden, wenn Alexander VI., diese reife Frucht von
den simonistischen Bäumen des Cardinais - Collegiums, in der
vollsten Kenntniss der Tragweite ihrer Pläne, ihrer Käuflich
keit und Schamlosigkeit, nachdem sein Sohn die nichtswürdigen
weltlichen Tyrannen des Kirchenstaates vertilgt, nach der Moral
des XV. Jahrhunderts auf die Vertilgung der geistlichen Tyran
nen sann, wie es aber auch nur billig war, wenn der Papst, der
mit Gift sich ahgab, an dem Gifte starb, das er anderen be
reitet hatte. Man wird es begreiflich finden, wenn Julius II.,
um der Factionswuth der römischen Familien zu steuern, kein
Mitglied derselben in das Cardinais-Collegium berief, und ge
mässigte Männer wie der königliche Rath Petrus Martyr, Freund
Adrians VI., nur von den bepurpurten und rothhiitigen Partei
männern sprach, welche beständig auf Anstiftung von Unruhen
sännen. 1 Er meinte das Cardinalscollegium hei dem Tode Leo’s X.
Gerade als sich in Spanien die ersten Symptome jener
politischen Bewegungen zeigten, die auf Herstellung gleich-
mässiger Gerechtigkeit und zugleich auf Hebung des Gewerb-
standes gerichtet waren, andererseits aber in Deutschland der
langgesparte Hass der Weltlichen gegen die Geistlichen durch
Martin Luthers Auftreten zum ungezügelten Ausbruche kam,
fand in Rom, kaum, dass der Krieg P. Leo’s X. um Urbino
zu Ende gekommen war, eine Verschwörung toskanischer Car-
dinäle gegen den mediceischen Papst statt, auf dass auch von
dieser Seite in die allgemeine Bewegung eingegriffen werde!
Der Cardinal von Siena, Alfonso Petrucci, wollte den Papst
durch dessen Leibarzt vergiften. Der Anschlag kam auf; der
Cardinal flüchtete sich zur rechten Zeit, Leo X. berief ihn
zurück, gab ihm noch durch den spanischen Gesandten alle
möglichen Versicherungen, damit er ja zurückkehre; als aber
Petrucci in Rom angekommen war, wurde er doch verhaftet
und ebenso Bandinelli, Cardinal de Sauli aus Genua, nachher
auch die Cardinäle von San Giorgio, Rafaele liiario, Soderini
und Adrian von Corneto, 2 Petrucci selbst zum Tode verurtheilt
' Fact'ionarios illos purpuratos, rubro galero cristatos dissidiis et perturba-
tionibus iutendere. Epist. n. 760.
2 Guicciardini, T. XIII. Ed. princeps, P. II. p. 1012.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s Yl.
157
und hingerichtet, die übrigen exilirten sieb zum Theil selbst.
Leo X. musste daran denken, das Cardinais - Collegium zu er
gänzen und that es nun in solcher Weise, dass er am 25. Juni
1517 nicht weniger als 31 Cardinäle auf einmal ernannte, unter
ihnen zwei Söhne seiner Schwestern und mehrere unbedingte
Anhänger des mediceischen Hauses, zwei Trivulzi, und aller
schlimmen Erfahrung der früheren Zeiten zum Trotze einen
Colonna und einen Orsini, nachdem Julius II. absichtlich sie be
seitigt hatte. 1 Unter ihnen auch drei Ordensgenerale, der Augusti
ner, Franciskaner und Dominikaner, Aegidius von Viterbo,
ausgezeichnet durch Unbescholtenheit, Gelehrsamkeit und Un
abhängigkeit der Gesinnung, die er in so hervorragendem Grade
schon vor 5 Jahren bei dem lateranischen Concil bewiesen,
Christoph Numatio und Thomas de Vio, Cardinal von Gaeta,
dessen Name sehr bald in den deutschen Religionswirren eine
grosse Bedeutung erlangte. An diese Männer, welche ihre
Erhebung nur ihren Tugenden, ihrer Gelehrsamkeit und Ta
lenten verdankten, schlossen sich in würdiger Weise Lorenzo
Campeggio, der Freund des Cardinais von York, Johann Picco
lomini, Erzbischof von Siena, Nicolaus Pandolfini von Florenz,
Alessandro Cesarini, Bischof von Pistoja, der Rechtsgelehrte
Dominico Jacobazzi, der Römer Giovanni Dominico de’ Lupi
uud Andrea della Valle, endlich auch Adrian von Utrecht an.
War die Wahl Ludwigs von Bourbon ebenso eine Berücksich
tigung seiner Tugenden als seines Hauses, die des Cardinais
Alfons von Portugal vor Allem eine Rücksicht auf seinen kö
niglichen Vater, so geschah die Adrians wegen seiner beson
deren Kenntniss der Theologie, seiner ausgezeichneten Sitten
und wie es scheint in Berücksichtigung des Wunsches K. Karls.
Der Papst, welcher auch von Kaiser Maximilian dazu ersucht
worden war, fühlte sich, wie Paul Giovio die Sache darstellt,
noch besonders durch die Empfehlungen des beredten Grafen
Albert von Carpi und Wilhelm Enkevords, dessen Stimme schon
damals bei der Curie im Ansehen stand, bewogen. 2 Das rühm
lichste Zeugniss aber gab ihm P. Leo selbst, als er K. Karl
1 Esseiido sempre la grandezza de’ Baroni, depressione e inquietudine de
Pontefici. Guicciard. T, II. p. 1015.
2 Vita Hadriani c. V.
158
H o f 1 e i*.
bat, 1 der Armuth eingedenk zu sein, die Adrians unzertrenn
liche Lebensgefährtin sei, so zwar, dass er nur durch könig
liche Unterstützung die hohe Würde bekleiden könne. Wenn
ein Pasquill jener Tage die Cardinaispromotion Leo’s als eine
Finanzspeculation darstellte, die ihm mehr als eine halbe Million
Ducaten eingetragen habe, so hat diese Beschuldigung, der
auch Guicciardini nicht fern steht, wenigstens keine Beziehung
auf Adrian von Utrecht, den Barbaren, wie ihn der fiorentini-
sclie Geschichtschreiber nennt.
Es gab aber auch noch einen andern Standpunkt, von
welchem aus die Erhebung Deutscher, Franzosen, Italiener,
Spanier, Portugiesen, Engländer zu Cardinälcn angesehen wer
den konnte. Leo X. schien von dem Gedanken erfüllt zu sein,
welcher einst Leo IX. den deutschen Papst beseelt hatte, das
Cardinalscollegium in einen Senat der gesammten Christenheit
umzuwandeln, die hier ihre natürliche Repräsentation finden
sollte. Man kann denn doch nicht leugnen, dass, wenn unter
den 31 Ernannten sich gar viele befanden, die nach ihrem
Vorleben hier nicht Sitz und Stimme führen sollten, es von
grosser Bedeutung war, dass am Vorabende der Reformation,
die ja selbst in Westeuropa 2 auf das dringendste verlangt
wurde, die verschiedensten Staaten in Rom unmittelbar durch
Persönlichkeiten vertreten und mit dem Papstthum verknüpft
waren, die dort selbst das grösste Ansehen genossen. Es war
eine lebendige Mauer, die Leo um seinen Thron zog und von
der man nun sehen konnte, ob sie den Stürmen der Zeit ge
wachsen war, welche nicht lange auf sich warten Hessen. Zwar
war die deutsche Nation hiebei am stiefmütterlichsten bedacht,
während bei der stürmischen Bewegung der Geister gerade
hier schon die Klugheit geboten hätte, die tüchtigsten Persön
lichkeiten zu gewinnen, und vergeblich griff daher Adrian
später zu dem Mittel, durch Pfründen und ähnliche Unter
stützungen den deutschen Gelehrten eine unabhängige Existenz
1 Octavo cal. Febr. a" V. Henke, Anhang zum II. Bd. von Roskoe’s Leo X.
n. XLIV.
2 Schon K. Emanuel von Portugal hatte deshalb in Verbindung mit K. Fer
dinand von Aragonien eine eigene Gesandtschaft (unter Alexander VI.)
nach Rom geschickt. Osorio de rebus Emtnanuelis Lusitaniae Regis.
Bd. I. pag. 21.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's VI.
159
zu sichern. Die Erhebung des Bischofs von Lüttich, der dann
als Cardinalerzbischof von Valencia starb; die des Markgrafen
Albrecht von Brandenburg, Churfürsten von Mainz batte auf
die innere Gestaltung der deutschen Verhältnisse wenig oder
gar keinen Einfluss. Selbst die des Cardinais von San Gio
vanni e Paolo, Adrians, berührte wenigstens jetzt Deutsch
land nur oberflächlich, da seine ganze Thätigkeit Spanien zu
gewandt war; nur insofern war sie für Deutschland und die
daselbst vorhandene Parteistellung massgebend, als Adrian un
mittelbar dem Volke entsprungen, Schöpfer und Gründer seines
Glückes, Repräsentant jener Richtung unter den Gelehrten war,
die sich nicht auf den bewegten Ocean des Humanismus hin
auswagte, sondern an dem Traditionellen festhaltend, selbst
in der Vernichtung der Bücher Reuchlins 1 1515 Heil erwartet
hatte. Bereits am 14. November 1516 zum Grossinquisitor von
Aragonien und Navarra ernannt, wurde er es am 4. März 1518
auch für Castilien und Leon, jedoch ohne dass es dem Cardi
nal und vierfachen Grossinquisitor möglich gewesen wäre, der
Verbreitung der Schriften des Augustiner-Mönches Martin Luther
in Spanien wirksam entgegenzutreten. Hatte er bereits Reuch
lins Schriften im Streite mit Hochstraten für gefährlich er
achtet, so konnte er sich sehr bald überzeugen, wie unschul
diger Natur sie gegen die des Professors von Wittenberg waren,
gegen welche sich selbst die Erklärungen der spanischen Gran
den unwirksam erwiesen. Auch er musste sehr bald empfin
den, dass er sich einer Macht gegenüber befinde, gegen welche
das Rüstzeug der früheren Jahrhunderte sich unwirksam er
wies und die in fortwährendem Steigen begriffen war, ohne dass
sich ein Mittel gefunden hätte, ihr zu begegnen. Blickte man
vollends auf die in Rom und Italien residirenden Cardinäle, so bot
das Cardinais - Collegium das treue Abbild jener Zerrissenheit
und Feindschaft dar, die damals Italien und die ganze Christen
heit durchzogen. An der Spitze desselben stand der Cardinal
Julius von Medici, nachgeborner und natürlicher Sohn Giulia-
no’s von Medici, welcher am 21. April 1478 durch die Ver
schwörung der Pazzi im Dome von Florenz sein Leben ver
lor. Am 26. Mai desselben Jahres wurde Julius geboren und
1 Literae Adriani Florentii de Trajecto ad Cardinalem S. Crucis de Reucli-
lini libris delendis. Böking TTlrichi Hutteri opp. supplementum. T. I.
160
Hofier.
von Lorenzo, dessen Bruder Giovanni (nachher Leo X.), Lo-
renzo's Sohne Pietro und den übrigen Mediceern als solcher
anerkannt, von Leo X. zum Erzbischöfe von Florenz, zum
Cardinal, zum Vicekanzler erhoben. Er regierte eigentlich
unter seinem Vetter und trug, wie natürlich, auch einen nicht
gelingen Theil des Hasses, der auf Leo X. fiel. Jetzt stand
er an der Spitze der sogenannten florentinischen Partei, in wie
ferne diese aus Verwandten oder Creaturen Leo’s bestand. Die
Anzahl der Neffen des letzteren war sprichwörtlich geworden. 1
Der Sohn Pietro’s, welcher durch die Franzosen aus Florenz
vertrieben worden war und der seihst im Garigiiano ertrank,
Lorenzo ward durch Leo Herzog von Urbino (Lorenzo’s Sohn
Alessandro später Herzog von Florenz). Von dem Bruder Leo’s
Giuliano der Sohn Hippolito Cardinal. Die drei Schwestern
Giuliano’s (Pietro’s und Leo’s X.) heiratheten in die vorneh
men Florentiner Familien Cibo, Rudolf! und Salviati. Vier
seiner Neffen, einen Cibo (Innocenzo), einen Rudolfi (Nicolö),
zwei Salviati (Giovanni und Bernardo), machte Leo zu Cardi-
nälen. Allein die florentinischen Cardinäle waren nichts we
niger als einig, 2 da der Cardinal Soderini (Cardinal von Vol-
terra) als Todfeind der Mediceer galt, die sein Bruder, der Gon-
faloniere von Florenz, 20 Jahre von ihrer Heimath fern gehalten
hatte. Er bot jetzt Alles auf, die Wahl des Cardinal Medici
zu verhindern. Aber selbst unter den von Leo ernannten Car-
dinälen, welche naturgemäss sich um den Cardinal von Medici
hätten schaaren sollen, herrschte keine Eintracht. Unter diesen
galt wie unter den andern die Meinung, werde er Papst, so sei
dies kein Papstwechsel, sondern nur eine Fortdauer der Ty
rannei, die er schon unter Leo geübt. So wenig als das Car-
dinalscollegium sich durch Reinheit der Sitten auszeichnete, so
vergab inan dem Cardinal von Medici doch nicht, dass seine
Mutter nur die Concubine Giuliano’s und von niederer Herkunft,
er im Ehebrüche gezeugt war — Eigenschaften, die ihn strenge
genommen von der priesterlichen Würde hätten ferne halten
sollen. Man wusste, dass er sich im Geheim den Franzosen
genähert hatte und war nicht ohne Sorge, er möchte als Papst
1 Pace an Wolsey. Ital. papers. Brewer III. n. 1918.
2 Clerk an Wolsey. Dec. 1521. Brew. n. 1895.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
161
ganz auf ihre Seite treten. Der Cardinal von Colonna, welcher
anfänglich für ihn war, trennte sich von ihm und dachte wie
so mancher Andere, selbst Papst zu werden, während das
Treiben des ganzen Collegiums auf Näherstehende den .Ein
druck machte, man befinde sich weniger am Vorabende einer
Papstwahl als vielmehr eines Schisma’s. 1 Da war ferner der
Cardinal Fiesco (Flisco), als Genuese ,unberechenbar'; Jacoba-
tius galt als wohlbewandert in Angelegenheiten der Rota, dieses
obersten Gerichtshofes der Christenheit, war aber hochbetagt
und hatte aus früher Ehe so viele Söhne, als P. Leo Neffen,
d. h. zahllos, wie man sich scherzend ausdrückte. 2 Den Car
dinal Petruccio hatte man nur Tarquinius Superbus II. genannt.
Er hatte einen Saneson in den Kerker werfen und dessen Gat
tin zu sich bringen lassen. Letztere, wohl wissend, welches
Schicksal ihr bevorstehe, nahm während sie sich ankleidete
Gift und die Häscher mussten dem wollüstigen Tyrannen die
Nachricht bringen, der Gegenstand seiner Liebe liege in den
Zügen. Die Pflege ihrer Verwandten brachte sie wieder ins
Leben. 3 Ihre That galt aber als um so glänzender, da sie als
Tochter einer berühmten römischen Buhlerin ihrem Gemälde
die Treue bewahrte. Der Cardinal Sauli hatte 50000 Ducaten
bezahlt, um Cardinal zu werden. 1 — Der Cardinal Farnese,
damals 55 Jahre alt und Anhänger der guelfischen und orsi-
nischen Partei, hatte zwei Söhne und eine Tochter, besass
mehrere Bisthümer und stattete den einen seiner Söhne mit
einem Bisthum aus, während der ältere, 20 Jahre alt, 50 Lanzen
gegen die Franzosen in Mailand befehligte. Allein Dinge dieser
Art machten in jenem Zeitalter der persönlichen Würde keinen
Eintrag. Man musste sich höchstens gefasst machen, dass, wenn
Farnese Papst würde, sein Geschlecht auf Kosten des Kirchen-
1 Siehe den vortrefflichen Bericht Clerk’s, des englischen Gesandten in Rom,
'an Wdlsey über seine Unterredungen mit Medici, Colonna u. a. I assure
your grace, here is a marvellous division and we were never likelier to
have a schism.
2 Pace to Wolsey 31. Dec. 1. c. n. 1918. Er war 72 Jahre alt. Clerk
urtheilte über ihn, dass, wenn die Kirche sich nur um geistliche Dinge
zu kümmern hätte, er der rechte Mann wäre. 1. c. n. 1932.
3 Gio. Negri an M. Antonio Micheli. Brief vom 29. Dec. 1522.
4 Gradenigo bei Alberi p. 68.
Sitzt, d. pliil.-hist. CI. LXXU. Bd. I. Hft. 11
162
Hofier,
Staates zu Fürstenthümern gelange. Allein M T ar dieses etwas
anderes als was man bei Innocenz VIII. zu Gunsten der Cibo’s,
bei Alexander VI. zu Gunsten der Borgia’s, bei Julius II. zu
Gunsten der Rovere’s erlebt hatte? Und wenn es bei Leo X.
nicht in dieser Art geschehen war, so lag die Ursache darin,
dass bei den Mediceern die Haupttendenz der Politik darauf
gerichtet war, ihrem Geschlechte den Besitz von Florenz theils
zu verschaffen, theils zu erhalten. Gerade um die Person des
Cardinais von Medici drehte sich die ganze Politik derjenigen
Fürsten, welche schon wegen Italiens an der Papstwahl un
mittelbar betheiligt waren. K. Franz I. sah in dem Cardinal
von Medici die Ursache des französisch - italienischen Krieges,
seiner eigenen Niederlage, des Verlustes von Italien für die
Franzosen. Er gedachte jetzt das Verlorene wieder zu ge
winnen, Mailand zu erobern. Er verfügte über zehn Cardinäle
und war so entschlossen, die Wahl des Cardinais von Medici
zu hindern, dass er erklären Hess, würde dieser gewählt, so
solle auch kein Mann in seinem Königreiche mehr der römi
schen Kirche gehorchen. 1 Dies war klar gesprochen und die
öfter ausgesprochenen Befürchtungen, es möchte zum Schisma
kommen, waren daher nichts weniger als grundlos.
Von den älteren Cardinälen war der Venetianer Grimani,
Sohn des Dogen, dem Tode nahe. Er eilte zum Conclave,
musste aber mit dem Tode ringend aus diesem hinweggebracht
werden. 2 Bernardinus Carvajal, ein Spanier, hatte schon nach
dem Tode Pius III. Aussicht, Papst zu werden. Der Umstand,
dass er übergangen wurde, mag nicht ohne Einfluss geblieben
sein, dass er nachher Iv. Ludwig XII. die Hand bot, um gegen
Julius II. als Gegenpapst aufzutreten. Doch wurde er nachher
von diesem wieder in Gnaden aufgenommen. Allein einen
Spanier zu wählen, mochte mehr als Einem seiner Collegen als
bedenklich erscheinen, da die Abhängigkeit von spanischen
Interessen mit Recht im hohen Grade befürchtet werden mochte.
So viele von den in Rom ansässigen Cardinälen auch das Papst
thum für sich in Anspruch nehmen mochten, es stellte sich bei
1 State papers III. 2. p. 835.
2 1. c. n. 1932. Gradenigo sagt: e fatto lo scratinio il Cardinal Grimani
vista la sun ballottazione ed esser maltrattato usci dal conclave.
''Vah! und Thronbesteigung Adrian’s VI.
1G3
näherer Betrachtung doch immer mehr heraus, dass seihst der
stärkste (Medici) nicht so stark war, eine Wahl für sich zu
Stande zu bringen, die übrigen aber, Farnese, Colonna — mehr
Löwe als Fuchs, wie ihn der englische Gesandte beschreibt,
wohl mächtig genug waren, jede ihnen unangenehme Wahl zu
hindern, aber nicht stark genug, eine ihnen genehme durch
zusetzen. Die Cardinäle, welche nicht geradezu gegen Medici
waren, fürchteten dann, er möge, wenn er selbst nicht durch
dränge, die Wahl des Cardinais von York, des quatuor sanc-
torum, des Card. Aegidius durchsetzen und factisch statt des
Gewählten regieren. Von den auswärtigen Cardinälen war nur
Wolsey zu fürchten. Er war der Repräsentant der engen Ver
bindung der Häuser Habsburg und Tudor, Spaniens und Deutsch
lands mit England, eine grosse politische, aber eine minder
kirchliche Capacität. Er selbst konnte auf die Zustimmung-
Karls V. und Heinrichs VIII. rechnen, in deren Interesse er
ja auch das Papstthum zu führen gedachte. 1 Uebrigens war
nicht im entferntesten daran zu denken, dass die italienischen
Cardinäle, welche die überwiegende Mehrzahl besassen, einen
auswärtigen Cardinal wählen würden, wenigstens so lange ge
wiss nicht, als die mindeste Hoffnung vorhanden war, einen
der Ihrigen durchzusetzen.
So standen denn wohl persönliche Interessen im Car-
dinalscollegium einander so schroff als möglich gegenüber,
wie aber sich mit diesen das allgemeine und höhere ver
knüpfen, wie dieses zum Siege kommen würde, konnte Nie
mand sagen. Man musste sich gestehen, dass die Lage der
Christenheit niemals trostloser war als jetzt. Alle Mittel der
früheren Zeit waren verbraucht, keines schlug mehr an, und
hatte man bei dem letzten lateranischen Concil als einzige
Hoffnung auf dieses, ein Concil hingewiesen, so war jetzt trotz
desselben die Regierung der Kirche in die Hände einer welschen
Oligarchie gelegt worden, die für das Allgemeine kein Ver-
ständniss hatte. Dazu kam die Spaltung unter den christlichen
Staaten, Fürsten und Völkern, eine Bewegung in den niederen
Classen gegen die höheren, welche sich von den Bauern Un-
1 For no otlicr purpose, sagte er selbst, ccrald he desire the papacy except
to exalt your majesties! Brew. n. 1884.
11*
164
Hofier.
g'arns zu denen Deutschlands, zu den Communen Spaniens fort
zog und höchstens in Frankreich an Contiuuität litt, da dort
noch der König schalten und walten konnte, als hätte er nur
die Aufgabe den Ausspruch wahr zu machen, den man ihm
beilegte, König von Thieren und nicht von Menschen zu
sein. Das Zeitalter, welches auf allen Gebieten der mensch
lichen Kunst so Grosses geleistet, hatte sich in socialer Be
ziehung als unfruchtbar erwiesen; man kann es wohl sagen,
auch nicht Eine jener Frag-en gelöst, welche das ideenreiche
XY. Jahrhundert angeregt hatte. So wie die Dinge bei dem
Tode Leo’s X. sich ausnahmen, war daher für die nächste Zukunft
nur die Wahl zwischen einem kirchlich - weltlichen Absolutis
mus oder einer Revolution, welche, wo sie siebte, dem in den
übrigen Ländern angehäuften Zündstoffe den Funken zur all
gemeinen Explosion verschaffte. Und da sollten nun jene jugend
lichen Fürsten helfen, wie K. Karl, K. Franz, K. Heinrich von -
England, der Knabe Ludwig von Ungarn-Böhmen, dieser Spiel-
ball für Slaven und Magyaren, denen sich als gemeinsamer Geg
ner der jugendliche Soliman, prangend in der Fülle der Kraft
und Stärke, gegenüber stellte, oder das Cardinalscollegium, das
Leo nur deshalb so sehr erweitert zu haben schien, um nach
aussen den Anstand zu beobachten, in Wirklichkeit aber einer
Anzahl italienischer Cardinäle es möglich zu machen, das un
würdige Spiel der Ausbeutung der Christenheit, die systemati
sche Vereitlung aller noch so gut angelegten Reformplane un
gestört in alle Ewigkeit fortzuführen, wie sie es seit einem
halben Jahrhunderte unter einem halben Dutzend meist simo-
nistischer Päpste getrieben hatten. War es denn doch schon
beinahe gleichgültig, wer Papst würde, ein Cibo oder ein Me
dici, Innocenz VIII. oder Alexander VI. So lange nicht das
Cardinalscollegium von Grund aus verändert wurde, in dieses
die strengen Principien der früheren Zeiten einzogen, war keine
Hoffnung des Besserwerdens vorhanden; welcher Papst aber, der
selbst aus dem Sclioosse dieser Männer hervorgegangen war,
hätte die Kraft, die Einsicht, den Willen und die Macht besessen,
gegen seinen eigenen Ursprung aufzutreten? Eine leise Hoff
nung beruhte daher wohl darauf, dass jener Nichtitaliener ge
wählt würde, welcher wie kein anderer die Fäden der west
europäischen Politik in seinen Händen hielt, und, wenn ein
Wall! und Thronbesteigung Adrian's VI.
165
politischer Papst der Zeit aufhelfen konnte, mehr als jeder
andere geeignet erscheinen durfte, jetzt Papst zu werden und
die ihm übertragene Mission zu erfüllen, Thomas Wolsey.
Heinrich von England hatte am 16. December die Nach
richt von den Vorgängen in Italien, der Niederlage der Fran
zosen, dem Tode P. Leo’s, der Rückkehr des Cardinais von
Medici nach Rom erhalten. Sein Wunsch war, den Cardinal
von York als Papst begrüssen zu können: er verhehlte sich
aber nicht, dass diese Angelegenheit grosser Vorsicht bedürfe,
nur mit Hülfe K. Karls durchgeführt werden könne. Sollte
die Wahl Wolsey’s unmöglich sein, so möge die des Cardinais
von Medici betrieben werden. Letzterer sollte jedoch nichts
davon erfahren, dass der König Wolsey begünstige, sondern
in der Meinung erhalten werden, Heinrich begünstige seine
Wahl und erst wenn sich zeige, dass Medici keine Aussicht
habe, sollte Wolsey’s Wahl betrieben werden. Der König erliess
auch in diesem Sinne zwei Briefe an den Cardinal, einen zu
Gunsten Medici’s, den andern zu Gunsten Wolsey’s, letzteren
natürlich nur zu eventuellem Gebrauche. Die am 18. De
cember von Wolsey geschriebenen Briefe kamen zu spät an.
Wohl hatte der englische Gesandte in Rom sich alle -denkbare
Mühe gegeben, im Sinne seines Herrn und des Cardinais auf
die andern Cardinäle einzuwirken, mit Medici, mit Colonna
unterhandelt; er brachte es auch dahin, wie später Campeggio
an Wolsey schrieb, dass letzterer in dem Scrutinium mehrfach
genannt wurde, ohne es höher als zu 8—9 Stimmen zu bringen. 1
Zu den grossen Wirren, der allgemeinen Unsicherheit, ja
der Auflösung aller Verhältnisse, die sehr bald die Cardinäle
zwang, die Wache des Conclave von 300 M. auf 1000, bald auf
noch mehr zu erhöhen, kam noch die Aufforderung des französi
schen Oberbefehlshabers in Italien, das päpstliche Heer aus dem
französischen (italienischen) Gebiete zurückzuziehen. Sie ward
damit beantwortet, dass man sagte, man wisse nicht, dass es
auf französischem Boden stehe, übrigens werde man für baldige
Wahl eines Papstes Sorge tragen.'- Während in Rom selbst
1 Brewer n. 1892. 1952. 1955.
2 The holy College had confirmed the league, schreiben Wingfield und Spi
nell! aus Gent an Wolsey. 25. Dec. Brew. n. 1901.
166
Hofier.
die grösste Zügellosigkeit der Rede, die höchste Ungebunden
heit des Witzes gegen den verstorbenen Papst wie gegen die
Cardinäle herrschte, hatten diese sich von simonistischen Ver
sprechungen ferne gehalten, was Paco und Clerk nicht hinderte,
nach Kräften für Wolsey einzutreten. Die Nachricht, dass der
Herzog von Urbino, Franz Maria, Urbino genommen und sein
Herzogthum wieder zu erobern suche, die Besorgniss, es möchten
ähnliche Versuche auch an andern Orten stattfinden, beschleu
nigten den Beginn des Conclaves.
Erst am 27. December, dem Tage des h. Johannes Evan
gelist, versammelten sich die Cardinäle in St. Peter, der Car
dinal Colonna sang die h. Geistmesse, eine lateinische Predigt
wurde gehalten, das veni creator gesungen und dann erfolgte
der Einzug in die Zellen des Conclave. Jede war 16' lang,
10' breit und mündete in eine gemeinsame Capelle, dem Wahl
orte. Zwei Stunden vor Sonnenuntergang versammelten sie
sich in der Capelle. Die fremden Botschaften, von England,
Portugal, Ungarn, Polen, Venedig, Mailand und andern italieni
schen Städten erschienen nebst den Herren, welche die Conclave-
wache befehligten — römische Barone, — in ihrer Gegenwart
wurde die Bulle P. Julius II. gegen Simonie, vorgelesen und
von jedem beschworen. Don Manuel, der kaiserliche Bot
schafter, war jedoch des hohen Alters wegen nicht gekommen,
und der französische Botschafter, welcher, seitdem Tournay
von den Kaiserlichen erobert worden, krank war oder sich
krank stellte, liess sich überhaupt bei Tage nicht sehen; eine
desto grössere Wahlthätigkeit entwickelte er aber unter dem
Schleier der Nacht. Die Wache war bis auf 3500 M. vermehrt
worden. Nicht blos dass jeder Verkehr nach Aussen abgesperrt
wei’den sollte, vom vierten Tage des Conclaves an fand auch
ein Abzug an Speisen statt, bis den Eingeschlossenen zuletzt
nur mehr Brod und Wein gereicht wurde. 1
Man hatte vor dem Conclave die Cardinäle von Siena,
Neffen P. Pius II., Jacobazzo, Campeggio und de Grassis als
diejenigen bezeichnet, welche siegreich aus dem Scrutinium
hervorgehen würden. Denn dass einem Mediceer ein anderer
nach folge, somit das Papstthum in Einer Familie herrschend
1 Clerk to Wolsey i. Jaii. 1522. Brew. n. 1932.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
167
werde, schien denn doch zu sehr allen Traditionen zu wider
sprechen. Zu den vielseitigen Parteiungen, die sich in ihren
Bestrebungen kreuzten, kam jetzt auch dazu, dass die älteren
Cardinäle, von welchen wohl jeder sich als der Würdigste an
sah, keinen unter 50 Jahren wählen wollten. Noch standen
die kaiserliche und die französische Partei einander schroff
gegenüber und man hielt selbst dafür, dass die Sedisvacanz nur
kurz sein werde, man werde die französischen Cardinäle nicht
erwarten, sie geradezu ausschliessen, ein Plan, der dem kaiser
lichen Botschafter Don Manuel zugeschrieben wurde und hei
den englischen Gesandten Unterstützung fand. 1 Als Prospero
Colonna den zum Conclave reisenden Cardinal von Ivrea unter
wegs zwischen Pavia und Piacenza aufhob und in das Schloss
von Pavia bringen liess, glaubte man, es sei dies ein Werk
des Cardinais von Medici. Die Folge war aber nur, dass die
Cardinäle beschlossen, nicht eher das Conclave zu beziehen,
als bis der gefangene Cardinal seine Freiheit erhalten hätte. 2
Man glaubte in Paris, der Cardinal Colonna habe am meisten
Aussicht; in Rom wollte man gleich anfänglich wissen, der
Cardinal - Farnese, einst ein Liebling P. Alexanders VI. und
noch nicht 25 Jahre alt von diesem am 20. September 1493 zum
Cardinal erhoben, werde Papst, so dass dann das Haus Medici,
das ursprüngliche florentinische Kaufhaus durch ein ursprünglich
deutsches abgelöst worden wäre, welches freilich an Alter, Be
rühmtheit, Würde und Einfluss jenem bedeutend nachstand.
Schon am 8. December kamen die Cardinäle über die Form
der Abstimmung überein, jedoch wurde nach dem Cereinonien-
meister Blasius von Cesena erst am 29. beschlossen, geheime
Abstimmung zu halten, d. li. der Name des Wählers sollte bei
Abgabe des schriftlichen Votums versiegelt übergeben, der ver
siegelte Zettel aber mit einem Zeichen versehen werden, um
den Zutritt zu einem Gewählten zu erleichtern; ein Beschluss,
welcher aber nie mit Majorität angenommen wurde, da er eine
Neuerung in sich schloss.
Nach Guicciardini waren 39 Cardinäle am 27. December
anwesend, nach andern 4 Cardinalbischöfe, 20 Priester, 10 Dia-
1 Brewer n. 1885.
2 Brewer n. 1895.
168
Höf ler.
conen; 11 Cardinäle abwesend. So unzuverlässig lauteten aber
die Nachrichten, dass dem Kaiser Karl mitgetheilt wurde, Me
dici verfüge über 19 Stimmen, habe aber 20 gegen sich und
Don Manuel biete nun Alles auf, für Medici Stimmen zu wer
ben, während dieser fortwährend für Farnese stimmte. Am
französischen Hofe wollte man wissen, dass Colonna gleich an
fänglich 19 Stimmen hatte, die Wahl nur zwischen ihm und
Medici schwanke, in drei bis vier Tagen Alles entschieden sei. 1
An demselben Tage, an welchem die Cardinäle das Conclave
bezogen, erzählte König Franz, sie würden die Wahl verschie
ben, bis die französischen Cardinäle, die mit der Post abgereist
waren, in Rom angelangt seien. 2 Der Bischof von Badajoz be
richtete noch am 24. December an den Kaiser, die Wahl des
Cardinais Fiesco sei so viel als gesichert: Beweise, wie wenig
man sich auf jene Nachrichten verlassen kann, die an Höfen
in Umlauf gesetzt und dort geglaubt wurden.
Nach den von Burmann gesammelten Aufzeichnungen über
das Conclave wies das erste Scrutinium am 30. December nur
eine Zersplitterung der Stimmen vor, Hess aber, da sich die
Stimmen auf 3, 4, 5, 7, 10 verwarfen, nicht einmal eine Füh
lung zu. Allein nach einer sehr genau unterrichteten Quelle
der Pariser Bibliothek verfügte schon damals Medici über
16 Stimmen zu Gunsten Farnese’s. Daneben fand sich 3 ein
Zettel vor, der 13 Cardinäle in sich schloss, was allgemeine
Indignation erzeugte, dass mit der ernstesten Sache ein so
frevles Spiel getrieben war. Mit Mühe wurde verhindert, dass
nicht das Siegel erbrochen und der Name des so Wählenden
bekannt gemacht wurde. Gab die Nennung Farnese’s, welcher
bereits Cardinal war, als er seinen ältesten Sohn erlangte,
dessen Tochter verheirathet, dessen jüngerer Sohn mit 12 Jah
ren Bischof war, der aber nichtsdestoweniger als ein recht
schaffener und wohlgesinnter Mann galt, 4 Anlass, dass im Con
clave die ärgerlichsten Geschichten aus seinem Vorleben erzählt
wurden, so war dies regelmässig bei jedem, der sich als Can-
didat bemerldich machte. Spottlieder, welche ausserhalb des
1 Brew. n. 1946.
2 1. c. n. 1947.
3 im dritten Scrutinium. Vielleicht Grimani’s? Guicciardini 1. c.
4 Clerk bei Brew. n. 1932.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's VI.
169
Conclaves gemacht wurden, richteten ihn schon im Voraus in
den Augen der Menge zu Grunde. Sie drangen aus Rom in
die entfernten Länder, so dass, wie Giovio 1 es auseinander setzt,
dieses Conclave dem Ansehen der Cardinäle eine tödtliche
Wunde schlug. Nicht blos K. Franz mag so geurtheilt haben,
es sei in Rom nicht Sitte zu stimmen, wie der li. Geist es den
Herzen einflösse. 2
Die Hoffnung, Farnese als Papst zu sehen, schwand nach
dem zweiten Scrutinium. Jeder Cardinal kehrte zu seiner Zelle
zurück und als nach dem dritten Scrutinium Medici noch ein
mal die Wahl Farnese’s vertrat, widerstanden die älteren Car
dinäle mit aller Macht aufs Neue. Es war Alessandro Farnese
beschieden, noch zwei Conclave zu erleben und erst aus dem
dritten (als Paul III.) hervorzugehen. So verstrich denn das
alte Jahr 1521, aber auch der erste Januar 1522 hatte so wenig
als der zweite ein Resultat gebracht.
Nach dem Scrutinium vom 2. Januar kamen mehrere von
den älteren Cardinälen zusammen und beriethen sich, wie der
Beste zum Papst gewählt werden könnte. Ihnen entgegen
versammelte sich ein Theil der jüngeren in der Nicolauscapelle
und beschloss nach heftigem Streit, da die älteren durchaus
nicht in die Ansichten des Cardinais von Medici eing-ehen woll
ten, denjenigen von den älteren zu wählen, welcher sich am
meisten durch seine Rechtschaffenheit auszeichnete und kein
Parteimann wäre. Die älteren Cardinäle baten nun die
übrigen, sie möchten die Lage der Christenheit wohl ins Auge
fassen, damit nicht aus ihrer Uneinigkeit ein Schisma entstehe
und das Unglück früherer Jahrhunderte sich erneuere. Bereits
ward am vierten Tage' der Abzug an Speisen vollzogen und
den Eingeschlossenen dann die Wahl gelassen zwischen gesot
tenem und gebratenem Fleisch. Vom 2. Januar an erhielt
Jeder nur mehr Eine Speise. Auf dieses suchten aber die
mediceischen Cardinäle am darauffolgenden Tage, 3. Januar
1522 erst die Wahl des Cardinais Farnese neuerdings durch
zusetzen. Nun widerstanden aber die älteren zum vierten Male. 3
1 Vita Hadriani pag. 107.
2 Brew. n. 1947.
2 Giovio berichtet, selbst Farnese habe dem kaiserlichen Gesandten Don
Juan Manuel Versprechungen in Betreff seiner Ergebenheit gegen Karl V.
170
H ö f 1 e r.
Da trat in den Streit der jungen und der alten plötzlich die
Nachricht ein, die französischen Cardinäle eilen zum Conclave
herbei. Die Furcht, sie möchten den Ausschlag geben, be
stimmte alle, sich mit der Wahl möglichst zu beeilen. So
kam der vierte Januar und das sechste Scrutinium, ohne Re
sultat, der Streit wurde lebhafter 1 und die Cardinäle, welche
nach dem Scrutinium in den Hallen spazieren gingen, setzten
den Streit auch in ihren Privatbesprechungen fort. Diesen
zufolge konnte man annehmen, dass am nächsten Morgen durch
die Jüngeren ein Papst gewählt würde, entweder Farnese, oder
Fiesco, oder der Bischof von Sitten, Cardinal von Santa Pu-
dentiana, Matthäus Schiner, welchen Julius II. creii’t hatte (Se-
dunensis). Da die Römer an der üblen Gewohnheit festhielten,
den Palast eines neu creirten Papstes zu plündern, wurden
mehrere Paläste soi’gfältig verwahrt, nichtsdestoweniger erlitt
Farnese bereits einen Schaden von 2000 Ducaten, da seine
Besitzungen ausserhalb Roms angegriffen und geplündert wur
den, als wäre er bereits Papst. Der Palast Wolsey’s wurde
mit Artillerie besetzt und von 3—400 Bewaffneten in Vei'thei-
digungszustand gehalten. 2 Als das Scrutinium am 5. Janxxar
erfolgte, wurde nur mit Mühe die Wahl des Cai-dinaldiacon
Cibo, eines Neffen P. Leo’s X., durch den Cardinal Colonna —
beide waren von Leo creirt, vereitelt ixnd so der zweite Plan
des Cardinais von Medici zum Scheitern gebracht. Erzürnt
über diese Intriguen und Fallstricke, versammelten sich dann
die älteren Cardinäle in der Zelle des Cardinais von S. Croce
und berathschlagten den Kriegsplan für den nächstfolgenden
Tag. Als aber nun am 6. Januar das Scrutinium vorgenom
men wurde, zeigte sich die Gewandtheit der Gegner, die alles
aufgeboten hatten, 12 schriftliche Vota für Farnese zusammen
zubringen. Schon rief der Cardinal di SS. IV coronati:
gemacht. Als aber dieses ruchbar geworden, sei der französisch gesinnte
Theit seiner Anhänger wankend geworden. Ich lasse jedoch diesen Be
richt bei dem Grade von Glaubwürdigkeit beruhen, welcher ihm und seinem
Gewährsmanne zukommt.
1 Der Cardinal Soderini soll dem Cardinal Medici seine uneheliche Geburt
vorgeworfen haben, was andere als unwahr zurückwiesen. Petrus Martyr
epistolarium. XXXV. 749.
2 Brew. n. 1933.
Wahl ujid Thronbesteigung Adrian 1 « YI.
171
Paparn habemus, in der Hoffnung, die übrigen würden den
Zwölfen beitreten, als sieb die Cardinäle di Monte und Colonna
erhoben und das Verlangen stellten, da Farnese noch einige
Stimmen fehlten — es waren aber 26 nöthig, so solle der Papst
nicht tumultuarisch gewählt werden. Sie verschafften sich Stille,
die Aufregung legte sich, statt eines Beitrittes aus Ueberraschung
erfolgte ein neues Scrutinium und die Wahl Farnese’s kam
nicht zu Stande. Der Cardinal Cesarini, welcher dem Cardinal
Aegidius von Viterbo beigetreten war, ohne jedoch von Farnese
abgetreten zu sein, war Veranlassung einer Controverse ge
worden, ob dieses geschehen dürfe. 1 Der Streit wurde nicht
entschieden, aber auch die Papstwahl nicht; wohl aber hatte
die Sache die Folge, dass die Aelteren sich entschlossen, so
viel wie möglich einstimmig aufzutreten, um nicht dem Ge-
spötte der Jüngern zu verfallen. Zu gleicher Zeit, heisst es
nach einer anderen Quelle, habe Bruder Aegidius von Viterbo,
Cardinal von S. Matthäus, dessen Tugenden Clerk nicht genug
zu rühmen weiss, - den Cardinälen vieles Nachtheilige in Betreff
Farnese’s mitgetheilt, was uni so leichter Glauben fand, als er
viele Jahre dessen Beichtiger*war; eine Nachricht, welche aber
gar nicht mit demjenigen übereinstimnit, was man sonst von
dem höchst ehrenwerthen Charakter dieses Aügustinercardinales
weiss. Auf keinen Fall hat die Sache, wenn sie wahr sein
sollte, den Fortgang der Wahl Farnese’s gehindert, vielmehr
verbreitete sich nach dem neunten Scrutinium am 7. Januar
das Gerücht, die Anhänger Farnese’s wollten die äussersten
Minen springen lassen, um seine Wahl im nächsten Scrutinium
durchzusetzen. Das Gerücht trug nur dazu bei, die Gegen
partei um so vorsichtiger zu machen und zu verabreden, ge
meinsame Beschlüsse zu fassen, so dass die Parteien am 8. Ja
nuar sich schroffer als je entgegenstanden. Man hegte bereits
Besorgniss vor den vielen von Leo X. Verbannten und
dem ungezügelten Auftreten der Factionshäupter. So oft ge
schlagen, war endlich die Partei Medici dahin gekommen, Far
nese fallen zu lassen. Im Namen Giulio’s schlug jetzt der Cardinal
Colonna den Cardinal della Valle als den besten und für den
1 an accedendo ad alium auferat votum ab electione prius (prioris).
2 Brewer n. 1932.
172
Hofier.
jetzigen stürmischen Zustand der Kirche tüchtigsten Candi-
daten vor. Er drang jedoch im 10. Scrutinium (8. Januar)
nicht durch. Mit Einbruch der Nacht erklärte die Mehrzahl
der Cardinäle, sie wollten weder Farnese, noch Valle,
noch Medici. Diese entschiedene Erklärung schlug durch.
Als es am 9. Januar zum eilften Scrutinium kam, erklärte der
Cai’dinal von Medici in seiner gewohnten spielenden Weise, er
schlage in Berücksichtigung seiner kaiserlichen Majestät, die
den Cardinal Adrian von S. Johann und Paul empfoh
len habe, 1 diesen als Papst vor. Er verfügte über 10 Stim
men, fünf der Aelteren traten bei und ebenso sechs andere,
welche einflussreichen Persönlichkeiten zukamen. Allein die
Art und Weise des Vorschlages missfiel. Da erhob sich der
bedeutendste Theologe unter den Cardinälen, der Cardinal von
S. Sisto, Fra Tomaso di Vio, Dominikaner - Ordensgeneral,
rühmte die Tugenden, die Reinheit der Sitten des Cardinais
von Tortosa und wählte ihn laut und offen. Dasselbe thaten
nun auch die Cardinäle Carvajal, di Monte, Ancona, Siena,
Ara Coeli, Armellino von Florenz, Giaccobaccio, Trani, Coino,
mehr als zwei Drittheile stimmten bei. 2 Ein Einziger war da
gegen.
Die Wählenden selbst waren höchlich überrascht, zum
Ziele gekommen zu sein (9. Januar 1522).
,Mit wundervoller Uebereinstimmung, berichtet Campeggio
noch aus dem Conclave an Wolsey, haben die Cardinäle nach
14 Tagen und vielen Streitigkeiten Tortosa zum Papste ge
wählt. Diesen Morgen bei dem eilften Scrutinium erklärten
sich 15 Stimmen für ihn, denen dann die meisten von uns
beitraten. Was unglaublich erschien, die Cardinäle waren nur
durch seine Tugend gewonnen, da keiner oder nur sehr wenige
ihn persönlich kannten/ 3 Am 9. Januar 1522 hatte die christ
liche Welt wieder einen Papst, Leo X. der Mediceer in Adrian
1 Auch Giovio weist darauf hin, dass der Antrag der Cardinais von Me
dici früher berathen und von seiner Partei angenommen worden war.
2 15 votis postulatum, 13 accessibus (accedentibus?). Zweites Schreiben
Campeggio’s an Wolsey vom 10. Jan. Nach Clerk (13. Jan.) erst 15 Stim
men, dann 22, 25, endlich the requisite number to the astonishement
of all. Brew. n. 1960.
3 were influenced by bis integrity alone. 9. Jan. 1522.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s Yl.
173
von Utrecht einen Nachfolger, Rom einen deutschen Herrn,
war die seit fast 500 Jahren beobachtete Ausschliessuug
der Deutschen von dem päpstlichen Throne zum grössten
Staunen derjenigen gebrochen, die diese Veränderung bewirkt
hatten.
Das Conclave wurde geöffnet, ohne dass die Römer, was
sie schmerzlich berühren mochte, einen Palast zu plündern
hatten; schon dieser Umstand war nicht geeignet, den Neu
gewählten populär zu machen. Die Masse fluthete wie gewöhn
lich, als die Papstwahl verkündet worden, in das Conclave.
Als die Cardinäle es verliessen, wie es scheint, selbst nicht
ohne Bestürzung über den unbekannten Mann, den sie ge
wählt, verfolgte sie der Haufe mit Pfeifen, Schreien, Spott und
Hohn. Ironisch dankte der Cardinal Gonzaga den ihn so zur
Engelsbrücke begleitenden Römern, dass sie nur schimpften und
nicht auf die vorüberziehenden Cardinäle mit Steinen warfen.
Es war das ein Ueberbleibsel der alten libertas Romana! Da
der neue Papst ferne von Italien weilte, bestimmten die Car
dinäle, ehe sie sich trennten, wer zu ihm zu gehen, ihm die
Nachricht" zu bringen hatte, so w T ie die Instruction der Ge
sandten, das Glaubensbekenntniss, das der Papst abzulegen
habe, so wie die Formel der Annahme durch den Neugewählten.
Zu Colonna und Cesarini wurde am 10. Januar auch noch
räthselhafter Weise Orsini gesellt, der einzige Cardinal, welcher
der Wahl eines Abwesenden, den er nicht kenne, widersprochen
hatte, dann die interimistische Regierung festgestellt. 1
Die Wahl hatte stattgefunden ohne Simonie, ohne Be
werbung, ja ohne Wissen des Gewählten; sie überraschte selbst
diejenigen, die daran Antheil genommen. Es charakterisirt
aber die Zeit und die in Italien, das die christliche Welt be
herrschen wollte, dominirenden Ideen, dass gerade die Ueber-
einstimmung als schmachvoll (veramente vergognoso) und noch
dazu von einem Bischöfe, Paolo Giovio, 2 bezeichnet wurde,
die Ehre Italiens sei verletzt worden, indem eilfertig wegen
der Tugend dieses Mannes (per conto di virtü) ein in Holland
1 Burmann, Conclave p. 349.
2 Lib. XIX.
174
Hofier.
geborener, in Spanien lebender allen anderen Cardinälen vor
gezogen worden war. Auch Guicciardini giebt dieser beschränk
ten Ansicht Ausdruck. Das Nationalgefühl war beleidigt; die
Wahl unpopulär. Man hatte nichts gegen die Wahl eines
Alexander VI., weil seine Sitten den italienischen entsprachen,
man hatte sehr viel einzuwenden gegen die Wahl eines Deut
schen, welcher nur wegen seiner Tugend gewählt worden war.
Das römische Volk kannte ihn nicht. Viele hatten nie etwas von
ihm gehört. Man fürchtete (ohne allen Grund), er möge seinen
Sitz nach Spanien verlegen, ihn in Deutschland aufschlagen.
Man musste sich sagen, die Periode der Lustigkeit des leoni-
schen Zeitalters, dieses päpstlichen Carnevals, sei vorüber, der
Tag der Asche folge. Man hatte sich so in den Gedanken
eingewiegt, dass das Papstthum den Italienern gehöre, gehören
müsse, dass es als ein Raub, als ein ungebührlicher Eingriff in
die Rechte Italiens angesehen wurde, dass nach so langer Zeit
die Regierung der Kirche den Welschen abgenommen wurde.
Und doch konnte Jedermann sich überzeugen, wohin die Kirche
Christi unter welschen Händen gekommen war!
Allein die Wahl war gar nicht so glatt abgelaufen, wie
die Aufzeichnung über das Conclave, das Schreiben der Car-
dinäle und der uns erhaltene Bericht Don Manuels uns glauben
machen. Nicht umsonst wünschte dieser, sich mit dem Neu
gewählten zu besprechen. Als dieses nicht möglich war, er-
öffnete er ihm in einem späteren Briefe, Medici und die kaiser
liche Partei hätten ihn zum grössten Verdrösse der französisch
gesinnten gewählt. Letztere aber, d. h. die Cardinäle von
Volterra, Colonna, Orsini, Ancona, Fiesco, Como, Cavallon,
Monte, sopra Minerva, Ara Coeli, Grassi, Grimani, Cornaro hät
ten selbst die Absicht gehabt, erst noch unter dem Schutze des
französischen Königs einen andern Papst zu wählen. 1 Nur
Medici, la Valle, Siena, Campeggio, Cesarini, die florcntinischen
Cardinäle überhaupt, Cesis und Farnese ständen fest. Wieder
holt sprach der Gesandte die Versicherung aus, nur der König
(von Spanien) habe Adrian zum Papste gemacht. 2 Allein der
1 Gachard p. 56.
2 Solo el rey os ha liecho papa. Das Benehmen Medici’s, als es zur
Wahl Adrian’s kam, bestätigte bis zu einem gewissen Grade diesen
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
175
letzteren und so unumwunden ausgesprochenen Behauptung
stellen sich schwere Bedenken entgegen. Einmal ist es sicher,
dass der eben so kluge als einfl.tfssreiche Cardinal Wolsey von
K. Franz von Frankreich Zusicherungen in Betreff des Papst
thums erlangt hatte; Karl V. aber hatte ihm nicht blos deshalb
in Bruges Zusicherungen gemacht, 1 sondern neuerdings durch den
Bischof von Badajoz am IG. December 1521 eröffnen lassen,
er werde deshalb keine Kosten sparen, 2 obwohl die Sache
etwas spät und schon stark vorangeschritten sein dürfte. Er
werde für Wolsey mehr thun, als für jeden Andern. 3 Hein
rich von England begünstigte nach dem Berichte des Bischofs
von Badajoz aus London 19. December die Wahl Wolsey’s
und wünschte nichts so sehr, als dass K. Karl sich dieser
Meinung zuwende. 4 Er beschloss deshalb, einen eigenen Ge
sandten (Pace) nach Rom zu schicken, 5 um auf die Cardinäle
einzuwirken, wollte aber, wie bemerkt, nur in Uebereinstimmung
mitK. Karl handeln. Die Sache müsse nemlichmit grosser Vorsicht
behandelt werden, und könne diese Wahl nicht stattfinden, so
sollte der Cardinal von Medici gewählt werden, der Cardinal
von York nur dann, wenn ersterer keine Aussicht habe. In
diesem Sinne wollte Heinrich zwei Briefe an die Cardinäle
schreiben; einen für Wolsey und einen für Medici. Der Kaiser
möge dasselbe thun und der englische Gesandte sich deshalb
mit Don Juan Manuel in Rom zu gemeinsamem Auftreten ver
binden. Wolsey selbst, so berichtete der Bischof von Badajoz,
habe in seiner Gegenwart dem Könige unter grossen Betheue
rungen erklärt, er werde die Wahl nur dann annehmen, wenn
Kaiser und König sie für ihre Sicherheit und ihren Ruhm
Ausspruch. Don Manuel hatte, ehe das Conclave stattfand, den Cardinal
von Medici auf Adrian aufmerksam gemacht, wie dieses K. Karl am
9. März 1522 an Adrian schrieb. Vergl. auch den Brief vom 21. April.
Guch. p. 69.
1 Lanz, Einleit. S. 280. Actenstücke S. 510.
2 Nous nous y employerons tres voluntiers Sans y riens epargner. Acten-
stiicke I. S. 501. Vergl. auch Karls Schreiben an den Bischof von Elna
vom 16. Deo.: he will assiste tlie legate according to his propose at
Bruges about the Papacy. Brew. n. 1816.
3 pour luy plustot que pour nul aultre.
4 Actenstücke X. S. 507.
5 Der übrigens erst am 27. Januar in Kom ankam.
176
TT ö fTer.
für wünschenswert!} und nothwendig erachteten; er gedenke
dann die Mühe auf sich zu nehmen, um beide Majestäten zu
erhöhen. Bereits erklärte K. Heinrich, beide Majestäten (er und
Karl) würden wie Vater und Sohn über den römischen Stuhl
verfügen nach ihrer Autorität und ihrer Macht wie über ihr
Eigenthum und würden dann dem ganzen Erdkreise Gesetze
vorschreiben. 1 Der Bischof von Badajoz verhehlte hiebei nicht,
K. Karl aufmerksam zu machen, welchen Vortheil Wolsey hie
bei habe, ob er nun jetzt gewählt werde oder nicht.
Noch offener rückte Wolsey mit seiner Meinung bei einer
andern Unterredung mit dem Bischöfe von Badajoz, Gesandten
K. Karls am Londoner Hofe, heraus. Als ihm der Bischof die
gute Absicht seines Gebieters in Betreff der Erhebung Wolsey’s
zur päpstlichen Würde mitgetheilt, rieth dieser, der Kaiser
möge seine Truppen vor Rom rücken lassen und könnten dann
die Cardinäle nicht gutwillig 2 dazu gebracht werden, ihn zu
wählen, so sollten sie doch gehindert werden, einen Anhänger
des französischen Königs zu wählen, da sonst die Zerstörung
von Neapel und Sicilien und damit der ganzen Christenheit
erfolge. Allem diesen werde durch seine Wahl abgeholfen.
Denn dann wollte er die Kaiserkrone auf das Haupt Karls
setzen, seinen eigenen König erheben, hierauf gegen die Fran
zosen, dann gegen die Osmanen ziehen und an beiden Feld
zügen auf Seite des Kaisers und des Königs persönlichen Au-
theil nehmen. 3
Ehe ihm noch die Tiara zu Theil wurde, begann es in
dem Haupte zu schwindeln, dass dies.e schmücken sollte.
Diese Erklärungen und die Bereitwilligkeit, 100,000 Du
katen für die Wahl zu opfern, beweisen hinlänglich, welche
Pläne bei Wolsey vorkamen. Es mag hiemit in Verbindung
stehen, was wir aus einem spätem Briefe P. Adrians an den
Kaiser wissen, 4 dass dem kaiserlichen Gesandten in Rom, Don
1 et dabunt universo orbi legem. 1. c. p. ötO.
2 by good öfters.
3 He said the election should not be lost for want of 100,000 ducats and
that Francis rekoned he had 22 cardinals in bis favour front whicli Ute
bishop perceives that he offered Wolsey their votes and his in-
fluence. Schreiben vom 24. Dec. 1521 bei Brewer n. 1821. Acten-
stücke S. 523.
4 21. Nov. 1522. Gachard n. XLY1. p. 137.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
177
Manuel, 100,000 Dukaten geboten worden waren, 1 wenn er
(Wolsey’s) Wahl durchsetze. Als dann Adrian Papst wurde
und Manuels Darstellung, als hätte er ihn erhoben, bei diesem
nicht verfing, kehrte freilich Don Manuel seine rauhe Aussen-
seite so hervor, dass deshalb der Papst bei dem Kaiser Be
schwerde führte. Nach den Erklärungen aber, die letzterer
sodann von Valladolid seinem neuen Botschafter in Born, dem
Herzoge von Sessa, darüber gab, war es der Cardinal Farnese,
welcher Don Juan Manuel das Anerbieten gemacht hatte und
den Cardinälen, ehe sie in das Conclave gingen, von Seite Don
Juan’s gesagt worden, dass, wenn bei der Wahl an einen Ab
wesenden gedacht würde, sie sich Adrians als der dem Kaiser
angenehmsten Persönlichkeit erinnern möchten. 2 Allein wenn
auch dieses vollständig richtig war, so lag darin doch noch
ein grosser Unterschied zu dem, was Don Juan behauptet hatte,
K. Karl oder er selbst hätten Adrian zum Papst gemacht.
Man operirte nach zwei Seiten. Ging es nicht mit Wol
sey, so ging es mit Medici, weshalb auch dieser, freilich un
bekannt mit dem eigentlichen Vorgänge, sich am 12. Januar
1522 bei K. Heinrich VIII. und Cardinal Wolsey für ihre Be
mühungen, ihn zum Papste zu machen, bedankte und zugleich
auf das Bisthum Worcester zu Gunsten des Bischofs von As-
coli resignirte. 3 Der Cardinal von Sion nahm jedoch die Ehre
und das Verdienst, Wolsey vorgeschlagen zu haben, für sich
in Anspruch und vertröstete ihn, als er es nicht geworden war,
auf das Alter des Neugewählten. Das geschah schon zwei Tage
nach Adrians Wahl. 4 Der Cardinal von Sion stand mit dem
englischen Gesandten in Verbindung und durfte man letzterem
vollständig trauen, so war, als die Wahl Farnese’s an dem
Widerspruche Colonna’s gescheitert war, Wolsey vorgeschlagen
worden und hatte er im ersten Scrutinium 9, im zweiten 12,
1 qne la promotiö otro por quien el instava para el pontificado.
2 Gacliard p. 185.
3 Brew. III. 2. n. 195G. 1957.
4 1. c. n. 1955. Hopes Wolsey's turn will come next, as the Pope is old.
Wie Medici, Campeggio, wollte jetzt auch der Cardinal von Sion Alles
für Wolsey gethan haben.
Sitzb. d. pliil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. i 12
178
nsfler.
im dritten selbst 19 Stimmen erhalten. 1 Der englische Gesandte
Clerk erwähnt, man habe Wolsey für zu jung erachtet und
dass er dem Kaiser nicht immer so günstig gewesen. 2 Hätte
man aber Wolsey’s und des Königs Stimmung hierüber besser
gekannt, so hätte die Sache durchgesetzt werden können. Allein
Wolsey habe ja ihm bei seiner Abreise erklärt, dass er damit
nichts zu thun haben wolle. 3 Wären wenigstens die könig
lichen Briefe noch zur rechten Zeit angelangt! Allein die Car-
dinäle wären zu hartnäckig gewesen und deshalb für ihn keine
Hoffnung vorhanden! 4 Wolsey selbst war noch am 17. Januar,
an welchem Tage er noch nichts von Adrians Wahl wusste,
der Meinung, der kaiserliche Botschafter biete Alles für Me
dici auf, was er nicht ohne Aerger bemerkte. 5 In welcher
Gemüthsstimmung musste er sich erst befinden, als das Dank
sagungschreiben Medici’s anlangte. 0 Man besorgte, wie sich
später herausstellte, Wolsey würde nicht nach Rom kommen;
er galt ängstlichen Gemüthern als zu mächtig. 7 Welche Nach
richten aber auch Wolsey von Rom erhalten haben mag, schrieb
am 5. Februar K. Karl an Bernardin de Mesa, er Rönne ver
sichert sein, Don Manuel habe keinen Auftrag, sich mit Be
seitigung Wolsey’s zu Gunsten Medici’s oder eines Andern zu
verwenden. Er habe die Briefe zu Gunsten Wolsey’s nicht
zur rechten Zeit erhalten. Ehe die Cardinäle in das Conclave
traten, habe Don Manuel nur den Auftrag' gehabt, auf sie ein
zuwirken, die freundlichst gesinnteste Person zu wählen. 8 Da
1 Pace, welcher den Cardinal Medici in Florenz traf, berichtet, dass letz
terer ihm sagte: in every (!) scrutiny — he gave liis voice for Wolsey and
caused 17 or IS of bis friends to do the same, bnt as lie could not prevail
over the reste, he thought it best to obtain the papacy for a friend to
the King and the Emperor. 23. Jan. 1522. Brew. n. 1981.
2 that he favored not all the best tlie Emperor. 1. c. n. 1960.
3 that ye would never meddle therewith. 1. c.
1 The papacy, fügt er hinzu, is in great decay, the Cardinais brawl and
scold; tlieir malicious unfaithful and nncharitable demeanor against each
other increases every day.
6 Brewer n. 1968.
6 Medici seihst erzählte später (23. Jan.) dem Secret. Pace, was er alles für
Wolsey’s Wahl getlian und wie er erst, als sie unmöglich schien, sich
für einen Freund des Königs und Kaisers entschied, n. 1981.
7 nimis potens. n. 1990.
8 the most snitable person. n. 2024.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
179
Pace niclit zur Wahl eintraf, sei es durchaus nicht wahrschein
lich, dass Don Manuel sich zu Gunsten Medici’s verwendet
habe. Der Erfolg beweise das Gegentheil. An die Wahl
Adrians sei von keiner Partei gedacht worden. 1 Wol-
sey möge sich darüber freuen, dass ein Mann befördert wurde,
welcher ihm mehr als irgend ein anderes Mitglied des h. Col
legiums Gunst gewähren könne. — Man vereinigte sich mehr
und mehr in der Ansicht, Medici, verzweifelnd die Opposition
Colonna’s zu bewältigen, habe, um jeden anderen Italiener aus-
zuschliessen, Adrian in Vorschlag gebracht, Colonna habe sich
mit 8 Stimmen angeschlossen, dann die übrigen. 2
Je mehr man jedoch die Sache untersucht, desto grösser
werden die Widersprüche, wie sie eben aus einer falschen und
doppelzüngigen Politik kervorgehen.
Da bemühte sich später der spanische Botschafter, Don
Juan Manuel, die Sache in ganz anderem Lichte darzustellen.
Ihm zufolge waren die Cardinäle Medici, Valla, Sion, Cam-
peggio, Cesarini, die Florentiner, Cesi und Farnese auf Seite
Adrians gestanden, Santa Croce, Vico, Trani und Pisano
schwankend, während die Feindschaft der Cardinäle von Völ-
terra, Colonna, Orsini, Ancona, Flisco, Como, Cavallön, Monte
Araceli, Grassi, Grimani, Cornaro, welche die französische Partei
bildeten, so offen hervortrat, dass sie, nachdem Adrian schon
gewählt war, mit dem Plane umgingen, einen französisch ge
sinnten Papst zu wählen. Um jeden Preis, möchte ich sagen,
suchte Don Juan Manuel Adrian zu überreden, nur König
Karl sei Ursache von seiner Wahl gewesen, er behauptete diese
Thesis auch im Widerspruche mit dem Papste selbst. Er kam
selbst auf dieses Thema später nochmal zu sprechen, um den
Beweis seiner Behauptung zu führen. K. Karl habe nämlich
noch vor dem Conclave Adrian bezeichnet, was gar nicht mit
Abwesenden zu geschehen pflege. 3 Aber selbst wenn das
Letztere wahr war, so folgte noch immer nicht dasjenige, was
1 The election of Adrian was not contemplated by any party, jedenfalls ein
merkwürdiges Geständniss, dass Karl selbst an Adrians Erhebung nicht
betheiligt war.
2 Spinelli to Wolsey. Brew. n. 1978.
3 Cosa non usada con los ausentes. Rom 21. April 1522. Gach. n. XXIT.
12*
180
Hofier.
als unbedingte Folgerung Don Juan Manuel daraus zog. All’
diesen späteren Erklärungen steht aber die ganz bestimmte
K. Karls an K. Heinrich VIII. vom 27. December 1521 ent
gegen, er habe, sobald er des Königs und Wolsey’s Absicht
in Betreff der Wahl des letzteren erkannt habe, sogleich alle
Schritte gethan, dieselbe zu befördern. ' Selbst König Franz
hatte dem Cardinal von York Zusicherungen in Betreff der
Papstwahl gemacht, 2 so dass, wenn irgend ein Nichtrömer Aus
sicht hatte, gewählt zu werden, diese nur dem ungemein klugen
und umsichtigen Leiter der englischen Politik zukam; am we
nigsten aber seinem spanischen Collegen, der, weit entfernt
gleich Wolsey an der Spitze von Westeuropa zu stehen, in
jüngster Zeit das Martyrium 3 des Aufstandes der Communen nur
mit äusserster Lebensgefahr überwunden hatte.
In Rom selbst blieb die Meinung die herrschende, welche
wir auch in den handschriftlichen Aufzeichnungen des Cere-
monienmeisters Blasius von Cesena finden, dass der Streit zwi
schen der Partei Medici und Colonna die Gemüther auf das
Heftigste gespalten habe. Plötzlich und wie ein Blitz sei es
ihnen gekommen, ihren Blick ausserhalb Roms und auf den
Cardinal von Utrecht zu werfen, von dem man in Rom nur
wusste, er sei einer der 31 Cardinäle Leo’s X. gewesen und
vom Erzieher Karls Cardinal geworden. 4 Die christliche Welt
war durch diese ganz unerwartete -Wahl beispiellos überrascht
worden. Sie durchkreuzte alle politischen Combinationen und
machte alle Berechnungen zu Schanden. Nur Dein ganz unbe
scholtenes Leben hat Dich auf die höchste Stufe menschlicher
Dinge erhoben, schrieb Johann Ludwig Yives voll Begeisterung
an den Neugewählten. ,Du hast gezeigt, dass für die Tugend
noch ein Platz vorhanden sei und die Rücksicht auf sie dem
1 Par quoy incontinent que ay seen votre intention et la sienne, ay de-
peclie sur ce mes lectres patentes (Lang hat partenentes) en la meilleure
forme que l’hon a seeu deviser pour promouvoir le dit Seigneur Cardinal
au dit saint siege — — et pouvez estre assehure et le dit Seigneur Car
dinal aussis que en eest affere tant que en moy sera, n’espargneray chose
queleunque par la conduire en bon effect. Actenstücke B. I. p. 163
2 Lang, geschicktl. Einleitung, S. 283.
3 ha seydo martir en todo lo que a pasado otra. Bergenroth p. 351.
4 e di Pedante di Carlo V era come si diceva smontato alla porpora.
1
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI. 181
menschlichen Geiste nicht völlig abhanden kam. Das Leben
der früheren Päpste bewirkte, dass die höchste Zierde auf
Erden durch Dich selbst Schmuck erlangte*. 1 — ,Das ist der Tag
des Herrn, rief ein Anderer mit Freudenthränen aus. 2 Wir
haben einen Papst, der ohne Bewerbung und in seiner Ab
wesenheit gewählt wurde. Es kann keinen besseren, keinen
unsträflicheren, keinen heiligeren Papst geben, ja selbst nicht
gewünscht werden. 3
Jetzt freilich wollte Jeder ihn zum Papste erhoben haben,
wie Don Juan Manuel auch der Cardinal von Santa Croce,
Bernardino Carvajal, dessen Einwirkung auf Adrian Karl V.
schon am 9. März 1522 entgegen trat.
Gewiss konnte der deutschen Kation keine grössere Ehre
zu Theil werden, als dass der Papst, welcher nur seiner Tu
gend wegen gewählt worden war, und in der schlimmsten Zeit
der Kirche, bei dem Einsturze des ganzen seit Jahrhunderten
aufgeführten Gebäudes zur Rettung desselben gewählt worden
war, ihr angehörte. Einem tobenden Meere zu vergleichen
erhob sich gerade damals die deutsche Nation; welch eigen-
thümliche Fügung, dass um den aus Deutschland heranziehen
den Sturm zu beschwichtigen, ein deutscher Papst aus Spanien
herbeigeholt werden musste.
Es war nicht zum ersten Male, dass ein von Rom Ab
wesender Papst wurde. Von Urban IV. bis Urban V. zählte
die Geschichte mehrere Beispiele ähnlicher Wahlen, namentlich
französischer Päpste. Der Cardinalbischof von Tortosa, Regent
von Spanien, war aber den Römern gänzlich unbekannt, 4 da
er weder selbst nach Italien gekommen war, noch einen Palast
in Rom besass. 5 Der Cardinal Franziotto Orsini hatte ihn nicht
1 Ap. Burmanil. p. 457.
7 Willielmo Henkenvoirt. Ang. Maii Spicil. Rom. II. 235—38.
3 Pontificem habemus patrem omnis probitatis, fontem omnium doctrinarum,
studiorum decus, studiosorum patronum etc.
The election of the Pojie, schrieb am 6. März der Cardinal von Sion
an Cardinal Wolsey, was the worlk of the holy spirit, whose dictates all
are bound to obey.
In ähnlicher Weise äusserten sich Georg Cortes und Petrus Delphinus.
Rayn. ann. eccles. 1522. 1. 2.
4 This man here is nother known nor spoken of. Clerk an Wolsey.
5 Siehe den Brief Launoy’s bei Burmann p. 53 n. 5.
182
Höfler.
gewählt; die Partei der Orsini war somit von selbst nicht für
ihn. Die Römer erwarteten Julius von Medici oder Farnese,
die ihnen wohl bekannt waren. Adrian aber war, wenn sie
ihn als Spanier oder als Deutschen auffassten, gleich unange
nehm. Es verbreitete sich das Gerücht, nur um Zeit zu ge
winnen, sei sein Name im Conelave aufgeworfen worden.'
Sahen die Einen in seiner gänzlich unverhofften Wahl ein
Werk des h. Geistes, welcher die Widerstrebenden zu einer
Wahl gezwungen, die ihnen selbst als ein Räthsel erschien; so
erblickten Andere darin ein Werk des Zufalles oder der Be
mühungen des Dominikaner - Generales Thomas von Gaeta,
welcher sich zum Lobredner des Abwesenden gemacht hatte
imd mit ihm durchgedrungen war. Im einen wie im andern
Falle war er den Römern verhasst. Man befürchtete eine neue
avignonische Periode. Rom sei zu vermiethen, hiess es, weil
man glaubte, Adrian würde Spanien gar nicht verlassen.
Man hatte sich italienischer Seits so lange daran gewöhnt,
die Vertreibung der Barbaren aus Italien als Nationalsache an
zusehen, die Päpste hatten sie zur Aufgabe des Kirchenstaates
gemacht. Jetzt erhielt die Kirche einen Barbaren 2 zum Papste,
der' Kirchenstaat einen Fremden zum Oberhaupte, während
andererseits der Cardinal von Sion meinte, die Wahl sei vom
h. Geiste dietirt. 3 Alles schien ja aus den Fugen zu gehen,
als die Cardinäle von einem System abgingen, welches seit der
Rückkehr von Avignon beharrlich eingeschlagen worden war
und die oberste Leitung der Kirche einem Manne übergeben
wurde, dessen Frömmigkeit,* Gelehrsamkeit, Erfahrung und per
sönliche Unbescholtenheit notorisch waren, dem aber in den
Augen der Italiener das erste und vorzüglichste Erforderniss
zur Leitung der Christenheit fehlte, er war kein Römer, kein
Italiener, sprach nicht einmal Italienisch und genau betrachtet
war er selbst — ein Deutscher. — Dieses aber unter so eigen-
thümlichen Verhältnissen, bei so grosser Ueberschuldung der
kirchlichen Regierung, dass man urtheilte, das Pontificat Leos
gehe nicht mit seinem Tode zu Ende, sondern werde sich —
1 Wie Guicciardini angibt.
2 Guicciardini libre XIV. p. 1112.
3 Brew. n. 20S2.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's Vf.
183
nach seiner unheilvollen Seite noch viele Jahre fortsetzen. 1
So lange hatten die Cardinäle es keinem von ihnen gegönnt,
so lange jeder für sich das Papstthum in Anspruch genommen
und nur nach seinen Interessen gewählt, die definitive Wahl
hinausgezogen, bis sie endlich den wählten, welcher der Mehr
zahl von ihnen gleich unbekannt war. Dann in der Paraly-
sirung ihrer gegenseitigen Interessen fanden sie den Ein
heitspunkt für Alle. Da war dann der Deutsche, der Barbar
recht, die Erbschaft Leo’s X. anzutreten 2 und die Regierung
der Kirche aus den unheilvollsten Händen zu übernehmen, wie
es einst Clemens II. gethan, wie es Leo IX. gethan, als Xiemand
mehr Papst werden wollte. Sie selbst aber hatten jetzt Haus
arrest. Sie durften sich vor dem Pöbel Roms nicht auf der
Strasse zeigen. Es sei eine Schmach, berichtet Pace an Wolsev
28. Januar, welche Schandverse auf sie verbreitet seien. 3
§• 2.
You der Wahl Adrians VI. bis zur Krönung.
9. Januar — 31. August 1522.
Nachdem die Wahl stattgefunden hatte, dem römischen
Volke und der gesammten Christenheit das fröhliche Ereigniss
ausgerufen worden war, benachrichtigte das Cardinalseollegium
den Gewählten, er sei am 39. Tage nach dem Tode P. Leo s X.
im eilften Scrutinium, Morgens um die 8- Stunde von allen
Cardinälen, Einen ausgenommen, der sich wegen Krankheit
ferne gehalten, gewählt worden. 1 Sie drückten ihm ihre Freude
über das Ereigniss aus, benachrichtigten ihn, dass der Gewohn
heit gemäss drei Legaten sich zu ihm verfügen würden, seine
Erklärung entgegenzunehmen, und baten ihn, sobald wie mög
lich sich Italien zu nähern, damit ihm die Gesandten entgegen-
1 Guiceiardiiii libro XIV. p. 1108.
2 Nach K. Franz I. betragen seine Schulden 1,200,000 Kronen, whieh the
rieit pope will have to pay. Fitzwilliam an Wolsey.
3 Brewer n. 1995.
1 Gaehard n. II. Am 10. Jan. kannte man bereite in Ferrara die am 9.
vollzogene Wahl. "Documenti d'ist. iial. 1. p. 150..
184
Hofier.
gehen könnten. Unterdessen werde das Collegium die Regierung
Roms und des Kirchenstaates übernehmen, der Papst aber
möge die Legaten erwarten und ehe er nicht das Wahlinstru
ment von ihnen feierlich empfing und die Wahl annahm, sich
jeder Regierungshandlung entschlagen. Wiederholt ward
ihm zu Gemüthe geführt, wie sehr die Ruhe Italiens seine
schleunige Ankunft wünschenswert mache. An demselben
Tage, 9. Januar 1522, schrieb Don Manuel, Gesandter K. Karls V.,
an seinen Herrn, ihm von der Wahl Adrians Kenntniss zu
geben; 1 am 11. Januar aber an diesen selbst. 2 Yon den 38 Stim
men hätten ihm nur wenige gefehlt. Der Wille des Kaisers
habe sich mit dem göttlichen bei seiner Wahl vereinigt. Er
möge seine Reise entweder über Flandern und Deutschland
nehmen, wobei er die deutsche Nation gewinnen könne, was
von so grosser Wichtigkeit wäre, oder sich in Barcelona ein
schiffen. Er rieth ihm bei den exorbitanten Bitten, welche an
ihn gerichtet würden, keine Gnaden- oder Gerechtigkeitsache,
ehe er nicht das Pontificat übernommen, zu entscheiden. 3 Den
Cardinal von Medici möge er für Rom, da er am meisten An
sehen habe und für ihn und den Kaiser sei, für die Lombardei,
die Romagna und die Mark Sion, de la Valla und Campeggio
als Legaten ernennen; als Protonotar Enkefort, als Tresoriere,
ein Amt, das 100 Dukaten jährlich trage, den Bischof von Al
gier. In Betreff der Bitten von Seite des Collegiums, der
Investituren und Confirmationen, Capitanien und Lieutenants
stellen möge sich der Papst sehr in Acht nehmen, da viel Be
trug damit verbunden sei. Das Schreiben des Cardinaiscollegiums
genüge, um ihn in Stand zu setzen, die wichtigsten Dinge vor
zunehmen. Auch möge er sich einen Fischerring machen lassen
und den Namen Adrian VI. annehmen, da der erste dieses
Namens einen Türkenkrieg geführt, wie es wohl er auch
mit Hülfe Gottes und des Kaisers tliun werde, und die Adriane
1 Gachard II. III.
2 Es ist höchst bezeichnend für die Auffassung der Wahl: y como quiera
que Vuestra Santidad sea mayor papa que los passados, porque junto con
el pontificado tiene el imperio y los otros reynos del rey, scrä muy loada
la humildad que en la verdad no es agena de Vuestra Santidad. 1. c. p. 8.
3 1. c. n. IV. u. V. *
Wahl und Thronbesteigung Adrian’« VI.
185
ausgezeichnete Persönlichkeiten waren. 1 Der Rath des Ge
sandten, von dem Neugewählten strenge befolgt, war nicht in
allen Stücken ein guter. Nicht mit den Türken kämpfte Adrian,
Jawohl aber geschah unter dem zweiten der Sturz der Longobarden-
herrschaft und Karls d. G. Schenkung an den römischen Stuhl.
Mag man anerkennen, dass sie alle bedeutende Männer waren,
welche den Namen Adrian trugen, und mehr wie einer kein
Römer, so regierten sie sämmtlich, mit Ausnahme des ersten,
sehr kurze Zeit, so dass auf den zweiten, dritten, vierten, fünften
nur die Durchschnittssummc von etwas über 2 Jahre fiel! —
und war der letzte von diesen durch Dante mit einem Beinamen
belegt, welcher jeden Nachfolger absclirecken musste, seinen
Namen sich beizulegen. Wer wollte auch nach dem verschwen
derischen und freigebigen Leo X. sich mit einem Namen be
zeichnen, mit welchem der Makel des Geizes bei den Italienern
verbunden war! Doch hatte Don Manuel wohl so wenig als
der Neugewählte eine Ahnung, wie der grösste Dichter Italiens
den letzten Adrian bezeichnet hatte. Er missfiel auch von An
fang, als er am 10. April publicirt wurde. Die grösste und
dauerndste Verlegenheit wurde aber dem Papste durch die Car-
dinäle in Rom und ihren gegenseitigen Hass bereitet. Schon einen
Monat nach der Wahl befürchteten ruhige Beobachter, es werde
durch sie Alles in Trümmer gehen, wenn der Papst nicht bald
einen Legaten schicke. Sie sollten sich entscheiden, ob der
von Leo begonnene Krieg fortgesetzt werden solle oder nicht.
1 Adrian I., Römer, regierte von 772—795. Adrian II. 867—872, Adrian III. 1
erwählt 884, regierte nur 14 Monate. Adrian IV. war Engländer und
lu-önte K. Friedrich Barbarossa (1154—1159). Adrian V., Genuese, re
gierte nur 40 Tage und starb in Viterbo mit den besten Absichten, den
Kirchenstaat aus den Händen der Tyrannen zu befreien, 1276. Ihn er
blickte Dante unter den Biisseuden des Purgatoriums:
Fino a quel punto misera e partita
Da Dio anima fui, del tutto avara
Or come vedi qui ne son punita —
E nulla pena il morto ha piu amara.
Come avarizia spense a ciascuu bene
Lo nostro amor onde operar perdesi,
Cosi giustizia qui stretti ne tiene
Ne’ piedi e nelle man legati e presi.
186
Hofier.
Parma und Piacenza, welche der Kirchenstaat wieder gewonnen,
mussten unterstützt werden; allein Leo X. hatte dafür gesorgt,
dass kein Geld in der Casse war. Der Herzog von Urbino
hatte sein Herzogthum wieder gewonnen; in Perugia und Came-
rino bemühten sich die Vertriebenen, zurückzukehren. Siena,
selbst Florenz waren bedroht. Die Mehrzahl der in Rom zu
rückgebliebenen Cardinäle war französisch gesinnt und man
meinte selbst, von ihnen gingen die Rathschläge aus, nach
denen der Herzog von Urbino handelte. 1 Wie Don Manuel
sich ausdrückte, hatten die Cardinäle bei der Wahl das h. Evan
gelium bei sich, aber seit sie herausgetreten, hatten sie den
Teufel in sich. Jeder dachte nur an sich und seine Neigung*.
Sie bemächtigten sich des Nachlasses P. Leo’s an Juwelen und
Silberzeug im Werthe von 300,000 Dukaten und theilten es
unter sich. Nicht blos die französische Partei, sondern auch
Unterthanen des Kaisers wünschten eine neue Wald und
ein Schisma, 2 während Andere den Plan in den Vordergrund
stellten, Papst und Kaiser sollten mit König Heinrich in Eng
land zusammen kommen, dann der Kaiser den Papst nach Rom
führen, dort die Krönung erlangen, Italien in seinem Interesse
einrichten und über Neapel nach Spanien zurückkehren. 3
So sehr man wegen der allgemeinen Lage der Dinge und
der Roms insbesondere wünschen musste, dass die Ankunft des
Papstes sich beschleunige, so schienen jetzt erst sich die grössten
Hindernisse einzustellen. Es verbreitete sich, da heftige Stürme
und Piraten (the moors) die Verbindung Italiens mit Spanien
unterbrochen, die Nachricht vom Tode des Papstes, die auch
Glauben fand. Die Abreise der Legaten verzögerte sich thcils
hiedurch, theils durch die Schwierigkeit, Schiffe aufzutreiben.
Ein einziges Schiff zu miethen kostete 1500 Dukaten. Den
Legaten war es ein entsetzlicher Gedanke, wenn sich die Nach
richt vom Tode des Papstes bestätigte, ein neues Conclave
einträte, in diesem sich nicht zu befinden, da doch jeder über
zeugt war, er müsse Papst werden. Endlich beschlossen die
1 Face und Clerk an Wolsey. Brew. n. 2044. 11. Febr. 1522.
2 Don Juan Manuel in n. 2045.
3 An all things be concluded comine il faut. Pace an Wolsey n. 1996.
29. Jan. 1522.
Wahl und Thronbebteigung Adrian 1 » VI.
187
übrigen Cardinäle, gedrängt von den Römern, die Legaten
müssten abreisen. 1 Bereits besprach der englische Gesandte
in Rom die Möglichkeit einer Neuwahl und ertheilte Wolsey
seinen Rath, wie er es am besten anfangen solle, zu seinem
Wunsche zu kommen. Ei- möge daher bewirken, dass der
Papst über England gehe. Es sei ja nicht undenkbar, dass
er doch sterbe und Wolsey dann mit den dort befindlichen
Cardinälen seinen Zweck erreiche. Noch Ende Februar be
sprach man in Rom fortwährend eine Neuwahl imd dass sie
nicht da gehalten werden dürfe, wo Adrian, den man für todt
hielt, gestorben sei. Von fünf Boten, welche man an den Papst
schickte, waren drei in Frankreich zurückgehalten worden.
Der vierte wurde durch widrige Winde nach Civitä Vecchia
zurückgetrieben, blieb dort 1(J Tage, musste dann wegen der'
Mauren 2 wieder zurück nach Italien, kam endlich nach Nizza,
aber wegen der Franzosen nicht weiter. Von dem fünften
wusste man nichts. 3
Der Kaiser erhielt die Nachricht von der neuen Papst
wahl zu Brüssel am 18. Januar. Bannisius hatte in Trient in
Erfahrung-" gebracht, dass ein Courier sie dem Herzoge von
Mailand überbracht habe, welcher sie sodann weiter beförderte.
Als Spinelli, welcher deshalb an Wolsey schrieb, zu dem Kaiser
kam, sich über die Wahrheit dieser Nachricht zu erkundigen,
sagte ihm letzterer, der neue Papst sei hochbetagt, von schwacher
Complexion und kränklich. Sollte er nicht lange leben, so
würde der kaiserliche Botschafter in Rom Aufträge erhalten,
aus denen Wolsey die Aufrichtigkeit seiner Absichten erkennen
würde. 1 Aber die Freude K. Karls war doch gross. Als er am
21. Januar das Schreiben Don Manuels aus Rom vom 10. Ja
nuar über die Papstwahl erhalten, wurde am 23. in Brüssel
ein feierliches Hochamt in der Kathedrale abgehalten, Freuden
feuer angezündet, festliche Aufzüge fanden statt. Don Lopez
Furtado (Hurtado) ward im Namen des Kaisers an den Papst ge-
1 as soon as tliey liave vvord that the Pope is dead or alive and which way
lie will come. Brew. n. 2017.
2 in danger of the Moors.
3 Pace an Wolsey. 22. Febr. (Brew. n. 2064.)
4 Brew. n. 1969. 1970.
188
H ö f 1 e r.
schickt, ihm schriftlich und mündlich den Glückwunsch dar
zubringen; 1 ein eigenes Schreiben K. Karls an die Cardinäle
vom 26. Januar beglückwünschte sie in Betreff ihrer Wahl
und sprach zugleich .den Wunsch aus, dass der Gewählte so
bald als möglich nach Rom gehen möge. 2 Bei dem drohenden
Einbruch der Franzosen in Italien und Spanien konnte für
K. Karl kaum ein glücklicheres Ereigniss eintreten. Hoffte
Franz einen neuen Aufstand in Castilien hervorzurufen, so
sank diese Hoffnung auf Nichts herab, als Spanien die Ehre
widerfuhr, dass sein Gouverneur Papst wurde. Franz fühlte
auch sehr wohl die grosse Tragweite des Ereignisses vom
9. Januar. Er sah in Adrian nur die Creatur Karls, 3 da
durch ihn sich in den Besitz von ganz Italien, auch des Kirchen
staates, setzen werde. Wohl nicht ohne Grund verbreiteten
fortwährend Kaufleute aus Lyon die falsche Nachricht vom
Tode des Papstes. Sie drang auch nach Rom und diente nicht
wenig dazu, die Verwirrung der Dinge zu mehren. Die böse
Gesinnung des Königs theilte sich auch, seinen Untergebenen
mit, so dass der französische Admiral Jean Bernardine den
Secretair des Cardinais von Medici Felix Trophinus, apostoli
schen Collector, gefangen nahm, als er zum Papste reiste, die
sem im Namen seines Herrn Glück zu wünschen.
Beinahe mit denselben Worten, deren sich einst Kaiser
Friedrich II. nach dem Frieden von San Germano zu P. Gre
gor IX. bedient, äusserte sich jetzt Karl V. über die Einheit
des Papstthums und des Kaiserthums; beide sollten nur Eine
Sache sein, Ein Gennith bei beiden. 1 ,Nach dem Urtheile Aller,
schrieb Mercurinus Gattinari, kaiserlicher Kanzler, an seinen
Landsmann, den königlichen Rath Petrus Martyr, hat der all-
1 de persona tan intima a lios, heisst es in der Instruction, de nuestra
propria nacion que dende nuestra nifiez nos a criado e instituydo y
tenga tan grande y verdadero amor a nuestra persona. Bei Gachard
n. VIII. 25. Jan. Vergl. Brew. n. 2004. Lopez war Adrian von der Zeit
des Aufstandes der Cominunen sein- wohl bekannt uud Adrian hatte ihn
hiebei als einen treuen und verlässigen Diener seines Herrn kennen ge
lernt. Vgl. Bergenroth, Supplement S. 264.
2 Raynaldi, annales 1522 n. 6.
3 An La Batie und Poillot, Brew. n. 1994.
1 et doit estre une meine cliose et unanime des deux. Lanz I. p. 59.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's VI.
189
mächtige Gott den Kaiser mit seinen Gnaden überschüttet, in
dem er denjenigen zum Hirten seiner Heerde machte, der wie
kein Anderer dem Kaiser durch Treue, Eifer und Rechtschaffen
heit näher steht. Wer kann zu sagen wagen, dass jetzt nicht
Alles nach dem Wunsche des Kaisers gehen werde, dass nicht
er (Adrian) es sei, durch welchen die Zierde des christlichen
Erdkreises bis zum Himmel erhoben, alle barbarische Treu
losigkeit und Gottlosigkeit entfernt, der ganze Erdkreis endlich
der heiligsten Lehre des Kreuzes folgen werde'. 1 Mehr als
alles Andere genügt dieses, um die Stimmung zu bezeichnen,
welche in den höchsten Schichten vorherrschte. Man erwartete
einen Kaiserpapst, ein vollständiges Eingehen in die kaiser
lichen Entwürfe, eine Identificirung der Zwecke der Kirche
mit denen des Kaiserthums. Die mittelalterliche Ordnung der
Dinge schien niemals fester begründet, als in dem Augenblicke,
in welchem sie auf das Tiefste erschüttert war.
Mit Sehnsucht sahen der Nachricht von der Wahl eines
Papstes vor Allen K. Ludwig von Ungarn und die Regenten
Schottlands in der Minderjährigkeit James V. entgegen. Letz
terer hatte, im Alter von einem Jahre seinen Vater James IV.,
Gemahl der Margareta von England, Schwester Heinrichs VIII.,
verloren. Einstimmig hatten die Stände den Herzog Johann
von Albany zum Vormunde gewählt und sich die Wahl durch
P. Leo X. bestätigen lassen, der denn auch bei dieser Gelegen
heit die Privilegien des Königreichs bestätigte. Als nun aber
der Herzog von Frankreich nach Schottland zurückgekehrt
war und Boten an den Papst sandte, wurden diese von den
Engländern an der Weiterreise verhindert; ein englischer He
rold hatte die Kriegserklärung gebracht und Schottland gewär-
tigte nicht blos eine feindliche Invasion, sondern England hatte
auch den alten Alliirten Schottlands, den Kaiser, auf seine Seite
gebracht. Die schottischen Stände flehten daher den Papst an,
den zehnjährigen König unter seinen Schutz zu nehmen, König
Heinrich von dem Angriffe abzuhalten und nicht zu dulden,
dass die geistlichen Würden nach dem Belieben von Partei
männern ausserhalb Schottlands besetzt würden. 2 6. Februar
1 Petri Martyris A. M. Epistolorum lib. XXXV. p. 439.
2 Brewer n. 2025. Vergl. auch Letters II. s. n. 707.
190
Hofier.
1522. Hoffte König Ludwig- von Ungarn die Rettung seines
Reiches vor dem Einbrüche der Osmanen, die am 29. August
Belgrad erobert 1 und sogleich in einen Angriffspunkt gegen das
magyarische Königreich umgewandelt hatten, von dem Papste,
als die Zerrüttung des eigenen Reiches dessen Untergang be
sorgen liess, so konnte sich Adrian gleich anfänglich über
zeugen, wie der Norden und der Süden, der Osten und der
Westen auf ihn als den Retter hinblickten, Alle Alles von ihm
begehrten, am meisten dasjenige, das er nicht leisten konnte
und die Begehrenden nicht leisten wollten.
Die Instruction an die drei Legaten, 2 deren Haupt Colonna
war und die den Papst von der einstimmig erfolgten Wahl be
nachrichtigen und seine schleunige Abreise betreiben sollten,
war mit grosser Umsicht verfasst. Es sollte namentlich ver
hindert werden, dass der Papst vor seiner Ankunft in Rom
Regierungsmassregeln ergreife, Cardinäle ernenne, die Anord
nungen Leo’s bekräftige; 3 nur die den Cardinälen, welche
ihn gewählt, auf Lebenszeit verliehenen Schlösser und Lände
reien möge er bekräftigen, sowie die Anordnungen des Cardi-
nalscollegiums.' 1 Zwei der Abgesandten sollten bei dem Papste
bleiben und ihn nach Rom geleiten, einer mit den betreffenden
Urkunden rasch zurückkehren. Sie selbst aber sollten sich mit
keiner Privatbitte an den Papst wenden, ehe nicht die allge
meinen Geschäfte in Ordnung gebracht wären. Sie sollten end
lich den Papst bewegen, auch eine Summe Geldes nach Rom
zu senden zur Vertheidigung des Kirchenstaates, ferne)- den
Schweizern wie früher die Garde zu überlassen und bei dem
päpstlichen Nuntius in Spanien eine von den Kircheneinkünften
herrührende grössere Summe Geldes zu erheben. Die Eides
formel, welche die Ausrottung der Ketzereien in Deutschland
in sich schloss, sowie dass der Papst ohne Zustimmung
der Cardinäle nicht seinen Sitz von Rom verlegen wolle, was
man sehr besorgt zu haben scheint, lag vor.
1 Horvath I. S. 459. Mailatli giebt nicht einmal den Tag an.
2 Vom 19. Jan. 1522. Gach. n. VI. Colonna, Cesarini, Orsini.
3 confirmationem gestorum per Leonein X.
4 gesta per sacrum collegium approbare.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
191
Am 20. Januar schrieb der kaiserliche Gesandte 1 an seinen
Herrn, er möge jemanden nach Spanien zu dem Papste schicken,
damit er sich nicht in der Wahl der Personen zu Aemtern
täusche und dieselben ja im Interesse des kaiserlichen Dienstes
ausgewählt würden. Don Juan Manuel bot sich an, deshalb
selbst zum Papste zu gehen. Der neue Papst solle einen Nun
tius nach England und einen nach der Schweiz schicken, welche
sich über das Vorgehen der Franzosen beklagen und um Hülfe
bitten sollten. Der Kaiser möge diese Nuntien bezeichnen.
Das Geld, dessen der Papst bedürfe, möge der König von Por
tugal geben, er aber den Seeweg einschlagen, wozu die Schiffe
bereit seien. Es wäre zu wünschen, dass diese gute spanische
Capitäne, Unterthanon K. Karls erhielten und sich mit den
spanischen Galeeren zum Schutze der römischen, neapolitani
schen und sicilischen Küste verbänden. Kein spanischer Prälat
solle den Papst nach Italien begleiten (um dort nicht ohne den
Kaiser ein Bisthum zu erlangen). Was mit P. Leo in Unter
handlung begriffen, möge der Kaiser mit dem Papste abmachen,
so lange er in Spanien sei. Die Nachricht von der Wahl
Adrians sei übrigens den Franzosen sehr ungelegen. Sie wür
den sicher Gesandte zu dem Papste nach Spanien schicken;
der Kaiser möge sie aber nicht in das Land lassen.
Vor den Legaten des Cardinaiscollegiums, die mit statt
lichem Gefolge ihre Reise antraten, hatten sich die Boten an
die Fürsten, sowie die der Privatpersonen auf den Weg ge
macht. Von diesen war ein Bote des Bischofs von Gerunna 2
nach Logrono gekommen, hatte dort heimlich die Nachricht
mitgetheilt, worauf Blasio Ortiz, Provisor des Bischofs von Ca-
lahorra, selbst nach Vitoria eilte, der erste zu sein, welcher
dem Neugewählten die Nachricht überbringe. Mit der grössten
Lebensgefahr bahnte er sich einen Weg über die dichtbeschnei
ten unwegsamen Berge und überbrachte am 25. Januar Adrian
die Botschaft. Er empfing sie mit der ihm eigenthümlichen
Ruhe, ohne eine innere Bewegung zu verrathen. Sie blieb sich
gleich, auch als die Bestätigung lange ausblieb und seine Um
gebung sich in Angst und Sorge verzehrte. Aber erst am
1 Gacliard n. VII.
2 Gerundensis episcopi. Blasii Ortizii itinerarium Hadriani Vl. p. 157.
192
Hiifler.
9. Februar erlangte der Papst die sichere Nachricht, als Don
Antonio de Stiulillo, Kämmerer des Cardinais Carvajal endlich
die wegen des ungewöhnlichen Schneefalles so hoch gestiegenen
Beschwerden des Weges besiegte und das Walildecret über
brachte. Er las es und hiess, ohne Weiteres zu reden, die Er
müdeten sich zur Kühe begeben, und kaum verrietli ein leises
Nicken des Kopfes, dass er mit dem Inhalt der Briefschaft
zufrieden sei. Man glaubte eher, er werde es ablehnen, da er
das Pontificat mit so geringer Heiterkeit annahm.
Kaum war die Nachricht bekannt geworden, so strömte
auch schon von allen Seiten die Masse nach Vitoria, theils den
Segen des neuen Papstes zu erlangen, theils irgend einer Gnade
theilhaftig zu werden. Adrian aber nahm nun seinen Aufenthalt
im Kloster des h. Franciscus, oblag wie vorher den Staats
geschäften, hielt sich aber von der herbeiströmenden Masse
zurück und verschob selbst, dem Abgesandten eine entschiedene
Antwort zu geben. Es kann sein, dass er fortwährend die Ab
gesandten des h. Collegiums erwartete, aber die Legaten blieben
fortwährend aus. Erst am 16. Februar berief er, nachdem er
Messe gelesen, seinen Leibarzt, den Doctor de Agreda, den
Blasio Ortiz, welchen er zu seinem Kaplan erhoben, und den
Secretair der Generalinquisition von Aragonien, Don Juan
Garcia, zu sich, befahl Niemanden in das Gemach zu lassen
und eröffnete nun diesen, nachdem er so lange Zeit mit sich
die wichtige Angelegenheit berathen, seine Willensmeinung.
Obwohl er wisse, dass in diesem Leben und zu dieser Zeit
den Menschen nichts leichter und angenehmer erscheine, als
die Würden eines Bischofs und Papstes, so gebe es doch für
denjenigen, welcher an die Rechenschaft denke, die darüber
abzulegen sei, sobald man nicht in der Weise kämpfe, wie
unser Heerführer Christus getlian, kaum eine grössere Gefahr.
Weise er die ihm nun durch Don Antonio als sicher mitge-
theilte Wahl zurück, so besorge er, dass der allgemeinen Kirche
noch grössere Verlegenheiten entständen. Er sei durch den
unerforschlichen Rathschluss Gottes zu der neuen Würde be
rufen; er habe beschlossen, sie in der Hoffnung auf den gött
lichen Beistand anzunehmen und hoffe mit diesem ein taug
licher Diener der göttlichen Gnade zu werden. De Agreda
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
193
solle das Notariatsinstrument aufnehmen, die übrigen als Zeugen
im grössten Geheimnisse es unterschreiben. 1
Doch hatte Adrian schon am 2. Februar 2 dem Könige
von England und dem Cardinal Wolsey geschrieben.
Er erwähnte, dass Briefe aus Rom und das allgemein ver
breitete Gerücht von seiner Wahl sprächen, die er weder be
gehrt, noch gewünscht habe. Seine Kräfte reichten nicht aus
und er hätte die Würde abgelehnt, fürchtete er nicht, Gott und
die Kirche zu beleidigen. Er habe das Schreiben des Cardi-
nalscollegiums noch nicht erhalten, da das Wetter die Abge
sandten in Genua zurückhalte. Er schreibe an den König,
bewogen von dessen Eifer für Erhaltung des Friedens in der
Christenheit, und bitte ihn, sich dazu mit dom gewählten Kaiser
(Karl V.) zu vereinigen. Ausführlich werde er dem Bischof
von Badajoz schreiben. 3
Wenn igend etwas die wahre Gesinnung des Neugewähl
ten offenbarte, so waren es diese Schreiben. Er bezeichnete
Wolsey als eine der Säulen der Kirche und erklärte, wenn die
beiden Fürsten mit einander enge verbunden wären, könnte kein
Störer des öffentlichen Friedens der verdienten Strafe entgehen.
Was er übrigens zur Erhöhung des Hauses von England' thun
könne, würde seiner Seits gewiss geschehen.
Die Briefe an die übrigen Fürsten sind bisher nicht auf
gefunden und so kommt es, dass auch erst vom 11. Februar 5
ein Schreiben Adrians an den Kaiser (aus Vitoria) vor uns
liegt, 6 welches den Entschluss, die Wahl anzunehmen, ziemlich
klar zu Tage treten liess. Die Cardinaisgesandtschaft war zu
Genua durch Stürme aufgehalten worden. Adrian hatte aber aus
Rom, Genua und Lyon, sowie aus anderen Orten Nachrichten
über seine Wahl erhalten; er erklärte, dass er sich in Anbe-
1 Itinerar.
2 Aus Vitoria. Gacli. p. 254—56.
3 Brew. n. 2018. Adrian Unterzeichnete sich A. Card. Dertusensis. Gleich
zeitig erfolgte ein Schreiben an Wolsey. Vergl. Gachard p. 254. 256.
4 Domus Anglicanae.
s Gacli. u. IX.
c Das Schreiben an das Capitel von Toledo vom 10. Februar enthält
nichts von seiner Wald, sondern nur seine Freude, dass sich Toledo unter
warf. Gach. p. 258.
Sitzt, d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 13
194
Höfl er.
traclit seiner schwachen Kräfte darüber nicht freue. Er wünsche
und bedürfe Ruhe und nicht eine so unerträgliche Last. Er
habe bisher die Wahl nicht angenommen und gedenke es erst
(öffentlich) zu thun, wenn die nöthigen Instrumente des Cardi-
naläöollegiums in seinen Händen seien, könne aber denn doch
das Amt eines Governador nicht mehr bekleiden. Er fürchtete,
die Angelegenheiten des Kaisers möchten, wenn er fortgehe,
eine nicht gute Wendung nehmen, dem Kaiser selbst seine
Wahl nicht lieb sein und besorgte Nachstellungen von Seiten
der Franzosen, wenn er nach Rom gehe. Das Uebrige bezog
sich auf einen Brief des Kaisers vom 11. December.
Der Papst hatte damals das Schreiben noch nicht in Hän
den, welches der Kaiser unmittelbar auf die Nachricht von der
Wahl Adrians (25. Januar) dem Lopez Hurtado de Mendoza nach
Vitoria mitgegeben und in welchem er Adrian seine ungemeine
Freude über das Ereigniss ausdrückte. Aus seinen Händen,
einer ihm so vertrauten Persönlichkeit, einem Landsmanne,
hoffe er die Kaiserkrone zu empfangen. Gemeinsam wollten
sie die Vermehrung des katholischen Glaubens, die Zurück
führung und Besserung der Irrthümer übernehmen. Er wolle
mit ihm das gleiche Schicksal tragen und bot dem Neugewähl
ten seine Person, sein Besitzthum, seine Staaten an. Er be
auftrage seine Gouverneure, ihm in Allem zu dienen und sich
ihm zur Verfügung zu stellen, wie sein Eigenthum, da er selbst
sein gehorsamster und wahrhaftester Schüler und Sohn sei.
Während man am kaiserlichen Hofe sich den grössten
und freudigsten Hoffnungen hingab, war der Mann, welchem
die höchste Würde der Christenheit zugekommen war, wie un
bewegt im Sturme des Lebens geblieben. ,Es wird wohl Nie
manden geben, schrieb er an seinen th euren Freund, den Herrn
Doctor Florentius Oem von Wyngarden, Syndicus von Utrecht,
der nicht sich wundern würde und erstaunt wäre, dass ein
armer, Allen beinahe unbekannter Mann, noch dazu so weit
entfernt, von den in dem Einen übereinstimmenden Cardinälen
zum Nachfolger Christi erwählt wurde. Allein Gott ist es leicht,
die Armen rasch zu erheben. Ich bin über diese Ehre nicht
von Freude erfüllt und fürchte mich, eine so grosse Last auf
mich zu nehmen. Ich möchte viel lieber statt der päpstlichen,
cardinalizischen und bischöflichen Würde in meiner Propstei
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s YT.
195
in Utrecht, Gott dienen; aber dem Rufe Gottes wage ich nicht
Widerstand zu leisten und hoffe, dass er ergänzen werde, was
mir fehlt und hinlänglich starke Kräfte gewähren wird, die Last
zu tragen. Ich bitte Euch, betet für mich und erwirkt mir durch
Eure frommen Gebete, dass er mich seine Gebote auszuführen
wohl unterrichte und mich würdig mache, dass ich dem Wohle
seiner Kirche zu dienen vermag'. 1
Man hat eine Aeusserung Adrians aufgezeichnet, die er
dem Ritter Salomon gegenüber gethan, welcher ihn auf der
Reise nach Rom bewirthet: ,der Fürst, welcher über den fürst
lichen Ruhm und das Heil der Unterthanen noch Anderes setze,
sei kein Fürst, sondern ein Tyrann. Er selbst habe gelernt,
mit geringer Speise und wenig Trank sich zu sättigen, den
Körper mit wohlfeilem Gewände zu bedecken, alles Andere,
wie viel cs auch sei, müsse für die gesammte christliche Heerde
verwendet werden'. 2
Konnte die Zeit, die aus den Fugen gegangen war, durch
den reinsten Willen eines Einzigen, durch persönliche Auf
opferung und ein am erhabensten Orte leuchtendes Beispiel,
durch Mittel, wie sie die frühere Zeit und ihre Rechtsan
schauungen an die Hand gaben, aufgerichtet werden; war sie
noch den Mahnungen des Pflichtgefühles zugänglich, so konnte
keine bessere Wahl getroffen werden, als die Adrians. Der
Reichthum und der Uebeiunuth der Cardinäle, der Fürsten und
Päpste hatte sie so tief sinken gemacht; jetzt musste jeden
falls die Probe bestanden werden, ob' Armuth, Rechtlichkeit
und Unsträflichkeit wieder einzurichten vermöchten, was Ueber-
muth und Frevel ausgerenkt hatten. Der Zeit durfte auch
dieses Gericht nicht erlassen werden.
Wenn irgend ein äusserer Umstand Adrian ermuthigen
musste, die Wahl anzunehmen, war es die Sendung Don Lopez
Mendoza’s. Am 12. Februar war Mendoza in Vitoria ange
kommen. 3 Er berichtete von den Festlichkeiten, die in Bel-
1 Vitoria 15. Febr. 1522. Burm. p. 398.
2 Burmann p. 409.
3 Gacliard n. X. Adrian sagt in einem späteren Briefe (vom 5. Mai), er
habe sich in Vitoria aufgehalten, weil er Herrn la Chaux (Mosur de Laxao)
erwartete, welcher aber erst in Saragossa ihn traf.
13*
196
HSfler.
g'ien auf die Nachricht von der Wahl Adrians stattgefunden,
vou den freundlichen Absichten des Kaisers, und bewirkte da
durch eine so ergebene Stimmung, dass Adrian erklärte, er
werde sich, wenn es nöthig wäre, für die Ehre und die Macht
vermehrung des Kaisers martern lassen. Der Gesandte be
richtet am 15. Februar, der Papst habe dieselbe Liebe und
Ergebenheit gezeigt, wie damals, als er Dechant von Löwen
war. Eine Gesandtschaft des Königs von Frankreich, den Erz
bischof von Paris an der Spitze, solle bereits in Bayonne an
gekommen sein. An demselben Tage (15. Februar) antwortete
Adrian auf das Schreiben des Kaisers vom 25. Januar. 1 Hatte
er sich im Briefe vom 11. Februar noch als Cardinal von Tor-
tosa unterzeichnet, 2 so erfolgte jetzt schon die Unterzeichnung
als erwählter römischer Papst. Er versichert dem Kaiser, dass
nur die Einstimmigkeit der Wahl ihn zur Annahme derselben
bewege, dass er die Angelegenheiten Karls und seines Bruders
mehr als seine eigenen im Auge gehabt habe; er werde sich bis
zur Ankunft der Legaten jeder päpstlichen Function enthalten
und denke nur daran, der Christenheit den Frieden zu geben
und die mahomedanische Secte auszurotten. Er sprach sich
für den Cardinal von Medici aus und schlug den Commenda-
dor mayor de Castilla als seinen Nachfolger in der Lugarte-
nencia der drei Orden von Santiago, Calatrava und Alcantara
vor, welche Würde er selbst bisher bekleidete. Er bat zugleich
den Kaiser, die Galeeren von Neapel nach Barcelona kommen
zu lassen und einigen Personen zu vergeben, die sich im letzten
Aufstande compromittirt hatten. Es handelte sich um Abwick
lung der spanischen Geschäfte, weshalb Adrian am 19. und
20. Februar 3 aufs Neue an den Kaiser schrieb und ihn ersuchte,
1 Gach. n. XI.
2 11. Febr. Vostre tres-lmmble serviteur. A. Cardinalis Dertusensis.
15. Febr. Sacrae Majestatis Tuae excepta dignitatis ratione servitor et. pater.
A. electus Pontifex ltomanus.
20 Febr. Iste qui est vester et suus. A. Electus Pontifex Romanus.
2G. Febr. Caesareae Majestatis Vestrae salva dignitatis ratione servitor ct
pater. A. electus Pontifex Romanus.
25. März. Sacrae Majestatis Tuae salva dignitatis ratione servitor dedi-
tissimus. A. Episeopus sanetae Romanae ecelesiae.
3 Gacli. n. XII. XIII.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
197
seine Würde eines Grpssinquiaitors von Spanien dem General
der Prediger-Mönche, dem Erzbischof von Santiago, dem Bischof
von Cordoba oder dem von Lugo zu übergeben. Wiederholt
dringt er darauf, Karl möge nach Spanien so rasch als möglich
kommen, sonst sei Alles verloren. 1 Toledo sei endlich gefallen,
namentlich durch den Erzbischof von Bari, welcher 20 Stunden
lang im Harnisch in den Strassen kämpfte. Das zweite Schrei
ben benachrichtigte den Kaiser von der Gefahr eines Einbruchs
der Franzosen in Spanien. Er selbst habe seit dem 9. Februar
seine Stelle als Gpbernador niedergelegt.
Aber noch immer kamen die drei Legaten nicht. Adrian
entschloss sich daher, an das Cardinaiscollegium und an andere
Personen in Rom zu schreiben, und die Briefe, weil sie durch
Frankreich nicht sicher gingen, auch in einem Duplicate durch
den Kaiser an den Nuntius in Brüssel zu senden. 2 Der Fe
bruar verging und als Anfang März die Legaten noch nicht
kamen — wie es scheint, um indirect den Papst zur Abreise
zu zwingen —, so liess er durch den Abgesandten, der das
Notariatsinstrument über seine Wahlannahme nach Rom brachte,
wissen, dass, wenn die Legaten bis zu des Letzteren Ankunft
nicht sich bereits von Genua auf den Weg nach Spanien ge
macht, sic es nicht mehr tlmn sollten. 3 Auch Karl V., welcher
zwar dem Don Manuel nicht gestattete, Rom zu verlassen, aber
nach Lopez de Mendoza den vertrautesten seiner Staatsmänner,
den Herrn von la Chaux, an den Papst sandte, endlich selbst
sich nach Spanien aufmachte, rieth ihm, seine Abreise möglichst
zu beschleunigen. Es handelte sich zu diesem Ende um Bil
dung dessen, was man die Famiglia des Papstes nannte, den
Hausstaat, um Einberufung der päpstlichen, so wie der spani
schen Galeeren, den Papst zur See nach dem Kirchenstaat zu
bringen, da K. Karl durchaus abrieth, den Landweg durch
Frankreich einzuschlagen.
1 Todo lo destos reynos serd perdido.
2 Gachard p. 42. 26. Febr.
3 Nach einem Schreiben Clerks an Wolsey vom 24. März war der päpst
liche Courier am 17. März in Rom angekommen. Adrian wünschte durch
eine Flotte abgeholt zu werden, die ihn vor den Türken schütze. Brew.
198
Hofier.
Das Benehmen des Cardinaiscollegiums gegen den Papst
ward immer sonderbarer. Nach den Berichten der englischen
Agenten in Rom vom 80. April hatten die Cardinäle einen
Courier an Adrian gesendet, seine Ankunft zu beschleunigen,
jedoch die von ihm verlangten Victualien nicht abgeschickt,
und erst Ende April entschlossen sie sich, als noch immer die
Antwort des Papstes ausblieb, endlich die Victualien abgehen
zu lassen, um seine Ankunft zu beschleunigen. 1 Es gab in
Rom Personen genug, die sie nicht wünschten. 2
Man darf nicht ausser Acht lassen, dass, was früher Adrian
in den Niederlanden gewesen, seine Bedeutung als Schulmann,
und welchen Antheil er im Streite Reuchlins mit Cöln genom
men, in Rom längst in den Hintergrund getreten war. Er war
spanischer Bischof von Tortosa; er war Gouverneur von Spa
nien, er befand sich in Spanien und die Spanier betrachteten
ihn als den Ihrigen. Seine Correspondenz mit K. Karl geschah
in spanischer Sprache. Was hätte man gesagt, wenn Wolsey,
Englands grösster Staatsmann, damals Papst geworden wäre?
Jedermann hätte ein Ueberwiegen des englischen Interesses
besorgt. Eine englische Flotte hätte wohl den Neugewählten
nach dem Mittelmeere begleitet und die englische Sprache wäre
in den Vorzimmern und Gängen des Vaticans die herrschende
geworden, wie das englische Interesse das der Kirche verdrängt
haben würde.
Jetzt schien mit einem Male, was die italienischen Päpste
gesammelt, nicht sowohl einem Deutschen, denn diese Eigen
schaft trat wenigstens jetzt bei Adrian in den Hintergrund,
sondern den Spaniern zu Gute zu kommen. Wenn nicht die
Italiener sich beeilten, den Papst nach Italien zu führen, por
tugiesische Schiffe zur rechten Zeit in den spanischen Häfen
ankamen, ihn zu geleiten, so erschien der Vater der Christen
heit in spanischer Begleitung in Italien; eine spanische Heeres
abtheilung besetzte Rom. Man darf überzeugt sein, dass man
sich in Spanien sehr wohl bewusst war, warum jetzt so sehr
an der Aufbringung der nöthigen Geldmittel und der Aus-
1 State Papers VI. p. ö'J.
2 A great part of (tlie Cardinale) eure not if he never came here. Brew.
n. -1133.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s YI.
199
rüstung einer bewaffneten Macht (1500 Soldaten) gearbeitet
wurde, um den Papst durch den gefährlichsten Thcil des mittel
ländischen Meeres, den Golf von Lyon, von der französischen
Küste nach Civita Yecchia und Ostia zu billigen. Die Schwie
rigkeit der Stellung des neuen Papstes zu den einander so
feindlichen Höfen machte sich allmälig bemerklich. Adrian
hatte, wie anderen Königen und Fürsten, so auch an K. Franz
von Frankreich, an die Königin Ludovica und die Schwester
des Königs geschrieben und ihnen seine Wahl mitgetheilt. Ob
der König im Herzen damit einverstanden war oder nicht, 1 die
natürliche Klugheit musste ihm rathen, den Nachfolger Papst
Leo’s X., seines Gegners, nicht von Anfang an auf die Seite
seiner Feinde zu treiben. Er beschloss, ihm durch eine feier
liche Gesandtschaft, an deren Spitze der Erzbischof von Paris
stehen sollte, Glück wünschen zu lassen, wie nachher Adrian
beschloss, den Erzbischof von Bari an K. Franz zu senden.
Allein der blosse Gedanke, dass Franzosen das spanische Ge
biet betreten würden, war für K. Karl unerträglich. Er schrieb
Adrian 2 , Alles aufzubieten, dass er mit diesen Personen nicht zu
sammen komme. Der fiath, Adrian möge seine Abreise be
schleunigen, stimmt hie mit zusammen. Kaum hatte Lopez Hur-
tado de Mendoza bemerkt, dass in der Umgebung Adrians der
Gedanke auftauche, der Papst solle eine neutrale Stellung ein
nehmen, so rieth er auch schon seinem Herrn, diese Personen,
und vor Allen seinen Mundschenken Franz, welcher im Zimmer
Adrians schlafe und ihn in Allem bediene, zu bestechen. 3
Der Papst befand sich, ohne eine Vermuthung zu hegen, unter
der geheimen Polizei der Spanier. Der Kaiser möge ferner dem
Papste oft schreiben, Sorge tragen, dass die spanischen 'Ga
leeren zuerst zur Ueberfahrt bereit seien.
1 Aus den vertrauten Aeusserungen der französisch Gesinnten zeigt sich
hinlänglich, wie unangenehm ihnen die Wahl war. So z, 13. Francesco
Vettori an den LHschof von Bayeux: — come fia possibile che tanti Car-
dinali fossero d’accordo a far questo Papa, in ehe io non so trovare ra-
gione. Lettere di principi I. p. 96. Vergl. damit die Antwort des Bi
schofs von Bayeux p. 101: — il tempo non basta per isminuire la no-
vita di tal caso, il quäle ogni di appresso di me si fa piii nuovo.
2 Brüssel 9. März 1522. Gach. n. XV.
3 Gach. p. 49. n. XVI.
200
Hofier.
Die Briefe der Gesandten, welche nicht für die Oeffent-
lichkeit bestimmt waren, werfen übrigens ein höchst eigen-
thümliches Licht auf die unter den vornehmen Spaniern herr
schenden Anschauungen. Don Manuel erklärte dem Papste
geradezu, er schreibe ihm als Christ, der von ihm nichts ver
lange und von seinem Vorgänger auch nichts verlangt habe, 1
und die trockenen Ausdrücke, welche er gebraucht, um die
Unfähigkeit und Böswilligkeit derjenigen zu bezeichnen, welchen
sich jetzt Adrian anvertraue, lassen in der Tliat an Freimuth
nichts, an Höflichkeit sehr viel zu wünschen übrig. Er blieb
fortwährend auf dem Satze stehen: der Kaiser hat Euch zum
Papste gemacht. 2 Wenn die Vicekönige von Castilien dem
Papste gegenüber den König vorschoben, dessen Befehlen sie
gehorchen würden, arbeitete in Geheim Don Lopez de Mendoza
ihm sehr entschieden entgegen. Als der Papst auf das Andringen
des Herzogs von Najera für die Freigebung des Bischofs
von Zainora, welcher im Schlosse von Kavarette gefangen
gehalten wurde, sich verwandte, war Don Lopez dagegen. Er
war freilich als crudelissimo e potentissimo capitano zu ewiger Haft
verurthcilt worden, 3 bald traf ihn noch ein schlimmeres Schick
sal, das Adrian angeblich zu mildern bemüht war.
Die Spanier waren überaus glücklich, dass ihr Gövernador,
ihr Grossinquisitor, den sie bereits als einen Spanier ansahen,
Papst geworden war, und sahen darin eine Nationalehre. Alles
strömte nach Vitoria, nach Logronno, nach Saragossa, nach
Barcelona; die spanisch - kaiserliche Regierung dachte dieses
Ereigniss in ihrem Sinne und Interesse wcidlicli auszubeuten.
Auch ohne dass die Cardinäle von Genua kamen, ent
schloss sich Adrian, nachdem er das Notariatsinstrument über
die Annahme seiner Wahl ausgefertigt, als Papst öffentlich
aufzutreten (8. März), den Namen Adrian beizubehalten, im
päpstlichen Gewände zu erscheinen, die Leute zum Fusskusse
zuzulassen. 4 Der Arcliidiaconus von Tortosa wurde Maestro
1 Como de liombre christiano que no quiere nada de vos ni lo ha querido
del papa passado, que pudiera aver assaz.
2 Despues de Dios solo el rey os ha heclio papa.
3 Schreiben aus Brüssel an Lorenzo Aleandri de’ Galeazzi.
4 Gacliard p. 2G4.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
201
di casa, der Graf Don Hernandoez de Andrada Commandant
seiner Truppen. Der Connetable Inigo de Velasco und der
Amirante von Castillien, Federigo, beeilten sich, ilrni spanische
Galeeren zu Gebot zu stellen, die Juan de Velasco comman-
dirte. Bereits am 12. März 1 verliess Adrian, als la Ckaux noch
immer nicht eintraf, mit stattlichem Gefolge, jedoch nur drei
spanischen Bischöfen, Vitoria, um sich zuerst nach la Puebla,
dann über Villa de la Reina (13. März) nach San Domingo,
der Hauptstadt von Rioia, zu dem Grabe des Gründers des
Predigerordens, des h. Dominicus, zu begeben. 2
Von San Domingo aus sandte der Papst den Boten,
welchen ihm der Cardinal Carvajal im Namen des h. Colle
giums geschickt hatte, mit der Würde eines cameriere segreto
über Barcelona nach Rom ab. Er erhielt zugleich den Auftrag,
in dieser Hafenstadt Vorbereitungen zur baldigen Abreise-des
Papstes zu treffen. In der That blieb der geheime Kämmerer
bis zum 29. März in Barcelona, das, ehe es von der Pest heim-
gesucht wurde, auch unter einem Mangel an Lebensmitteln
litt. Mehrere Getreideschiffe, welche nach Barcelona bestimmt
waren, gingen zu Grunde, so dass sich von allen Seiten Hin
dernisse gegen die Fortsetzung der Reise aufthürmten-. Dann
ging er in 7 Tagen nach Genua, wo er das Anerbieten, drei
Schiffe (carrache) nach Barcelona zu schicken, im Namen des
Papstes annahm; für das Anerbieten, ihm 25,000 Ducaten zu
leihen, dankte er. Am 9. April kam er dann nach Rom, wo
man nun mit Begierde den Nachrichten lauschte, die er mit
brachte. Der Papst habe ein Gefolge von 2000 Personen,
Prälaten und Hofleuten. Schon seien acht grosse Prälaten um
ihn, unter diesen der Erzbischof von Cosenza, Nuntius Leo’s X.
und Freund Sadolets, auf welchen Adrian selbst grosse Stücke
halte; der Erzbischof von Bari u. A. Es musste zu grosser
Beruhigung in Rom dienen, als man erfuhr, der Papst wolle
mit Ausnahme einiger weniger Palafrenieri seine Dienerschaft
in Rom selbst sich auswählen. Er berichtete ferner, der Papst
lese jeden Tag am frühen Morgen die Messe, sei ein kräftiger
1 Nach de la Chaun am 10. März. Brew. n. 2138.
2 Giovio p. 115. Ueber den Aufenthalt von Vitoria und die Keise nach Sara
gossa siehe auch Thomas Ilannibal an Wolsey, 27. April. Brew. n. 2202.
202
Hofier.
Manu, fest in seinen Entschlüssen, der von den Pfründen ur-
theile, er wolle diese mit Männern versehen, nicht letztere mit
Pfründen, und nur mit Mühe bewogen werden konnte, einem
Neffen eine Pfründe von 70 Ducaten mit einer andern von
100 Ducaten zu vertauschen. Man hoffte, den Papst im Monat
Mai in Rom zu sehen. 1 Man kann sich vorstellen, wie diese
Schilderungen Furcht und Hoffnung erwecken mussten, je nach
dem die Einzelnen Fortsetzung des Unwesens P. Leo’s oder
eine Reform erwarteten. Es ward von den Bessergesinnten freu
dig aufgenommen, dass der Papst sich so günstig für Jacob
Sadolet, Bischof von Carpentras, ausgesprochen hatte, den er
in seinem Amte als Secretair erhalten zu sehen wünschte. 2
Von dem Herzoge von Najera bewogen, begab sich Adrian
am 17. März nach Najera und von da nach Logronno. Der
feierlichste Empfang, zu welchem sich Adel, Geistlichkeit und Volk
rüsteten und von allen Seiten herbeiströmten, die Stadt sich mit
Triumphbogen schmückte, Declamanten ihre einstudirten Reden
bereit hielten und die Geschütze ertönten, wartete seiner. Allein
von Hitze und Ermattung gequält, eilte der Papst, welcher erst
seinen 63. Geburtstag gefeiert hatte, in das Haus des Don Ro-
drigo de Cabrado, mühsam der Menge sich entwindend, die ihm
die Füsse küsste und sich um ihn drängte. In Logronno blieb
er nach dem (1527) abgefassten Itinerar zwei oder drei Tage;
nach Petrus Martyr zwei Tage. Es fehlte an Allem. Er war
in der That ein armer Papst, der jetzt Nachfolger des reichen
Mediceers wurde, welcher wie mit der Kirche, so auch mit
ihren Geldern fertig geworden war.
Eiue der wichtigsten Angelegenheiten, welche den Papst
in Spanien betrafen, ergab sich hier in Logronno. Sie betraf
die Bulle über die sogenannte Cruzada, P. Leo hatte zum
Zwecke des maurischen Krieges den Ertrag einer Kreuzbulle
gegen Ablieferung von 20,000 Ducaten an ihn gestattet; 100,000
Ducaten hatten die spanische Regierung getroffen. Kaum dass
1 Vetori, dessen Bericht wir' dieses verdanken, setzt hinzu: er hoffe, der
Papst werde diese guten Absichten ausführen, zweifle aber, essendo la
corte piii corrotta che fosse mai, non vi vedo alcuna disposizione atta a
ricever cosi tosto queste buone intenzioni.
2 Lettere di principi p. 98 a.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
203
Adrian erwählt worden war, hatte man, überzeugt, dass K. Karl
übervortheilt worden sei, den Commandeur Petro de Acuna
an Adrian geschickt und ihm deshalb Vorstellungen gemacht.
Allein Adrian wies diese zurück, da im verflossenen Jahr in
Barcelona und Burgos ein Vertrag abgeschlossen worden war,
demzufolge 2 / 3 der Einkünfte der Kreuzbulle dem Könige, */ 3 dem
römischen Stuhle für die Kirche des h. Petrus zufliessen sollten.
Er erinnerte die Vicekönige, wie P. Leo getäuscht worden sei,
deshalb am 14. September 1521 dem Könige den Gewinn entzog
und die Ausführung dem Don Alfonso Gutierez von Madrid, Don
Hercado de Spinosa, Don Rodrigo Ponce (Laien) übergab. Jetzt
aber, wo der römische Stuhl eine Million Schulden habe, sollten dem
Könige 200,000 Ducatcn zukommen, und wenn Adrian damit nicht
einverstanden sei, würden sie die Verkündigung der Bulle in
Castilien nicht dulden. Adrian schrieb daher den Vicekönigen, 1
sie möchten den Fall dem Könige und Kaiser vorlegen, er wolle
cs gleichfalls tlnm, was denn nachher auch von Alfaro aus am
25. März geschah, 2 worauf die Angelegenheit weiteren Unter
handlungen verfiel. K. Karl gewann dadurch mehr als 250,000
Ducaten. ■
Wo der Schnee in den Pyrenäen die Reise nicht' auf hielt,
waren durch Regengüsse die Wege grundlos geworden. Doch
unternahm es, als jetzt die Nachricht von der Wahl sich in
Spanien verbreitete, Lopez, ein Diener des kaiserlichen Rathes
und früheren Secretärs Adrians, des berühmten Petrus Martyr,
von Valladolid nach Vitoria zu reiten, wo er auch mit unter
legten Pferden in 24 Stunden ankam und einen Brief seines
Herrn überbrachte. Adrian antwortete sehr freundlich am
12. Februar, worauf Petrus am 14. Februar von Valladolid auf
brach, den Papst zu erreichen, dessen Secretär, Dolmetsch und
Canzleidirector er gewesen war. 3 Er traf endlich, nachdem ihn
die Regengüsse gezwungen hatten, in Burgos zu warten, erst
am 11. März in Vitoria ein, küsste dem Papste das Kreuz auf
1 Logronno 10. März. Gacli. p. 259. Appendice. B.
2 Gacli. n. XVII.
3 Comes et interpres ac negotiorum director. Nesciebat ciiim praeter latine
proferre quiequam aut alium intelligebat e nostris. Petri M. Epist. n. 757.
204
Höf ler.
dem Fasse und erfreute sieh dann wiederholt des freundschaft
lichen Gespräches. Adrian war jedoch unschlüssig, über Petrus
Schicksal zu bestimmen, und erklärte endlich, er werde auf dem
Wege nach Logronno darüber entscheiden. Sobald aber Petrus
ersah, der Papst wolle ihn mit nach Rom nehmen, entfernte er
sich, während der Papst die Menge, segnete, ohne von ihm Ab
schied zu nehmen, und ging nach Vitoria zurück. 1
Adr ian empfing in Logronno den Bischof von Escalas,
welchen das Cardinalscollegium an ihn gesandt hatte, der aber
von den Franzosen zurückgehalten worden war. Einige Car-
diuäle und andere Personen in Born baten den Papst, er möge
den Cardinal von Medici-nicht zu seinem Legaten ernennen,
und obwohl derselbe sich für ihn ausgesprochen hatte, erklärte
jetzt Adrian, dass er, bis er nicht selbst nach Rom käme,
keine Ernennungen vornehmen werde. Zugleich hatte der Bi
schof den Cardinal von Santa-Croce als Franzosen verdächtigt,
und dass er Adrian seine Stimme nicht gegeben, auch Don
Juan Manuel nicht sowohl seine Erhebung, als die des Cardi-
nals von Sion anstrebte, 2 — Mittheilungen, die das arglose Ge-
rnüth des Papstes für wahr annahm, und gegen welche sich
nachher Don Manuel sehr entschieden verwahrte. 3 Von Lo-
gronno begab sich Adrian nach Calahorra, J wo er von dem
Capitel einige schön geschmückte Manlthiere erhielt, deren
er sehr bedurfte. Von da zog er, fortwährend von dem Her
zoge von Kajera geleitet, nach der eastilischen Festung Altaro,
wo er am 25. März dem Kaiser schrieb, 5 und von Alfaro nach
' Nil ultra salutato aut veuia petita ipsi soli benedieeus ac miserans ab oc-
cipite. 1. c.
- Schreiben Mendoza’s an den Kaiser aus Pedrola v. 28. März. Gach. n. XX.
3 Gach. u. XYIir. u. XXII.
4 In qnella parte, ove surge ad aprire
Zeffiro dolce le novelle fronde
Di clie si vede Europa rivestire,
Non molto lungi al pereuoter deü’ onde
Dietro alle quali, per la luuga foga
Lo sol tal volta ad ogni uom si naseonde,
Siede la fortunata Callaroga.
Daute, paradiso. Canto XII.
5 Gachard n. XVn.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's YI.
205
dem navarresischen Tudela. Der Papst hatte schon, um nach
San Domingo zu kommen, den Ebro überschritten, bei Logronno
ihn wieder erreicht and hielt sieh nun bald auf dem rechten,
bald auf dem linken Ufer, bis er Saragossa erreichte. In Tu
dela begrüsste ihn der Vicekönig von Navarra, welcher von
Pampeion a herübergekommen war. Dort blieb Adrian zwei
Tage und begab sieh sodann über Mallem nach Villa de Pe-
drola, 28. März, 1 wo er die Tochter des Grafen von Ribagorsa
über die Taufe hielt und ihm zu Ehren maurische Tänze auf-
geführt wurden, zu längerem Aufenthalte nach Saragossa
(29. März bis 11. Juni). Schon 9 Meilen vor der Hauptstadt
Aragoniens traf er den Vicekönig von Aragonien, der mit statt
lichem Gefolge ihn dort erwartete und in den Palast Adia-
fenia (Aljaferia) vor der Stadt führte. Erst nach einigen Tagen
fand der feierliche Einzug in die festlich geschmückte Stadt
statt, worauf der Papst im erzbischöflichen Palaste abstieg, den
er am Montag in der Charwoche mit der Zurückgezogenheit
im Hieronymitenkloster von Sancta Engrazia vertauschte, wo er
bis zum 25. April blieb. Don Manuel verbreitete unterdessen
in Rom die Nachricht, der Papst sei von Vitoria nach Barce
lona an den Grenzen Italiens aufgebrochen. 2 Viele und zum
Theile sehr dringende Geschäfte bewogen den Papst zu diesem
langen Aufenthalt. Einmal mochte er hoffen, den Kaiser oder
doch dessen alter ego la Chaux zu sprechen. Römischer Seits
kam der Cardinal Alexander Cesarini nach Saragossa. Die Ge-
sandtschaft der Leg-aten hatte sich aufgelöst und anstatt das
ihnen mitgegebene Reisegeld von 10,000 Ducaten zu dem ur
sprünglichen Zwecke zu verwenden, theilten nun die drei Car-
dinäle dieselben unter sich. Gleich auf die Nachricht seiner
M ahl hatten die Canonici von San Lambert in Saragossa dem
Papste Reliquien dieses Heiligen zum Geschenke gemacht, ob
wohl sie Leo’s X. Bitten um diese und selbst die Verwendung
K. Karls abschlägig beschieden hatten. Adrian hatte daher, als
die Briefe aus Rom über seine Wahl ausblieben, scherzend
gemeint, das falsche Gerücht habe ihm wenigstens diesen Vor
theil gebracht.
1 Von da schrieb er einen kurzen Brief an K. Karl. Gaeh. p. 59.
2 In confinibus Italiae. Brew. 2154.
206
Hofier.
/
Uebrigens konnte man sich kaum etwas Glänzenderes
vorstellen, als seinen Einzug in Saragossa. Sechzehn Bischöfe,
grossentheils aus den castilischen Reichen, begleiteten ihn. Die
Tragbahre, auf welcher er sitzend den Segen ertheilte, war mit
Goldbrocat bedeckt, von spanischen Adeligen getragen. Es
war kein gewöhnlicher Moment in der spanischen Geschichte.
Der Aufstand der Communen war niedergeworfen, gerade da
mals Valencia und Toledo zu Paaren getrieben, die Urheber
des Aufstandes entweder flüchtig oder gefallen, oder erwarteten
in den Kerkern die Blutsentenz, die mit der Ankunft des jugend
lichen Königs ihrer harrte. Der Versuch der Handwerker, eine
allgemeine Gerechtigkeit durch ihre Verbindung herbeizuführen,
war gescheitert; der der castilischen Gemeinden, die alten Rechte
zu schützen, nicht minder. Die geistliche Schaar des Bischofs
von Zamora war zersprengt, eingefangen und in Banden, seine
Augustinermönche, welche, vielleicht Luther nachahmen wollend,
Aufruhr predigten, im Kerker. Der Adel verlangte, dass der
König und Kaiser sich gegen den Ursprung des Uebels erkläre,
andererseits, dass Klöster und Geistliche nicht mehr weltliche Güter
kaufen dürften, dass sie diejenigen verkaufen müssten, welche
sie als Erbbesitz erlangten, 1 — dass dem Bettel gesteuert
werde. Der feste Wille der siegenden Partei war es, Spanien
solle ein ausschliesslich katholisches Land werden. Juden und
Mauren waren ausgetrieben. Man wusste es und empfand es
wohl, dass der Nationalreichthum darüber schwand, die könig
lichen Einkünfte dadurch litten. Wie aber die Einwohner von Me
dina lieber ihre reiche Stadt den Flammen übergaben, als dass sie
die königliche Artillerie auslieferten, die reichste Handelsstadt
Spaniens darüber in Asche sank, befreundete man sich mit In
quisition und Verbrennung der Ketzer, wenn nur Spanien an der
Spitze des katholischen Erdkreises sich erschwang, der selbst
sich zum Niedergange neigte.
Jetzt gab man den Grossinquisitor von Castilion, Leon,
Aragonien und Navarra dem katholischen Erdkreise zum Papst.
1 Quia paulatim vel morientium vel fratales cucullos induentium mandatis,
quicquid hujusmodi facultatum seculares possident, ad coenobia vel eccle-
sias devolvuntur. Erklärung* der Cortes an K. Karl. Petrus Martyr. epist.
n. 781.
Wahl und Thronbesteignng Adrian’ß VI.
207
Voll Erstaunen und wie in Exstase begriffen blickte das Volk
den Papst an, da ihn der Adel weniger vorfiibrte, als vor
trug, 1 auf seinen Schultern vom Palast Aljaferia in die Stadt
brachte. Ein eigenes Verhängniss wollte, dass, als Adrian in
der Hauptkirche pontificirte, die über dem Altar hängende Oel-
lampe zersprang und ihren Inhalt über die reichen priester-
lichen Gewänder Adrians und seiner Umgebung ergoss. Die
Zeitgenossen, ebenso frivol als abergläubisch, brachten nachher
dieses Ereigniss mit dem frühen Tode des Papstes in Verbin
dung. 2 Man hielt es damals für classisch, wie Livius gethan,
Missgeburten aufzuzeichnen, Vorbedeutungen nachzugehen und
später folgende Thatsachen mit auffälligen, die vorhergegangen
waren, in gesuchten Causalzusammenhang zu bringen.
Die Correspondenz des Papstes mit dem Kaiser hatte in
dieser Zeit nicht aufgehört. Adrian, welcher in Saragossa fünf
Briefe Karls (vom 7., 8-, 10., 20. März) auf einmal erhalten,
schrieb ihm am 25. März von Alfaro, machte ihn mit der Ver
änderung der Bulle Leo’s über die Cruzada bekannt, beschwerte
sich aber dabei auch über die wenige Rücksicht, welche die
spanischen Vicekönige für seine Person hätten und sprach seinen
Willen aus, an einem allgemeinen Frieden unter den christ
lichen Mächten zur Vereinigung derselben zu einem Türken
kriege zu arbeiten. Karl möge vorderhand zu einem Waffen
stillstände von einem oder zwei Jahren sich bestimmen, während
welchem dann der Friede abgeschlossen werden könne. Adrian
werde zu diesem Zwecke von Saragossa aus einen Gesandten,
den Erzbischof von Bari, nach Paris senden. Er selbst wollte
damals auf einer venetianischen Galeere, welche in San Se
bastian zurückgehalten wurde, die Reise antreten. Zugleich
verwandte er sich bei Karl für den Herzog von Najera als
Vicekönig von Neapel, 3 für die taugliche Besetzung der Schatz
meisterstelle au der Behörde (casa) de la contractacion de las
1 Attonitus gestatum populus inspectabat. in extasim prae admiratione ra-
ptari videbatur. P. Martyr. n. 758.
2 Giovio p. 715.
3 Aneli der Markgraf Johann von Brandenburg befand sieb unter den Be
werbern um diese Stelle. Brew. 2110. Karl ernannte den Charles de
Lannoy zum Vicekönige.
208
Hofier.
Indias, ohne welche die königlichen Einkünfte aus Indien sehr
geschmälert würden, zu Gunsten des Bischofs von Burgos und
empfahl die Besetzung der Grossinquisitorstelle. 25. März. Den
Tag darauf schrieb Don Juan Manuel aus Rom 1 einen weniger
diplomatischen als sehr offenen Brief über den schlimmen Ein
druck, welchen die päpstlichen Schreiben in Rom hervorgerufen.
Der Papst scheine die Cardinäle nicht zu kennen, welche für ihn
waren und habe so untauglichen Personen Glauben geschenkt, über
die man jetzt spotte. Er habe bekräftigt, was das Cardinais-
Collegium gethan habe, und dadurch gehe seine Jurisdiction
zu Grunde. Die Cardinäle hätten ihn um 300,000 Ducaten an
Mobilien gebracht. 2 P. Leo habe auch gesucht, neutral zu
sein, aber die Franzosen hätten ihn und die Kirche so behan
delt, dass es unmöglich gewesen sei; ja sie hätten es noth-
wendig gemacht, dass er sich mit dem Könige von Spanien
verbunden habe. Die Türken bedrohten Ungarn zu Lande,
Ancona, Apulien und Sicilien zu -'Wasser. Er werde, wenn
nicht eine ganz wichtige Sache es verhindere, die Galeeren
schicken. Noch von Pedrola aus schrieb Adrian an den Kai
ser über das lange -Ausbleiben La Chaux’. 3 Von da aus sandte
auch Lopez Hurtado am 28. seinen Bericht an den Kaiser. Er
erwähnte der Misskelligkciten der Vicekönige mit dem Papste
wegen der Cruzada und des von ihm verlangten Drittheiles
und der Schiffe. 4 Mendoza rieth dem Kaiser, die Vicekönige
anzuweisen, dem Papste gefällig zu sein. Karl selbst schrieb
an Adrian fortwährend in wahrhaft kindlichen Ausdrücken,
nannte ihn Vater und Lehrer (maestro), sich seinen gehorsa
men Sohn, betrieb aber, so sehr er ihn zu sprechen wünschte,
seine Abreise. Er bat ihn, ihm über die spanischen Verhält
nisse oft zu Schreibern 5 und stellte ihm alle seine Reiche zur
Verfügung. Für den Bischof von Valencia erbat er sich den
1 Gach. n. XVlII.
2 Vuestra santidad hallarä qno esta rubado en mas de trezientos mil dnea-
dos de mueblos.
3 24. März. Gach. n. XIX.
4 Der Papst verlangte 100,000 Ducaten für sich; der Bischof von Burgos
meinte aber, das Drittheil betrage nur 80,000. Gach. p. 6.
6 Schreiben vom 29. März. Gach. n. XXI.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's Yl.
209
Cardinaishut. Endlich war auch Herr von La Chaux in Sara
gossa angekommen, 1 um sich im Namen des Kaisers mit
dem Papste zu verständigen. Der Papst schöpfte daraus grossen
Trost und Beruhigung. 2 Der Aufenthalt in Saragossa gestaltete
sich zusehends grossartiger. Die Erzbischöfe Alfons de Fon-
seca von Compostella, nachher Primas von Spanien, Juan de
Fonseca von Burgos, der von Montregale aus dem Hause der
Herzoge von Cardona, waren nebst vielen Bischöfen, an der Spitze
aller Räthe und Beamten der Inquisition der General des
Predigerordens, Don Garcia Loaysa, später Erzbischof von Sevi-
llia und Cardinal, gekommen. Von Adrian berufen erschien
auch Mag. Gaspar de Avalos, später Bischof von Cadix, von
Granada, ,dann Erzbischof von Compostella und Cardinal, von
Adrian wegen seiner ausgezeichneten Gelehrsamkeit zu seiner
Begleitung bestimmt. Nur mit Mühe gelang es Don Gaspar,
die ihm zugedachte Ehre von sich zu wälzen. Auch der Li-
centiat Franz von Herrera, nachher Erzbischof von Granada,
Roderich de Mendoza, später Bischof von Salamanca, waren
zur Aufwartung nach Saragossa geeilt. Von den Laien der
Admiral von Castilien, der Marquese von Villena mit grosser
Verwandtschaft, der Herzog von Luna und sein Sohn, der Graf
von Ribagorsa, und sonst noch viele angesehene Personen geist
lichen und weltlichen Standes. Am 9. Mai erfolgte die. Auf
fahrt des englischen Gesandten Thomas Hannibal, in Begleitung
vieler Bischöfe. Der Gesandte hielt eine grosse Anrede, in
welcher er die Hingebung seines Königs an den römischen
Stuhl und den Papst hervorhob, ebenso Wolsey’s erwähnte und
Adrian aufforderte, den Türkenkrieg zu betreiben. Ghinucci,
welcher hierüber an den Lord Cardinal berichtet, versichert,
Alles habe den Gesandten bewundert, der sich weder durch
das Gedränge der Menge, noch durch sonst etwas aus seiner
mit Würde und grosser Bescheidenheit vorgetragenen Rede
bringen liess. 3 Als aber nun der Gesandte von dem Papste
einige Bewilligungen zu Gunsten Wolsey’s verlangte, bestätigte
1 Schreiben Adrians vom 3. Mai. Gacli. n. XXIII.
2 Schreiben 'an K. Karl vom 18. Mai ans der Aljaferia bei Saragossa
Gach. p. 262.
3 Brew. n. 2212.
Sitsb. a. pbil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. , 14
210
Höf lei*.
zwar Adrian den Cardinal im Besitze der Commende von Saint
Albans (IG. Mai), in Betreff der übrigen Bitten aber, der Be
stätigung der Legatenwürde auf fünf Jahre, 1 erklärte er, ohne
Zustimmung der Cardinäle darüber nicht verfügen zu können.
Die erste Bitte, welche die einflussreichste Persönlichkeit Eng
lands, der Cardinal an ihn richten liess, welcher selbst dem
Papstthum so nahe war, war gegen alle Gewohnheit jener Tage
abschlägig bescliieden worden. 2 Andererseits wurden Hubert
Turstall Bischof von London, Roger Basin, der mit diesem auf
das Innigste zusammenhing, dem Könige und Wolsey empfoh
len, und herrschte in den Briefen mit letzterem der freundlichste
Ton vor. 3 Die Botschaft Hannibals wurde sodann durch Ab
sendung eines Nuntius nach England beantwortet. 4 Der Papst
bat den König, Frieden mit den christlichen Mächten zu halten.
Trotz des abschlägigen Bescheides meinte Hannibal, der
König und Wolsey würden alles von dem Papste erlangen. 5
K. Heinrich VIII. forderte den Papst auf, 0 nach England
zu kommen, erklärte sich bereit, die Reisekosten zu zahlen
und rieth Adrian, dann seine Reise durch Deutschland zu
machen." Wer konnte sagen, welchen Einfluss auf den Gang
der Reformation ein Aufenthalt des Papstes in England oder
Deutschland gehabt hätte? Die Zustände Italiens, der franzö
sische Krieg Hessen den Papst zu keinem anderen Beschlüsse
kommen, als, nachdem die Vorbereitungen zur Seereise ge
troffen waren, diese selbst anzutreten. Ein Abgesandter des
Herzogs von Urbino, um im Namen seines Herrn Obedienz zu
leisten, der Botschafter des Königs von Portugal, ein Gesandter
des Herzogs von Savoyen wurden gleichfalls empfangen.
Die wichtigsten Verhandlungen wurden theils zu Ende
gebracht, theils unternommen. Man musste eine Verbindung
' Brcw. n. 2298.
2 Brew. n. 2260.
3 Gach. p. 269.
4 Hannibal an Wolsey. 24. Mai 1522. Die Absendung des Nuntius (Syl
vester Darius) erfolgte nach Brewer von Rom aus am 7. August; sollte
wohl heissen von Barcelona.
5 n. 2313.
6 5. Mai 1522.
7 Giovio.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
211
Portugals mit Frankreich befürchten, weshalb der Papst dem
Kaiser rieth, dem Könige die Hand der Infantin Donna Cata
lina zu geben und die Unterhandlungen darüber sogleich durch
La Chaux in Angriff nehmen zu lassen. 1
In Saragossa erhielt der Papst auch durch Bernard Bar
thold die Antwort des Königs Franz auf die Anzeige seiner
Wahl. Adrian hatte denn doch dem französischen Könige
später geschrieben, als recht war; er entschuldigte sich
deshalb von Saragossa aus, indem er anführte, er habe ge
glaubt, zuerst dem Cardinalscollegium von der am 8. Mai
erfolgten Annahme Kenntniss zu geben. Der König aber rächte
sich für die verspätete Anzeige dadurch, dass er dem Papste
seine Meinung offen über die erfolgte Wahl ausdrückte, auch,
während er seine Friedensliebe in den Vordergrund stellte,
seinem Nuntius nur einen Geleitsbrief für einen Monat aus
stellte und Schwierigkeiten machte, dem Papste und dessen
Begleitung einen Geleitsbrief zu ertheilen. Adrian beruhigte
ihn daher in Betreff seiner eigenen Gesinnungen, versicherte
ihm, dass er K. Karl nicht zu seinem Nachtheile begünstigen
werde, machte ihm aber auch kein Hehl, dass ihm gesagt werde,
der Einfall von Gewaltherrschern im Kirchenstaate geschehe
mittels französischen Goldes. Das Schreiben 2 und ein anderes,
welches der Erzbischof von Bari dem Könige überreichte, 3
wurde sodann später von König Franz dahin beantwortet, dass
derselbe die Hoffnung aussprach, Adrian werde sich von den
Fehlern seiner Vorgänger, welche selbst die Waffen ergriffen,
ferne halten; er selbst sei bereit, die Vertheidigung des römi
schen Stuhles zu übernehmen. Er habe nur den Frieden ge
wünscht, sei zwar nicht in der Lage, ihn geradezu zu bedür
fen, jedoch bereit, auf anständige Bedingungen ihn anzunehmen.
Schliesslich lud jetzt der König den Papst ein, den Weg durch
Frankreich einzuschlagen, wo er ihn mit allen Ehren empfan
gen und ihm alles, was er bedürfe, reichen lassen werde. 4
1 Schreiben aus Saragossa vom 5. Mai.
2 Lettr. n. XVI.
3 24. Juni. Gacli. p. 262. n.
4 Auf diesen Brief bezieht sich das sehr merkwürdige Schreiben des K. Franz
an P. Adrian, weiches das Arcli. storieo ital. App. 9. p. 395 als an Cle
mens VII. gerichtet publicirte, das aber in den Sommer 1523 fällt.
14*
212
Hofier.
Wir wissen aus dem Schreiben des Bischofs von Bayeux
aus Lyon vom letzten April 1523, dass ein Brief Adrians diese
Umstimmung hei K. Franz hervorgerufen hatte. Der König-
erklärte, er wolle nur Frieden machen, wenn Adrian die Ver
mittelung übernähme. 1 Jetzt wurde die Unhöflichkeit des ersten
Schreibens auf den Einfluss des französischen Kanzlers gescho
ben; man hegte offenbar am französischen Hofe die Hoffnung,
Adrian von der spanischen Politik zu trennen und hoffte auf
eine Neutralität, zu welcher sich der Papst schon nach seiner
Gemüthsart zuwandte. Offenbar war aber auch am französischen
Hofe die Besorgniss vorhanden, es möchte durch eine jetzt
gezeigte Friedensliebe der Gedanke erregt werden, man fürchte
sich vor den Feinden. Die Antworte^ sowohl der Königin-
Mutter Louise von Savoyen, als der Schwester Königs Franz,
der Herzogin von Alengon, auf die (verloren gegangenen Schrei
ben Adrians) vom 23. Juni tragen ganz auffallend dieses Ge
präge. 2
Der Papst hatte bereits in Betreff der Unzuverlässigkeit
der Franzosen, die immer schöne Worte machten, dann aber
handelten, wie es ihnen gefalle, eine unangenehme Erfahrung
gemacht. Ein römischer Courier zog mit einem Passe (salvo
conducto) nach Frankreich, als er dort war, ward der Pass als
unzureichend erklärt. Dies bestimmte den Papst, den Seeweg
einzuschlagen. Allein, die Galeeren von Neapel und Sicilien
hielt jetzt Don Juan Manuel zurück 3 und in Catalonien fanden
sich nicht genug Transportschiffe, um die Reise sobald anzu
treten.
Insbesondere war aber der Antheil, welchen der Car
dinal von Santa Croce, Don Juan Manuel und der Kaiser
an der Papstwahl genommen, Gegenstand brieflicher Aus
einandersetzung. Karl V. und seinem Botschafter in Rom
gegenüber behauptete Adrian nicht nur eine andere Auffassung
des Benehmens des Cardinais, sondern auch, dass wohl das
Cardinaiscollegium niemals Jemanden gewählt hätte, der K. Karl
1 Lettere di principi. Venezia 1581. I. f. 100.
2 1. c. f. 102.
3 Nach dem Schreiben Adrians an Don Juan Manuel vom 17. Mai gestaltete
sich jedoch die Sache besser. Gach. n. XXV.
Wahl und Thronbesteigung Adrian's YI.
213
oder K. Franz unangenehm gewesen wäre. Er versicherte aber
ersterem, wie erfreut er sei, nicht durch seine Bitten ge
wählt worden zu sein, um der Reinheit und Aufrichtigkeit
willen, die in solchen Fällen göttliche und menschliche Rechte
verlangten. Er sei aber dem Kaiser dafür ebenso oder noch mehr
verbunden, als wenn er das Papsttlmm durch seine Vermittlung
und seine Bitten erlangt hätte. 1 Für den Cardinal von Medici
wurde eine Bulle ausgefertigt, dass er 10,000 Du ca teil auf das
Erzbisthum Toledo beziehen könne; 2 sonst aber am 1. Mai in
der Kathedrale von Saragossa neue Regeln der apostolischen
Kanzlei verkündet, durch welche alle Reservationen und Ex-
spectativen auf Kirchenpfründen zurückgenommen wurden. Sie
sollten künftig nur sub anulo, d. h. mit dem Siegel des Papstes
selbst versehen und somit imter der besonderen Zustimmung
desselben geschehen. Die Verordnung war geeignet, unge
heures Aufsehen zu machen. Sie war ein tiefer Schnitt in
das Fleisch derer, welche bisher durch Geld und sonstige
unerlaubte Mittel sich Exspectanzen verschafft hatten; der An
fang zur Beseitigung eines Uebelstandes, welcher die besten
und tüchtigsten Männer von den Kirchenämtern ausschloss und
diese der Habsucht, dem Ehrgeize und der Intrigue oröffnete.
Die Massregel war aber zugleich ein sprechender Beweis, dass
der Papst auch vor seiner Krönung die Regierung der Kirche
angetreten habe, ungeachtet das Cardinaiscollegium sich gegen
diese Anschauung erklärt hatte. Allein der einen curialistischen
Anschauung stand die andere gegenüber, welche sich auf eine
Entscheidung P. Clemens V. vom J. 1306 bezog. Und da der
Grundsatz galt, dass dem Papste kein Gesetz auferlegt werden
könne, indem er alles von Rechtswegen vermöge, 3 war, wo
noch dazu ein Präcedenz vorhanden war, in Betreff der Gültig
keit dieser Massnahme vollends kein Zweifel. Adrian setzte
1 Je suis toutesfois bien joyeux non estre parvenu a l’eleetion par vos
prieres pour la purete et sincerite que les droits divins et humains re-
quierent en semblables affaires. Je vous en s$ay neantmoins aussi bien
gre ou meilleur que si par vostre moyen et prieres vous le m’eussiez im-
petre. (Korrespondenz I. n. 33. 3. Mai 1522.
2 Gach. p. 75.
8 J^apae lex imponi non potest, cum omnia jure possit. Itin. c. 9 t
214
HB fl er.
ferner bei dem ungeheuren Andrange von Bittgesuchen eine
eigene Behörde zu ihrer Erledigung nieder und zwar bestand
sie aus Johann von Tavora, später Erzbischof von Compostella,
Präsidenten des kaiserlichen Ratlies, Cardinal - Erzbischof von
Toledo und Governador von Spanien; aus dem Generalvicar
im Bisthum Tortosa, Dr. Coldesanca; aus dem Abte Didacus
de Paternia von Vitoria und dem Doctor Blasio Ortiz. Zum
Magister der Dataria wurde Dietrich Herz, Secretär des Papstes,
ein Mann von freundlichen Formen und ängstlichem Gewissen,
ernannt. Das Geschäft der Ausfertigungen aber erhielt der Plau
derer Peter von Rom, wie ihn Ortiz nennt, ein harter, schwer
umgänglicher, ja unerbittlicher Mann. Je leichter in diesen
Dingen Leo X. gewesen, desto schwieriger war Adrian, und
wenn von ihm schon sehr schwer Gnaden erlangt wurden, so
war dieses noch schwieriger bei Peter. Das aber, setzt Ortiz
hinzu, wurde von Tag zu Tag ärger und dauerte bis zu
Adrians Tode. 1
Adrian verlangte ferner das Bisthum Tortosa für seinen
Protonotarius, den gelehrten Wilhelm Enkevort, der dem Kaiser
so lange umsonst gedient, für sich nach altem Gebrauche die
Einkünfte des Erzbisthums Toledo (sede vacante), das Erz-
bisthum Pampelona für den Bischof von Astorga, die Würde
eines Commendador mayor de Calatrava für den hochverdienten
Yicekönig von Aragonien, Don Juan de la Xuca. 2 Allein so sehr
sich auch der Papst für die Empfohlenen bemühte, die Ant
worten Karls fielen zwar nicht kalt, doch meist dilatorisch aus. 3
Endlich wurde am 10. Mai das grosse Geschäft der indischen
Missionen geregelt und diese den Franeiscanern übergeben. 1
Schon am 5. Mai hatte Adrian an das Cardinalscollegium ge
schrieben und sein Bedauern über die Verwirrung ausgedrückt,
in der sich Italien befinde, sowie seine Absicht, innerhalb we
niger Tage die Abreise zu bewerkstelligen. 5 Am 19. eröffnete
1 Itin. p. 169.
2 Schreiben an K. Karl vom 6. Mai 1522. Gach. n. 24.
3 Londres 9. Juni. Gach. p. 89.
4 Rayn. 1522 n. 101.
5 Das ist wohl, wie Vettori es nennt, il breve non escusatorio ma accusa-
torio di molti i quali havendo promesso armata gli erano mancata. Let-
tere di principi p. 103. •
Wahl und Thronbesteigung Adrian's VI.
215
er den Cardinälen, er habe bereits seine Bagage voransgesebickt,
die Flottille sich Barcelona genähert, als daselbst die Pest aus
brach und er, um diese nicht nach Italien zu bringen, die Flotte
nach einem andern Hafen habe kommen lassen. Die Absicht,
sich eines venetianischen Schiffes zu bedienen, sei gescheitert.
Genuesische Galeeren seien ihm versprochen worden; im ent
scheidenden Momente habe es aber geheissen, dass sie ohne
besondere Erlaubniss des Königs von Frankreich nicht kommen
dürften. Die neapolitanischen und sicilianischen Galeeren seien
gleichfalls ausgeblieben (kamen aber nachher) 1 — und da K. Karl
Spanien zu besuchen beabsichtige, seien alle Schiffe zu diesem
Zwecke in Beschlag genommen. So hätten sich die Schwierig
keiten gehäuft, weshalb er auf ihre Eintracht baue, dass sie
für den Frieden der Stadt und des Kirchenstaates sorgten.
Näheres werde ihnen Wilhelm von Enkevort, sein Notar und
Protonotar mittheilen, dem er ausführlich geschrieben habe. 2
Das lateinische Schreiben, in einem ganz anderen Tone gehal
ten, als man in Italien gewohnt war, konnte nur einen frosti
gen Eindruck machen. Es war nach dem, was am 1. Mai
stattgefunden, begreiflich, dass man in Rom allmälig erkannte,
Stadt und Kirche hätten einen Herrn erhalten, welcher die
letztere nicht mit den vorübergehenden Interessen einiger vor
nehmen Familien und ihrer Anhänger zu identificiren gedenke.
Spanischer Soits reifte ein anderer Plan heran, die Schweizer
durch den Papst von Frankreich zu trennen. Der Herr de la
Chaux schrieb deshalb an den Papst, um ihn aufmerksam zii
machen, dass jetzt die beste Gelegenheit gekommen sei, gegen
die Franzosen aufzutreten, welche ihn zum blossen Messe
leser machen wollten. Er möge die Schweizer, wie sie sich
von den Franzosen losgemacht, deshalb als gute Söhne der
Kirche beloben. 3 Man müsse die Franzosen, welche bisher
gewohnt waren, die Christenheit zu verwirren, dahin bringen,
dass sie ihre Nachbaren in Frieden Hessen.
• Sie verliessen am 20. Mai Livorno. Brew. n. 2278.
2 Gach. p. 85. In gleicher Weise und von demselben Datum schrieb Adrian
an den Senat und das Volk von Rom.
3 Adrian hatte auch sowohl an die Schweizer, als an Prospero Colonna ge
schrieben. Diese Schreiben wurden dann Gegenstand der Erörterung iu
* den Briefen mit Franz I.
216
Hofier.
Bereits war der Juni angebrochen und noch immer war
Adrian in Saragossa, der Kaiser in London. 1 Der Protonotarius
apostolicus Juan Borrello, welchen der Papst mit dem Instrument
seiner Wahlannahme nach Rom geschickt hatte, war unter
dessen zurückgekommen und hatte dem Papst gemeldet, welche
Freude alle Cardinäle darüber hatten; sie hätten die Annahme
des Namens Adrian in Rom und der ganzen Christenheit ver
kündet, auch das Galeon des apostolischen Stuhles, zwei Ga
leeren, zwei Schiffe mit Lebensmitteln abgesandt und Don Juan
Manuel die neapolitanisch - sicilianischen gleichfalls aufgeboten.
Borello war Ueberbringer eines Schreibens der drei Cardinal-
Deputirten vom 28. April, worin sie sich entschuldigten, dass
sie aus Mangel an Schiffen nicht abreisen konnten; 2 sie sandten
ihm zwei Ringe, einen mit H (Hadrianus), einen ohne IL, in
einer Büchse mit sieben Siegeln. Der Papst möge sich nach
Gefallen wählen. Aber noch immer war man in Rom nicht
sicher, ob der Papst am Leben sei. 3
Dieser schrieb beinahe an demselben Tage, an welchem
K. Karl von London aus den Brief vom 5. Mai beantwortete
(9. Juni), am 10. von Saragossa aus, ihm bekannt zu geben,
dass die päpstliche Galeone, zwei Galeeren und zwei Proviant
schiffe nach Barcelona steuerten, die Galeeren Don Juan Ma
nuels von Livorno aus dieselbe Richtung nähmen. Er selbst
wolle sich nach Tortosa begeben und von dort entweder den
Weg nach Barcelona oder Valencia einschlagen, wie sich die
Sache am besten mache, um die von der Pest befallenen Ort
schaften zu vermeiden. Zugleich verwandte sich Adrian nochmal
zu Gunsten spanischer Geistlicher, welche an dem Aufstande
der Communen sich betheiligt, und empfahl ihm namentlich den
Dr. Manso für ein Bisthum. 4
Krankheit und Hungersnoth schnitten den Papst von der
Küste ab. 5 Woche auf Woche verstrich, die Schiffe kamen
1 Von wo er am 9. Juni an den Papst schrieb und Don Manuel zu recht
fertigen suchte.
2 as the vessels are wreked. Brew. n. 2203.
3 Siehe das Schreiben Campeggio’s vom 30. April. Brew. n. 2210.
4 Weiteres bezog sich auf Gespräche mit dem Herrn la Chaux. Gach. n. XXIX.
5 Hannibal an Lord Mountjoy. 23. Mai.
Wahl und Thronbeßteigung Adrian's VI.
217
nicht, wohl aber erfolgte nach der Eroberung von Belgrad die
Belagerung von Rhodus, der Krieg K. Heinrichs und K. Karls
mit Frankreich.
Am 11. Juni verliess der Papst wenige Stunden, ehe der
Cardinal Cesarini endlich in Saragossa 1 ankam, die Stadt,
um sich über Pinna, Caspe und Favera nach seiner bischöf
lichen Stadt Tortosa zu begeben. Dort führte er noch die
Frohnleichnamsprocession, bis die steigende Hitze ihn zwang,
sicli nach der Küste zu begeben. Während dessen antwortete
endlich das Cardinaiscollegium in Rom auf fünf Briefe, welche
es von dem Kaiser empfangen, als allmälig nach dem Falle von
Belgrad und bei dem Erscheinen der osmanischen Flotte in
den griechischen Gewässern Italien selbst und die Cardinäle
sich bedroht sahen. 4. Juli. 2 Wenige Wochen später wurde
die kaiserliche Hülfe noch dringender in Anspruch genommen,
als die Nachricht sich verbreitete, die ungeheuren Rüstungen,
die in Constantinopel geschehen waren, hätten Rhodus gegolten,
bereits sei die Landung erfolgt, habe die Belagerung der Veste
begonnen. 3 26. Juli. Noch aus Tortosa (4. Juli) wurde nach
Rom geschrieben, dass die kaiserlichen Galeeren angekommen
waren, jedoch die päpstlichen sich in Genua aufhielten. So
gleich sandte Adrian ein Brigantin nach Genua, mit dem Be
fehle, nach dem spanischen Hafen abzureisen, und entbot aus
Malaga vier Galeeren, welche die Küste von Granada bewach
ten, eine andere von Majorca, während in Barcelona vier Schiffe
auf Kosten des Papstes, zwei von den Barcelonern ausgerüstet
wurden. Da sich - in Alcante, Salona und an der Küste von
Barcelona wohl 20 Schiffe vorfanden, ergab sich eine Flotte
von 50 Segeln, und erwartete man mit Sicherheit den Papst
Ende Juli auf dem Seewege nach Rom. 4 Niemand fühlte sich
mehr getrieben, den Gefahren der Seereise Trotz zu bieten,
als Adrian, den eine jugendliche Ungeduld befiel, Spanien zu
verlassen und die Zügel der Regierung zu übernehmen. Er
1 Der Papst ging um 4 Uhr, der Cardinal kam um 10 Uhr. Schreiben
Hannibals vom 11. Juni.
2 Gaeh. n. XXX.
3 Gach. n. XXXVI.
4 Lettere di principi. Gio. Negro an Mare. Antonio Micheli. I. p. 104.
218
Hof 1 er.
entfernte sich von Tortosa (8. Juli) nach dem Hafen von Ain-
polla,, um sich zu Schiffe zu begeben, und zwar so rasch, dass
der grössere Theil seines Gefolges erst am Abende und in der
Nacht nach dem Hafen gelangte. Allein nun hielt ihn schlech
tes Wetter noch im Hafen auf; erst einen Tag später konnte
er nach Tarragona segeln (10. Juli), wo er aufs Neue und zwar
bis zum 5. August, die Ankunft der Schiffe erwartend, ver
bleiben musste. Bereits war K. Karl in Spanien angekommen;
ein Brief des Papstes vom 23. Juli begrüsste ihn aus Tarra
gona und benachrichtigte ihn zugleich, dass er den Erzbischof
von Bari an K. Franz nach Frankreich abgesandt habe. 1
Der unfreiwillige Aufenthalt in Tarragona gab dem Papste
Anlass, auch noch den Kaiser auf den bedrohlichen Zustand
von Valencia aufmerksam zu machen 2 und das Schreiben
K. Karls vom 19. Juli zu beantworten. 3 Er drückte dem
Kaiser darin seine Freude aus, wenn er ihn noch hätte sehen
können, bedauert aber, dass die Rücksicht auf seine Gesund
heit ihn davon abhalte; er dürfe sich keiner Krankheit aus
setzen. Die Witterung sei so heiss, dass, wenn Karl mit der
Post käme, er krank werde; 4 zögere er aber, so verspäte sich
seine eigene Abreise nach Rom zu sehr. Auf die kaiserliche
Bitte, drei Cardinäle zu ernennen, den Bischof von Palermo, den
Neffen des Herrn von Montigny und den Bruder des Gouver
neurs von Brescia (Bressa), antwortete Adrian ausweichend,
was begreiflich Karl nicht angenehm sein konnte. Dafür ver
wandte er sich selbst zu Gunsten einiger Geistlicher, welche
sich an dem Aufstande der Communen betheiligt, sowie er ihm
Rathschläge ertheilte, Oran, Algier und Bugia gegen die Un
gläubigen zu vertheidigen. Zugleich erwähnte er, er sei vor
Gift gewarnt worden, und warnte er den Kaiser vor ähnlichen
Nachstellungen. 5 Nicht ohne tiefe Bewegung schied Adrian
von dem Lande, das seine zweite Heimath geworden war, nur
sein Körper, versicherte er das Capitel von Toledo, dessen
• Gaeh. n. XXXI.
2 Gaeh. n. XXXIII.
3 Lanz, Correspondenz K. Karls V. n. 35.
4 Soll es nicht heissen: je desirons plus non avoir cette consolation que
mettre votre (Lanz I. p. 63 notre) personne en aücun dang’ier de maladie,
5 Tarragona *27. «Juli. Lanz 1. c.
Wahl und Thronbesteigung Adrians VI.
219
Gebeten er sich am 26. Juli empfahl, nicht sein Geist ziehe
von dannen! 1 Endlich am 5. August waren, mit Ausnahme
der portugiesischen, die spanischen Schiffe angelangt. Eine
Heeresabtheilung von 4000 M., geführt von einem Schüler des
grossen Capitäns Don Gonsalvo, Don IJernandez Andrada, be
fehligte sie. 2 Der Papst hielt am 5. die Vesper, begab sich
sodann an das Ufer, wo er an die Granden, welche ihn be
gleitet hatten, eine Anrede hielt, seinen Dank gegen Gott aus
sprach und die Hoffnung, die ihm anvertrauten Schafe in un
erschütterlichem Glauben regieren zu können. Dem Kaiser
hatte er bereits geschrieben, er hoffte ihn zur Krönung in we
nigen Jahren in Rom zu sehen. Dann bestieg er das Fahrzeug,
welches ihn von dem spanischen Königreiche hinweg nach
Italien bringen sollte, von der Verwaltung eines auf das tiefste
zerrütteten Reiches zur Regierung der im Innersten gebrochenen
Kirche.
So rasch und unvermuthet geschah aber der Aufbruch,
dass ein Theil des spanischen Gefolges, vielleicht nicht ohne
S geheime Absicht des Papstes zurückblieb. Mit Adrian segelte
auch der Cardinal Cesarini ab. Die Flotte führte Lopez Hur-
tado de Mendoza, Adrians Freund und Genosse in den Tagen
des castilianischen Aufstandes, bereits zum Herzoge von Sessa,
Grafen von Cabra ernannt. Der Botschafter des Königs von
England, der Herzoge von Mailand und Ferrara, der Bischof
von Feltre mit vielen anderen (spanischen) Bischöfen und Erz
bischöfen geleiteten ihn. Noch von Tarragona aus machte der
Papst (27. Juli) den Kaiser aufmerksam, 3 dass durch Karls
Ankunft in Spanien sich die Gährung- der Gemüther nicht
gebessert hatte. Die wahrhaft rührende Treue und Anhäng
lichkeit Adrians an Karl, dessen erstem Aufenthalte in
Spanien er übrigens die Schuld der nachherigen Wirren zu-
mass, Hessen ihn nicht zur Ruhe kommen. Noch an Bord des
Schiffes, das ihn von Spanien wegtrug, fühlte er sich veran
lasst, den Kaiser auf Dinge aufmerksam zu machen, die ihm
nützlich sein konnten. Sie bezogen sich auf die Möglichkeit,
1 Ex ea corpore quidem non animo decedentem. Gach. p. 270.
2 Giovio, vita Adriaui VI. p. 119.
3 Gach. n. XXXIII. Lanz n. 35.
220
Hofier.
Heinrich d’Albert, Prinzen von Navarra, clen König Franz zu
rücksetze und dessen Schwester er mit unzüchtigen Anträgen
bedränge, so wie Navarra auf die spanische Seite zu ziehen.
Er versicherte den Kaiser, wie sehr er ihn zu sprechen wün
sche, allein die Briefe, welche er aus Rom und Genua erhal
ten, belehrten ihn, wie nothwendig seine Gegenwart in Italien
sei. Wohl wisse er, dass Karl einem Vertrage mit Frankreich
so lange entgegen sei, als nicht ,eine hinreichende Anzahl Schwin
gen herausgerissen seien, dass Frankreich nicht nach Willkür
handeln könne'. Da aber andererseits eine noch grössere Ge
fahr von den Osmanen drohe, müsse er, der Papst, dieser ver
beugen, und werde er in dieser Hinsicht auch an den König von
England und den Cardinal von York schreiben. Er befürchte
eine Verbindung des Königs von Dänemark mit dem Könige
von Frankreich. Für K. Karl selbst dürfte eine Periode der
Ruhe, der Ordnung im Innern, der Gerechtigkeit, einer guten
Regierung, der Bestrafung derjenigen, welche den Aufruhr des
.T. 1521 angestiftet, sehr wünschenswerth sein. K. Franz habe
ihm Pässe geschickt und erbiete sich zu allem Guten; der
Herzog von Mailand strebe nach dem Besitze von Parma und
Cremona. Schliesslich empfahl er dem Kaiser den Cardinal
Egidio als zwar sehr armen, aber als bedeutenden Literator,
sowie einige verdiente Spanier, unter ihnen Mateo de Taxis. 1
Der Rath, den Adrian dem Kaiser gab, war unstreitig
der beste und wurde, wie gewöhnlich, wohl eben deshalb nicht
befolgt. Die traurige Finanzlage Karls lähmte alle Operationen,
Hess ihn, da er seinen Verpflichtungen nicht nachkommen
konnte, als treulos und wortbrüchig erscheinen; aber die Er
eignisse und die Begierde, sie zu beherrschen, rissen ihn mit
sich fort. Der Aufstand der Communen und namentlich der
Brand des reichen Medina del Campo hatten dem Nationalwohl
stande die tiefste Wunde geschlagen; die Reichthümer des neu
entdeckten Indien 'fielen in der Nähe der spanischen Küsten
französischen Capern in die Hände, und die spanische Flotte,
welche das Mittelmeer gegen die Osmanen, gegen die Moslim
von Nordafrika, gegen die Franzosen zu schützen hatte, konnte
nicht einmal die offene Verbindung des Mutterlandes mit Ame-
Estamos ya pa a hazer vela. Gacli. n. XXXII. 5. Aug.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
221
^ l'ika unterhalten, in welchem bereits der Umsturz des mexikani
schen Reiches stattfand. Karl selbst war in Spanien verhasst
und erst von seinem neuen Auftreten hing es ab, ob er sich
die Sympathien seiner Unterthanen erwerben werde, nachdem
er nur mit äusserster Mühe seine Krone im J. 1521 erhalten.
In Barcelona erwartete den Papst der feierlichste Empfang
von Seite des Vicekönigs, Erzbischofs von Tarragoua, und der
Bevölkerung. Adrian verschmähte es, bei dem grossen Ge
dränge über eine künstliche Brücke seinen Einzug zu halten,
da er ihren Einbruch befürchtete. Er stieg am gewöhnlichen
Landungsplätze aus, begab sich in die Kathedrale zum Grabe
der h. Eulalia und speiste sodann bei dem Vicekönige, da ein
gewaltiger Regenguss seine Weiterreise aufhielt. Dann aber
eilte er an Bord. Plötzlich ertönten in der stürmischen Nacht
die Kanonen von den Schiffen zum Zeichen der Abfahrt. Wer
konnte, eilte rasch an Bord,' sonst mochte er sehen, wie er
Italien erreiche. Die ansehnliche Flottille vermied aber, sich
in die offene See zu wagen und einen Kampf mit türkischen
Seeräubern zu bestehen. Sie segelte an der spanischen Küste
hin. Der Sorge um Spanien durch die Ankunft dos Kaisers
ledig, richtete Adrian seine Gedanken nur der raschen Ankunft
in Rom zu, nachdem Karl selbst eine Zusammenkunft ausge
schlagen, da Adrians beschleunigte Ankunft in Rom vor Allem
wünscheuswerth und dienlich sei. Die Furcht, es möchte ein
spanisches Avignon entstehen, schwand dadurch von selbst,
wie die Intrigue, mit Hülfe Frankreichs unterdessen einen
französisch gesinnten Papst in Rom zu erheben, gleichfalls sich
als fruchtlos erwies.
Bereits hatte Adrian die spanische Küste verlassen, als
das Strafgericht über die Thcilnelnner am Aufstande der Com-
munen begann, erst in Medina del Campo' sieben Procuratören er
drosselt wurden, Don Pedro Maldonado in Simancas enthauptet
ward 1 und als endlich am 1. November die Amnestie verkün
det wurde, waren 270 Personen davon ausgeschlossen, die Adeligen
zur Enthauptung, die Bürgerlichen zum Galgen verurtheilt
worden. 2
1 Schreiben Peter Martyrs von Valladolid. III. cal. Sept, n. 7(57.
2 Ligno triplici. Petr. Mart. n. 771.
222
HOfler.
An Sant Feliu, San Pablo, la cala de Calella, de Rosas
vorüber, kam endlich die Flottille, als das Vorgebirg de Cru
zes überschifft war, in den Golf von Narbonne und die franzö
sischen Gewässer. Ein Tlieil des Gefolges schlug jetzt den
Landweg durch Frankreich ein. Bei Adrian aber war der Ent
schluss vorherrschend, sich lieber den Wogen, als dem Könige
Franz anzuvertrauen. Er segelte in der Richtung nach den
Antiben an Marseille vorüber, kam nach Nizza und Villa
franca (13. August), 1 wo er den Secretär des französischen
Königs empfing, der ihm ganz allgemein gehaltene Anerbietun
gen machte, über die in Santo Stefano (am 14. August) Adrian
an den Kaiser schrieb. 2 In Porto Marino, wo er Mariä Him
melfahrt feierte (15. August), kamen ihm bereits venetianische
Galeeren entgegen. Endlich erreichte er das kaiserliche Saona, 3
wo er von dem Erzbischöfe auf das glänzendste empfangen und
bewirthet wurde. Die Spanier im Gefolge machten sich zum
ersten Male mit italienischer Küche bekannt, weshalb auch der
Küchenzettel dem Itinerar einverleibt wurde.
Je näher der Papst Italien kam, desto mehr ward er auch
mit den Wunden bekannt, die die französische Invasion und
der Kampf P. Leo’s, K. Karls und K. Franz I. mit seinen
Bundesgenossen, den Schweizern, den Venetianern und den
italienischen Freibeutern, dem unglücklichen Lande geschlagen.
Der Tod des P. Leo hatte so wenig wie die Wahl Adrians den
Gang der kriegerischen Ereignisse in Italien aufgehalten. Die
Versuche der Franzosen, ihre Stellung zu bessern, misslangen
auf allen Punkten. Man musste jedoch darauf gefasst sein, dass
K. Franz die Schweizer gewinne 4 und so Oberitalien von zwei
Seiten angegriffen werde, weshalb denn auch von kaiserlicher
wie von päpstlicher Seite alles aufgeboten wurde, auf die
Schweizer im entgegengesetzten Sinne einzuwirken. Da gelang
1 Nach einem Schreiben des Bannisius an Margaretha von Savoyen vom
23. Aiigast.
3 Lanz I. n. 38. Gach. n. XXXVI. Schreiben Karls vom 6. u. 7. Sept.
3 Cameram Imperii. Ttin.
4 Er hatte 150,000 Kronen hingesandt: Knowing that money present in that
land bringeth every matter to the desired end. Brew. n. 2045. Wie da
gegen gearbeitet wurde, erzählt Will. Knight. n. 2027.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s YI.
223
es, die Franzosen aus Alessandria und Asti zu treiben, 1 so
dass es sich bald nur mehr um Cremona und Genua handelte,
als den letzten bedeutenden Stützpunkten der Franzosen. Dieser
Misserfolg lähmte nun natürlich die Bereitwilligkeit der Schwei
zer, zu ihrer Unterstützung nach Italien zu ziehen. Dagegen
war die von Leo X. verbannte Partei in Perugia eingezogen,
der Herzog von Urbino hatte sein Herzogthum wieder erlangt,
aber ein Angriff auf Siena war ihm misslungen und die rasche
Rückkehr des Cardinais von Medici nach Florenz hatte dort
etwaigen Anmuthungen, den Zustand der Dinge umzukehren,
ein rasches Ende bereitet, der vertriebene Herzog von Camerino
war bald wieder eingesetzt. 2
Der Brand in Italien bereitete sicli zu einem allgemeinen
Kriege. Schon am 23. Februar 1522 forderte K. Franz den
K. Heinrich von England auf, er möge dem Kaiser den Krieg
erklären, nachdem dieser den Londoner Tractat gebrochen,
seinen Rebellen in Italien Hülfe geleistet, Mouzon genommen,
Mezieres belagert, Tournay erobert habe. 3 Der König erzählte
an demselben Tage, die Schweizer ständen nur vier Meilen von
Mailand, die Venetianer hätten sich mit ihnen verbündet, 4 Lodi
und Como seien in den Händen der Franzosen. Fortwährend be
günstigten die Venetianer im Geheimen die Franzosen, 5 streckten
sie ihnen Geldsummen vor und gaben ihren Befehlshabern guten
Rath, während der König den Herzog von Urbino und die Or-
sini mit Geld unterstützte und die Verwirrung im Kirchenstaate
mehrte. Zu der guten Hoffnung, welche K. Franz in Betreff’
der Wiedergewinnung von Mailand hegte, gesellte sich die Er
oberung von Novara durch die Franzosen Ende März. Allein
ein wiederholter Angriff auf Pavia wurde abgeschlagen und als
nun die Kaiserlichen den Feldzug eröffneten, siegten sie am
27. April bei Biscocca über Schweizer und Franzosen. 6 Nahe
1 Spinelli to Wolsey. 10. Febr. 1522.
2 Don Manuel an den Kaiser. Brew. n. 20+5.
3 Brew. n. 2006.
4 Brew. n. 2075.
“ Nach Wingfield gaben sie 150,000 Duc. in diesem Kriege den Franzosen
und 30,000 den Orsini, um Krieg mit Florenz und Roin anzufangen.
Brew. n. 2185.
6 Brew. n. 2235.
224
Hofier.
an 4000 der ersteren und 192 gens d’armes wurden erschlagen. 1
Auf dies zogen sich die Franzosen nach Cremona, die Vene-
tianer nach Crema, Bergamo und Brescia zurück, die Schweizer
nach Hause. *
Während auf dieser Seite siegreich gekämpft wurde, be
reitete Prospero Colonna mit den Kaiserlichen einen kühnen
Ueberfall Genua’s vor. Die Vorbereitungen waren vortrefflich
eingeleitet, die Stadt bereits zur Capitulation vermocht, als
Pefer von Navarra mit einer Flottille in den ITafen einlief.
Als nun die Unterhandlungen abgebrochen wurden, stürmten die
Spanier durch eine Bresche bei der Laternenseite in die Stadt.
Vergeblich boten jetzt die Genuesen Unterhandlungen an, die
reiche Stadt fiel in die Hände der Angreifer, die sich mit der
Beute bereicherten; es war das Vorspiel des sacco di Roma,
fünf Jahre später. Nur die Castelle von Mailand, Cremona
und Novara befanden sich noch in den Händen der Franzosen.
Jetzt kam Girolamo Adorno, Bruder des von den Kaiser
lichen eingesetzten Herzogs von Genua, nach Saona, den Papst
nach der Stadt der Paläste zu geleiten. Am 17. August er
folgte unter dem Donner der Kanonen der Einzug Adrians in
das geplünderte und gedemüthigte Genua, dieses Thor Italiens,
das jetzt, den Franzosen versperrt worden war. Am darauf
folgenden Tage kamen die Oberbefehlshaber des kaiserlichen
Heeres in Italien, Prospero Colonna, der Marchese Pescara, An
tonio von Leiva, der Herzog Franz Sforza von Mailand, mit
stattlichem Gefolge spanischer und deutscher Soldaten nach
Genua, dem Papste ihre Huldigung darzubringen. Ortiz sagt,
sie hätten von dem Papste Absolution wegen der Verwüstung
Genua’s begehrt, aber nicht erlangt. Giovio berichtet, sie hätten
Adrian über den Zustand Italiens belehren wollen. Er selbst
schrieb an den Kaiser, er habe die Herren, um keine Zeit zu
verlieren, bereits in aller Liebe entlassen. 2 Noch aus dem
Hafen von Genua empfahl der Papst den Girolamo Adorno dem
1 1. c. 2247.
2 i9. August. Los avemos despedido oy con t.oda congratulacion y am'or.
Gacli. p. 108. Das stimmt denn doch schlecht zu der Anekdote, er habe
ihnen auf ihr Verlangen, absolvirt zu werden, gesagt: nec possum, nec
debeo, nec volo.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s Vl.
225
Kaiser zu besonderer Berücksichtigung. An demselben Tage
(19. August) wurde die Abreise angetreten; allein die stürmi
sche See legte der Ungeduld Adrians noch schwere Prüfungen
auf; sie zwang den Papst, vier Tage in Portufo zu verweilen. 1
Endlich am 23. August erreichte die Flotte Livorno und
damit das Gebiet des Cardinais von Medici, welcher selbst mit
den Cardinälen Petrucci, Colonna, Rudolf! und Piccolomini, dem
Herzoge Federigo von Mantua und den Gesandten der italieni
schen Fürsten dort seiner wartete. Es fehlte nicht viel und
der geistliche Fürst Toscana’s, der schon über die Tiara zu
verfügen schien, wäre selbst, während Adrian in Spanien zu
rückgehalten wurde, als ein Opfer florentinischer Verschwörung
gefallen. 2 Julius von Medici hatte sich nach der Papstwahl
nach Florenz begeben, dort, einen Einbruch der Franzosen in
Italien befürchtend, den Benedetto Buendelmouti in allem Ge
heim zu K. Franz geschickt, der bereits das Kirchensilber an-
griff, und ihm 40,000 Ducaten gegeben, eine noch grössere
Summe in Aussicht stellend. Es war das gewöhnliche medi-
ceische Politik, die nach zwei Seiten hin gleiche Thätigkeit
entwickelte, um so für alle Fälle gut zu stehen, während man
doch nur Schwäche verrieth. Selbst von den Intriguen der
Soderinischen Partei Alles befürchtend, suchte er die Partei
des ,Frate‘ (Girolamo Savonarola) an sich zu ziehen, liess des
sen Reliquien sammeln und gewann diese schwärmerischen
Leute so für sich, dass sie in ihm den Mann erblickten, welcher
nach der Prophezeiung Savonarola’s Florenz befreien würde.
Während nun Pläne auf Pläne entworfen wurden, die Verfas
sung von Florenz zu ändern, den Staat der Habgier der Vor
nehmen zu entreissen und die Volksfreiheit herzustellen, wandte
sich auch der Cardinal Soderino, unglücklich darüber, dass seine
1 Damals war es wohl, dass der Papst, als er ein Weib in Mannskleidern
einhergehen sah, hierüber erzürnt, befahl, da Gott sie zum Weibe ge
macht, sie selbst ein Mann sein wolle, so sollte man ihr die Hosen ans
ziehen und nur so weit lassen, um ihre Scham zu bedecken. Faciamus
ergo ut neque habitum habeat maris neque feminae, eine lächerliche
Strenge, welche aber auf den Kirchenverboten wurzelte, dass Frauen nicht
als Männer verkleidet einhergehen sollen. Rayn. 1522. n. 17.
2 Die Darstellung folgt dem Jaco'po Pitti, dell 1 istoria Florentina sino al
1529, libri due.
Sit/,1», d. phil -hist. CI. LX.XII. Bd. I. Hft. 15
226
Hofier.
Partei und sein Haus durch die Mediceer von Florenz ausge
schlossen seien, an K. Franz und forderte ihn auf, ehe Papst
Adrian, der ja ganz und gar auf Seite des Kaisers stehe, 1 nach
Italien käme, sich nach Toscana zu werfen, das er mit Hülfe
der neuerungssüchtigen Bevölkerung von Florenz und Siena
ohne Schwierigkeit erobern könne. Allein der König, welcher
von einer Dame seines Hofes zur andern taumelte, hatte für
grössere Unternehmungen weder Willen noch Sinn; er machte
zwar grosse Versprechungen, gab jedoch nur 14,000 Ducaten
vielleicht mediceische.' Der Cardinal Soderino legte noch
von den flinigen bei und so bildete sich unter Renzo di Ceri
ein kleiner Heerhaufe. Die vertriebenen Sanesen schlossen sich
an denselben an, und nun hoffte Soderino, erst die Petrucci
in Siena zu stützen und dann auf Florenz einzuwirken und die
Mediceer zu verjagen. So war erst das Cardinalscollegium das
Echo der florentinischen Parteien geworden; dann wurde es
der Plebel, durch welchen Italien aus seinen Fugen gerissen,
und das Papstthum selbst in seinen Fundamenten erschüttert
werden sollte. Unter diesen Verhältnissen war die Reform der
florentinischen Verfassung durch den Cardinal von Medici er
folgt, für welche am 11. Mai Alessandro di Pazzi in lateinischer
Rede dankte. Da aber hiedurch einerseits dem Cardinal So
derino der Weg zum Papstthum, andererseits dem florentinischen
Adel der Weg zur Oligarchie verschlossen worden war, wurde
durch Luigi Alemanni, Sohn des Pier, eine Verschwörung ge
gen den Cardinal Medici im Style jener angezettelt, welche
unter Sixtus IV. von den Pazzi ausgegangen war und die Er
mordung Julians von Medici in der Kathedrale von Florenz
veranlasst hatte. 1488. Jetzt sollte an dem Frolmleichnams-
tage, und gerade während er feierlich das Sanctissimum trug
(19. Juni), der Cardinal überfallen und ermordet werden, als
einem Courier, der von Rom (und der Soderinischen Partei)
Depeschen nach Florenz bringen sollte, diese abgenommen
wurden. Man bemächtigte sich so weit wie möglich der Ver
schworenen; allein die Häupter entflohen und nur die Hand
langer konnten ergriffen und bestraft werden. Die Folge des
1 Obligatissimo a Cesare. Dell’ istoria Florentina di Jacopo Pitti sino al
1529, libri due. L. II. p. 125.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VT.
227
fehlgeschlagenen Unternehmens war, dass die Macht des Car
dinais in Florenz höher stieg-, als bevor. Zwei Monate später
kam Adrian nach Livorno, und man kann es wohl sagen, in
Mitte dieser florentinischen Parteiumtriebe, des Intriguen-
kampfes zwischen den Häusern Medici und Soderini, von
welch letzterem Pitti behauptet, der Cardinal habe Adrian
völlig zu umgarnen gewusst. 1
Doch erwies sich Adrian, als ihm die Cardinäle von Livorno
entgegenfuhren, allen gleich ernst, gelassen und freundlich. Er
speiste aber allein, und als die Schiffer zur raschen Abfahrt
drängten, begab er sich schnell an Bord, so dass die Cardinäle,
bereits unangenehm berührt, dass er sie nicht zur Tafel ge
zogen, nun so rasch wie möglich von ihrer Tafel weg nach
den Schiffen eilten, die sie am Abende des 26. August nach
der Rhede von Civitä Yecchia brachten. Es gab für den Papst,
kränklich und ermüdet wie er war, nur Einen Gedanken, Rom
zu erreichen, Italien, der Christenheit den Frieden zu bringen.
Je näher er Rom kam, desto mehr scheint die Begierde ge
stiegen zu sein, die Stadt zu betreten, welche seinen Thron
und sein Grab in sich schliessen sollte.
Zwanzig Schiffe waren zurückgeblieben, mit 18 Galeeren
erschien der Papst vor Civitä Vecchia. Mittwoch den 27. August
betrat Adrian nach 22tägiger Seefahrt, 169 Tage seit er sich
von Vitoria auf den Weg gemacht, mehr als sieben Monaten
seit er gewählt worden war, von den Cardinälen Prosper Co-
lonna und Francesco Orsini, welche ihn in Spanien hätten ab
holen sollen, an der Küste empfangen, 2 den Boden des Kirchen
staates. Von der jubelnden Bevölkerung geleitet, begab er sich
nach der Hauptkirche, dort Messe zu lesen, und dann in den
Palast, die vornehmen Römer und die Cardinäle zu empfangen,
an deren Spitze Colomia die Anrede hielt. Abends wurden
aber wieder die Segel gelichtet, um nach Ostia zu fahren. Nun
hinderte aber ein heftiger Wind eine geordnete Ausschiffung,
so dass ein Theil des Gefolges und Gepäckes erst nach zwanzig
1 Accortosi (il cardinale di Medici) die la sagacitä del cardinale Soderino
s’era guadagnata la grazia del Papa, dimorato poco a Firenze ritoraö.
p. 130.
2 Nach Vettori die Cardinäle Cornaro, Colonna und Vieh.
15
228
H n f 1 e r.
Tagen und auf dem Umwege über Gaeta nach Rom gebracht
werden konnte. Adrian liess sich sogleich mit dem Doctor
Agredo an das Land bringen und bald bedeckte sich die Küste
mit Erzbischöfen und Bischöfen, Herzogen und Botschaftern,
Gelehrten und Rittern, die sich die Zeit vertrieben, indem sie
Steine in das Wasser schleuderten oder am Strande auf- und
niedergingen. Her Cardinal Carvajal, welcher durch ein eigen
tümliches Geschick auch der letzte war, der den Papst be
wirtete, nahm als Befehlshaber des Schlosses von Ostia den
Papst und sein unmittelbares Gefolge als seine Gäste zu sich;
dann aber bestiegen der Papst und die acht Cardinäle, welche
sich in Ostia gefunden hatten, ihre Pferde, um noch an dem
selben Tage (28. August) das Kloster von Set. Paul vor den
Mauern von Rom zu erreichen und dort die Nacht zuzubringen.
Da aber für eine so grosse Anzahl vornehmer und geringer
Personen keine hinreichende Anzahl von Maultieren aufge
trieben werden konnte, mussten Viele zu Bauernwagen oder
Eseln ihre Zuflucht nehmen, um teils an demselben Tage,
teils am Morgen des folgenden in der brennenden Sonne des
Augustes und dem Pesthauche entgegen, der von Rom herwehte,
sich dem Grabe des Apostels der Heiden zu nähern, zu dem
nun aus der Porta di San Paolo und dem Orte vorüber,
wo nach der Legende Petrus und Paulus vor ihrem Martyrium
Abschied genommen, was Rom an vornehmen Personen besass,
herausstrümte, den neuen Papst zu empfangen, den, einen Deut
schen, die Spanier nach San Paolo gebracht hatten.
Der 29. August 1522 war angebrochen. Man kann sich
vorstellen, mit welcher Spannung alle Nachrichten über das
Aussehen des Papstes, über sein Benehmen aufgenommen, ver
breitet, nun mit jener Scharfe besprochen wurden, die den Rö
mern eigen ist. Der feierliche Moment nahte. Am Grabe des
Apostels der Heiden, welchen Rom als einen seiner geistigen
Begründer ehrte, versammelte sich das durch die Ernennungen
Leo’s X. erneute Cardinaiscollegium, nebst seinen wenigen
älteren Bestandteilen, alles was Rom an Prälaten und ange
sehenen Weltlichen in seinen Mauern barg, den ausländischen
Papst zu empfangen, welchem hier in seiner zweifachen Würde,
als Papst wie als Gebieter des Kirchenstaates, in der üblichen
Weise gehuldigt wurde. Zweihundert Mann der päpstlichen
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
229
Wache zu Fuss, wie die dazu gehörigen Reiter hielten die Zu
gänge zur alten Abtei besetzt, in deren wunderbarschönem
Kreuzgange nun die Cardinäle den Papst erwarteten. Dieser
hatte, wie gewöhnlich, am frühen Morgen celebrirt. Dann be
gab er sich in das Chiostro, wo nun ein Cardinal nach dem
andern ihm die Hand küsste. Hierauf führten sie ihn in die
Kirche, wo erst am Grabe des h. Paulus die üblichen Gebete
verrichtet wurden, worauf sich Adrian auf einen Thron setzte
und von den Cardinälen die Huldigung empfing. Dann begab
sich der ganze Zug in die Sacristei, wo das Consistorium ab
gehalten wurde. 1 Wahrscheinlich war es bei dieser Gelegen
heit, möglicher Weise auch schon im Chiostro, dass der Car-
dinalbischof von Ostia, Bernardin Carvajal, in längerer wohl
gesetzter Rede die Freude ausdrückte, neun Monate nach dem
Tode Leo’s dessen tüchtigsten Nachfolger begrüssen zu können.
Er sprach mit grossem Freimuthe sodann, dass die Kirche unter
den jüngsten Päpsten mannigfache Mängel erlitten, wies darauf
hin, dass der grösste darin bestehe, wenn der Gewählte seine
Erhebung der Simonie verdanke. Es war eine indirecte Apo
logie seines eigenen früheren Verfahrens, als er erwähnte, dass
zwar Alexander III. nur die Häresie als Hinderniss der Papst
wahl bezeichnet, andere Päpste aber, sowie das Constanzer und
Basler Concil und das jüngste lateranensische auch die Simonie
als von jeder kirchlichen Würde ausschliessend bezeichnet hätten.
Der gegenwärtige apostolische Senat habe alle Simonie ferne
gehalten, den Papst, ohne dass er darum gebeten oder sich in
die Wahl eingemischt, in seiner Abwesenheit gewählt. Der
Sprecher konnte von den früheren Conclaven am besten wissen,
welche Ausnahme dieser Fall bildete.
Es habe auch andere Krankheiten in der Kirche gegeben,
da es früheren Päpsten an richtigem Verständnisse (intellectus),
Willen, Wissen und Tugend gefehlt habe. Ja er sprach in der
härtesten Weise aus, dass in früheren Zeiten unwissende und
faule, mit vielen Lastern erfüllte, mit keinen Tugenden ge
schmückte Päpste gewählt worden, was glücklicher Weise jetzt
ganz anders geworden sei. Adrians Wissenschaft bewiesen die
1 So nach Vettori, welcher wissen will, dass der Papst zuerst das Wort
ergriff.
Hö fler.
230
vielen Bücher, die er geschrieben; berühmt sei seine Tugend,
seine Denrath ausgezeichnet, seine Gerechtigkeit ohne Wanken,
seine Frömmigkeit unausgesetzt. Ein Papst, der täglich Messe
las, scheint dem Redner seit Langem nicht vorgekommen zu
sein. Da bedürfe es keiner besonderen Ermahnungen, 1 wohl aber
glaubte der Redner, ihm sieben Punkte ans Herz legen zu dürfen:
1: möge er die Schmerzen der früheren Zeiten entfernen, die
Simonie, die Unwissenheit, die Tyrannei und alle anderen
Laster, welche sonst die Kirche heimsuchten; er möge
sich an gute Räthe halten und die Freiheit in Abstim
mung, in den berathenden Behörden und der Ausübung
der Regierungsbeamten beschränken.
2. Er möge die Kirche nach den Concilien und Canonen, so
viel die Zeiten gestatten, reformiren, damit sie das
Aeussere der h. Kirche und nicht einer sündigen Genossen
schaft zeige.
3. Er möge seine Brüder und Söhne, die Cardinäle und Prä
laten und andere Glieder der Kirche, mit echter Liebe,
nicht blos mit Worten, sondern mit Werken und Thaten
umfassen, indem er die Guten ehre und erhöhe, für sie
und besonders für die Armen sorge, damit nicht die
apostolische Höhe durch Armuth sich beschmutze.
4. Er möge ohne Unterschied gleiche Gerechtigkeit ertheilen,
dazu die Besten als Beamten bestellen, die durch keine
Abneigungen oder Rechtsstreitigkeiten die Gerechtigkeit
zu Grunde richteten.
5. Er möge die Gläubigen, insbesondere den Adel und die
Klöster, in ihren Nöthen unterstützen.
G. Er möge die Ungläubigen und insbesondere die Türken,
welche Rhodus und Ungarn bedrohten, bekämpfen und
dazu Geld sammeln, die christlichen Fürsten zum Waf
fenstillstand und einem Türkenzuge bewegen, und Rhodus
jetzt mit Geld unterstützen.
7. Er möge die Set. Peterskirche, welche zu ihrem grossen
Schmerze zum Theil niedergerissen sei, sei es auf seine
Kosten, sei es durch fromme Beiträge der Fürsten und
Völker, auf bauen.
1 Nullae exortationes ad bonam ecclesiae gubernationem videntur necessariae.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
231
Thue er das, so werde sein Name bei Gott und den Menschen
in gleicher Herrlichkeit leuchten. 1
Es ist sehr eigentümlich, dass von der in ihren Folgen
wahrhaft unermesslichen Bewegung der Geister in Deutschland in
dieser Bede gar keine Erwähnung geschah. War für sie der Decan
des Cardinalscollegiums nicht vorhanden? Wenn aber irgend etwas
den ohnehin so ängstlichen und gewissenhaften Papst mit dem Ge
fühle erfüllen musste, dass die Pflichten seiner hohen Würde
weit über das Mass seiner Kräfte hinausreichten, so war es
der Inhalt dieser Rede, auf welche der Papst einfach antwor
ten konnte, ob denn die Cardinäle glaubten, dass er Wunder
wirken könne? Ohne Wunder aber, und zwar ohne das grösste
von allen, die Umwandlung der damals lebenden Persönlich
keiten, lasse sich die ihm gestellte Aufgabe nicht erfüllen.
Kaum konnte übrigens die Fehlbarkeit der Päpste und wie
durch sie das schwere Uebel der Zeit angerichtet worden,
stärker betont werden. Der Papst dankte in seiner Ansprache
den Cardinälen für die erfolgte Wahl, setzte sodann ausein
ander, warum er nicht früher in Rom habe eintreffen können,
stellte aber sogleich an sie das positive Verlangen, sie sollten
auf das Recht, Banditen und anderen Uebelthätern in ihren
Palästen Unterkommen zu gewähren, Verzicht leisten und dul
den, dass der Bargello sich in ihre Häuser begebe, die Misse-
thäter aufzugreifen. Jeder habe die Waffen niederzulegen. Der
Unfug hatte den höchsten Grad erreicht. Nicht lange vorher
war ein Herzog von Camerino, welcher von Rom nach Genaz-
zario ritt, ermordet worden. Man glaubte vom eigenen Oheim
und beschuldigte deshalb den Cardinal Cibo. 2 Am 15. Juli
hatte man zwei Mörder aus Neapel — der eine hiess Pater
noster, der andere Avemaria •— aber erst nachdem sie 116 Mord-
thaten verübt, hingerichtet. Man erwartete einen neuen Aus
bruch von Fehden zwischen den Colonna’s und Orsini’s. Im
Walde von Baccano hausten Corsen (der Signor Renzi, welcher
die Orsini aufreizte) und mordeten die Vorüberziehenden. Den
Cardinälen blieb nichts anderes übrig, als in das Verlangen
1 Hofier, Analecten zur Geschichte Deutschlands und Italiens, p. 57— 62 ?
2 Yettori p. 114.
232
Hofier
des Papstes einzugehen und auf ihr unsinniges Anrecht Ver
zicht zu leisten.
Nach der Darstellung des Caplan Ortiz hörte Adrian auch
die übrigen Reden von Botschaftern, Corporationen etc. an und
erwiederte erst dann, er empfehle sich ihrem Gebete, dass die
Gnade des h. Geistes auf ihm ruhe und ihre guten Urtheile über
ihn nicht zu Schanden würden. Nichts sei mehr zu befürchten,
als dass die Arbeit einem Schwachen, die Erhabenheit einem
Niedrigen, die Würde dem zugekommen, der sie nicht verdiene.
Dennoch verzage er nicht, da er auf denjenigen vertraue, der
in ihm alles bewirke. Die göttliche Gnade, welche ihn, den
Unwürdigen, zu dieser Würde erhoben, werde ihn auch zum
tauglichen Diener machen, einer solchen Last sich zu unter
ziehen.
Der Ceremonienmeister Blasius von Cesena hat uns mit-
getheilt, dass, als der Papst schon in Ostia war, in Rom wegen
des Streites der Cardinäle noch Alles in der grössten Verwir
rung war; daher vielleicht auch die schlechten Anstalten zum
Empfange des päpstlichen Gefolges. Der Papst habe in Sanct
Paul einige Bittschriften, welche ihm vorgelegt wurden, unter
zeichnet, besonders die „der Conclavisten". Als aber der Bi
schof von Poitiers ein Canonicat von Set. Peter für sich erbat,
verweigerte es ihm Adrian. In grosser Bestürzung über den
Ernst, der sich jetzt geltend machte, seien sodann die Cardi
näle gegen Rom geritten; der Papst hatte 5000 vacante Bene-
ficien zu vergeben. Wie Viele sahen sich jetzt in ihren Hoff
nungen getäuscht. Der Zug ordnete sich in möglichst glänzender
Weise; voraus, Platz zu machen, die Cavallerie, dann die Fuss-
soldaten, sämmtliche Beamte der römischen Curie in rothen
Gewändern, zuletzt der maggior domo mit den Haus-Prälaten,
der Papst bis zum Thore von San Paolo getragen. Ein herr
licher Triumphbogen sollte dort von den Brüdern Porzio um
500 Scudi errichtet werden. Der Papst weigerte sich in seiner
Demuth, wie ein Triumphator einzuziehen, konnte aber nur
hindern, dass dieser Bogen vollendet wurde, während in der
Stadt selbst Bogen an Bogen errichtet waren. Dort empfing
ihn der Magistrat der Stadt, Adrian küsste das Kreuz und be
stieg dann seinen Zelter, das Sacrament in der Hand. Hinter
ihm ritten die Cardinäle, die Botschafter, der Adel, das übrige
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
233
Gefolge des Papstes, zuletzt kam eine unzählbare Menschen
masse. Die Kanonen ertönten, das Freudengeschrei überbot
ihren Lärm, die Frauen weinten, das Volk jubelte, es vergass
Pest und Noth, als es seinen neuen Gebieter sah. 1
Darüber, dass mit der Zeit und den Neigungen Leo’s X.
gebrochen worden sei, konnten sich diejenigen, welche Adrians
hohen Ernst erblickt, keiner Täuschung hingeben. Ob er es
verstehe, den Uebergang von einem heiteren, nur dem leichten
Spiel des Lebens zugewandten Pontificat zu der nothwendi-
gen Strenge minder schroff zu machen, musste sich erst zeigen.
Vorderhand war es die Reform der Kirche, welche als das
Programm des neuen Pontificates ausgesprochen wurde und
Alle mit Freuden erfüllte, deren Sinn nicht im Taumel der
Zeit untergegangen war. Man musste instinctmässig heraus
fühlen, wenn irgend Jemand diese grosse Aufgabe vollführen
konnte, so war es nur ein Ausländer, welcher mit dem Getriebe
römischer Factionen nichts zu thun hatte, von allen Parteien
gänzlich gelöst war und nur das Eine hohe Ziel im Auge hatte.
Schon um 9 Uhr war in Set. Paul alles vollendet, wandte
sich der festliche Zug bei glühendem Sonnenbrände 2 dem Kirch
lein zu, an welchem der Sage zufolge Petrus und Paulus, beide
zum Tode bestimmt, von einander Abschied genommen, zum
Thore von Set. Paul, zur Pyramide des Cestius, zum aventinischen
Berge, dann durch die Stadt nach der Tiberbrücke und der
Kirche des h. Petrus, wo um Mittag der Papst noch Messe
hörte. Dann verabschiedete er sich von den Cardinälen, den
Botschaftern, im Vatican eine Mahlzeit zu sich zu nehmen.
Das Gefolge zerstreute sich, wo es eben Unterkommen fand. 3
Am 30. August konnten die Römer bereits bemerken, dass
sie ein Oberhaupt besassen. Es erfolgte ein äusserst scharfes
Verbot, Waffen zu tragen, die strengsten Massregeln zur Aufrecht
haltung der Sicherheit. Daneben wurden Vorbereitungen .zur
1 La pompa fu mediocre, anzi molto positiva, parte per essere il Pontefice
di natura aliena da sirnil cose parte per esser tutti questi cortigiani
esausti da Papa Leone e falliti. Vettori.
2 fervido sole. Blas. Ortiz.
3 Dies hic festus quamvis magnae solennitatis nostratibus tarnen injucundus,
cum marcidi ex longa navigatione nesciebant quo se reciperent. 1. c.
234
Höfler.
Krönung getroffen, welche .Adrian auf Sonntag den 31. August 4
bestimmt hatte, auf dass in Betreff der Berechtigung seiner
Regierungshandlungen kein Zweifel entstehe. Sie erfolgte nach
dem alten Ritus iu vollster Pracht und Herrlichkeit, nachdem
der Papst, das Angesicht dem Volke zugekehrt, das Hochamt
gehalten, und unter massigem Zuströmen des Volkes, das noch
immer von der Pest heimgesucht war. Es hatte einen leb
haften Streit unter den Cardinälen abgesetzt, wo die Krönung
vorgenommen werden sollte; die Mehrzahl war dafür gewesen,
dass der Papst in Set. Paul gekrönt werde und dann seinen
Einzug in Rom halte. Man entschied sich zuletzt für Sanct
Peter und dass die Krönung wie gewöhnlich vor der Kirche
an den Stufen stattfinde. Wer aber, fügt Blasio Ortiz als
Augenzeuge hinzu, das engelgleiche Antlitz des Papstes er
blickt, seine wohlklingende Stimme 2 gehört und die Ceremonien
gesehen hat, musste glauben, es sei hier mehr etwas Göttliches
als etwas Menschliches vorhanden. Es charakterisirt die Zeit,
dass, als dann das Krönungsmal stattfand, zwar Niemand an
die Möglichkeit einer Vergiftung glaubte, aber doch die Car-
dinäle römischer Sitte gemäss sich von ihren eigenen Mund
schenken bedienen liessen und ihren eigenen Wein tranken. 3
Niemals gab es eine grössere Freude, schrieb Campeggio am
5. September an Wolsey über Adrians Einzug. Jedermann
urtheilt nach seinem Ausdrucke, seinen Worten, seiner Art
und Weise, es sei ein ausgezeichneter Papst. 4 Er umgab sich
mit dem Bischöfe von Feltre, dem von Castellamare, drei Udi-
toren di Rota, Trivulgio, Simon etta und Cassiodorus, dem Bi
schöfe von Burgos, Johann Winkler und Copis als seinen
1 Vettori sagt irrig: penultimo di questo mese.
2 dulcem voeem.
3 Unmittelbar mit dem Acte der Krönung verband sich die Huldigung für
das Königreich Sieilien, welche auf Befehl K. Karls (Lanz I. p. 65) der
Vicekönig und kais. Botschafter leisten mussten. Zugleich sollten sie auch
einen Indult erwirken, dass Karl die erledigten flandrischen und burgun-
disclien Bisthümer besetzen könne, ebenso handelte es sich um die Grün
dung neuer Bisthümer.
4 Of his (the Pape) age he is tlie most lusty man that ever I saw, but at
his arrival he was in great danger of his life. Hannibal an Wolsey.
Korne 13. Jan. 1523.
*
Wahl und Thronbesteigung Adrian’a Yl.
235
Riitlien und begann schon am 5. Sept. die 9000 Gesuche zu erledi
gen, welche seit seiner Wahl auf ihn warteten. 1
Bereits am 1. September hatte die eigentliche Regierung
begonnen. Wohin aber sollten sich die Sorgen des Papstes
zuerst wenden, da der Kirchenstaat ebenso zerrüttet war als die
Kirche, die Christenheit ebenso uneinig als von äusseren Fein
den bedroht, und es ebenso an Willen wie an Macht, an Ein
sicht wie an Mitteln fehlte, den zum hohen Berge angewach
senen Uebelständen abzuhelfen. Zuerst war nothwendig die
Verordnung, ■welche alle Verfügungen des Cardinaiscollegiums
in Betreff von Pfründen seit dem Tage seiner Wahl für nichtig-
erklärte, zu veröffentlichen und wäre es auch nur, um ihr jeden
Schein zu benehmen, als seie sie unkräftig, da er sie als ge-
wählter und nicht als gekrönter Papst gegeben hatte. Die
Verfügung war ein harter Schlag für das Cardinalscollegium,
die Vorschrift über die päpstliche Kanzlei war ohne ihr Wissen
und Zuthun in Spanien von dem Papste und dessen Vertrauten
ausgearbeitet worden, war direct gegen die Cardinäle gerichtet
und enthielt so das grösste Misstrauensvotum, welches der neue
Papst nur immer der alten Regierung geben konnte.
Das Nächste, was dann zu geschehen hatte, war die Ein
richtung des päpstlichen Hofstaates; die ganze Pracht und Herr
lichkeit Leo’s fiel hinweg. Als die Palefreniers dem neuen
Papst einen Abgeordneten schickten, dieser nun frag, wie viel
ihrer seien und hörte, nahe an hundert, machte Adrian das
Kreuz und meinte, ihm genügten vier hinlänglich; da es sich
aber zieme, dass er mehrere habe als die Cardinäle, wolle er
zwölf behalten. Die beiden flammändischen Kammerdiener,
welche er mitgebracht hatte, ruhige und schweigende Männer,
bedienten ihn. Sie waren bald Gegenstand boshafter Bemer
kungen. 2 Adrian änderte in nichts seine frühere Lebensart.
Als die Cardinäle ihn baten, mehr Dienerschaft auzunehmen,
wies er auf die leeren Cassen hin, die ihm P. Leo hinter
lassen; zuerst müsse man die Kirche von den Schulden be
freien. Klagte man später, der Papst lebe wie in klösterlicher
Einsamkeit, so war gleich anfangs der Unterschied zu früher
1 Brew. n. 2506.
2 Vettori nennt sie stupidi e marmorei.
236
H ö f 1 e r.
grell genug. Man erkannte seinen Sinn für strenge Gerechtig
keit; aber gerne hätten ihm die Römer manche Ungerechtigkeit
verziehen, hätten er und seine Umgebung sich mehr ihren Sit
ten angeschlossen. Meinte man doch, wie Italien das Paradies
der Welt sei, so sei es auch durch die allgemeine Gefälligkeit
und den Mangel an übertriebener Strenge von Engeln 1 be
wohnt. Man konnte die Selbsttäuschung nicht höher treiben.
Man fühlte vom ersten Augenblicke an einen Misston zwischen
dem strengen Gebieter und dem am frohen Lebensgenuss ge
wöhnten Volke. Die Römer zumal hatten, seitdem Rom wieder
statt Avignon der Sitz der Päpste geworden, von der Kirche
zu zehren verstanden. Ein Papst, welcher Anlage hatte zu
einem guten C'assier, wie sich Vettori ausdrückt, war ihnen
von Haus aus unangenehm. Sie verstanden ihn nicht, er sie
nicht. Er hatte das feste Ziel der Kirche im Auge, sie ihre
persönlichen Interessen. Leo X. war populär, weil er eine
Million in Gold an Schulden hinterlassen; sein Nachfolger ward
unpopulär, weil er keine machen konnte noch machen wollte.
Er befand sich im Verhältnisse wie Galba zu Nero. Die Car-
diuäle verlangten, er solle Geld sammeln, die Römer, er solle
Geld ausgeben, er solle für ihre Interessen sorgen. Er war
ein guter Papst, wenn er die Römer fütterte und unterhielt.
Ihre Interessen sollten noch mehr gefährdet werden!
Wenn auch unter den Cardinälen die heftigsten Feind
schaften herrschten und der Sinn für die Würde der Kirche
beinahe völlig erloschen war, so dachten wenigstens nicht alle
in dieser Art. Adrian erhielt von dem Cardinalpriester (von
Set. Matthäus), Aegidius von Viterbo, General des Augustiner
ordens, eine so umfassende Darstellung des Zustandes der römi
schen Kirche und dessen, was zu bessern war und wie es
gebessert werden konnte, dass er sie als sein Programm an
zunehmen und als Grundlage seines Regierungs - Systemes zu
verwenden im Stande war. Es ist dies unbedingt die bedeu
tendste Schrift, welche im Reformationszeitalter über diesen
Gegenstand verfasst wurde, deren Bedeutung noch wesentlich
durch die hohen Tugenden und die reformatorische Gesinnung
ihres Verfassers vermehrt wurde. Sie begann damit, dass aus-
1 habitata degli angioli. Vettori.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’f? VI.
237
einandergesetzt ward, wie es sich jetzt nicht sowohl um eine
Schwächung der Kirche, als um ihren totalen Ruin handle,
welcher nur durch Adrian abgewendet werden könne, mit des
sen unverhoffter und einstimmiger Wahl ein neuer Hoffnungs
strahl aufgegangen sei. Man müsse von vorne anfangen, und
da von dem Missbrauche des göttlichen Amtes und der Schlüssel
gewalt das Uebel herstamme, müsse die absolute Gewalt
beschränkt werden. Dieses aber könne dadurch geschehen,
dass ausgezeichnete Männer über die Grenzen derselben sich
aussprechen. Denn wenn er auch Alles vermöge, 1 so dürfe er
sich doch nicht alles erlauben. Es müssten feste Normen der
Gerechtigkeit beobachtet werden, sowohl in Betreff des ver
langten Rechtes als der gewünschten Gnadenbezeigungen. Der
schlimmste Missbrauch geschehe aber mit dem Antritt von
Pfründen ohne Zustimmung des Besitzenden und Eigenthümers.
Die Vereinigung von Pfründen 2 müsste gänzlich verboten wer
den. Es sei ein schwerer Missbrauch, dass die Mönche so
viele Pfarrkirchen besässen, nicht minder sträflich aber der Geiz
der Weltpriester, welche Pfründen, deren Vereinigung absolut
incompatibel sei, Capellen, Priorate, Präbenden, Canonicate
zusammenscharrten, so dass sie alphabetischer Verzeichnisse
ihrer Einkünfte bedürften. Commenden müssten geradezu ver
boten werden. Nicht minder die unter dem Namen compositio
eingerissene Pfründenmäkelei, welche den römischen Stuhl bei
den Fürsten so sehr verhasst machte und den Häretikern An
lass gab, gegen die Päpste aufzutreten. Nothwendig müssten
die Vollmachten der Datarie beschränkt werden. Es sei ein
entsetzlicher Uebelstand, dass kaum und auf das mühsamste
ein Entscheid erlangt worden, derselbe auch schon durch die
Bitte eines andern in Frage gestellt werde. Aegidius bezeich-
nete die Datare geradezu als Blutsauger und Ungeheuer. Die
Reservation von Beneficien müsse bis auf ganz besondere Aus
nahmen aufgehoben, was aber einmal bewilligt worden, auch
in Ausführung, gebracht werden. Durch diese Massregel würde
eine Unzahl von Processen abgeschnitten werden. Der Ver
fasser rieth, demjenigen, welcher den Gnadenbezeugungen vor-
1 omnia possit. Höfler, Analeeten.
2 beneficioram quae dicuntur uniones.
238
Hofier.
gesetzt werde, Referendare beizugeben, welche über die Zweck
mässigkeit der Bitten Bericht erstatteten. Eine genaue Unter
suchung müsse über den Wirkungskreis der verschiedenen
Behörden gepflogen worden, namentlich bei denjenigen, welche
durch Geld erlangt werden könnten. Man müsse ebenso genau
bei Besetzung von Pfründen die Menschen als die eigentüm
lichen Verhältnisse der Diöcesen berücksichtigen; fremde nicht
einheimischen vorziehen, von den niedern ein Vorrücken zu
den höhefn gestatten. Ueberhaupt sei im Allgemeinen an dem
Grundsätze festzuhalten, nur ganz taugliche und tüchtige Per
sonen zu den Aemtern zuzulassen; bereits sei es durch Zu
geständnisse, Bewilligungen oder geradezu durch Concordate
mit Fürsten dahin gekommen, dass der grössere Theil geist
licher Rechte und Angelegenheiten ausserhalb der Sphäre des
römischen Stuhles liege, so dass jene nach Willkür darüber
verfügten ; deshalb sei es notwendig, so viel als möglich diese Be
willigungen zu beschränken und den Missbrauch zu bessern.
Alle Massregeln in dieser Beziehung müssten aber mit-grosser
Umsicht und Mässigung geschehen, da leider in früheren Zeiten
die Plabsucht und Blindheit der- Päpste so unheilvoll gewesen,
dass sie um eines augenblicklichen Vortheiles willen sich nicht
scheuten, der Kirche einen bleibenden Schaden zuzufügen.
Nicht geringer sei aber auch der Nachtheil, welcher durch
den verschwenderischen Gebrauch von Ablässen entstanden sei.
Alle Indulgenzen, welche den Minderbrüdern gewährt würden,
müssten gänzlich zurückgenommen werden, da dadurch die
ordentliche Jurisdiction der Bischöfe geradezu und von Grund
aus zerstört werde. Die ungemessene Vollmacht der Vergebung
erzeuge masslose Lust zu sündigen. Das bevorstehende Jubi
läum gewähre den besten Anlass, die grossen Beichtprivilegien
zurückzunehmen. Der Verfasser rieth ferner, die Fürsten zu
jährlichen Beiträgen zur so nothwendigen Vollendung der Sanct
Peterskirche zu vermögen; dasselbe sollten ihrer Seits Papst
und Cardinäle thun. Nicht minder legte er dein Papste die
Rückkehr Böhmens an das Plerz, welche, wie er sich in Wien
1515 überzeugt, von vielen Böhmen selbst gewünscht werde.
Da der jugendliche König von Ungarn durch das Testament
seines Vaters unter päpstliche Vormundschaft gestellt worden,
müsse doppelte Sorge für Ungarn verwendet werden, das durch
Wahl mul Thronbesteigung Adrian's VI.
239
die Eroberung Belgrads den Einfällen der Osmanen offen stehe.
Ein Legat mit vielen Predigern, welche auf das Volk ein wirken
müssten, sollte nach Ungarn gesandt, der König von Polen und
der Deutsch-Ordensmeister zum Frieden oder Waffenstillstand
gebracht und seihst auch auf die Moscowiter eingewirkt wer
den, damit diese ihre Waffen mit den anderen Mächten gegen
die Osmanen verbänden. Ebenso sei nothwondig, Legaten zu
dem Kaiser, den Königen von Frankreich und England zu sen
den und alles aufzubieten, dass die lutherische Pest von Grund
aus ausgerottet werde.
Das Promemoria wandte sich dann der Verwaltung der
Gerechtigkeit zu und rieth dem Papste, privatim nichts dahin
Einschlägiges zu unterzeichnen, sondern alles an den Vorstand
der Justizbehörde zu verweisen. Namentlich aber müsste die
llota als allgemeines Tribunal des christlichen Erdkreises mit
den ausgezeichnetsten Männern besetzt werden. Kein Bischof
dürfe ferner mehr Anwalt bei der Rota sein. Den Auditoren
sollten bestimmte Besoldungen neben den Sporteln zukommen,
letztere geregelt werden; die Notare und Registratoren ihr Amt
selbst verwalten, der Preis der Ausfertigungen festgesetzt und
vermindert werden, da, was früher 500 Ducaten kostete, jetzt
über 2000 zu stehen komme. In ähnlicher Weise verhalte es
sich mit dem Tribunal eines Uditore della camera, wo, was
früher 4 Ducaten kostete, jetzt 20 kostet. Der Wirkungs
kreis des Senators und der Richter des Capitols müsste gleich
falls reformirt werden. Fortwährend baten die Römer, es möge
ihnen die Würde eines governatore zurückgegeben werden. Es
erfolgten Rathschläge in Betreff der ordentlichen Legationen
(Avignon, des Patrimonium, Perugia, Mark, Bologna); diese
sollten nur auf zwei Jahre Cardinälen übergehen werden, nicht
auf Lebenszeit, und zwar müssten diese sie selbst verwalten.
Letzteres sollte überhaupt von allen Verwaltungsstellen gelten.
Der Verfasser rieth, in allen Städten Untersuchungen, die bis
auf die letzten sechs Jahre hinaufreichten, anstellen zu lassen,
um den nur zu gegründeten Klagen zu begegnen.
Endlich wandte sich die Schrift der Untersuchung der
Gründe zu, warum denn der römische Stuhl gar so mit Schul
den belastet und um seine Einkünfte gekommen sei. Sie
bezeichnete als solche die neuen Aemter, welche P. Leo X.
240
Hofier.
für Geld schuf und deren Einkünfte auf die Kirche angewiesen
wurden. Dazu gehörten die Kämmerer, Schildträger und Ritter
des h. Petrus und andere, 1 welche jährlich 120,000 Ducaten
verschlangen. Man könne jedoch diese Aemter nicht geradezu
abschaffen, sollte nicht der Glaube an die Zusagen der Päpste
erschüttert werden. Man müsse eine Finanzcommission von
Cardinälen ernennen, welche sorgsam die Einkünfte seit Leo
untersuchten, wie und warum Schulden gemacht wurden, und
so der leichtsinnigen Verschleuderung entgegen träten. Man
müsste die oben bezeichneten Aemter allmälig einziehen, wenn
sie erledigt würden, sie mit Pfründen vertauschen. Als ein
anderes Mittel, der Verarmung des römischen Stuhles zu steuern,
könne die Einziehung der ersten Jahresrente aller vacanten
Pfründen bezeichnet werden, wozu ja der Papst die absolute
Macht besitze. Auch ein subsidium caritativum, eine Liebes-
steuer aus allen Theilen der Welt ward in Vorschlag gebracht.
Da die Kirche aus vielen Städten, Schlössern, gar nichts be
ziehe, könnten diese als Lehen statt der Aemter verliehen
werden. Man solle bei Ordensvisitationen Männer eines andern
Ordens verwenden, wodurch man gleichfalls Geldsummen zu
Stande brächte. — Kurz, die Nöth, w T elche Leo über den römi
schen Stuhl gebracht hatte und von der sich nun sein Nach
folger umgeben sah, war so gross, dass selbst die eifrigsten
Vertheidiger der Reform sich genöthigt sahen, zur Anwendung-
von Mitteln zu rathen, welche nur in der absoluten Gewalt der
Päpste ihre Begründung fanden. Aber diese war ja selbst der
Grund der grössten, nun Alles erdrückenden Uebelstände ge
wesen, und man bewegte sich dadurch fortwährend in einem
falschen Cirkel, indem man einerseits den Folgen des kirch
lichen Absolutismus zu entgehen suchte und um dieses zu können,
selbst an den Absolutismus appellirte.
Wohin der Papst blickte, befand er sich einem wogenden
Meere gegenüber, hier die Osmanen, dort die gegenseitige Wuth
der christlichen Mächte, liier die Nothwendigkeit einer durch
gängigen Reform der Missbräuche, die aber eine Höhe und
Macht erlangt hatten, dass sie zu beseitigen dem Umstürze
der Kirche gleich geachtet wurde; dort das offene Bestreben,
nicht blos die Missbräuche, sondern auch den Glauben umzu-
1 portiones ripae et ejus praesidentiae.
Wahl und Thronbesteigung Adrian’s VI.
241
stossen und eine ganz neue Kirche zu begründen. Wer
in solchem Gedränge nicht etwa in frevlem Leichtsinne den Muth
nicht verlor, sondern selbst auch die Hoffnung hegte, mit ruhi
gem Gottesvertrauen den Uebelständen gewachsen zu sein, war
ein Held, in seiner Weise auch ein Ritter ohne Furcht und Tadel.
Je mehr sich aber Adrian mit den Ideen des Aegidi’schen
Programms vertraut machte, in desto schärferen Gegensatz
setzte er sich nothwendiger Weise mit seiner ganzen Umgebung.
Er musste sehen, dass der alte oft gebrauchte Ausdruck der
Päpste, sie seien wie auf eine Warte gestellt, für ihn eine Ver
einsamung bedeute, die mit der Zeit eher zu- als abnahm. Man
begreift, dass der Papst sich von allen Entscheidungen in
Gnadensachen zurückzog und nur mit einem „wir werden
sehen“ zu antworten pflegte, dass sein Datar sich in unerbitt
lichen Ernst einhiillte, dass er selbst an sich sparte, um die
Kirche aus dem Nothstande Leo’s X. herauszureissen; dass
aber durch alles dieses die neue Regierung einen herben Cha
rakter annahm, welcher denjenigen, die lustigere Zeiten ge
sehen, fast unerträglich ward, und die überlegende, aber eben
deshalb auch zögernde Gerechtigkeit des Papstes der Gegen
wart keinen Ersatz für die Entbehrungen bot, die er vom
Standpunkte der Reform verlangte und die Jeder vielleicht in
Betreff Anderer, aber nur nicht in seinen eigenen Angelegen
heiten zugestand oder passend fand. Wo aber der Papst mit
irgend einem Nachdrucke auftreten wollte, fand er sich ge
hemmt, und heftete sich die üble Finanzlage wie eine Bleisohle
an seine Füsse. Wie konnte er ein subsidium caritativum ver
langen, das ihn in moralische Abhängigkeit brachte? Wie An-
naten, nachdem er dem Principe derselben entgegen war?
Welche Rolle war ihm aber selbst beschieden, wenn er zwar
an sich sparte und sparte, aber auf Jahre hinaus zu einer Un-
tlnttigkeit angewiesen war, während man von ihm die grösste
Thätigkeit verlangte und bereit war, alles w r as von ihm aus
ging, Thun und Lassen, mit der herbsten, unbilligsten Kritik
zu begleiten?
Brechen wir hier die Schilderung dessen ab, was wir über
die Anfänge des Pontificates Adrians zu berichten vermögen,
um uns nicht zu sehr in das Detail zu verlieren. — Es han
delte sich zunächst, was mit der spanischen Kriegsmacht zu
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hfl. 16
242
Höfler. Wahl und Thronbesteigung Adrian’s YI.
thun sei, welche den Papst nach Italien geleitet hatte. Wenn
wir Paolo Giovio glauben dürfen, so gab der Cardinal yon
Medici den Rath, sie sogleich zur Vertheidigung des schwer
bedrängten Rhodus zu verwenden; es sei Hoffnung vorhanden,
dass dann auch die Venetianer sieh zum Kampfe hinreisseil
lassen würden. Allein der sehr kluge Gedanke stiess auf einen
mehrfachen Widerstand. Einmal verlangte der spanische Bot
schafter Don Lopez de Mendoza, Herzog von Sessa, dass, da
K. Franz mit einem neuen Einfalle drohe, diese Truppen zum
Schutze der Lombardei verwendet würden. Dann hatten letz
tere, durch die lange Seereise ermüdet, keine Lust, sich aufs
Neue dem Meere anzuvertrauen. Endlich befand sich der
Kirchenstaat selbst in grösster Gefahr, da Sigismund Malatesta
sich Rimini’s bemächtigte und somit den Kampf gegen ,die
Kirche' begann. Dadurch erhielten diejenigen, welche mein
ten, zuerst müsse Italien sichergestellt werden, einen neuen
schwerwiegenden Grund. Der Datar Wilhelm Enkevort, Die
trich Hess, der Secretär des Papstes, und Giov. Rossi, Erz
bischof von Cosenza, welchen Adrian als Nuntius bei K. Fer
din and schätzen gelernt hatte, vereinigten ihren Einfluss in
eben diesem Sinne, und so geschah es, dass die spanische Ar
mada in Italien verwendet wurde. Am 7. September ersetzte
der Herzog von Sessa den Don Manuel als spanischen Bot
schafter in Rom, 1 der Cardinal von Medici kehrte nach Florenz
zurück, wo seine Anwesenheit dringend nothwendig war; dadurch
wurde es seinem Gegner, dem Cardinal Soderino, noch mehr möglich,
Einfluss auf Adrian zu gewinnen, und bestand dieser vorläufig
auch nur darin, dass der Papst in seiner massvollen Gerechtig
keitsliebe sich nicht unbedingt zum Träger der spanischen Politik
und zum Werkzeuge des spanischen Hasses machte, so war damit
sehr viel für die Partei gewonnen, die Soderino vertrat. Karl ward
in seinen Planen aufgehalten, K. Franz die Möglichkeit gegeben,
durch Anträge und Friedensbedingungen, die er nicht zu halten
gedachte, Zeit zu gewinnen, sich den Schein der Friedfertigkeit
zu gehen und den Papst, der spanischer Seits zu Erklärungen ge
drängt wurde, allmälig in Zwiespalt mit seinem kaiserlichen Zög
ling zu versetzen.
1 Gachard, lettres de Charles-Quint au due de Sessa. I.
243
XXII. SITZUNG VOM 16. OCTOBER 1872.
Der Secretär verliest Dankschreiben der neu gewählten
Mitglieder, der Herren Regierungsrath Ritter von Arndts in
Wien, Professor Dr. Ritter von Schulte in Prag, Professsor
Dr. Hoffmann in Wien und Prof. Dr. Zeissberg in Wien.
Der Reichsrathsbibliothekar Herr Dr. Vinc. Goehlert
ersucht um Aufnahme von drei Gesandtschaftsberichten von
Friedrich von Khreckwitz aus Constantinopel vom Jahre
1593 in die Schriften der historischen Commission.
Herr Regierungsrath Dr. Constant von Wurzbach legt
den im Druck vollendeten 24- Band seines biographischen
Lexicons des Kaiserthums Oesterreich' vor.
An Druckschriften wurde vorgelegt:
Acad4mie Royale des Sciences, des Lettres et des Beaux-Arts de Belgique:
Rapport seculaire sur les travaux de la Classe des Lettres (1772—1872);
par J. J. Thonissen. Bruxelles, 1872; gr. 8°.
Accademia delle Scienze dell’Istitutö di Bologna: Memorie. Serie III. Tomo I,
fase. 1—4; Tomo II, fase. 1. Bologna, 1871 & 1872; 4°. — Indici
generali dei dieci tomi della 2 da Serie delle Memorie. (1862—1870). Bo
logna, 1871; 4°. — Rendiconto. Anno accademico 1871—72. Bologna, 1882; 8°.
— R., delle Scienze di Torino: Atti. Yol. VII. Disp. l a -—7“. Torino, 1871 — 72; 8°.
— Bolletino meteorologieo ed astronomieo del R. Osservatario dell’Univer-
sita di Torino. Anno VI. 1872. Quer-4°.
Association pour l’encouragement des etudes greccpies en France: Annuaire
6 e AnnÄe, 1872. Paris; 8°.
16*
244
Bibliotlieque de l^Ecole des Chiirtes. XXXIII. Annde 1872. l rc und 2 e
Livraisons. Paris; 8°.
Central-Commission, k. k. statistische: Mittheilungen. XIX. Jahrgang,
3. Heft. Wien, 1872; kl. 4°.
Essex Institute: Proceedings and Communications. Vol. VI. Part. 3.
1808—71. Salem, 1871; 8°. — Bulletin. Vol. III. 1871. Salem, 1872; 8°.
Istituto, R., Veneto di Scienze, Lettere ed Arti: Memorie. Vol. XVI, Parte 2;
Vol. XVII, Parte 1. Venezia, 1872; 44 — Atti. Tomo 1°, Serie IV“,
Disp. 7°—9“. Venezia, 1871—72; 8°.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 18. Band, 1872,
Heft IX. Gotha; 4«.
„Revue politique et litteraire“ et „La Revue scientifique de la France et de
l’dtranger“. II e Annee, 2 e Sdrie, N° 15. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Smithsonian Institution: Annual Report, for the Year 1S70. Washington,
1871; 8°.
Societd Royale des Antiquaires du Nord: Memoires. N. S. 1870 & 1871.
Copenhague; 8°. — Aarbeger. 1871, 4. Heft; 1872, 1. Heft. Kjerbenhavn; S°.
Society, The Royal, of London: Philosophical Transactions. For the Year
1870. Vol. 160, Part. II; For the Year 1871. Vol. 161, Part. I. London; 4°
—• Proceedings. Vol. XIX. N os 124—129. London, 1871; 84 — List of
Members 1870. — Catalogue of Scientific Papers (1800—1863.) Vol. V.
London, 1871; 44
XXIII. SITZUNG VOM 23. OCTOBER 1872.
Dor Secretär verliest Dankschreiben der neu gewählten
Mitglieder, der Herren Professoren Dr. A. Huber in Innsbruck,
Dr. Friedrich Maassen in Wien, Dr. Rob. Roesler in Graz,
und des Professors und Secretärs am archaeologischen Institut
in Rom, Dr. W. Henzen.
Ferner legt der Secretär vor:
1. den von dem Secretär der historischen Commission
bei der k. Akademie der Wissenschaften zu München Herrn
Geh. Rath und Professor v. Giesebrecht eingesendeten Bericht
über die dreizehnte Plenarversammlung der Commission.
2. das von Herrn Dr. Constantin Edl. von Böhm mit
Unterstützung der k. Akademie herausgegebene W r erk ,Die
Handschriften des k. u. k. Haus-, Hof- und Staatsarchivesb
3. eine von Herrn Dr. Theodor Wiedemann eingesendete
Abhandlung ,Die biblischen Stoffe auf der Bühne. Beitrag
245
zur Geschichte der Theatercensur in Oesterreich/ um deren
Aufnahme in die Schriften der historischen Commission der
Verfasser ersucht.
Das w. M. Herr Dr. Aug. Pfizmaier legt vor eine
Abhandlung, betitelt,Denkwürdigkeiten von chinesischen Werk
zeugen und Geräthen'.
Das w. M. Herr Prof. Mussafia legt zum Abdruck in
den Denkschriften vor: ,Ein Beitrag zur Kunde der nordita
lienischen Mundarten im XV. Jahrhundert'.
Die Aufnahme des 3. Theiles der Biographie des Beatus
Rhenanus von Herrn Dr. Adalbert Horawitz in die Sitzungs
berichte wird genehmigt.
i
.
An Druckschriften wurde vorgelegt:
Akademie der Wissenschaften, Königl. Preuss., zu Berlin: Monatsbericht. Mai
und Juni 1872. Berlin; 8°.
Göttingen, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus den Jahren
1869-1871. 4» und 8°.
Jahrbuch, Militär-statistisches, für das Jahr 1870. I. Theil. Wien, 1872;
kl. folio.
Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhal
tung der Baudenkmale. XVII. Jahrgang, Juli—August und September—
Oetober 1872. Wien; 4°.
,Revue politique et litteraire 1 et ,La Revue scientifique de la France et
de l’etranger 1 . II e Annee, 2 e Serie, Nr. 16. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Societas, Regia, scientiarum Upsalensis: Nova acta: Seriei III t,ae Vol. VIII,
Fase. I. 1871. Upsaliae; in 4°. — Bulletin metdorologique mensuel de
l’observatoire de l’Universite d’Upsal. Vol. I, N os 1—12; Vol. II, N OB 7—12;
Vol. III, N os 1—12. Upsal, 1871; 4».
Society, The American Philosophical: Transactions. Vol. XIV. N. S. Part. III
Philadelphia, 1871; 4°. — Proceedings. Vol. XII. 2. N. 87. Philadelphia,
1871; 8°.
— The Royal, of Edinburgh: Transactions. Vol. XXVI, Parts II—UI. For
the Session 1870—71. 4°. — Proceedings. Session 1870 — 71. Vol. VII,
N os 82—83. 8°.
246
Upsala, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1871/72.
4^ und 8°.
Verein für Erdkunde zu Dresden: VIII, und IX. Jahresbericht. Dresden,
1872; 80.
— für meldenburgische Geschichte und Alterthumskunde: Meklenburgisches
Urkundenbuch. VII. Band. 1322—1328. Schwerin, 1872; 4°.
i
N
Pfizmaier. Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und (ieräthen. 247
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen lind
Greräthen.
Yon
Dr. A. Pfizmaier,
wirkl. Mitglied der kais. Akad. der Wissenschaften.
In der vorliegenden Abhandlung- bringt der Verfasser
eine Anzahl denkwürdiger, in alten Schriftstellern enthalte
ner Nachrichten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
Unter diesen Gegenständen sind einige auch bei uns im
Gebrauche, andere jedoch unbekannt. Bei den bekannten
zeigt sich als von besonderem Belang ihre oft abweichende
Beschaffenheit, das Alter ihrer Erfindung oder Einführung
und die verschiedenen zu ihnen in Beziehung stehenden Er
eignisse.
Die richtige Bezeichnung dieser Dinge ist in manchen
Fällen nicht ohne Schwierigkeit gewesen. So bei der grossen
Menge von Behältnissen, die, mit verschiedenen Namen be
nannt, bisweilen identisch zu sein scheinen, dieses aber nicht
sind und für die der entsprechende deutsche Ausdruck ge
wöhnlich erst nach längerem Suchen und Vergleichen gefunden
werden konnte.
Nebst den in dieser Abhandlung angeführten Gegenstän
den gibt es noch andere, zu den bezeichneten Olassen ge
hörende, von welchen ebenfalls Nachrichten vorliegen. Es musste
jedoch, hauptsächlich mit Rücksicht auf die Nothwendigkeit
weiterer Forschungen, die Zahl der besprochenen Gegenstände
vorläufig auf das hier Gebotene beschränkt werden.
248
P f i z m a i e r.
Der Spiegel.
Er ha
King. 2
P King , Glanz 1 .
Als König Wu in das Glück ein trat, lautete die Inschrift
seines Spiegels: Ich sehe deine Vorderseite. Ich denke gewiss
an deine Rückseite. 3
Yün-scheu erfand die Spiegel. 4
Khie ward seines Edelsteinspiegels verlustig. Was er ge
brauchte, war der heissende Tiger. 5
Thsin ward seines goldenen Spiegels verlustig. Das
Fischauge mengte sich unter die Perlen. 6
Der Hausgenosse von dem Geschlechte ^ Kö sprach:
Es sind vier Quentchen, es ist der glänzende Schriftschmuck
des Tscheu. Auf dem Rücken hat es Band und Schnur. —
Die beiden (anwesenden) Menschen blickten einander an. So
verstand dieses. Er wurde der oberste Gast. Sö sprach: Dieses
ist'die Farbe des Edelsteines, das Geistige des Steines. Das
Aeussere ist gleich dem Glanz der Sonne. Das Innere ist
gleich sämmtlichen Sternen. — Die beiden Menschen blickten
einander an und verstanden nicht den Sinn. Hiermit hatte er
den Spiegel benannt. 7
folgte g Liü-pu auf
dessen Eroberungszuge. Er wurde von einem daherfliegenden
1 Die erklärten Namen.
2 Die weitläufigen Denkwürdigkeiten.
3 Die grossen auf dem Haupte getragenen Gebräuche.
4 Die Geschichte der ursprünglichen Mitte.
5 Die bestimmte Zeit des Befehles der Kaiser des Buches der Schang. Mit
dem Spiegel wird der Weg der Reinheit und des Lichtes verglichen. Mit
dem Tiger wird die Grausamkeit verglichen. Khie war der letzte König
der Hia.
6 Das untersuchende geistige Licht des Buches der Schang. Der Kaiser
des Anfangs war der Sohn des Kaufmannes Pü-wei. Es wird gesagt,
dass er in das Wahre Verwirrung brachte. In dem Fischauge wird an
geblich eine Art schlechter Perlen gefunden.
1 Die in dem Buche der Han enthaltenen Ueberlieferungen von Tung-
fang-sö. i
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
249
Pfeile getroffen und an dem linken Auge verwundet. Um die
Zeit war n & m Hia-heu-yuen mit ihm zugleich Heer
führer. In dem Kriegsheere nannte man Tün den blinden
Heerführer von Hia. Tun verdross dieses. So oft er in einen
Spiegel blickte, ward er zornig und schlug den Spiegel gegen
die Erde. 1
Tschang-yö verstand die Kunst der Beobachtung.
So oft er einen Spiegel erhob und sein Angesicht betrachtete,
wusste er, dass er die - Todesstrafe erleiden werde. Er hatte
es noch niemals unterlassen, ihn gegen die Erde zu schlagen. 2
jft m m Lieu-king-siuen war acht Jahre alt, als ei
serne Mutter verlor. Am achten Tage des vierten Monats sah er,
dass alle Menschen Fö wuschen. Er riss jetzt den unter seinem
Haupte befindlichen goldenen Spiegel hervor und glaubte, dass
seine Mutter Fö wasche. Dabei konnte er sich nicht enthalten,
schmerzlich zu weinen.
Als > t # Yin-tschung-wen sich in Tung-yang
befand, blickte er in einen Spiegel und sah weder sein Haupt
noch sein Angesicht. In zehn Tagen wurde er niedergemacht. 3
Als £ # Kan-tschö hingerichtet werden sollte, nahm
er einen Spiegel zur Hand. Er sah darin nicht sein Haupt.
Mu-yung-tschui bestürmte Nie. Fu-pei schickte
seinen Neffen |jj| Lung, damit er um Hilfe bitte. Dieser
übersandte |j|| Sie - yuen einen Spiegel von grünem
Kupfer, sichtbar sich umwendende Stricke von gelbem Golde
und andere Dinge. Er machte dieses zu einer Beglaubigung. 4
2 # # « Khi-wu-tsehin-tschi besass einen kupfer
nen Spiegel, auf dessen Rücken sich dreimal das Zeichen
^ Kung ,Fürst' befand. Er sagte immer zu den Menschen:
1 Die kurzgefassten Denkwürdigkeiten von Wei.
2 Die Denkwürdigkeiten von Sckö.
3 Das von Tschin-yö verfasste Buch der Sung.
4 Der Frühling und Herbst der dreissig Reiche.
Wenn die bestätigenden Glückszeichen derart sind, wozu
brauchte ich zu sorgen, dass die drei Fürsten nicht kommen?
Lö-hoei-kiao wurde versetzt und zum
Pferdewäscher des kaiserlichen Nachfolgers ernannt. m fr
Ilo-tien von Liü-kiang rühmte ihn immer und sagte, das Hei’z
Hoei-kiao’s sei gleich einem wiederglänzenden Spiegel. Die Ge
stalten, die ihm begegnen, die Dinge, die mit ihm zusammen-
stossen, seien ohne Ausnahme lichtvoll. 1
Kaiser Wu griff zu den Waffen in Tung-hoen. Er berief
0 3^ Wang-tschin-kuö zu sich und kehrte mit der
Heeresmenge in die Hauptstadt zurück. Er hiess diesen aus
rücken und vor. dem Thore der hellrothen Sperlinge lagern.
Tschin-kuö wurde durch p Wang-meu geschlagen. Als
er in die Feste zog, schickte er insgeheim Khie-tsuan
mit dem Aufträge, dem Kaiser von Liang zur Beglaubigung
einen glänzenden Spiegel als ein Geschenk zu bieten. Der
Kaiser schnitt das Gold ab und vergalt Jenem damit. Später
wartete Tschin-kuö bei einem Feste auf. Der Kaiser sprach:
Dein glänzender Spiegel ist noch immer vorhanden. Wo be
findet sich aber das ehemalige Gold? — Tschin-kuö sprach:
Das gelbe Gold ist sorgfältig aufbewahrt. Ich wagte nicht, es
zu verlieren oder fallen zu lassen. 2
Kaiser Wen schenkte sein Vertrauen *3. IR} Kao-ying.
Später hatten
Pang-wan, der Heerführer der Leib-
ie der Heerführer Liü-fen und
wache zur Rechten sowie der Heerführer
Andere ihn zu verschiedenen Zeiten bei dem Kaiser verkleinert.
Der Kaiser zürnte über sie. Sie wurden entfernt und traten
aus. Der Kaiser sagte zu Ying: Der Fürst von $jsj Thö-
ku 3 ist gleichsam ein Spiegel. So oft er geschliffen wird, ist
sein blendendes Licht noch heller. 1
Kaiser Tai-tsung sagte zu seinen Dienern: Wenn man
Kupfer zu einem Spiegel macht, kann man dadurch Mütze
1 Das Buch .der Tsi.
2 Das Buch der Liang.
3 Thö-ku ist der Geschlechtsnume der Kaiserin.
4 Das Buch der Sui.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätsen.
251
und Kleider zurecht stellen. Wenn man das Alterthum zu
einem Spiegel macht, kann man dadurch das Emporkommen
und den Verfall erkennen. Wenn man den Menschen zu einem
Spiegel macht, kann man dadurch das Gelingen und Fehlschla
gen ins Licht setzen. Ich der Kaiser bewahre immer diese drei
Spiegel und schütze mich dadurch vor Fehlern. Jetzt ist
Wei-tsching gestorben. Es ist, als wäre ein Spiegel ver
loren gegangen. 1
Die Vorsicht des vollendeten Menschen ist gleich einem
Spiegel. Er begleitet nicht, er geht nicht entgegen. Er erwie-
dert, aber verbirgt nicht. Desswegen überwindet er die Dinge,
und es gibt keine Verletzung. 2
Wer im Herzen fähig ist, gut die Menschen zu erkennen,
ist wie ein heller Spiegel. Wer gut sich selbst erkennt, ist wie
die Muschel des Abgrunds der Wasser. Der Spiegel wieder
strahlt das Licht, desswegen spiegelt er die Menschen ab. Die
Muschel fasst in sich die Perle, desswegen ist sie im Inneren
erleuchtet. 3
Das Auge der Menschen des Alterthums war mangelhaft
in dem Sehen des eigenen Selbst. Desswegen betrachteten sie
in einem Spiegel ihr Angesicht. Ihre Gedanken waren mangel
haft in dem Erkennen des eigenen Selbst. Desswegen stellten
sie sich zurecht durch den Weg. Der Spiegel ist frei von dem
Verbrechen, dass er Flecken zeigt. Der Weg ist frei von dem
Uebel, dass er ins Licht die Fehler stellt. Wird das Angesicht
des Spiegels verlustig, so hat man nichts, wodurch man Haupt
haar und Augenbrauen zurecht bringt. Wird der Leib des
Weges verlustig, so hat man nichts, wodurch man Verirrung
und Täuschung kennt. 4
Die Krümmen des Menschen sind arg! Und er hat nichts,
worin er sich spiegeln könnte. Kein Tag ist, an dem er nicht
zu Grunde geht und verdirbt. An was soll man sich spiegeln
können ? Es ist allein der Mensch, der vorzügliche Mann!
Indem der Spiegel sich selbst ins Licht stellt, ist er klein. In-
1 Das Buch der Thang.
2 Das Buch Tschuang-tse.
3 Das Buch Fu-tse.
4 Das Buch Han-tse,
■
;
252
Pfizmaier.
dem der vorzügliche Mann sich selbst ins Licht stellt, ist er
gross. 1
Ein heller Spiegel ist anfänglich trüb, und man sieht
noch nicht Gestalt und Züge. Wenn man ihn streicht mit ur
sprünglichem Zinn, ihn schleift mit weissem Filze, so können
Haupthaar und Augenbrauen, die winzigen Haare erforscht
werden.
Höchstweise Menschen sind gleich einem Spiegel. Er be
gleitet nicht, er kommt nicht entgegen. Er entspricht, aber er
entgegnet nicht. Desswegen sind die zehntausend Dinge un
verletzt. Was er gewinnt, das verliert er.
Wenn man einen grossen Spiegel hoch aufhängt, sieht man
im Sitzen die vier Nachbarschaften.
Niemand spiegelt sich in schäumendem Regen. Dass man
sich aber spiegelt in stillstehendem Wasser, ist desswegen,
weil dieses ruhig ist. Niemand erspäht die Gestalt in einem
rohen Spiegel. Dass man aber die Gestalt erspäht in einem
hellen Spiegel, ist desswegen, weil dieser sich verändert hat. 2
Jemand fragte Pao-pö-tse: Gibt es ein Mittel, das zu
künftige Glück und Unglück zu erkennen? — Jener antwor
tete : Man gebraucht einen Spiegel von neun Zoll Grösse und
besieht sich darin. Man hat etwas, worauf man mit den Gedanken
verweilt. Nach sieben Tagen sieht man die göttlichen Unsterb
lichen und weiss die Dinge in einem Umfange von tausend
Weglängen. Den hellen Spiegel gebraucht man einmal oder zwei
mal. Man nennt ihn die Sonne und den Mond. Einige gebrau
chen ihn viermal. Man nennt ihn dann den Spiegel der vier
Bemessungen.
1 Der Frühling und Herbst des Geschlechtes Liü.
2 Das Buch Hoai-nan-tse,
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
253
Die Alten unter den zehntausend Dingen, ihre Geister
können die Gestalt der Menschen entlehnen und dadurch die
Menschen blenden. Bios in einem Spiegel können sie ihre
wahre Gestalt nicht entziehen. Desswegen behängen die Männer
des Weges, wenn sie in das Gebirge treten, mit einem neun
Zoll messenden Spiegel ihren Rücken.. Sind es alte Unholde,
so wagen sie es niemals, sich zu nähern. Bisweilen blicken
Später komm ende in den Spiegel. Es ist zu vermuthen, dass es
unsterbliche Menschen und gute Götter in dem Gebirge sind.
Sie bleiben dann in dem Spiegel als menschliche Gestalten. 1
Die Beglaubigungsmarke des Yang heisst auch das Feuer
zeug des Yang. Man nimmt das Feuer von der Sonne. Die Be
glaubigungsmarke des Yin heisst auch das Feuerzeug des Yin.
Man nimmt das Wasser von dem Monde. Beide sind aus
Kupfer verfertigte Spiegel. Sie heissen: die Spiegel des Wassers
und des Feuers. 2
Die Königin, die der kaiserliche Nachfolger aufnahm, be-
sass für das Anziehen der Kleider grosse Spiegel, die einen
Schuh acht Zoll massen, mit silbernen Blumen verzierte kleine
Spiegel, die einen Schuh zwei Zoll massen, gefirnisste Kästchen
mit prachtvollen Deckeln, drei mit silbernen Blumen und
Blattgold verzierte Spiegel, silberne Drachenhäupter, glück
empfangende Blumen der Wasserlilie, vier Haken und Ketten. 3
Unter den kaiserlichen Gegenständen befand sich ein mit
Gold eingelegter Spiegel von einem Schuh zw r ei Zoll Grösse,
für den kaiserlichen Nachfolger vier verschiedenartige, mit
echtem Silber eingelegte eiserne Spiegel von sieben Zoll
Grösse, für die theuren Menschen bis aufwärts zu den Kaiser
töchtern vierzig eiserne Spiegel von neun Zoll Grösse. i
An den Spiegeln auf der Erdstufe der drei Menschen und
in dem inneren Palaste Schi-hu’s, welche zwei bis drei Schuh
1 Die inneren Sclirifttafeln Pao-pö-tse’s.
2 Die Meldungen Kao-thang-lung’s, eines der berühmten Diener von Wei,
an dem Hofe.
3 Die Alterthümer des östlichen Palastes.
i Die fernere Erklärung der dem Kaiser Wu von Wei emporgereichten
vermischten Gegenstände.
a
254
Pfizmaie r.
im Durchmesser hatten, befanden sich gekrümmte Drachen von
echtem Golde und Zierathen von Schnitzwerk. 1
Die Heerführer des Kaisers Hiao-wu von Tsin erklärten
das Buch der Aelternliebe. Die Brüder des Fürsten von dem
Geschlechte gjjjj' Sie erklärten und übten es mit sämmtlichen
Menschen für sich besonders. Y ä * Tsch’he - wu-tse
verdross es, die Männer von dem Geschlechte Sie zu fragen.
Er sagte zu Yuen-yang: Wenn ich nicht frage, so
geht der Ruf der Dankbarkeit verloren. Wenn ich viel frage,
so belästige ich wiederholt die zwei Männer von dem Geschlechte
Sie. Yuen sprach: Hat man jemals gesehen, dass ein heller
Spiegel abgemüht worden wäre durch öfteres Zurückstrahlen? 2
hft Ä ^ifc Tu-tschin-meng-tsung blickte rings um
her und suchte einen Lehrer. Er durchreiste Tsi und Lu. Die
Geldmittel fingen an, ihm zu mangeln. Er verschaffte sich durch
Schleifen von Spiegeln seinen Unterhalt. 3
Bei den Heiraten der südlichen und südwestlichen Fremd
länder wirbt man vermittelst eines Sclaven oder einer Sclavin.
Wenn man keinen Sclaven oder Sclavin hat, lässt man einen
kupfernen Spiegel so viel als eine Sclavin gelten. 1
Im Osten des Districtes Lin-ngan liegt der Berg des
steinernen Spiegels. An der Ostseite dieses Berges befindet sich
ein steinerner Spiegel, der zwei Schuh vier Zoll im Durchmesser
hat. Derselbe ist sehr klar und hell. 5
An der Ostseite des Berges Liü befindet sich ein
Stein, der gleich einem Spiegel ist. Derselbe hängt an einer Ufer
bank und ist hell und klar. Er zeigt im Wiederschein die Ge
stalt der Menschen. 6
m ft Siü-jü-tse diente einst dem Fürsten jpj 1
Hoang von Kiang-hia. Als Fürst Idoang starb, ging Jii-tse hin,
um sich an der Leichenfeier zu betheiligen. Sein Haus war
arm, und er hatte nichts, womit er die Kosten bestreiten
connte. Er verstand sich auf das Schleifen der Spiegel, und
1 Die Geschichte der Begebenheiten in Nie.
2 Die Gespräche des Zeitalters.
3 Die von Yi-pu verfassten Ueberlieferungen von alten Dingen der Greise.
4 Die Gewohnheiten der südlichen und südwestlichen Fremdländer.
5 Die Geschichte der Provinz U-hing.
0 Die von Schan-kien-tschi verfasste Geschichte von Thsin-yang.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
255
folgte den Leuten, die um Tag'lolm schliffen. Nachdem er den
Betrag erhalten, ward es ihm erst möglich, vorzutreten. Als er
angekommen war, opferte er und zog sich zurück. 1
fü W Siiin-yue erklärte das Spiegeln mit den Worten:
Der Weisheitsfreund hat drei Spiegelungen. Er spiegelt sich
an dem Yorhergegangenen. Er spiegelt sich an den Niederen.
Er spiegelt sich in dem Spiegel. Das Vorhergegangene ist be
lehrend, der Mensch ist weise, der Spiegel ist hell. Hia und
Schang erfuhren das Schwinden, weil sie sich nicht spiegelten
an Thang und Yü. Tscheu und Thsin stürzten, weil sie sich
nicht spiegelten an den Niederen. Man ist schief, furchtsam,
hat voll Schmutz das Angesicht, weil man sich nicht in einem
hellen Spiegel spiegelt. 2
Zu den Zeiten des Kaisers Ping, im dritten Jahre des
Zeitraumes Yuen-schi (3 n. Chr.) besassen die grossen Spiegel
innerhalb der göttlichen Schlafgemächer des westlichen Gartens
von Yen-ling und vor dem Sitze der kaiserlichen Thüre
klare Feuchtigkeit, als ob Wasser des Schweisses aus ihnen
hervorkäme. 3
Kao-tsu trat in den Palast von Hien-yang und ging in
den Sammelhäusern und Rüstkammern umher. Daselbst
befand sich ein viereckiger Spiegel von neun Zoll Grösse,
dessen Aeusseres und Inneres hell und durchsichtig war. Wenn
Menschen geraden Weges kamen, spiegelte er ihre Gestalt ab.
Ihr'Bild erschien dann schief. Wenn sie kamen, indess sie
mit ihrer Hand das Herz bedeckten, hatten die Gedärme, der
Magen und die fünf Eingeweide sofort keine Abschliessung.
Hatte ein Mensch eine innerliche Krankheit, so liess man ihn
das Herz bedecken und sich spiegeln. Sofort wusste man den
Sitz der Krankheit. Platte ein Weib Unrechte Gedanken, so
spannte sich die Gallenblase, und das Plerz bewegte sich. Der
Kaiser des Anfangs aus dem Hause Thsin liess darin die Be
wohnerinnen des Palastes sich spiegeln. Wenn bei einer von
ihnen die Gallenblase sich spannte, das Herz sich bewegte, so
tödtete er sie.
1 Die Classen der vorzüglichen Männer innerhalb der Meere.
2 Die von Siün-yue verfasste Erklärung des Spiegelns.
3 Die weiteren Erklärungen des Alterthums und der Gegenwart.
256
Pfizraaier.
Kaiser Siuen wurde aufgegriffen und in dem Gefängnisse
des Einkehrhauses der Provinzen gebunden. 1 Er trug an dem
Arme noch immer einen kostbaren indischen Spiegel, den die
ältere Schwester ^ Sse-liang’s mit einem aus bun
ter Seide gedrehten Stricke angebunden hatte. Dieser Spiegel
hatte die Grösse eines Geldstückes von acht Candarin. Nach
einer alten Ueberlieferung zeigte er die Ungethüme und Un
holde. Wer ihn an dem Gürtel trug, ward von den Himmels
göttern mit Segen beschenkt. Kaiser Siuen erlangte Rettung
aus Gefahr. Als er die grosse Rangstufe fortsetzte, ward er,
so oft er in der Hand diesen Spiegel hielt, in der Kehle an
gegriffen und verbrachte so die Zeit. Als der Kaiser starb,
wusste man von dem Spiegel nicht, wo er sich befand. 2
Zu den Zeiten des Königs Mo von Tscheu brachte das
Reich Tsiü-khiü als Tribut Spiegel von Feuerperlen. Dieselben
waren drei Schuh sechs Zoll breit. In der Dunkelheit sah man
die Dinge wie am Tage. Wenn Menschen sich gegen die
Spiegel wendeten und auf sie sprachen, wiederhallten die Spie
gel und gaben Antwort.
Zu den Zeiten des Königs Mo von Tscheu gab es einen
Stein, der gleich einem Spiegel. Dieser Stein war weiss gleich
dem Monde, er wiederspiegelte das Angesicht wie Schnee. Man
nannte ihn den Stein des Mondspiegels.
\
Aus dem Schlamme des Teiches des Berges Tschang-fang
verfertigt man, nachdem man ihn hundertmal geschmolzen,
goldene Spiegel. Die Farbe derselben ist grün, und man kann
in ihnen die Unholde abspiegeln. 3
In dem Söller |jj|| Wang-tschen befanden sich grüne
goldene Spiegel. Dieselben waren vier Schuh breit. In den
Jahren des Zeitraumes Yuen-kuang (134 bis 129 v. Chr.)
1 Dieses ereignete sich im zweiten Jahre des Zeitraumes Tsching-ho (Dl
v. Chr.). Kaiser Siuen war damals ein Kind.
2 Die vermischten Erzählungen der westlichen Mutterstadt.
3 Die Verzeichnisse des Auflesens des Hinterlassenen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzengen und Gerätlien.
257
machte das Reich jjf^ Khi diese Spiegel zum Geschenk. Die
selben zeigten durch Abspiegelung die Unholde, die hundert
Dämonen konnten nicht ihre Gestalt verbergen. 1
Der Friihgeborne Fu-khiö trug auf dem Rücken
Steine und schliff Spiegel. Er durchwanderte die Strassen in U
und schliff Spiegel. Er schliff sie um ein Kupferstück. 2
\}\) Sün-pö von Ho-tung konnte Spiegel ziehen und
daraus Schwerter verfertigen. Er konnte Schwerter krümmen
und daraus Spiegel verfertigen. 3
Indem man an Gestalt und Aussehen denkt, kann man
das Leben verlängern. Wenn man in einem hellen Spiegel von
neun Zoll Grösse das Angesicht abspiegeln lässt und es auf
merksam betrachtet, bewirkt man, dass man sich selbst er
kennt. Dauert die Gestalt des Leibes fort, so bewirkt man,
dass sie nicht vergessen wird. Hat es lange Zeit gewährt, so
werden Körper und Geist nicht verflüchtigt, Krankheiten und
Sorge dringen nicht ein. 4
Sün-tsi hatte Yü-ke getödtet. So oft er allein
dasass, sah er ihn undeutlich in seiner Umgebung. Er nahm
einen hellen Spiegel in die Hand und betrachtete sich darin.
Er sah Jenen in dem Spiegel. Er schlug nach ihm und schrie
laut. Seine Geschwüre barsten, nach einer Weile starb er. 5
Sün-tsi ward durch igt 'f§£' Hiü-kung-khe verwun
det. Er nahm einen Spiegel in die Hand und besah sich darin.
Er sagte: Mit einem solchen Angesicht sollte ich Thaten ver
richten können, die Sache begründen? — Dabei schob er die
Bank weg und schrie laut. Seine Geschwüre barsten, und er
starb. 6
iUi Wen-hien 7 liiess einst ^ Kö - pö durch
die Wahrsagepflanze ihm Glück und Unglück für den Zeit
raum eines Jahres bestimmen. Pö sagte: Es wird ein kleines
Nichtglück und Nichtnützliches geben. Man kann zwei grosse
1 Die Geschichte des Dunklen.
2 Die Ueberlieferungen von Unsterblichen.
3 Die Ueberlieferungen von göttlichen Unsterblichen,
4 Die besonderen Ueberlieferungen von Lieu-ken.
5 Die Geschichte des Suckens der Götter.
0 Die Zeitrechnung von U.
7 Wen-hien ist der posthume Name Wang-tao’s.
Sitzt, d. phil.-hist. CI. LXXII. Ba. I. Hft.
17
258
Pfizmaier.
Krüge von Kuang-tscheu nehmen, sie mit Wasser füllen nnd auf
die zwei ausgespannten Ecken des Bettes stellen. Dieses nennt
man die Herabminderung des Spiegels, und man drückt es
dadurch nieder. Zu einer gewissen Zeit nimmt man die Krüge
weg und giesst das Wasser aus. Auf diese Weise kann das
Unglück getilgt werden. — Als der Tag kam, batte Jener
darauf vergessen. Er suchte einen verlorenen kupfernen Spie
gel und- wusste nicht, wo dieser sich befinde. Später nahm er
die Krüge weg und goss das Wasser aus. Er sah dann den
verlorenen Spiegel in einem Kruge. Die Oeffnung des Kruges
mass einige Zolle, der Spiegel war einen Schuh gross. Der
Fürst von dem Geschlechte Wang hiess später durch die
Wahrsagepflanze die Bedeutung des Spiegels und des Kruges
bestimmen. Pö sagte: Dass man den Krug wegnahm, war im
Widerspruche mit der verabredeten Zeit. Desswegen brachte
man diese Ungeheuerlichkeit zu Wege. Es wurde durch
böse Unholde verübt, es hat keine andere Ursache. — Er liess
den Achsenstift eines Wagens verbrennen und es ermessen.
Der Spiegel ging auf der Stelle heraus.
An dem Fusse des Berges von Lin-liii befand sich ein
Einkehrhaus. Die Menschen, welche an ihm vorüberreisten
und übernachteten, wurden entweder krank oder sie starben.
Es erschienen immer gegen zehn Männer und Weiber, von
denen ein Jedes verschiedenartige Kleider trug. Einige trugen
weisse, Andere schwarze. Sie kamen sofort und stifteten Un
heil. Ein gewisser n sp Tsche-pe-I reiste vorüber und
übernachtete daselbst. Er sass allein und las mit lauter Stimme
mustergültige Bücher. Plötzlich kamen ungefähr zehn Menschen
und setzten sich neben Pe-I nieder. Sie spielten dabei in Ge
meinschaft Würfel. Pe-I spiegelte sie jetzt heimlich in einem
Spiegel ab. Es war ein ßudel Hunde. Er ergriff die Kerze
und erhob sich. Er that als ob er aus Versehen mit der Kerze
ihre Kleider verbrennete. Ihre Haare wurden versengt. Pe-I
trug in dem Busen ein Messer. Er warf es auf einen Menschen
und traf ihn. Dieser starb hierauf und wurde ein Hund. Alle
Uebrigen entliefen. 1
1 iüie fortgesetzte Geschichte des Suchens der Götter.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
259
Einst waren ein Mann und dessen Gattin, die, im Be
griffe von einander Abschied zu nehmen, einen Spiegel zer
brachen. Ein Jedes nahm eine Hälfte und machte sie zu einer
Beglaubigung. Die Gattin hatte mit einem Menschen Umgang.
Der Spiegel verwandelte sich in eine Aelster. Diese entflog
und kam zu dem Manne. Der Mann wusste es jetzt. Dass die
späteren Menschen, wenn sie einen Spieg'el g'iessen, eine
Aelster anbringen, die auf dessen Rücken ausruht, hat hierin
seinen Ursprung. 1
An den Bergthoren zur Seite der Paläste, Einkehrhäuser
und Seeufer gab es mehrere Steine. Dieselben waren von Ge
stalt rund wie ein Spiegel, und man konnte sich in ihrem
Lichte spiegeln. Die Menschen nannten sie die Steinspiegel.
Später war ein Wanderer, der zu dem Orte kam und einen
solchen Stein so lange dem Feuer aussetzte, bis er nicht mehr
hell war. Das Auge dieses Menschen verlor das Licht. 2
Will man wissen, wo Kostbarkeiten sich in der Erde be
finden, so hält man in der Nacht einen grossen Spiegel hin.
\ Sieht man einen Schatten oder ein Glänzen in dem Spiegel, so
befinden sich daselbst die Gegenstände in der Tiefe. 3
Das Niederhalten von Dieben und Räubern geschieht auf
folgende Weise. Man nimmt sieben kupferne Spiegel von kleiner
Gestalt und vergräbt sie in ausgedehnte Erde. Man wägt
siebenhundert Pfund Erdreich und bedeckt damit die Spiegel.
Die Grube sei zwei Schuh fünf Zoll tief und zwei Schuh fünf
Zoll breit. Man stampft die Erde und macht sie fest. 4
In dem Schreiben Lö-ki’s an seinen jüngeren
Bruder Yün heisst es: Vor der Vorhalle der Menschlich
keit und Langjährigkeit befand sich ein grosser viereckiger
Spiegel von Kupfer. Derselbe war fünf Schuh hoch, drei Schuh
zwei Zoll breit. Er war in der Mitte des Vorhofes aufgestellt.
Wenn man sich gegen ihn kehrte, zeichnete er sofort die
Gestalt und den Leib des Menschen. Dieses ist ebenfalls ein
vollständiges Wunder.
1 Das Buch der göttlichen Merkwürdigkeiten.
2 Die Verzeichnisse des Dunklen und Hellen.
3 Die Abbildungen des Erdspiegels.
4 Die von Eung-kiö verfasste Wahrsagung des Erforderlichen.
17*
I
260
P f i z m a i e r.
In dem Schreiben 1|£ Thsin-kia’s an sein Weib
^ ^ Siü-tsiao heisst es:
Ich habe eben diesen Spiegel erhalten. Dieser Spiegel
war bereits hell und auch schön. An seiner Gestalt sieht man
gestreiftes Hornblatt, was man in dem Zeitalter selten findet.
Im Herzen liebe ich ihn sehr. Desswegen gebe ich dir den
hellen Spiegel. Du kannst darin deine Gestalt abspiegeln lassen.
Siü-tsiao antwortete in einem Schreiben: Jetzt befindest
du dich auf dem Eroberungszuge und bist noch nicht umher
gezogen. Wozu würde der Spiegel verwendet werden ? Der
helle Spiegel spiegelt die Gestalt ab, ich werde warten, bis du
ankommst.
Das Spiegelgestell.
llH Wen-khiao war bei ^ |flj Lieu-yue-schi
der älteste Vermerker. Er strafte im Norden f]||l 0|J
Lieu-tsung und erlangte ein Spiegelgestell von Edelstein. Er
schloss sich an seine Muhme von dem Geschleckte Lieu. Die
selbe hatte eine Tochter, welche schön war. Ivhiao war ge
sonnen, um diese zu freien. Nach einigen Tagen schickte er
das Spiegelgestell von Edelstein herab. Die Muhme war dar
über erfreut. Nachdem man die Gebräuche für die Vermählung
vereinbart hatte, sagte die Tochter: Ich vermuthete stark, dass
es der alte Sclave sei. Es ist wirklich -wie das, was gewahr
sagt wurde. 1
Die Kaiserin von dem Geschlechte iW Hu liess durch
den Schamanen m m Ling-tschao sieben kostbare Spiegel
gestelle vei’fertigen. Dieselben hatten zusammen sechs und
dreissig Thüren. In jedem Zimmer war ausserdem ein Weib,
und jedes Weib hielt in der Hand eine Kette. Wenn man ein
wenig einen Riegel herabschob, waren die sechs und dreissig
Thüren zu gleicher Zeit verschlossen. Wenn man diesen Riegel
heraufzog, öffneten sich sämmtliche Thüren und jedes Weib
trat vor eine Thüre. -
1 Die Gespräche des Zeitalters.
2 Die Kürzungen der Vorbilder der drei Reiche.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
261
Die Spiegelgestelle kamen aus dem Palaste von Wei.
Es gab ein Spiegelgestell mit eingemengten Gürteln von echtem
Silber, sieben von echtem Silber, vier Spiegelgestelle der theuren
Menschen und Kaisertöchter. 1
Die Königin, welche der kaiserliche Nachfolger aufnahm,
besass ein Spiegelgestell von Schildkrötenschuppen mit Grab
stichelwerk von goldenen Blumen. 2
In dem Zeiträume Yuen-kia (424 bis 453 n. Chr.) wurde
m % Wei-lang stechender Vermerker von Kuang-tscheu.
Derselbe verfertigte ein kupfernes Spiegelgestell.
Lieu-tsching, der kaiserliche Vermerker und Gehilfe der Mitte,
bat, dass man aus geschäftlichen Rücksichten Lang nachträg
lich seines Amtes entsetze. 3
Ein Gedicht i* m Sie-tiao’s sagt von dem Spiegel
gestell :
Der Edelsteinklang ist von der Art desjenigen des men-
nigrothen Geländers, verwaist und hoch hat es Aehnlichkeit
mit der ursprünglichen Thorwarte. Gegenüberstehende Paradies
vögel blicken herab auf das klare Wasser, angespannte Dra
chen hängen sich an den glänzenden Mond. Es erleuchtet
weisses Mehl, aufgestrichene hochrothe Schminke, aufgesteckte
Blumen, geordnetes Wolkenhaupthaar. Das weisse Edelstein
antlitz erscheint blos vor sich selbst, man erscheint mit Furcht
vor dem Gebieter, dessen Neigung zu Ende.
Der Spiegelkasten.
Die Kaiserin von dem Geschlechte Yin starb. Der Kaiser
war von Sinn älternliebend und schwermüthig. Er liebte sie
nach dem Tode ohne Aufhören und meldete sich zum Besuche
in Yuen-ling. Der Kaiser ging von dem Teppiche vorwärts und
legte sich auf das kaiserliche Bett. Als er die in dem Spiegel
kasten der Kaiserin befindlichen Gegenstände betrachtete, war er
gerührt und bewegt. Er weinte schmerzlich und befahl, die Salben
1 Die fernere Erklärung der vermischten Gegenstände des Kaisers Wu
von Wei.
2 Die Alterthümer des östlichen Palastes von Tsin.
3 Die Erklärungen der Unternehmungen der Sung.
262
Pfizmaier.
und die Putzsachen zu wechseln. Die Menschen der Umgebung'
weinten, und Keiner war im Stande aufwärts zu blicken. 1
Die vornehme Geliebte von dem Geschlechte Yin ass
Melonen und fand sie gut. Der Kaiser liess deren suchen. Um
die Zeit machte die Provinz Tün-hoang merkwürdige Melonen
zum Geschenk. Man sagte, es seien reingeistige Melonen des
Berges Khung-tung. Ferner machte die Provinz Tschang-schan
grosse Pfirsiche zum Geschenk. Als die Kaiserin gestorben
war, sahen die Aufwartenden, dass sich in dem Spiegelkastcn
Kerne von Melonen und Pfirsichen befanden. Sie betrachteten
sie und weinten übermässig. 2
Der Befehlshaber von Tschü-yai starb, und die Seinigen
sollten zurückkehren. Nach dem Gesetze wurde derjenige, der
Perlen in den Grenzpass brachte, mit dem Tode bestraft. Seine
Stiefmutter warf die Perlen, die sie an die Arme gebunden
hatte, weg. Ihrem Sohne, der neun Jahre alt war, gefielen sie,
und er legte sie in den Spiegelkasten. Den Uebrigen war
dieses nicht bekannt. Als sie zu dem Grenzpasse des Meeres
kamen, griffen die Angestellten sie auf. Man fand zehn Stück
Perlen. Mutter und Sohn stritten jetzt mit einander, wer den
Tod erleiden solle. Die Angestellten warfen hierauf die Perlen
weg und schickten Jene fort. 3
In den fernen Erklärungen der dem Kaiser Wu von
Wei d arger eichten vermischten Gegenstände finden sich: Mit
Hornblatt und Bohnen verzierte Spiegelkasten von echtem
Silber, zusammengeschnürte Spiegelkasten von echtem Silber.
In dem Schreiben, das die jüngere Schwester w # %
Sün-tschung-ki’s vor ihrem Tode verfasste, heisst es: Den Spie
gel sammt der Schüssel mit weisser Schminke gebe ich dem
Gemale. Den Spiegelkasten mit Wohlgerüchen gebe ich dir.
Ich will bewirken, dass in dem Wandel du selbst gleich dem
hellen Spiegel, echt wie die weisse Schminke, gepriesen wie
die Wohlgerüche.
1 Das Buch der späteren Han.
2 Die Geschichte des Auflesens des Hinterlassenen.
3 Die Ueberlieferungen von Unsterblichen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätlien.
263
Die Büchse.
Nach dem Tsching-yün (den richtigen Endlauten) ist
Vv IIö oder ^ Hö-tse ein Gefäss, das man mit Ge
genständen anfüllt.
Wei-lang 1 wurde bei den Geschäften schuldig befunden.
Er besä ss zwei goldene Büchsen mit Grabstichel werk, zwei
silberne Büchsen mit Grabstichelwerk. 2
|H] ÜJ Lieu-hiang besass ein bilderloses Gedicht auf
die Büchse. 3
In U lebte ein Grosser von dem Geschlechte J Wang.
Auf einer Reise gelangte er nach Khiö-o. Auf der Höhe des
umherziehenden Dammes befand sich ein Mädchen. Er hielt
sogleich an und übernachtete mit ihr. Er löste die an seinem
Arme befindliche goldene Büchse und band sie unter ihr Arm
gelenke. Er hiess sie am Abend wiederkommen, doch sie kam
nicht. Er liess sie wieder aufsuchen, es fand sich aber kein
Mädchen. Als er an einer Schweinehürde vorüberging, sah er
ein Schwein, an dessen Schulter die Büchse sich befand. 1
Das Schminkgefäss.
Der gesammelte Schriftschmuck sagt: ||| ^ To-lo ist
ein Schminkgefäss.
Der König des Reiches Fu-nan übersandte dem
Könige von ||| Pi-kMten ein Schminkgefäss von echtem
Golde. 5
Die Schatulle.
UrF JÜ Yen-khi oder JL Jf|| Yen-kiii ,das strenge Ge-
räthe ( ist die Schatulle.
In den Ermahnungen und Verordnungen des Kaisers Wu
von Wei über die Einbringung der Schatullen wird gesagt:
> Wei-lang ist oben (S. ‘261) erwähnt worden.
2 Die Erklärung der Unternehmungen in dem Zeiträume Yuen-kia (424 bis
450 n. Chr.) von Sung.
3 Die besonderen Ueberlieterungen von Lieu-hiang.
'■ Die von Tsu-tai verfassten Wunder der Denkwürdigkeiten.
5 Die Ueberlieferungen von Fu-nan.
V
264
Pfizmaier.
Ich der Verwaiste liebe nicht die frischen Verzierungen.
Für die Schatullen gebrauche man neue Rinde. Für die Ess
körbe von Schilfrohr bediene man sieh des gelben Schilfrohrs
rings herum und in der Mitte. Erlebt man ein wirres Zeitalter
und hat keine Esskörbe von Schilfrohr, so verfertigt man
nochmals viereckige Schatullen von Bambus. Man bekleidet
sie mit schwarzem Schilfrohr, füttert sie mit grobem.Tuche.
Diese sind es, die ich der Verwaiste immerwährend gebraucht
habe. Die Weiber des Inneren und der Mitte stellten eine
Schatulle auf. Um die Zeit entäussern sie sich ihrer und zer
stören sie. Gegenwärtig sind die viereckigen Schatullen von
Bambus, die ringsumher gefirnisst sind, sehr gefällig und schön.
Die weitere Erklärung der dem Kaiser Wu von Wei
dargereichten vermischten Gegenstände sagt:
Eine mit Oelfirniss bestrichene und bemalte Schatulle,
Gürtel mit eingelegtem echten Golde, eine bemalte viereckige
Schatulle.
Keng, König von I-tu, hielt Ku-schö nieder. Um
die Zeit öffneten Menschen das Grab der Tochter Hoan-wen’s
und fanden einen goldenen Tücherkorb und gewebte goldene
Bambusrinde, welche die Abzweigungen einer Schatulle bil
dete. Sie brachten die Eröffnung in Yö-lin zu Ohren. Der
Kaiser erliess ein Schreiben und beschenkte mit den Gegen
ständen Keng. Dieser sprach: In*der Jetztzeit nimmt man die
Dinge der Vergangenheit. Später nimmt man die Dinge der
Jetztzeit. Auf diese Weise dreht es sich wie ein Ring. Wie könnte
man nicht reiflich hierüber nachdenken ? — Er liess den ältesten
Vermerker Tsai-yö selbst hingehen und das Grab
wieder herstellen. Man durfte dabei nicht den geringsten Ver-
stoss begehen. 1 . .
Die nach alter Weise dem Schmucke Vorgesetzten drei
Menschen befassten sich mit Haarnadeln, Ohrgehängen und
blumigen Schatullen. 2
1 Das Buch der Tsi.
2 Die Ueberlieferungen von Kaiserinnen und Königinnen in den Geschicht
schreibern des Nordens,
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
265
In dem Palaste des Hartriegels gebrauchte man fünf
Schatullen und fünf Schatullen von Pferdezähnen. 1
Als j|t Tai-liang seine Töchter verheiratete, machte
er Esskörbe zu Schatullen. 2
In dem Schreiben Up* Ling-yün’s an seinen älteren
Bruder Ki heisst es: Ich ging und betrachtete die Ge-
räthe des Fürsten von Tsao. Die Schatullen massen im
Umfange sechs bis sieben Zoll, in der Höhe vier Zoll.
Der Koffer. 3
Wenn der kaiserliche Nachfolger neu ernannt ist, besitzt
er vier die Geschäfte ersichtlich machende Koffer aus Pferde
zähnen. 1
Als Kaiser Wu von Han starb, befahl eine hinterlassene
höchste Verkündung, dass man ihm vierzig Rollen vermischter
Schriften des Weges in den Sarg lege. Im zweiten Jahre des
Zeitraumes Yen-khang (66 v. Chr.) trat ^ Li-khl, ver
dienstvoller Richter von Ho-tung, in das Gebirge m ta
Pao-tü in Schang-thang und pflückte Arzneipflanzen. Er fand
diese Schriften in einer Felsenhöhle. Dieselben waren in einen
goldenen Koffer gefüllt. An der Rückseite der Rollen waren
die Sonne und der Mond als Aufschrift gesetzt. ^ rj||
Tschang-schün, zu den Zeiten des Kaisers Wu Statthalter von
Ho-tung, hatte dabei von den Seitenhallen Gebrauch gemacht.
Kln berichtete über die Schriften an dem Hofe und reichte sie
empor. Die zu den Zeiten des Kaisers Wu zu dessen Um
gebung gehörenden Menschen vergossen Thränen und sagten:
Dieses sind die zur Zeit des Todes des Kaisers zur Auf
bahrung verwendeten
Gegenstände. — Kaiser Siuen war von
Schmerz bewegt. Er brachte die Schriften nach Meu-ling 5 und
legte sie an den sicheren Ort, wo sie früher gewesen. 0
Kiö
1 Die alten Sachen der wiederhergestellten Berge und Anhöhen.
2 Die Ueberlieferungen von früheren weisen Männer von Jü-nan.
3 m Siang ,Koffer c hatte ursprünglich die Bedeutung von j
,Wagenkoffer‘. Spater bezeichnet es im Allgemeinen einen Bämbuskoffer.
4 Die alten Sachen des östlichen Palastes.
5 In Meu-ling befand sich die Grabstätte des Kaisers Wu von Han.
6 Die inneren Ueberlieferungen von dem Kaiser Wu von Han.
266
Pfizinaie r.
In dem Schreiben |g Lö-yiin’s von Tsin an seinen
älteren Bruder M| Ki heisst es: Ich machte mich eines
Tages auf den Weg. Unter den Geräthschaften des Fürsten
von "Hf Tsao befanden sich fünf Bücherkoffer. Ich denke,
sie haben grosse Aehnlichkeit mit den dem älteren Bruder
gehörenden hohen Bücherkoffern der verständigen gepriesenen
Männer.
Der Töcherkoffer.
Kaiser Wu besuchte die Königsmutter des Westens. In
einem Tücherkoffer befand sich eine Rolle Schriften. Die
Königsmütter sprach: Dieses sind die Abbildungen der rich
tigen Gestalt der fünf Berghöhen. Gestern sind die Unsterb
lichen der grünen Feste zu mir gekommen. Ich begehrte es,
und ich soll es jetzt einhändigen. 1
m Schao, genannt ,das ursprüngliche Unheik, war ein
Kaisermörder und Aufrührer. Die Kaisertochter von Nan-yang
besuchte die Beschwörerin ^ Yö von Yen-tao. Diese sagte:
Die Himmelsgötter werden dir eine Beglaubigungsmarke ver
leihen. — Zur entsprechenden Zeit sah die Kaisertochter im
Abenddunkel, als sie im Bette lag, umherziehende Lichter, die
einander folgten. Sie waren von Gestalt gleich den Feuerfliegen.
Sie drangen alsbald in den Tücherkoffer und verwandelten sich
in ein Paar Perlen. Diese waren rund, grün und lieblich. Hier
durch ward der Wurm fräs s der Beschwörer zu nichte gemacht.
m Kiün, König von Heng-yang, schrieb immer eigen
händig in feiner Schrift die fünf mustergiltigen Bücher ab. Er
bildete aus dem Ganzen eine Rolle und legte diese in einen
Tücherkoffer, um zu verhüten, dass sie verloren gehen oder
vergessen werden. jj/p '’fßj Ho-kiai, der Aufwartende für das
Lesen, stellte an ihn die Frage: Die Häuser unter der Vor
halle besitzen sie gross und einfach. Wozu braucht man sie
wieder in der feinen Schrift der Fliegenhäupter zu schreiben und
sie besonders in einem Tücherkoffer aufzubewahren ? — Jener
antwortete : Wenn sich in einem Tücherkoffer die fünf muster
giltigen Bücher befinden, so ist es leicht, sie zu prüfen und
1 Die inneren TJeJberlieferungen von Wu von Han.
- Das Buch <}er Sung.
Denkwürdigkeiten von cliineeischen Werkzeugen und Gerätlien.
267
zu untersuchen. Wenn man sie ferner mit einer einzigen wie
derkehrenden Hand abschreibt, so werden sie in Ewigkeit nicht
vergessen. — Die Könige hörten dieses und wetteiferten, es
nachzuahmen. Dass man die fünf mustergiltigen Bücher der
Tücherkoffer verfertigt, hat seit dieser Zeit seinen Anfang
genommen. 1
^ ^ Wei-fä-thsi war ein Mensch von I-hing.
Dessen Kind, das zwanzig Jahre alt war, wurde von einer
Krankheit befallen. Nach einem Jahre erschien ein Gott, der
zu ihm sagte: Der Teppich des Bettes ist nicht rein. Wo werde
ich sitzen können? — Jener sprach: Ich habe einen gefir
nissten Tücherkoffer, der sehr rein ist. Warum geht der Gott
nicht hinein? — Hiermit Hess er ihn hinein. Neuerdings be
merkte er wirklich, dass in dem Koffer ein Geräusch entstand,
und er überdeckte ihn mit dem Kofferdeckel. Hierauf hörte er
sogleich in dem Koffer eine Bewegung. Er überlieferte ihm
mit dem Kleide etwa fünf Gantang Reis. Er wiederholte dieses,
und die Krankheit war geheilt. 2
Kaiser Hiao-wu von Tsin vernahm am Ende des Zeit
raumes Tai-yuen (396 n. Chr.) immer, dass in einem Koffer
der Taschentücher der Ton von Trommeln, Blaswerkzeugen,
Reitertrommeln und Hörnern erklang. Der Kaiser starb in diesem
Jahre, die Welt gerieth in grosse Unordnung. 3
Der Speisekorb oder Kleiderkorb.
% Sse ,ein viereckiger Korb' dient zur Aufnahme von
Speisen und Kleidern. 4
Das Buch der Schang sagt: Doch die Kleider befinden
sich in dem Korbe.
■ Die erörternden Worte sagen: Ein Korb Speise, eine
Kürbisschale Getränk.
Kaiser Kuang-wu hörte, dass die Heerführer Wang-lang’s
angekommen. Er erschrack nochmals und entfernte sich. Fung-I
1 Das Buch der Tsi.
2 Die Gespräche des Zeitalters.
3 Der Garten der Merkwürdigkeiten.
4 Der erklärte Schriftschmuck.
268
Pfizmaier.
reichte ihm einen Korb gekochten Weizen und eine Hasen
schulter. 1
Yue reichte dem Könige von U als ein Geschenk sieben
gestreifte Speisekörbe. 2
Kaiser Siuen füllte Esskörbe von dunkler Tigerseele (d. i.
Bernstein) mit kostbaren indischen Spiegeln. :l
Zu den Zeiten des Kaisers Hiao-ling, in dem Zeiträume
Kien-ning (168 bis 171 n. Ckr.) machten die Aeltesten der
Mutterstadt viereckige Speisekörbe von Binsen und Eppich zu
Geräthen des Putzes. Um die Zeit vermassen sich die Ver-
ständigen zu sagen: Der viereckige Speisekorb von Binsen ist
in den Provinzen und Reichen der Schriftenkorb bei den Be-
rathungen über Verbrechen. Jetzt wird er als Kleinod ver
wendet. Die ganze Welt wird eines Verbrechens schuldig sein
und man wird über sie berathen bei den ordnenden Obrig
keiten. —, Später ward über die Schuld der den geheimen Ge
sellschaften Angehörenden, denen der Weg des Dienstes ver
schlossen woi'den, berathen. Die Kamen der Menschen des Be-
ruhigers des Vorhofes kamen in den viereckigen Speisekorb
aus Binsen. Dieses war die Bestätigung. 4
Der Bücherkoffer.
Khi ,Bücherkoffer' wird in dem erklärten Schrift
schmuck durch Khi ausgedrückt. Dieses Werk sagt: Der
Bücherkoffer wird von einem Esel auf dem Rücken getragen.
Die Geschichte der Gewohnheiten sagt: ,Bücherkoffer‘
ist das, was die lernenden Männer auf dem Rücken ti’agen.
Der Koffer ist gleich einem Koffer der Mützen und Schrift
tafeln.
m ft Siü-tschi führte den Jünglingsnamen -T- m
Jü-tse. Die öffentlichen Wagen 0 luden ihn fünfmal voi', doch er
liess sich in seinem Sinne niemals liei'ab. Als einer seiner
1 Die Geschichte der Han von der östlichen Warte.
2 Der Frühling und Herbst von U und Yue.
3 Die vermischten Erzählungen der westlichen Mutterstadt.
1 Das Durchdringen der Gewohnheiten.
5 ,Die öffentlichen Wagen“ ist der Name einer verschlossenen Abtheilung.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
269
Freunde starb, nahm er den Bücherkoffer auf den Bücken
und eilte zu der Trauer um den Todten. Er wandelte fünf
Weglängen weit.
Yuen-hung führte den Jünglingsnamen JT
Hia-fu und stammte aus Jü-nan. Er überblickte vielseitig die
Bücher. Er nahm den Bücherkoffer auf den Rücken und suchte
einen Lehrer. Dabei veränderte er seinen Geschlechtsnamen
und Namen.
& rw Kao-hung führte den Jünglingsnamen se
Pe-wu und stammte aus Schan-yang in Ho-nei. Er wurde Reichs
gehilfe von Lang-ye. Als er sein Amt antrat, nahm er den
Bücherkoffer auf den Rücken, ging einfach zu Fusse und über
schritt die Gi'änze. Er erhorchte und erforschte die Gewohn
heiten des Landes.
Tepp Su-tschang führte den Jünglingsnamen J#> ±
Sse-tsching und stammte aus Pe-hai. Er trug , auf dem Rücken
den Bücherkoffer und lief dem Lehrer nach. Zehntausend Weg
längen waren ihm nicht zu weit.
■fUj Fang-tschü führte den Jünglingsnamen fjfj
Sching-ming. Er trug auf dem Rücken den Bücherkoffer und
gelangte zu den drei stützenden Provinzen. Es war keine
Kunst, die er nicht überblickte.
m ns Lang-tsung trug auf dem Rücken den Bücher
koffer. Er verkaufte Wahrsagungen und verschaffte sich da
durch seinen Unterhalt. Die Fürsten und die ausgezeichnetsten
vielseitigen Männer forderten ihn zu sich. Tsung nahm auf
den Rücken den Bücherkoffer, ging ihnen aus dem Wege und
entfernte sich. 1
1 Das von Sie-sching verfasste Buch der späteren Han.
270
P tizmaier.
Der Vater [gj ^5 Li-ku’s war einer der drei Fürsten,
allein Ku ging zu Fusse und trug auf dem Rücken den Bücher
koffer. Auf einer Strecke von tausend Weglängen folgte er
dem Lehrer. 1
Zu den Zeiten des Kaisers Hoei von Han war ein un
sterblicher Mensch, dessen Name Han-tschi. .Derselbe
gelangte zu dem Reiche Ni-li und traf dessen Bewoh
ner in einem tiefen Thale. Sie trugen auf dem Rücken Bücher
koffer und fragten ihn, wie viele .Jahre er zähle. 2
Die vornehme Frau des grossen Ursprünglichen sagte zu
dem Kaiser Wu: Die Amme liiess mich aus der wundervollen
Sammlung des Bücherkoffers der Rubinen den Schriftschmuck
der purpurnen Erdstufe hervornehmen und ihn dir schenken. :l
Die hohe Kiste.
Lö ist eine hohe Kiste von Bambus. Für das Zeichen
setzt man auch ^ Lö. 4
tgg Lö nennt man den Kasten und Speisekorb.
Kaiser Wu wollte ;j|j| Tschi, Lehensfürsten von Lin-thse,
die Nachfolge verschaffen. Der Sohn des Geschlechtsalters ge-
rieth in Besorgniss. Er lud eine hohe Kiste in einen Wagen
und begab sich in der Kiste nach Tschao-ko. S % M
Tschang-u-tsche berieth sich mit ihm. ^ Yang-sieu mel
dete es Tai-tsu (dem Kaiser Wu), doch dieser untersuchte die
Kiste nicht. Der Sohn des Geschlechtsalters fürchtete sich. .
Tsche sprach: Nach Tagesanbruch empfängt die Kiste groben
Seidenflor. Diese wird auf dem Wagen hineingebracht, um die
Leute zu täuschen. Sieu wird es gewiss wieder melden, und man
untersucht es und findet keinen Menschen. Sieu belastet sich
dann mit Schuld. — Der Sohn des Geschlechtsalters befolgte dieses.
Sieu meldete es wirklich. Man untersuchte es, fand aber keinen
Menschen. Tai-tsu war hierdurch in Zweifel. 5
1 Die TJeberlieferungen von Li-ku.
2 Die Verzeichnisse des Auflesens des Verlorenen.
3 Die inneren TJeberlieferungen von dem Kaiser Wu von Han.
4 Der erklärte Schriftschmuck.
5 Die Worte des Zeitalters der Wei und Tsin.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzengen nnd Geräthen.
271
In Lö-yang war ein kleiner Angestellter der Abtheilung
des Bemhigers. Derselbe besass plötzlich vortreffliche Gegen-
stände. Der Beruhiger argwöhnte und forschte ihn aus. Jener
sagte, er sei früher des Weges gezogen und sei einem alten
Weibe begegnet. Diese habe ihm gesagt, dass sie mit einer
Krankheit behaftet sei. Der Meister habe gewahrsagt, sie werde
im Süden der Stadtmauern einen Jüngling finden. Sie sagte,
sie werde ihm bald seine Mühe vergelten. Sie Hess ihn jetzt
einen Wagen besteigen und setzte ihn in eine gefirnisste hohe
Kiste. Man zog ungefähr zehn Weglängen weit fort und kam an
sechs bis sieben Thoren vorüber. Als man die Kiste öffnete,
sah er plötzlich Stockwerke, Söller und schöne Dächer. Er fragte,
was für ein Ort dieses sei. Man sagte, es sei die Höhe des Himmels.
Er sah ein Weib, das fünf bis sechs und dreissig Jahre alt war.
Dasselbe war von kurzer Gestalt, schwarzgrüner Farbe und
hatte hinter den Augenbrauen Narben. Um diese Zeit stand
die Kaiserin von dem Gesehlechte Ku dem Kaiser sehr
nahe. Als man von der Gestalt jenes Weibes hörte, wusste
man, dass es die Kaiserin war. Diese schämte sich und ent
fernte sich. 1
Lö-nä war geizigen Sinnes. Er zählte und wog
immer Gegenstände von Werth. Ein Gast trat ein und sah
es. Jener schämte sich und verdeckte mit seinem Leibe die
hohe Kiste. 2
Wang-tün brachte Tscheu-I ums Leben und
nahm in dessen Hause eine Verzeichnung vor. Er sah blos
alte Flockseide in einer einfachen hohen Kiste. 3
In dem ursprünglichen Palaste der Kaiserin Wu-tao waren
zwei hohe Froschkisten voll angehäufter Kleider. 4
Als der zur Nachfolge bestimmte Kaisersohn neu ernannt
war, besass er gefirnisste hohe Bücherkisten von Pferdezähnen
und mit Gold ausgestattete hohe Kisten von buntfarbigen
Blumen. 5
1 Das von Wang-yin verfasste Buch der Tsin.
2 Das Buch der Tsin.
3 Das Buch der Erhöhung- von Tsin.
4 Die alten Dinge der wiederhergestellten Berge und Wälder.
0 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
272
Pfizmaier.
Ein altes Gedicht sagt: Der vereinigten Künstler hohe
Kiste von Elfenbein, die gefällig sich drehende Schnur von
grüner Seide.
Die grosse Truhe.
|j|F Khuei ,grosse Truhe 1 ' ist so viel als To ,kleine
Truhe 1 , Khiä ,mittlere Truhe 1 . 1
Die Menschen von Yen schickten die Gemalin Yen-I mit
Krügen von Edelstein Yao und grossen Truhen von weissem
Edelstein. 2
In dem Hause £ iJ* Kan - tschö’s gab die goldene
grosse Truhe einen Ton von sich, der Aehnlichkeit mit dem
jenigen des Schlagens auf einen Spiegel hatte. Derselbe war
klar und wehmüthig. Der Meister sagte: Die grosse Truhe
will sich »trennen: Desswegen erklingt sie wehmüthig. — Wider
Vermuthen brachten ihn seine untergeordneten Heerführer
J& M Tscheu-lu und Andere, den Wunsch Wang-tün’s er
füllend, um’s Leben. 3
Wang-pei stand Anderen nach. Er war von
niedrigem Sinne und nicht im Stande, gleich seinem Oheim
grosse Vorsätze zu hegen. Er trachtete blos nach Geld, ge
webten Stoffen und kostbaren Spielzeugen. Er liess eine grosse
Truhe, die ohne Thüre war, verfertigen. An derselben war
oben eine Oeffnung ausgebrochen, die gross genug war, um
Gegenstände aufzunehmen. Mann und Weib schliefen auf ihr. 4
Die Inschrift auf den Truhen Li-yeu’s lautete:
Die Reiche haben Hauptstädte und Städte, die Häuser haben
mittlere und grosse Truhen. Für den Gebrauch der Waaren
und Güter ist dieses ein nützliches Geräthe.
Die mittlere Truhe.
[ffi Khiä ,mittlere Truhe 1 ist so viel als JF Khuei
,grosse Truhe 1 . 5
1 Der erklärte Scliriftschmuck.
2 Die Ueberlieferungen Tso’s.
3 Das von Wang-yin verfasste Buch der Tsin.
4 Das Buch der Thang.
5 Der erklärte Schriftschmuck.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerathen.
273
Die Menschen des Reiches ^ & Han-thu verstehen
sich gut auf die Zähmung der Vögel, vierfüssigen Thiere,
Hühner und Hunde. Sie bringen es dahin, dass diese Thiere
sprechen können. Wenn Hühner, Hunde, Rinder oder Schweine
todt sind, so verfertigen sie aus weissem Edelstein mittlere
Truhen und vergraben darin die Thiere an dem Ufer des
Meeres. Der Besitzer lustwandelt an dem Meere. Wenn er
in der Erde die Stimmen von Hunden, Schweinen oder Hühnern
hört, so erkennt er diese sofort. Er gräbt sie aus und nimmt
sie zu sich. Nach Hause zurückgekehrt, nährt er sie wie ehe
mals. Bios ihre Haare und Federn sind ausgefallen. Nach
längerer Zeit sehen sie wieder schön und gefällig aus. 1
In der weiteren Erklärung der überreichten vermischten
Gegenstände des Kaisers Wu von Wei heisst es: Vier gefir
nisste mittlere Truhen mit Grabstichelwerk in Silber.
Ein altes Lied sagt: Der umherziehende Staub entsteht
in den mittleren Truhen von weissem Edelstein.
Der Kasten. 2
Hu-lui führte den Jünglingsnamen
Pe-tschung und stammte aus dem Kreise der Mutterstadt.
Er folgte immer dem Frühgebornen von dem Geschlechte
4 1 pf Tsing-nieu. Der Frühgeborne führte den Jünglings
namen iE % Fang-tsching. Derselbe verstand die Sterne,
den Kalender, den Wind, die Himmelsgegenden und den Sinn
der Raben. Lui erlangte dessen Kunst. Dieser hatte ein Weib
und keine Söhne. Später verlor er auch das Weib. Er wohnte
allein zur Seite des Weges. Er baute sich aus Backsteinen
eine Schutzwehr und gebrauchte ein Kastenbett, in welchem er
speiste und schlief. 3
£ m m Ku-I-tschi liebte überaus das Mennigrotbe
und Grüne. Er vertraute einst Hoan-yuen einen Kasten voll
Gemälde an. Er hatte die Vorderseite des Kastens gänzlich
1 Die Verzeichnungen des Auflesens des Verlorenen.
2 Tschü ’ fasten 1 hat auch die Bedeutung ,Küche*.
3 Die gekürzten Denkwürdigkeiten von Wei.
Sitzb. d. phil. hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft.
18
274
tfiamaief.
verpappt und versiegelt. Yuen öffnete die Rückseite des -Ka
stens und nahm die Gemälde. Die Siegel blieben in dem alten
Zustande, und er stellte ihn zurück. I-tschi sab, dass die Siegel
sieb in dem ursprünglichen Zustande befanden, aber er vermisste die
Gemälde. Er sagte geradezu : Die wundervollen Gemälde haben
mit dem Geistigen verkehrt. Sie haben sich verwandelt und
sind verschwunden gleichwie der Mensch zu den Unsterblichen
emporsteigt. 1
Man raffte in dem Hause 3tj± Fan-hoa’s die Musik
werkzeuge, die Kleider und Spielzeuge zusammen. Alles war
kostbar und zierlich. Die Tänzerinnen und Kebsweiber hatten
ebenfalls vollkommenen Schmuck. Seine Mutter wohnte ein
fach und gemein. Sie besass blos einen Kasten, der mit Rei
sig und Brennholz gefüllt war. 2
Die theure Gemahn Khiü, die Mutter des Königs
Kiiin von Heng-yang, starb. Kiün war sehr traurig und ge
brochen. Vormals war der Kasten der Blumenhaarnadeln der
theuren Gemalin ihr von dem Kaiser geschenkt worden. Kiün
machte ihn zu einem Spielzeuge und spielte damit. »Als die
theure Gemalin gestorben war, öffnete er ihn jedes Jahr, wenn
die Zeit des Neumondes und Vollmondes gekommen, ohne
weiteres und schluchzte. Die es sahen, waren darob schmerz
erfüllt.
|H| Lö-tscliing rühmte sich in dem Zeitalter, dass
er das grosse Lernen betreibe. Er las die Verwandlungen und
erklärte durch drei Jahre nicht den Sinn des Buches. Er
wollte das Buch der Sung erwählen. Zuletzt führte er dieses
nicht aus. jjgT Wang-hien spo.ttete über ihn und sagte:
Der Fürst von Lö ist ein Bücherkasten. 3
Als jßjjr ~g äjjjj- Sie-hung-wei dem Tode nahe war, sagte
er zu den Leuten seiner Umgebung: Ich besitze zwei Kasten
voll Bücher. Wartet, bis das Kriegsheer ^ ^||J Lieu-ling’s
1 Der Frühling und Herbst von Tsin.
2 Das von Tschin-yö verfasste Buch der Sung.
3 Das Buch der Tsi.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
275
ankommt. Ihr könnt sie dann vor dem Vorhofe verbrennen.
Hütet Euch, sie zu öffnen. 1
Das Haus Kö-hoang’s war reich. Er füllte die
Speisen in Gefasse von weissein Edelstein. Deswegen sagte
man in der östlichen Mutterstadt, das Haus des Mannes von
dem Geschlechte Kö sei ein Rubinenkaston, ein goldener
gekrümmter Kelch. 2
Wenn der zur Nachfolge bestimmte Kaisersohn neu er
nannt ist, besitzt er einen Bücherkasten von Pistazienholz,
einen Bücherkasten von Hartriegel. 3
Die Belehrung ^ Fan - ning’s sagt: Dass den
Obrigkeiten der Schrifttafeln grosses Vertrauen geschenkt wird
und dass das Vergleichen und Verbreiten den Richtern zusteht,
ist nicht zulässig. Man kann befehlen, fünfzehn Kasten für
Schreibtafeln zu verfertigen. Auf einen District komme ein Kasten.
Der Fächer.
Den Fächer bezeichnet man östlich von dem Grenzpasse
mit dem Namen Jjfj Sehen. Westlich von dem Grenzpasse
nennt man ihn Jg Sü. 4
König Wu erfand den Fächer. 5
König Wu kehrte von der Furt von Ming in sein Reich
zurück. Er sah einen am Sonnenstich leidenden Menschen.
Der König verdeckte ihn von der linken Seite und fächelte
ihn dabei. 0
Nach den Anordnungen für die Wagen und Kleider
Liang-ki’s verfertigte man Fächer, welche den Leib ver
deckten".
Hoang-hiang war äusserst älternliebend. Im
I—I
Sommer wartete er mit dem Fächer zur Seite seiner Eltern
auf. 8
1 Die Geschichtschreiber des Südens.
2 Die Verzeichnungen des Auflesens des Verlorenen.
3 Die alten Sachen des östlichen Palastes.
4 Die von Yang-hiung verfassten Worte der Gegenden.
5 Das Buch der Zeitalter.
6 Die Darlegung der Zeitalter der Kaiser und Könige.
7 Das Buch der fortgesetzten Han.
8 Die Geschichte der Han von der östlichen Warte.
18*
276
t f i z m a i e 1*.
jft ^ Han-siuen führte den Jünglingsnamen
King'-jen. Derselbe war Zugesellter des Berathenden in dem
Kriegsheere des Reichsgehilfen. Er trat zu Fusse in das Thor
des Palastes und begegnete dem Lehensfürsten von Lin-thse. Um
die Zeit hatte es frisch geregnet, und auf dem Boden waren
kothige Pfützen. Siuen war behindert und konnte sich nicht
entfernen. Er verdeckte sich mit dem Fächer. 1
Kaiser Wu traf in dem Zeiträume Tai-schi (265 bis 274
n. Chr.) eine vielseitige Auswahl unter den Töchtern der guten
Häuser und füllte mit ihnen die Rückseite des Palastes. Früher
liess er ein Schreiben herab, in welchem er in der Welt diePIei-
rathen verbot. Er liess Obrigkeiten nacheinander in den Land
strichen und Districten einherjagen und diejenigen, unter
denen er für den Palast wählen sollte, herbeirufen. Er liess
die Kaiserin von dem Geschlechte Yang wählen, was er
nehmen solle. Die Kaiserin eiferte und nahm nicht die eigent
lich schönen. Sie nahm blos die Tochter des zu der Zeit
ö M Tschang-pe’s lebenden ^ Pien - fan, welche
Schönheit besass. Der Kaiser erhob den Fächer und verdeckte
sich das Angesicht. Er sprach mit der Kaiserin und sagte,
die Tochter Pien-fan’s sei schön. Die Kaiserin sprach: Die
Seitengeschlechter der Kaiserin durch drei Gcschlechtsalter
sollen nicht durch eine gemeine Rangstufe herabgewürdigt
werden. — Der Kaiser liess hierauf ab.
Ho-tschi führte den Jünglingsnamen ]jj£ yjj
Yuen-han. Derselbe betrieb immer als ein Geschäft das Binden
von Pinseln und das Weben von Fächern. Er verschaffte sich
dadurch seinen Unterhalt.
* m Yü-liang zog aus, um die auswärtigen Gebiete
niederzuhalten. Weil er der Schwäher des Kaisers war, be
mächtigte er sich der Gewalt an dem Hofe. Wang-tao
1 Die gekürzten Denkwürdigkeiten von Wei.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätlien.
277
war niclit im Stande, den Frieden herzustellen. Es begegnete
ihm einst, dass ein Westwind erstand. Er erhob sofort den
Fächer, verdeckte sich und sag'te: Der Staub der ursprüng
lichen Ermessung beschmutzt die Menschen.
[0jl Tschin-min, Beichsgehilfe von Kuang-ling, em
pörte sich. Er übersetzte den Strom und richtete den Angriff
gegen Yang-tscheu. Der stechende Vermerker ^ ^}J Lieu-
ki verliess sich auf die Streitmacht und setzte sich in den
Landstrichen und Provinzen fest. Er hatte die Absicht, die
Schiffe anlanden und sich anhäufen zu lassen. Er entsandte
^ i||| Ku-ying mit dem Aufträge, die Schiffe an den Ufer
bänken zu sammeln. Min zog an der Spitze von zehntausend
Menschen aus, errang aber nicht die Ueberfahrt. Ying deutete
mit dem Flügelfächer wie mit einer Fahne. Die Menge Min’s
erlitt eine grosse Schlappe. 1
Kaiser Ngan verbot in dem ersten Jahre des Zeitraumes
I-hi (405 n. Chr.) die atlassenen Fächer und das Würfel
spiel. 2
Unter den Bezirksgenossen ^ Wi Sie - ngan’s war
Einer, der zur Strafe in den District Tschung-sö geschickt
wurde. Als er zurückkehrte, begab er sich zu Ngan. Dieser
fragte ihn, was er für Waaren bringe. Jener antwortete: Der
Süden der Bergrücken ist siech und verkümmert. Ich habe blos
fünfmal zehntausend Fächer von Binsen und Malven. Es heisst,
dass man zur Unzeit die Waare angehäuft habe. — Ngan
nahm einen von den Fächern und hielt ihn in der Hand.
Hierauf waren die vorzüglichen Männer der Hauptstadt um
die Wette für diese Fächer eingenommen. Ihr Preis stieg um das
Mehrfache. In zehn Tagen waren keine mehr verkäuflich. 3
Kaiser Fei ward der Tugend verlustig. Die Kaiserin-
Mutter verwendete immer Mühe, um ihn abzuschrecken. An
fänglich zeigte er noch Willfährigkeit, später wurden sein
1 Das Buch der Tsin.
2 Das Buch der Erhebung von Tsin.
3 Der Frühling und Herbst der fortgesetzten Tsin.
278
Pfizmaier.
Wahnsinn lind seine Tücke allmälig ärger. Die Kaiserin-Mutter
schenkte dem Kaiser gewöhnlich Federnfächer mit Stielen von
Edelstein. Den Kaiser verdross es, dass die Federn und der
Stiel nicht geblümt waren. Er wollte der Kaiserin-Mutter
deswegen Gift geben. Er befahl dem ersten Arzte, Arznei
stoffe zu kochen. Die Umgebung wehrte es ihm. Der Kaiser
liess hierauf ab.
ätjfc ^ Fan-hoa verschwor sich zu Auflehnung und
wurde gebunden. Der Kaiser besass einen weissen runden
Fächer von grosser Schönheit. Er schickte ihn Hoa und hiess
ihn auf demselben einen schönen Abschnitt eines Gedichtes
schreiben. Als Hoa die Willensäusserung des Kaisers empfan
gen hatte, zog er den Pinsel an sich und schrieb: Ich bin ent
fernt von des weissen Tages hellem Leuchten, ich bin über
fallen von dem Kummer der langen Nacht. — Der Kaiser
überblickte die Schrift schmerzvoll. 1
pT Fen, der Enkel m ^ Wang-tse-liang’s von
King-ling, führte den Jünglingsnamen & Wen-hoan.
Derselbe mass von Gestalt nicht ganz sechs Schuh, doch sein
Geist und sein Verstand waren ausgezeichnet. In seiner Jugend
liebte er das Lernen. Er besass schmucke Gaben, er konnte
schreiben und gut malen. Auf einen Fächer zeichnete er die
Berge und Flüsse. Innerhalb der Grenzen eines Schuhes be
merkte man mit Leichtigkeit, dass zehntausend Weglängen die
weite Entfernung bilden.
jjjf 0|J Lieu-tsiang führte den Jünglingsnamen ||j|
Hien-tsching. Derselbe sprach leicht und handelte schnell. Er
ging Hohen und Niederen nicht aus dem Wege. In dem Zeit
räume Kien-yuen (479 bis 482 n. Chr.) wurde er Leibwächter
der richtigen Zählung. Der Vorsteher der Scharen [pt] J|j
Tschü-yen-hoei trat an den Hof und schützte sich mit einem
Lendenfächer vor der Sonne. Tsiang ging an ihm von der
1 Das Bucli der Sung.
Denkwürdigkeiten von cliinesischen Werkzeugen und Geriithen.
279
Seite vorüber und sprach: Da du eine solche Aufführung hast,
sielist du mit verschämtem Angesicht die Menschen. Was nützt
es, dass du dich mit dem Fächer verdeckst? —■ Yen-hoei
sprach: Der frierende vorzügliche Mann ist unehrerbietig. —
Tsiang sprach: Du konntest die Männer der Geschlechter
^ und 0)J Lieu nicht tödten. Wie könntest du dem frieren
den vorzüglichen Manne entkommen ?
*
ÜÜ "7* fM Siao-tse-liien tliat sich ziemlich auf seine
Begabung und seinen Geist zu Gute. Als er den Wahlen Vor
stand, besuchte er die Gäste der neun Secten. Er wechselte
mit ihnen keine Worte, er erhob blos den Fächer und winkte
ihnen einmal zu, dies war alles. Seine Kleider und seine Mütze
zeugten von Anmassung und waren widerwärtig. 1
IE Tsching, der Sohn ^ Hung’s, Königs von Lin-
tschuen, bekundete den Unverstand der Jugend. Er hielt immer
in der Hand einen weissen runden Fächer. Der König von
Siang-tung nahm diesen Fächer und versah ihn mit acht
Schriftzeichen. Durch die Aufschrift hielt er Jenen zum Besten.
Tsching war gläubig und wusste nicht, dass man ihn verlache.
Zuletzt hielt er immer den Fächer, indem er ihn bewegte.
'I'lj! |||J Lieu-wen besass frühzeitig einen geehrten Na
men. In seiner Jugend verfertigte er für die zehn Kunsthefte
ein Gedicht, worin er sagte: An dem Sumpfe des Blockhauses
fallen die Blätter der Bäume. Ueber dem Haupte des Erd-
liügels fliegen herbstliche Wolken. — ^t{[ Yung, König von
Lang-ye, sah dieses. Er beseufzte es und belohnte ihn. Er Hess es
auf die Wände des Bethauses und auf den weissen runden
Fächer, den er in der Hand hielt, schreiben. 2
Tschang-fu führte den Jünglingsnamen ^
King-tsehe. Seine Mutter starb bei seiner Geburt. Als er einige
Jahre alt war, fragte er nach ihr. Obgleich ein Knabe und un
wissend, zeigte er in seinen Gesichtszügen Rührung und Ver-
! Das Buch der Tsi.
2 Das Buch der Liang.
f
280
Pfizni aier.
laugen. Zehn Jahre alt suchte er die von seiner Mutter Unter
lassenen Gegenstände, diese waren jedoch gänzlich zerstreut
oder verbraucht. Er fand blos einen bemalten Fächer, und er
packte diesen ein. Wenn er grosse Rührung und Sehnsucht
empfand, öffnete er sofort den Koffer und vergoss Thränen.
Yang-hin 1 führte den Jünglingsnamen
King-yuen. ||j jjj Yuen-bien, der Sohn des Geschlechts-
altcrs des Königs von Kuei-ki beauftragte ihn immer, auf einen
Fächer zu schreiben, doch Jener vollzog niemals den Befehl.
Yuen-hien zürnte und machte ihn zum Hausgenossen des rück
wärtigen Sammelhauses des Kriegsheeres.
Ho-tsI war schön von Aeusserem, ingleichen von
Benehmen. Er und Tschii-yen-hoei 2 waren für einander ein
genommen. Die Zeitgenossen nannten ihn den kleinen Für
sten von dem Geschlechte Tschü. Sein Haus war reich,
seine Beschäftigung grossartig. Von Sinn war er ebenfalls üppig
•und verschwenderisch. Seine Kleider, Decken und der Schmuck
seiner Kleidung waren im höchsten Grade prachtvoll und zier
lich. Er zog aus und wurde Statthalter von U-hing. Er liebte
ziemlich die bemalten Fächer. Kaiser Wu von Sung schenkte
ihm einen Fächer der Grillen und Sperlinge, der von dem
vortrefflichen Maler jjh j||| Ku-king-sieu bemalt war. Um
die Zeit verstanden sich
Lö-tan-wei und
Ku-pao aus der Provinz U auf das Malen. Man seufzte über
das Aufnehmende ihrer Kunstfertigkeit. TsI machte sie (die
Maler) durch Wang-yen (dem Kaiser) zum Geschenk. 3
fr Ni-tschü-pe führte den Jünglingsnamen
m Fu- pe. Zu den Zeiten des Kaisers Tsie-min erhielt
er das Lehen eines Fürsten der Provinz Ho-kien. Unverhofft
1 Yang-hin ist in der Abhandlung: Zur Geschichte der Erfindung und des
Gebrauches der chinesischen Schriftgattungen (S. 52 u. an a. O.) vor
gekommen.
2 Tschü-yen-hoei ist oben (S. 273) vorgekommen.
3 Die Geschichtschreiber des Südens.
Denkwürdigkeiten von cliinesieclien Werkzeugen und Gerätlien.
281
wurde er stechender Vermerker von Tsing-tscheu. Nach der
Niederlage Han-ling’s wollte er nach Liang entflie
hen. Durch mehrere Tage zerschnitt er mit den Leuten sei-
nerUmgebung Fächer und machte sie zu Beglaubigungen.
^ ^ Fung-schao-lung, der unter dem Zelte Pe’s be
findliche Beruhiger der Hauptstadt, wartete wegen der Beglau
bigungen Pe’s. Er sprach mit diesem und sagte: Wir haben
jetzt Anstrengung und Mühsal gemeinschaftlich. Wir sollten
vor dem Herzen das Blut träufeln lassen, es der Menge zeigen
und daraus eine Beglaubigung machen. — Pe befolgte dieses.
Er versammelte vollständig die Abtheilungen und die Unter
gebenen. Er kauerte auf einem Bette von Hu, hiess Schao-
lung ein Schwert ergreifen und gegen das Herz tupfen. Schao-
lung drang dabei mit der Klinge vor und tödtete ihn. 1
Als Tschung-tsung der zur Nachfolge bestimmte Sohn
des Kaisers war, hiess ihn die Himmelskaiserin 2 , weil es um
die Zeit heiss war, an dem äusseren Hofe mit einem Fächer
die Sonne verdecken. Der zur Nachfolge bestimmte Sohn ver
zichtete darauf. Eine höchste Verkündung erlaubte dieses
nicht. 3
Ueber den Fächer wird folgendes gesagt:
Man hat den Winter und kleidet sich in keinen Pelz.
Man hat den Sommer und ergreift keinen Fächer. Mau hat
hier die Gebräuche des Mannes. 1
Bei der dritten der fünf Lenkungen, die man im Sommer
übt, heisst es: Man verbietet den Fächer und entfernt den
Hut. 5
Feuer auskommen lassen und einen Brunnen graben,
einen Pelz tragen und sich des Fächers bedienen, hierbei ist
man nicht fähig, Hilfe zu bringen.
1 Das Buch der späteren Wei.
2 Die spätere Kaiserin Wu von Thang erhielt. früher die Benennung
Himmelskaiserin.
3 Das Buch der Thang.
4 Die sechs Köcher des grossen Fürsten.
5 Das Buch ICuan-tse.
282
P f i z in a i e r.
Dass man in den Tagen des Sommers keinen Pelz trägt,
ist nicht, weil man ihn schont. Die Hitze ist übermässig fin
den Leib. Dass man in den Tagen des Winters keinen Fächer
gebraucht, ist nicht, weil man mit ihm haushält. Die Frische
ist übermässig. 1
Wenn der Wind sich nicht legt, wird der Fächer nicht
gebraucht. Wenn die Sonne nicht aufgeht, wird die Kerze
nicht ausgelöscht. 2
Durch den Drachen bringt man den Regen herbei. Durch
den Fächer verjagt man die Hitze. 3
Die Fächer des Fasanenschweifes stammen aus den Zei
ten der Yin. Kao-tsung- hatte das glückliche Zeichen des sin
genden Fasans. Für die Ausschmückung der Kleider bediente
man sich häufig der Flügelfedern des Bergfasans. In den An
ordnungen der Tscheu machte man daraus die Bekleidung des
Wagens der Kaiserin und der vornehmen Frauen. Die. Hand
wagen hatten grosse Fächer, die man bildete, indem man die
Flügelfedern des Fasans zusammen wob. Man schützte sie
dadurch vor Wind und Staub. Die Gespanne und Sänften an
dem Hofe der Han bekleidete man damit. Später schenkte
man sie dem Könige Iliao von Liang. Seit den Wei und Tsin
machte man daraus etwas Gewöhnliches und Ordnungsmässiges
und sämmtliche Könige durften sich deren bedienen.
Der verdeckende Fächer ist ein Fächer mit langer Hand
habe. In dem Zeitalter der Han gab es viele Gewaltige und
Schirmherren. Dieselben bildeten aus Fasanenschweifen lange
Fächer.
Die Fächer der fünf Lichter sind durch Schün erfunden
worden. Nachdem dieser die Altäre der Landesgötter Yao’s in
Empfang genommen hatte, eröffnetc er .weit das Sehen und
1 Das Buch Hoai-uan-tse.
2 Das Buch Pao-pö-tse.
3 Der mannigfache Thau des Frühlings und Herbstes.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätlien.
283
Hören und suchte weise Menschen, um sich zu schützen. Dess-
wegen verfertigte er die Fächer der fünf Lichter. Die Fürsten,
Reichsminister und Grossen von Thsin und Ilan bedienten
sich derselben. Zu den Zeiten von Wei und Tsin durfte man
sich ihrer bloss für Gespanne und Sänften bedienen. 1
Wenn der zur Nachfolge bestimmte kaiserliche Sohn zum
ersten Male sich vorstellt, reicht er einen gefirnissten Lenden
fächer und einen grünen Bambusfächer. Die Königin, welche
der zur Nachfolge bestimmte Sohn aufnimmt, besitzt dreissig
Fächer des einmüthigen Herzens und zwanzig einfache Bam
busfächer. 2
In dem ursprünglichen Palaste gebrauchte man sechs
runde Fächer von grobem Seidenflor. 3
ts w ^ Tschü - mai - tschin wurde Statthalter von
Kuei-ki und trug in dem Busen das farbenglänzende breite
Band. Auf der Rückkehr gelangte er zu dem goldenen Ein
kehrhause, allein die Menschen des Reiches kannten ihn noch
nicht. Tsien-kö, der ihn kannte, sah, dass er von
Tinte befeuchtet war. Er bewillkommte ihn und sagte: Darf
ich frei von Ermüdung bleiben? — Er schickte ihm einen
glänzenden ungefärbten Fächer. Als Mai-tschin in die Provinz
gelangte, zog er Jenen als obersten Gast herbei.
m t Ting-hoen, ein geschickter Künstler von Tschang-
ngan, verfertigte Fächer mit sieben Rädern. Die zusammen
hängenden sieben Räder massen einen Schuh im Durchmesser
und setzten sich gegenseitig fort. Wenn ein Mensch sie drehte,
zitterte die ganze Halle vor Kälte.
Als Tschao-fei-yen Kaiserin wurde, übersandte ihr ihre
jüngere Schwester fünf Fächer von Wolkenmutter, sieben
1 Die von Tsehui-piao verfassten weiteren Erklärungen des Alterthiuns
und der Gegenwart.
2 Die alten Sachen des östlichen Palastes.
3 Die alten Sachen der wiederhergestellten Berge und Anhöhen.
284
Pfizmaier.
helle Fächer, blumige Fächer, Fächer von Bergfasan, Fächer ^
von Grillenflügeln.
Für den Himmelssohn stellt man im Sommer Fächer
von Flügelfedern hin. Im Winter stellt man taffetene Fä
cher hin. L
Indem man ehemals Fächer von Flügelfedern verfertigte,
schnitzte man für die Handhabe Holz und bediente sich des
Elfenbeines und der Knochen. Flügelfedern gebrauchte man zehn
und nahm die vollständige Zahl. Im Anfänge des Zeitraumes
der Erhebung von Tsin führte ^ Wang - tün 2 zuerst
eine Neuerung ein. Er gebrauchte lange Handhaben und liess
sie unten hervortreten, so dass man sie erfassen konnte. Er
verringerte die Flügelfedern und gebrauchte deren acht. Die
Einsichtsvollen hielten dieses für eine Ungeheuerlichkeit der
Sitte. Was die Handhabe betrifft, die man erfassbar machte,
so ist das Reich ein Bild der Handhabe. Dass man die Federn
verringerte und deren acht gebrauchte, hierdurch sind die <9
Flügelfedern beschädigt und wenige an der Zahl, doch die
Flügelfedern des Fluges sind das Entsprechende dessen, dass
kein gutes Endo erfolgt. 3
Schi-hu erfand Fächer der Wolkenmutter, der fünf
Lichter, der Goldblätter und ,keiner Schwierigkeit'. Dieses
sind Namen für einen einzigen Fächer. Goldblätter sind ge
schlagenes echtes Gold, gleich den Grillenflügeln. Beide Fächer
sind buntfarbig und gefirnisst. Sie sind bemalt mit Unsterb
lichen, seltsamen Vögeln und merkwürdigen vierftissigen Thieren.
Die fünf Lichter sind in der Mitte. Das Licht misst im Um
fange drei Zoll, bisweilen fünf Zoll, je nach der Grösse des
Fächers. Inmitten der Blätter sind Nähte von dünnen Sciden-
ftiden, welche die Abgränzung bilden. Obgleich gemalt, sind
die bunten Farben hell und durchsichtig. Man betrachtet sie,
1 Die vermischten Erzählungen der westlichen Mutterstadt.
2 Wang-tün empörte sieh im ersten Jahre des Zeitraumes Yung-tscliang
(322 n. Chr.).
3 Die Besprechung der Vorbedeutungen und glücklichen Zeichen der Er
hebung von Tsin.
als ob man sagte, man könne sie nehmen. Desswegen nannte
man sie ,keine Schwierigkeit'. Wenn Hu auszog, besteckte er
mit diesen Fächern die Gespanne und Sänften. Er gebrauchte
auch elfenbeinerne Fächer der Pfirsichzweige. Der auf ihnen
befindliche Bambus war bisweilen von grüngelber tiefer Farbe,
bisweilen von der Farbe des Magnoliabaumes. Man verfertigte
einige von purpurner und blauer Farbe, man verfertigte andere
von dunkelgoldener Farbe. 1
In dem Reiche Fu-nan verstand man es ehemals nur,
grosse Fächer zu verfertigen. Man liess Menschen sie halten.
Man wusste nicht, dass jeder Mensch sich deren selbst be
dienen könne. Gegenwärtig bedient sich deren Jeder, wenn es
heiss ist, selbst. 2
Zu den Zeiten des Königs Tschao von Tscheu machte
das Reich f# ’iJj' Thu-sieu grüne Paradiesvögel und mennig-
rothe Schwäne, von einem jeden ein Männchen und ein Weib
chen, zum Geschenk. Bei der Ankunft des Sommers nahm
man die Flügelfedern des Schwanes und verfertigte daraus
einen Fächer. Man nannte diesen: Den Windspendenden. Man
nannte ihn auch: Die gezweigten Flügel federn. Man nannte
ihn auch: Don Schattenzurückwerfenden. Um die Zeit machte
das südliche Ngou ein schönes Mädchen zum Geschenk. Das
selbe bewegte wieder diesen Fächer und wartete zur Seite des
Königs auf. 3
Yang-feu verfasste eine Lobrede auf den Schnee,
worin er sagte: Er verausgabt Klarheit und verwandelt sich,
er fährt in der Luft und fällt dicht. Er findet Gestalt und
kann frisch sein. Er ist dann rein weiss und bringt Glanz
hervor. — yjipj Hoan-yün schrieb diese Worte sogleich
auf einen Fächer. 4
der Hauptstadt in King-
Als
tscheu war, überreichte er an dem Hofe einen Federnfächer.
Kaiser Tsching hatte die Vermuthung, dass es ein alter Gegen
stand sei. w m Lieu-schao, der Aufwartende für die Mitte,
1 Die Geschichte (1er Begebenheiten in Nie.
2 Die Denkwürdigkeiten von merkwürdigen Dingen.
3 Die Verzeichnisse des Auflesens des Hintcrlasseneu.
1 Die Besprechungen des Zeitalters.
286
P f i 7. m a i o r.
sagte: Das Wolkengefüge von Pe-liang, 1 die Zim
merleute haben früher unter ihm gewohnt. Die mannigfache
zu Ohren gebrachte Musik der Röhre und Saiten, 3F &
Khuei-ya 2 hat früher ihre Töne gehört. Yl hat den Fächer
überreicht, weil er vortrefflich ist, nicht, weil er neu ist. —
^ Ki-kung hörte dieses und sprach: Dieser Mensch
befindet sich mit Recht in der Umgebung des Kaisers. 3
Kiai-tschi-tui folgte Tschung-ni von Tsin, als dieser das
Reich verliess. Später verzichtete er auf den Gehalt und trat
mit seiner Mutter, in das Gebirge ft Kiai. Er schloss sich
daselbst an % ft Pe-yang auf dessen Wanderungen. Ein
späteres Geschlechtsalter sah ihn in der Hauptstadt des Königs
von Tung-hai, wo er Fächer verkaufte.
^ Lu-schao - thsien stammte aus Schan-yang.
Kaiser Wen von Plan trug eine unscheinbare Kleidung, nahm
in den Busen Gold und wollte ihn um den Wog fragen.
Schao-thsien ergriff einen elfenbeinernen Fächer und trat bei
dem kaiserlichen Thore hinaus. 5
ijx. U-meng liebte die Kunst des Weges. Er über
setzte einst den Strom. Er zeichnete mit einem Fächer von
weissen Flügelfedern auf das Wasser und ging geraden Weges
quer über die Strömung, ohne sich eines Schiffes und Ruders
zu bedienen. 6
-'4'*
Zeiträume
^ Tan-meu-tsung von Kao-ping verlor in dem
I-hi (405 bis 418 n. Chr.) seine Mutter von dem
Geschlechte ^f|J Liou. Sie erschien ihm im Traume und sagte:
Für ewig abgewendet und getrennt! Jetzt reiche ich dir diesen
Fächer und nehme Abschied. — Sie vergoss dabei Thränen.
Als Tsung erwachte, fand er zwischen dem Windschirme einen
Fächer. Die ganze Oberfläche desselben war gleich Netzen
von Spinnen. 7
1 So hiess eine Erdstufe der Han.
2 Zu den Zeiten des Kaisers Se.hün eine den Musikstücken Vorgesetzte
Obrigkeit.
3 Der Wald der Worte.
4 Die Ueberlieferungen von Unsterblichen.
5 Die Geschichte des Suchens der Götter.
6 Die fortgesetzte Geschichte des Suchens der Götter.
7 Der Garten der Merkwürdigkeiten.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
287
Die Gattin des zur Nachfolge bestimmten Sohnes
Mo von dem Geschlechte 2p* Ki ward von ihrem Manne
fortgeschickt. Die Gattin übergab ihrem Manne ein Schreiben.
Zugleich brachte sie ihm zwei Paare bequemer elfenbeinerner
Fächer. 1
Ein altes Gedicht sagt:
Der Atlasfächer ist gleich dem glänzenden Monde, er
kommt von dem Webstuhl farblos. Man malt auf ihn die Ge
stalt des Mädchens von Th sin. Dasselbe besteigt den Götter
vogel, tritt in Rauch und Nebel.
Das Gedicht auf dem Fächer der Tsie-yi'i von dem Ge
schlechte Jjjjf Puan lautete:
Neu gerissen der gleichförmige farblose Atlas, dünn und
reinweiss wie Reif und Schnee. Zugeschnitten ist er ein ge
selliger, heiterer Fächer, gerundet hat er Aehnlichkeit mit dem
glänzenden Monde. Er tritt aus und ein in dem Busen und
dem Aermel des Gebieters. Wird er bewegt, bricht unmerk
licher Wind hervor.
In dem von ;j|j| ^ Tsao-tschl verfassten bilderlosen
Gedichte auf den Fächer der neun Blumen heisst es:
Einst wartete, mein Vorgänger beständig auf und erlangte
die Gunst des Kaisers Hoan von Plan. Der Kaiser durfte ihm
den Bambusfächer des Vorstehers der Arzneimittel schenken.
Derselbe war nicht viereckig, nicht rund. In seiner Mitte waren
geknüpfte Schriftzeichen, welche mit Namen ,die neun Blumen'
hiessen. Die Worte lauteten: Die Gestalt fünffach getrennt und
neunfach gespalten. Bambushaut und dünnes Haar lösen sich
und Fäden theilen sich. Er lässt los das Winden der gehörnten
jungen Drachen, er nimmt zum Muster der Wolken und des Regen
bogens dunklen Rauch. Durch die Gestalt bringt er zu Wege
das Ungewöhnliche des Schönen, nach seiner Weise entspricht
das Viereckige nicht dem Winkelmass, das Runde bildet keinen
Zirkel. Nach dem blendend weissen Handgelenke dreht er sich
im Kreise, er schickt hervor die unbeträchtliche Kälte des gün
stigen Windes. Um die Zeit ist die Luft klar, von Wohlge
rüchen scharf, aufgeregter Wirbelwind bewegt die gestreifte
Seide, den farblosen Atlas.
1 Die Sammlungen über Frauen.
288
Pfizmaier.
Der Regenschirm oder Sonnenschirm.
Kai ,der Regenschirm' befindet sich in der Höhe
und überdeckt die Menschen. 1
Ausgespannte Leinwand, durch die man dem Regen ent
geht, nennt man jjg San-kai ,Regenschirm'. 2
Einen abgenützten Regenschirm wirft man nicht weg.
Man vergräbt in ihm die Hunde. 3
Der Lehensfürst von Tsi bekriegte Tsin. 'jH I -1
fiel, ohne am Leben zu bleiben. Er starb unter der Traufe. 4
Der Lehensfürst von Tsi sagte zu den Leuten I-l’s: Wem es ver
gönnt war, zu fallen ohne am Leben zu bleiben, ist von den
fünf Häusern befreit. 5 — Man erlangte seinen Leichnam.
Der Fürst liess ihn in drei Kleidern aufbahren. Er gab ihm
ein Vordach des Nashorns und einen geraden Regenschirm. c
Khung-tse wollte ausgehen. Er befahl seinen Begleitern,
den Regenschirm zu halten. Nachdem dieses geschehen, reg
nete es wirklich. 7
Khung-tse wollte ausgehen. Es regnete, und er hatte
keinen Regenschirm. Die Menschen des Tliores sagten: Schang
besitzt einen. — Khung-tse sprach: Schang ist ein sehr fehler-
4 Die erklärten Namen.
2 Der Schriftschmuck des verkehrenden gewöhnlichen Lebens. Der hier
gebrauchte Ausdruck ist aus zwei gleichbedeutenden Wörtern zusammen
gesetzt. Für San oder ||l^ San „Regenschirm“ wird in den
Geschichtschreibern des Südens zum ersten Male das jetzt übliche
San gesetzt, Kai hat übrigens auch die Bedeutungen Stroh
dach*, ,Wagendach*, ,Deckel*.
3 Das Buch der Gebräuche. Die todten Hunde werden in alte Regenschirme
gehüllt und in ihnen vergraben.
4 Er fiel im Kampfe und starb unter der Traufe des Thores.
5 Man verleiht ihm den Befehl über fünf Häuser, man soll ihm nicht die
Dienstleistungen übertragen.
6 Die Jahre des Fürsten Ting in den Ueberlieferungen Tso’s. Ein Vordach
des Nashorns ist der Wagen eines Reichsministers. Ein gerader Regen
schirm ist eine hohe Wagendecke.
* Höchstweise Menschen stehen mit dem Himmel im Verkehr.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätlien.
289
hafter Mensch durch die Güter. Ich hahe gehört: Wer mit
den Menschen umgeht, wählt die Vorzüglichen unter ihnen
und kehrt sich weg von den Fehlerhaften unter ihnen. Dess-
wegen kann er lange bestehen. 1
Der Grosse der fünf Widder war Reichsgehilfe in Thsin.
Wenn er sich anstrengte, sass er in keinem Gespanne. Wenn
es heiss war, spannte er keinen Sonnenschirm. 2
* W ± Schang-kuan-khie war in seiner Jugend
ein Flügelwald. 3 Er begleitete den Kaiser Wu auf dessen Reise
nach Kan-tsiuen. Das Wetter war stürmisch, der Wagen konnte
nicht weiter fahren. Man löste den Regenschirm (das Wagen
dach) und warf ihn weg. Kliie nahm ihn in Empfang. Trotz
des Sturmes legte er ihn immer an den Wagen, und der Regen
rann an dem Schirme herab. Alsbald lenkte er den Wagen.
Der Kaiser bewunderte Khie’s Geschicklichkeit und Stärke.
Hoang-pa wurde stechender Vermerker von
Yang-tscheu. Nach drei Jahren schenkte ihm Kaiser Siuen in
einer höchsten Verkündung einen Wagenschirm, der nur einen
Schuh hoch war, um den Tugendhaften auszuzeichnen.
Jemand sagte, dass man zu den Zeiten des gelben Kaisers
blumige Regenschirme aufstellte und zu den Unsterblichen
emporstieg. Wang-mang liess jetzt blumige Regenschirme ver
fertigen, die acht Klafter und einen Schuh hoch waren. Es
waren Schirme von Flügelfedern mit goldenen Reifen. Man lud
sie mit geheimen Triebwerken auf vierräderige Wagen und
spannte sechs Pferde an. Die Wagenzieher riefen: Man steigt
zu den Unsterblichen. 4
1 Die Worte des Hauses.
2 Das Sse-ki.
3 Der Flügelwald ist die Leibwache des Nachtlagers. Dieselbe wird so ge
nannt, weil sie schnell wie. Flügel und zahlreich wie die Bäume des Waldes
ist. Nach Anderen bezeichnet ,Flügel 1 , dass die Leibwache für den
König die Flügel und Schwingen bildet.
4 Das Buch der Han.
Sitzb. d. phil.-Mst. CI. LXXII. Bd. I. Hft.
19
290
Pfizmaier.
Zu den Zeiten des Kaisers Ling erklärte man die Warte
der Freude von Wu-ping. Man stellte zehnfache, mit fünf
Farben glänzende blumige Regenschirme auf, die zehn Klafter
hoch waren. Man stellte neunfache blumige Regenschirme auf,,
die neun Klafter hoch waren.
Man brachte Lao-tse das Opfer in |||| JCj|| Ti-lungund
stellte acht blumige Regenschirme auf. 1
Wei-ngao wurde geschlagen. Der Kaiser kehrte zurück
und zog über m Khien. |||l Tsi-tsün bewillkommnete
ihn. Um die Zeit war Tsün kränklich. In einer höchsten Ver
kündung schenkte ihm der Kaiser einen doppelten Wagen
teppich, der mit einem kaiserlichen Regenschirm überdeckt war. 2
Kuang-wu zog im Osten umher. Jj||f Yü-yen beglei
tete den kaiserlichen Wagen. Man gelangte nach Lu und fuhr
auf der Rückkehr durch das Stadtthor von Fung-khieu. Das
Thor war niedrig und klein, es fasste nicht den Regenschirm
von Flügelfedei’n. Der Kaiser zürnte und liess den kaiserlichen
Vermerken strafen. Yen kam zu Hilfe, das Thor war jetzt
hoch genug. 3
# fr Tsao-hieu drang in Hoan-tsching. |$|| Lö-
sün schlug ihn. Sün-kiuen hiess die Leute seiner Umgebung
Lö-sün mit dem kaiserlichen Regenschirme überdecken.
Tscheu-tai führte den Jünglingsnamen 2p
Yeu-ping. Er erwarb sich mehrmals durch die Kämpfe Ver
dienste. Sün-kiuen überdeckte ihn mit dem kaiserlichen Regen
schirme.
|>Dj Lieu-khi wurde von Sün-kiuen geliebt und ge
ehrt. Er begleitete diesen einst auf dem kaiserlichen Thurm
schiffe. Um. die Zeit regnete es stark. Kiuen überdeckte ihn
1 Das Buch der fortgesetzten Han.
2 Die Geschichte der Han von der östlichen Warte.
3 Das Buch der späteren Han.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
291
eigenhändig mit dem Regenschirme. Er befahl auch, die Leute
Khi’s zu überdecken, doch dieses war nicht möglich.
Als 'pi Ho-tsi Heerführer wurde, hatte er Ver
zierungen von gestreiftem Taffet. Die Schiffe, die er bestieg,
hatten grüne Regenschirme und hochrothe Vorhänge. 1
Hoan-yuen lustwandelte im Süden des Gewässers. Ein
Wirbelwind machte den Regenschirm an der Querstange seines
Wagens entfliegen. Später erhoben sich die gerechten Waffen,
und er wurde alsbald geschlagen. 2
Das Reich m m m Ho-lo-schen bot zum Geschenk
einen Regenschirm von Pfauenfedern. 3
Die Ueberlieferungen von * £ I Wang - yao-
kuang von Schi-ngan. yjj Kiang-tschi wurde hingerichtet.
Tung-hoen berief Yao-kuang zu sich. Als dieser in
die Vorhalle trat, erzählte man ihm von dem Verbrechen
Tschl’s. Yao-kuang fürchtete sich und kehrte nicht in die ver
schlossene Abtheilung zurück. Er stellte sich sogleich wahn
sinnig, „rief mit lauter Stimme und wehklagte. Seit dieser Zeit
gab er sich für krank aus und betrat nicht mehr die Erdstufe.
Vordem hatte Yao-kuang eine Reise unternommen. Als er
zurückkehrte und in die Feste trat, blies der Wind dergestalt,
dass sein Regenschirm über die Stadtmauer hinausflog. Yao-
kuang wurde später geschlagen. i
üf 3l Wang-tsie war ein freier Grosser der Mitte.
Derselbe wurde jeden Tag immer mehr zerstreut und unlustig.
Es kam so weit, dass er allein auf den Wegen des Marktes
einherging. Er wählte Niemanden, um mit ihm zu lustwandeln.
Wenn er zu Zeiten auf dem Wege einen Bekannten sah, ver
deckte er sogleich mit dem Regenschirm' das Angesicht. 5
ffi # Utk Yin-hiao-tsü liess sich mit den Räubern in
Kämpfe ein. Er folgte dabei immer mit Trommel' und Rogen-
1 Die Denkwürdigkeiten von U.
2 Die Geschichte des Kaisers Ngan von Tsin.
3 Die weitere Erklärung der Unternehmungen des neunundzwanzigsten
Jahres des Zeitraumes Yuen-kia von Sung (452 n. Chr.).
4 Das Buch der Tsi.
5 Das Buch der Liang.
19*
292
Pfizra aier.
schirm. Die Menschen in dem Kriegsheer sagten zu einander:
Von der Führung des Kriegsheeres durch den Mann von dem
Geschleclite Yin lässt sich sagen, dass hei ihm der Tod heran
kommen wird. Er kreuzt jetzt mit den Räubern die Spitzen
der Waffen, doch er winkt wie mit einem Fächer und macht
sich kenntlich. Auf diese Weise sammeln sich zehn Hände
von Schützen, um zu schiessen. Wollte er auch nicht fallen,
ist ihm dieses möglich? — An demselben Tage wurde er von
einem daherfliegenden Pfeile getroffen und starb.
In Fu-nan ist es Sitte, dass als Fischreuse ein alter
Regenschirm dient. 1
Der kaiserliche Vermerker und Reichsgehilfe der Mitte
f M Siün-pe-tse meldete an dem Hofe: Z
Ho-schang-tschi, der Heerführer der Leibwache zur Linken,
legt in öffentlichen Dingen immer Fischreusen, Regenschirme
mit lückenhaften Körpern. Bei den Anordnungen stellt er
einen Bauernhut 2 vor das öffentliche Thor, er verwirft den
blumigen Regenschirm und lenkt nicht. 3
Wen-tse sagt: Der grosse Mann ist zufriedengestellt und
ohne Verlangen. Er ist ruhig und ohne Bedenken. Er macht
den Himmel zu seinem Regenschirm, die Erde zu seiner
Sänfte.
Hoai-nan-tse sagt: Wenn der Regenschirm mit keinen
Stäben versehen ist, kann man nicht die Sonne verdecken.
Wenn das Rad mit keinen Speichen versehen ist, kann man
nicht schnell verfolgen. Gleichwohl genügen Stäbe und Regen
schirme nicht um sich auf sie verlassen zu können.
Der Meister (Khung-tsc) begab sich nach Tan. Der Fürst
von Tan begegnete ihm auf dem Wege. Er neigte den Regen
schirm und .sprach mit ihm. Als der Tag zu Ende ging, trennte
1 Die Geschichtschreiber des Südens.
2 LT, ein Regenschirm von Bambus. Derselbe hat keinen Stiel und
wird auf dem Kopfe getragen. Ein solcher Regenschirm mit einem Stiel
heisst Teng.
3 Die weitere Erklärung der Unternehmungen des zehnten Jahres des Zeit
raumes Yuen-kia von Sung (433 n. Chr.).
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geriithen.
293
er sich. Er befahl Tse-lu, das Bündel Seidenstoffe zu nehmen
und schenkte sie ihm. 1
U-khi kämpfte mit den Menschen von Tsin. Die Regen
schirme der Schlachtordnungen der Krieger reichten hin, um
vor Reif und Thau zu schützen. 2
^ ? 03 Tien-tse-fang begegnete ^ Ti-hoang.
Derselbe fuhr in einem Wagen mit einem Vordache und trug
auf dem Haupte einen blumigen Regenschirm. Jener vermuthete
in ihm einen Gebieter der Menschen. 3
Der blumige Regenschirm ist von dem gelben Kaiser er
funden worden. Dieser kämpfte mit Tschi-yeu auf dem Felde
von Tschö-lö. Daselbst war immer der Zug fünffarbiger Wolken,
goldene Aeste, Blätter von Edelstein. Ueber dem Kaiser war
das Bild des Erblühtseins der Blumen. Er verfertigte nach
diesen den blumigen Regenschirm.
Der gekrümmte Regenschirm ist von dem grossen Fürsten
erfunden worden. König Wu bekriegte Tsch’heu. Ein Sturm zer
brach ihm den Regenschirm. Der grosse Fürst verfertigte nach
der Gestalt des zerbrochenen Regenschirmes den gekrümmten
Regenschirm. Zu den Zeiten der kämpfenden Reiche beschenkte
man mit ihm gewöhnlich die Heerführer. Seit dem Hofe der
Han gebrauchte man ihn für die Wagen und Sänften. Man
nannte ihn dabei den schielenden Regenschirm. Wenn man
Streitkräfte für ein Kriegsheer ausgab, verlieh man einen
dieser Regenschirme. 4
M T Ting-thsu, der Abgesandte für die Dämme des
Sees, sah plötzlich ein junges Weib, das von Gestalt und
Miene lieblich war. Dasselbe war grün gekleidet, trug auf
dem Haupte einen Regenschirm und rief Thsu. Dieser arg
wöhnte und sah sich erwartungsvoll um. Das Weib warf sich
1 Das Buch Khung-tsiü-tse.
2 Das Buch Wei-liao-tse.
3 Der Garten der Gespräche.
4 Die von Thsui-piao verfassten weiteren Erklärungen der Gegenwart und
des Alterthums.
294
Pf i zmaier.
in die Wellen : es war eine grosse grasgrüne Fischotter. Ihre
Kleider und ihr Regenschirm waren Wasserlilien. 1
In dem Zeiträume I-hi (405 bis 410 n. Chr.) sali ein
kleiner Angestellter von U-schang ein Mädchen, das auf dem
Haupte einen grünen Regenschirm trug. Dasselbe war von Ge
stalt und Miene sehr zierlich, und er traf mit ihr eine Verab
redung. Als das Mädchen kam, leuchteten viele Blitze, und es
war ein grosser Dachs. Thsu zog das Schwert und zerhackte
ihren Regenschirm. Dieser bestand aus dürren Blättern der
Wasserlilie. 2
des purpurnen Yang, trat in Verkehr mit den versammelten
unsterblichen Menschen. Dieselben befanden sich innerhalb des
kupfernen Thores des goldenen Hauses und machten purpurne
Wolken zu Regenschirmen. 3
Der Gebieter des grossen Weges des grossen Höchsten
übergab dem Gebieter von Wu-tsching Stickwerk
von fünf bunten Farben, Regenschirme von Flügelfcdern und
ein Paar hell glänzende Perlen. 4
Als * T Siü-kan-mö von Jahren jung war, sah er
einst in der Nacht im Traume einen Vogel, der von dem
Himmel herabflog, in dem Schnabel einen Regenschirm hielt
und diesen in den Vorhof pflanzte. Dieses ereignete sich drei
mal. Wenn der Vogel mit dem Regenschirm in dem Schnabel
kam, erhob er ein böses Geschrei und entfernte sich. Der
Mann von dem Geschlochte Siü erlangte später wirklich einen
Regenschirm. 5 Er nahm alsbald ein schlechtes Ende. c
Das von Tsing-U-tsc verfasste Buch der Begräbnisse sagt:
Wenn man ein Grab herstellt und die Erde hervornimmt,
am Abend im Traume einen als Fischreuse dienenden Regen
schirm sieht und in den Markt tritt, so wird man reich und
vornehm.
1 Die Geschichte des Suchens der Götter.
2 Der Garten der Merkwürdigkeiten.
3 Die Ueberlieferungen von dem wahren Menschen Tscheu-kiün.
4 Die Ueberlieferungen von dem wahren Menschen Wang-kiün.
5 Durch das oben (S. 293) von dem gekrümmten Regenschirm Gesagte zu
erklären.
6 Die Gespräche des gewöhnlichen Lebens
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gei'äthen.
295
Das von Yuen-tsie verfasste bilderlose Gedicht auf das
reine Denken sagt:
Ich breche den mennigrothen Baum und verdecke damit
die Sonne. Ich erhebe das Dreifache des Regenschirms der
Unsterblichkeitspflanze.
Das von Lieu-tschi verfasste bilderlose Gedicht auf die
Hauptstadt von Lu sagt:
Die Regenschirme sind gleich fliegenden Schwänen, die
Pferde gleich einherschwimmenden Fischen.
Das von Sung-yö verfasste bilderlose Gedicht aut die
grossen Worte sagt:
Der runde Himmel ist ein Regenschirm. Die viereckige
Erde ist eine Sänfte.
Der Rennthierschweif. 1
Schi-li entstellte die Dinge, Wang-siün schickte
ihm einen Rennthierschweif. Li nahm ihn nicht in die Hand,
sondern stellte ihn an die Wand. An dem Hofe verbeugte er
sich vor Siün und sagte: Ich habe das Geschenk der Fürsten
von dem Geschleckte Wang gesehen, als ob ich den Fürsten
gesehen hätte. 2
f/r i Wang-yen-I-fu war von vollkommener
Begabung, schönem Aeusseren, erleuchtet und aufgeweckt wie
ein Gott. So er oft den mit einer Handhabe von Edelstein ver
sehenen Rennthierschweif erfasste, waren die Handhabe und
seine Pland von gleicher Farbe.
Tsao entstammende Gattin
Die dem Geschlechte
3E Wang-tao’s war eifersüchtig. Tao befahl, besonders
einen Palast herzurichten, um seine Kebsweiber sicher zu
stellen. Die Gattin von dem Geschlechte Tsao erfuhr dieses.
1 Das Wort Tschü in
zeichnet ein Thier, das eine Art
,Rennthier‘ ist.
Tsclni-wei ,Rennthierschweif 1 be-
Mi ,grosser Hirsch* oder
2 Der Frühling und Herbst von Tsin.
Pfi zmaier.
296
Tao, der fürchtete, dass von anderer Seite Lärm erhoben und
sein Befehl zu Schanden gemacht würde, fuhr in dem Wagen
aus. Er fürchtete, dass er zu spät kommen werde. Er trieb
mit der Handhabe des Rennthierschweifes, den er in der Hand
hielt, die Rinder zu schnellem Laufe an und fuhr weiter.
IUI Tsai-mu, der Vorsteher der Scharen, hörte dieses.
Er sagte zu Tao: An dem Hofe Will man dir neun Geschenke
zukommen lassen. — Tao merkte dieses nicht. Er zog sich
bloss voll Bescheidenheit zurück. Mu sprach: Ich habe von
den übrigen Dingen nichts gehört. Es befinden sich darunter
blos ein Kälberwagen mit kurzer Querstange und ein Renn
thierschweif mit langer Handhabei — Tao ward sehr zornig. 1
pj[tl ijrj| Tsehang-yung führte den Jünglingsnamen
3t n Sse-kuang. Er hatte mit zwanzig Jahren einen Namen.
Ein Mann des Weges, sein Provinzgenosse jjp Lö-
sieu-tsing schickte ihm Flügelfedern des weissen Reihers, Renn
thierschweife und Fächer. Dabei sagte er: Dieses sind aller
dings ungewöhnliche Dinge, allein ich reiche sie einem ungewöhn
lichen Menschen. — Als Yung dem Tode nahe war, schickte
ihm Jener noch ein acht Klafter langes Fahnentuch ohne
Wimpel und hiess ihn es hissen. Er stellte kein Opfer auf. Er
hiess Menschen einen Rennthierschweif erfassen und die Her-
beirufung der lichten Seele veranstalten.
jjH Tschang-fu las gerne die ursprünglichen Worte.
Zugleich hing er an den Erörterungen des Schriftschmuckes.
Als er zwanzig Jahre alt war, hiess ihn sein Vater Schao
mit dem hohen vorzüglichen Manne ^ /Jn Tsung-schao-
wen von Nan-yang die gebundenen Gestalten 2 besprechen. Er
war mehrere Male hingegangen und wieder zurückgekehrt.
Schao-wen wollte ihn in Verlegenheit bringen. Jener fasste den
Rennthierschweif und sprach seufzend: Mein Weg geht nach
Osten. — Hierauf gewannen sein Name und sein Werth täglich
an Bedeutung. 2
1 Das Buch der Tsin.
2 Ein Theil des Buches der Verwandlungen. ,
3 Das Buch der Sung.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
297
Tscheu-yung war von Wort beredt und zier
lich. Er war erfahren in den Ordnungen Fö’s. Er veröffent
lichte die Erörterungen der drei Stammhäuser. Darin besprach
er das Leere und entlehnte den Sinn. Ein Mensch des Weges
von dem Walde des Verstandes in dem westlichen Liang
schickte ihm ein Schreiben, worin er ihn gründlich pries und
belobte. Er sagte: Dass ich den Rennthiersehweif erfasste,
sind vierzig Jahre. Ich sah ziemlich viele Verzeichnisse der
Stammhäuser, doch dieses aufgestrichene Weiss und Schwarz,
kein Mensch ist, der es überreicht hätte. Wider Vermuthen
kommen diese Laute in Menge und dringen in das Ohr. —
Dergestalt wurde er hochgeschätzt. 1
Jj§| Lu-kuang besasS die Kunst der Gelehrten. Er
wurde ein Sohn des Reiches und ein vielseitiger Mann.
Während des Lernens erklärte und besprach er. Von m #
Siü-mien, dem Vorsteher des Pfeilschiessens, abwärts kamen
Alle zu ihm. Sie-khiü nahm einen Sitz ein und brachte
Kuang öfters in Verlegenheit. In der Ordnung der Rede drängte
er ihn mit Macht. Kuang seufzte tief und unterwarf sich. Da
bei schenkte er ihm den Rennthierschweif, den er in der
Hand hielt. Hierdurch legte er dessen Teppiche noch grössere
Wichtigkeit bei. 2
Hl ftM Tschang-ki verstand sich gut auf das Er
klären und Erörtern. Als der spätere Vorgesetzte 3 sich in dem
östlichen Palaste befand, versammelte er die Genossen des
Palastes und veranstaltete ein Fest. Um die Zeit war der neu-
erfundene Rennthierschweif mit Handhabe von Edelstein eben
erst vollendet. Der spätere Vorgesetzte ergriff ihn eigenhändig
und sprach: Gegenwärtig sind zwar wieder viele vorzügliche
Männer wie ein Wald, doch derjenige, der am Ende würdig
ist, dieses zu ergreifen, ist allein Tschang-ki. — Er händigte
Ki sofort den Rennthierschweif ein. Der spätere Vorgesetzte
besuchte einst das Kloster sfe Khai-schen in Tschung-
sehan. Er rief die begleitenden Diener zu sich und hiess sie
1 Das Buch der Tsi.
2 Das Buch der Liang.
3 Der spätere Vorgesetzte ist der mit dem Kaisertitel nicht belegte letzte
Herrscher aus dem Hause Tscliin. Derselbe ergab sich im neunten Jahre
des Zeitraumes Khai-hoang (589 n. Chr.) an Sui.
298
Pfizmaier.
sich unter die Fichten im Südwesten des Klosters setzen. Er
forderte Ki auf, die Bedeutungen zu erklären. Um die Zeit
suchte man den Rennthierschweif, derselbe war aber noch
nicht da. Der spätere Vorgesetzte forderte Leute auf, einen
Fichtenzweig zu nehmen. Er näherte ihn Ki und sagte: Man
kann dadurch den Rennthierschweif ersetzen. 1
M 'K Ho-thse-tao begab sich zu # & I
Wang-sching-siang. Dieser klopfte mit einem Rennthierschweife
auf das Bett, rief den Mann von dem Geschlechte Ho und
setzte sich zu ihm. Er sprach: Dieses ist der Sitz des Weis
heitsfreundes.
& % Sün-ngan-kuö machte sich auf den Weg.
tjl pjj ^ Yin-tschung-kiün gewährte ihm eine Unterredung.
Die Leute der Umgebung trugen Speisen auf. Es ereignete
sich etliche vier Male, dass diese erkalteten und wieder ge
wärmt wurden. Beide rissen Rennthier.schweife empor und
schleixderten sie weg. Diese fielen sämmtlich in die Speisen
und füllten sie an. Gast und Wirtli erreichten somit den Abend
und vergassen, Speise zu nehmen.
J&
^ Wang-tschang-sse war bereits schwer er
krankt. Er lag unter der Lampe, drehte den Rennthierschweif
und betrachtete ihn. Er sprach seufzend: Also der Mensch
erreicht nicht volle vierzig Jahre. — Als er gestorben war,
überwachte 9 m Lieu-yün die Aufbahrung. Er legte einen
Rennthierschweif mit Handhabe von Nashorn in den Sarg.
Dabei wehklagte er schmerzerfüllt. 2
Wang-sching-siang hängte einst einen Rennthierschweif
in den Bettvorhang. Als Yin-tschung-kiün kam, nahm er den
Rennthierschweif und sprach: Jetzt überlasse ich ihn dir.
1 Das Buch der Tschin.
2 Das Buch Kö-tse.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
299
Ein Gast fragte ^ ijj& Yö-ling, ob es ihm angenehm
sei, wenn man nicht ankommt. Der Mann von dem Geschlechte
Lö erwiederte hierauf noch nichts. Er spaltete den Abschnitt
eines Schriftstückes, klopfte mit dem Stiele des Rennthier
schweifes auf die Bank und sprach: Bist du angekommen oder
nicht? — Der Gast sprach: Ich bin angekommen. — Der
Mann von dem Geschlechte Yö erhob dabei wieder den Renn
thierschweif und sprach: Wenn du angekommen bist, wie
dürftest du da Weggehen? — Der Gast besann sich jetzt und
unterwarf sich. 1
t|)J| Khung-fa-tschang baute eine Feldscheune.
Der Fürst ergriff einen Rennthierschweif und gelangte hin.
Er sprach: Der Rennthierschweif ist über die Massen zierlich.
Wie ist es möglich, dass er da ist? — Jener antwortete: Der
Uneigennützige begehrt ihn nicht, der Habsüchtige gibt ihn
nicht. Desswegen ist es möglich, dass er da ist. 2
Die Denkwürdigkeiten dos Reiches Hoa-yang sagen : Die
I3ei-ge von I-kiün liefern Rennthiorschweife.
Die Inschrift auf dem Rennthierschweife jpf Wang-
tao’s lautete: Wer möchte sagen, dass sein Stoff gemein?
Er wird gelenkt von dem Weisheitsfreunde. Er fegt den
Schmutz, lindert die Hitze, mit leerem Herzen wartet er.
Die Inschrift auf dem Rennthiei’schweife jjjjJ fpjf
Hiü-siün-pe’s lautete: Blätterreich eine blühende Baumeslänge!
Ungewöhnlich ein wunderbares Aussehen! Biegsam, zart, ge
schmeidig und feucht! Wolken verbreiten sich, der Schnee fällt
dicht! Der Weisheitsfreund dreht es im Kreise, er sucht nach
dem Unscheinbaren der ursprünglichen Ordnung.
Der Schlägel. 3
Die Pi’ovinz Thsang-wu trachtete dem Kaiser Kao nach
dem Leben. Der Kaiser machte einst die Unterlage 1 des Biicher-
bretes zu einem Schilde. Aus Eisen bildete er den Bücher-
1 Die Gespräche des Zeitalters.
2 Der Wald der Worte.
3 M Jii-I (nach Wunsch), das hier besprochene Werkzeug.
4 Diese Unterlage heisst Ngan-pi, wörtlich: die Nase sichernd.
300
P fizro ai er.
beschwerer. Der Schlägel war sehr gross, um damit gegen das
Unerwartete Vorkehrungen zu treffen. Er wollte durch ihn den
Stab ersetzen. 1
ff m Ming-seng-schao führte den Jünglingsnamen
vj/lj Sching-lie und stammte aus Nie in Ping-yuen. Er
verbarg sich auf dem Berge ^ Lao in der Provinz Tschang-
kuang. Eine höchste Verkündung lud ihn vor und ernannte
ihn zum Leibwächter der richtigen Zahl. Er meldete sich krank
und kam nicht. Per Kaiser schenkte ihm einen Schlägel aus
Bambuswurzeln und eine Mütze aus Bambussprossen und
Bambusbast. Der Verborgene hielt dieses für eine Ehre. 2
Kaiser Wu wollte zu den Waffen greifen. Hü $
Si-schen-wen forderte ^ Siao-ying-tschcuzurTheil-
nahme auf. Er schickte dabei seinen Gast jjj|] (JJ Tien-
tsu-kung mit dem Aufträge, dem Kaiser eine besondere Meldung
zu machen. Zugleich liess er ein mit Silber ausgestattetes
Schwert als ein Geschenk überreichen. Der Kaiser gab ihm
als Gegengeschenk einen goldenen Schlägel.
Jja Wei-jui vertheidigte sich gegen Wei in Schao-
yang. Er fuhr in einer Sänfte von rohem Holze und hielt in
der Hand einen Schlägel von weissem Horn. Damit winkte er
dem Kriegsheere. In einem Tage bestand er mehrere Treffen.
0^ Yin-kiün führte den Jünglingsnamen
Ki-ho. Kaiser Wu von Liang war zu dessen Vater Jui
ein alter Bekannter, und er gab Kiün seine Tochter, die
Kaisertochter Juli, Yung-hing zur Gattin. Die Kaisertochter
war stolz, ausschweifend, schroff und grausam. Kiün war von
Gestalt kurz und klein. Er wurde von der Kaisertochter ver
abscheut. So oft sie berufen ward und eintrat, beschrieb sie
früher die ganze Wand mit den Zeichen Yin'-jui. 3
Kiün vergoss sofort Thränen und ging hinaus. Die Kaiser-
1 Das Buch der Tsi.
2 Das von Siao-tse-hien verfasste Buch der Tsi.
3 Der vollständige Name von Yin-kiün’s -Vater.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
301
tocliter befall] den Sclavinnen, in die Zeichen zu stechen und
sie auszulöschen. Krau konnte seinen Zorn nicht bemeistern
und erzählte es dem Kaiser. Dieser schlug die Kaisertochter
mit einem Schlägel von Nashorn und zerbrach ihr den Rücken.
Gleichwohl war sie noch immer gehässig. Kiün war ein Auf
wartender der Mitte. Er trat aus und wurde ein Berathender
des königlichen Sammelhauses.
Jjf| ^5 Li-ying führte den Jünglingsnamen it &
Kung-yün. Er hatte Begabung und Scharfsinn, Tsao, Le
hensfürst von Si-tschang, verwaltete Yi-tscheu. Er ernannte
Ying zum Vorstehenden der Register und hiess ihn in der
Hauptstadt eintreffen. Kaiser Wu fand an ihm Gefallen und
sagte zu ihm: Der gegenwärtige Li-ying, wie war er ehemals?
— Jener antwortete: Der gegenwärtige übertrifft den ehemali
gen. — Der Kaiser fragte um die Ursache. Jener antwortete:
Ehemals diente ich Vorgesetzten wie Hoan und Ling. Gegen
wärtig begegne ich Gebietern wie Yao und Selran. — Den Kai
ser freute diese Antwort. Er schlug lange Zeit mit dem Schlägel
auf den Teppich. Er ernannte jetzt Ying zum besonders
Fahrenden von Yi-tscheu. 1
Der hohe Ahnherr Hiao-wen wollte seine Söhne hinsicht
lich ihrer Vorsätze und Neigungen auf die Probe stellen. Er
legte eine grosse Menge kostbarer Gegenstände aus und iiber-
liess ihnen, was sie nahmen. Yü, König des Kreises der
Mutterstadt, und Andere nahmen wetteifernd die kostbaren
Spielzeuge. Kaiser Siuen-wu nahm bloss einen knöchernen
Schlägel. Der Kaiser gerieth darüber in grosse Verwunderung.
m l Wang-yü von Kuang-ling war der grosse Be
schützer des zur Nachfolge bestimmten Sohnes und verzeichnete
die Sachen des obersten Buchführers. Als Hiao-wen den Straf
zug nach vSüden unternehmen wollte, entsandte er Yü mit dem
Aufträge, ein Abschnittrohr zu erfassen und die sechs nieder
gehaltenen Gegenden zu beruhigen. Yü schickte seine unge-
1 Das Buch der Liang.
302
P f i z m a i e r.
stümen Reiter aus, die Fremdländer und die Menschen von
Hia waren ruhig und zufrieden. Er kehrte zurück und leitete
den Beruhiger des Vorhofes. Als die Reichsminister und die
Wagen auszogen, blieb Yii mit dem grossen Beruhiger jjj
Yuen-pei zurück und bewachte die Hauptstadt. Der Kaiser
schenkte ihm einen Schlägel und bekundete dadurch seine
Gesinnungen. 1
Der Vater der dem Geschlechte ^ Fan entsprossenen
Gemalin des Vorgesetzten von U war aus Rücksicht auf die
Gesetze angeklagt worden. Die nachherige Gemalin wurde
fortgesekafft und in das Webhaus gebracht. Dieselbe hatte hin
sichtlich ihrer Gesichtszüge Wenige ihres Gleichen. Sie war die
ausgezeichnetste Schönheit von Kiang-tung. Diejenigen, die mit
ihr zugleich eingesperrt waren, hundert Menschen an der Zahl,
sagten von ihr, sie sei die Tochter eines Gottes. Sie ehrten sie
und hielten sich von ihr fern. Die Inhaber der Vorsteherämter
brachten dieses dem Vorgesetzten von U zu Ohren. Dieser
liess ihre Züge abbilden. Die Gemalin war von Kummer erfüllt
und nahm keine Speise. Sie hatte abgenommen, war mager
und von veränderter Gestalt. Der Künstler zeichnete ihr Bild
nach dem Leben und überreichte es dem Vorgesetzten von U.
Dieser sah das Bild und war darüber erfreut. Er berührte es
mit einem Schlägel von Bernsfein, als die Tafel zerbrach. Er
sagte schmerzvoll: Dieses ist die Tochter eines Gottes. —
Alsbald nahm er sie auf.
Siin-ho hatte Freude an der Gemalin von dem
Geschlechte HJ5 Teng. Er setzte sie beständig auf sein Knie.
ITo tanzte bei Mondenschein und verletzte aus Versehen mit
einem krystallenen Schlägel ihre Wange. 2
Zur Zeit jffjj Hu-tsung’s grab man die Erde auf
und fand ein kupfernes Kistchen, das zwei Schuh sieben Zoll lang
war. Der Deckel war von Bergkrystall und darüber Perlmutter
ausgebreitet. Als man es öffnete, fand man einen Schlägel von
weissem Edelstein. An den Stellen, wo man es ergreift, waren
Gestalten von jungen gehörnten Drachen, Tigern, gestreiften
Fliegen, Grillen und anderen Thieren eingegraben. Unter den
1 Das Buch der späteren Wei.
2 Die Geschichte des Aufhsens des Verlorenen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
303
Zeitgenossen war Niemand, der es kannte. Der grosse Bestän
dige fragte Tsung. Dieser antwortete: Einst lustwandelte der
Kaiser des Anfangs aus dem Hause Thsin im Osten. Weil
in Kin-ling die Luft des Himmelssohnes war, veränderte er
dessen Namen, liess abgraben und einsteeben den Strom und
die Seen. Im Süden der Berge vergrub er alsbald hier und
dort kostbare Gegenstände, um zu treffen die Königsluft. Diese
Sache siebt man in der Geschichte von Thsin. 1
Hi Schl-tsung besass einen korallenen Schlägel, der
drei Schuh zwei Zoll lang war. 2
m # $ Yin-tschung-kan hatte in King-tscheu einen
Bekannten. Derselbe verfasste ein bilderloses Gedicht, das er
ihm zeigte und es einwickelte. Darin machte er sich auf geist
reiche Weise über Jenen lustig. Yin war fest der Meinung,
dass dieser Mensch Begabung besitze. Er sagte zu ^
Wang-kung, er habe zufällig ein neues Schriftstück gesehen,
das sehr der Betrachtung werth sei. Er nahm es sofort aus
einem von einem Taschentuche gebildeten Umschläge heraus.
Nachdem der Mann von dem Geschlechte Wang gelesen,
konnte sich Yin des Lachens nicht enthalten. Wang war mit
dem Durchsehen zu Ende. Er lachte allerdings nicht, er sagte
auch nicht, ob es gut oder schlecht sei. Er tüpfelte es blos
mit einem Schlägel. Yin verlor sich voll Verdruss. 3
TT Sie-wan unternahm den Eroberungszug im Nor
den, er aber pfiff und summte beständig, erhöhte sich selbst
und hatte noch niemals die Kriegsmänner erheitert. Sein älterer
Bruder £ Ngan sagte zu ihm: Du bist der erste Anführer.
Es ziemt sieh, dass du öfters die niederen Anführer rufst und
ihnen ein Fest gibst, um ihre Herzen zu erfreuen. — Wan
befolgte dieses. Er berief und versammelte hierauf die Anführer
und Lehrmeister. Dabei sprach er nichts. Er zeigte in gerader
Richtung mit einem Schlägel nach den Sitzen der vier Gegen-
1 Die besonderen Ueberlieferungen von Hu-tsung.
2 Die eigentbümlieben Sachen Schi-ki-lün’s.
3 Yin-tschung-kan und Wang-kung empörten sich im zweiten Jahre des
Zeitraumes Lung-ngan (398 n. Chr.).
304
Pfizraaior.
den und sagte: Mögen die Kriegsheere es sich angelegen sein
lassen! — Die Krieger und Anführer hassten ihn sehr. 1
^ SehT-tsung stritt mit ^ J Wang-I um die
Gewaltigkeit. Der Kaiser Wu von Tsiu war der Schwester
sohn I’s. So oft dieser boistand, bediente er sich einer Koralle,
die zwei Schuh hoch war. Er zeigte sie Jenem. I schlug nach
ihr mit einem eisernen Schlägel, und sie zerbrach unter seiner
Hand wie eine Scherbe. I bekundete durch Stimme und Miene
Heftigkeit. Tsung sprach: Dieses ist nicht werth, dass du auf
gebracht bist. — Er liiess ihn sieben und sechzig Zweige
Korallen nehmen, die drei Schuhe hoch waren und deren glän
zende bunte Farben das Auge überflutheten. I verlor sich voll
Verdruss. 2
^ Kö-tsching-tschi von Tai-yuen, im Anfänge
des Zeitraumes 1-hi von Tsin (405 bis 418 u. Ch.) wollte ihn
iS* Tchü-kö-tschang-min zu einem das Reich
stützenden Berathenden nehmen. Tsching-tschi hatte hieran
keine Freude. Später wurde er Statthalter von Nan-khang.
*
Lu-siün empörte sich von Kuang-tscheu aus. Tschang-
min verrieth dessen Anschläge an l|l| Yin-tsching. Dieser,
durch eigenen Hass bewogen, liess Tsching-tschi aufgreifen und
überantwortete ihn dem Beruhiger des Vorhofes. Er wollte
ihm ein grosses Verbrechen aufbürden. In der Nacht sah
Tsching-tschi im Traume einen göttlichen Menschen. Derselbe
gab ihm einen Schlägel von schwarzem Horn. Als er erwacht
war, befand sich der Schlägel zur Seite seines Hauptes. Der
selbe mochte einen Schuh lang sein und war von Gestalt und
Ai’beit sehr gemein. Er erlangte hierauf nichts anderes. Später
trat er als Begleiter des Kaisers in den Gränzpass. Er erfasste
den Schlägel und folgte mit ihm. Plötzlich hatte er ihn verlegt. 3
0 J§!1 Ngen-tschi schenkte seinen Dienern Schlägel
von Nashorn mit eingegrabenen Bambusknoten, wie sie kein
Auge noch gesehen. 1
1 Die Gespräche des Zeitalters.
2 Der Wald der Gespräche.
3 Der Garten der Merkwürdigkeiten.
4 Die von Lieu-I-khing unternommenen Dinge.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
305
Der Wedel. 1
Zu den Zeiten des Kaisers Wu, im vierten Jahre des
Zeitraumes Tai-khang (283 n.Chr.), meldeten die Inhaber der
Vorsteherämter an dem Hofe: Unter den alten Gegenständen
der früheren Kaiser befanden sich dünne Wedel aus Hanf
schnüren. Man setzte dadurch in’s Licht die Sparsamkeit und
Einschränkung. 2
Zu den Zeiten des Kaisers Hiao-wu, in dem Zeiträume
Ta-ming (457 bis 464 n. Chr.), zerstörte man die verborgenen
Wände, wo Kao-tsu gewohnt hatte, und erbaute an ihrer Stelle
die Vorhalle der Edelsteinlampen. Der Kaiser besichtigte sie
mit seinen Dienern. An dem Haupte des Bettes befand sich
eine Schutzwehr von Erde. An die Wände waren flächsene
Laternen und Wedel aus Hanfschnüren gehängt. Der Auf
wartende für die Mitte, H tl M Yueii-I- sching rühmte
die dem Kaiser eigenthümliche Tugend der Sparsamkeit und
Einfachheit. Iliao-wu sprach: Wenn ein Greis der Feldhütten
dieses erlangte, wäre es schon zu viel. 3
Hieu-schang, der Sohn j|j| ||| |(lji Tschin-
hien-tä’s, ward Vorgesetzter der Register für das Sammelhaus
von Ying. Er zog über Kieu-ldang, verbeugte sich und nahm
Abschied. Hien-tä sagte zu ihm: Wer verschwenderisch und
hoffärtig ist, es geschieht selten, dass er kein Fehlschlagen
erfährt. Die Rennthierschweife und die Wedel aus Schnüren
sind dem Hause J Wang-sie’s erlaubt. Du brauchst
dieses nicht in der Hand zu halten. — Sofort nahm er es und
verbrannte es in Gegenwart des Sohnes. 4
Die Königin, die der zur Nachfolge bestimmte Sohn auf
nahm, hatte zwei Wedel, die aus weissen Federbüschen gebildet
waren. 5
In dem Schreiben, welches das Weib Thsin-kia’s ihrem
Manne übergab, heisst es: Ich reiche dir jetzt einen Wedel,
1 lyV e4U zum Wegkehren des Staubes.
5 Das Buch der Tsin.
3 Das Buch der Sung.
4 Das Buch der Tsi.
5 Die alten Dinge des östlichen Palastes von Tsin,
Sitzl). d. hist.-phil. CI. LXXII. Ed. I. Hft.
20
306
Pfizmaier.
der aus einem als Fahne dienenden Kuhschweife gebildet wor
den. Du kannst damit Schmutz und Staub wegkehren.
Der Spucknapf.
3l Wang-tün war Landpfleger von King-tscheu.
Er befasste sich bereits ausschliesslich mit den äusseren Be
setzungen und hatte die Absicht, nach den Dreifüssen zu fragen. 1
Er zog an sich 0|] Lieu-wei und jjjjp /J Tiao-hiä und
machte sie zu seinen Vertrauten. Als Wu zu den Geschäften
verwendet wurde, ersetzte er ziemlich das Geschlecht Wang.
Tün zürnte und stellte ihn in die entferntere Reihe. In Folge
dessen ward Jener missmuthig und unzufrieden. Nach jedem
Weintrinken sang er das Lied des dem Kaiser Wu von Wei
gehörenden Sammelhauses der Musik: Ein alter Renner liegt
an der Krippe, seine Gedanken sind bei tausend Weglängen.
Ein feuriger Mann in des Abends Jahren, sein starkes Herz
hat keine Ruhe. ■— Dabei schlug er mit einem eisernen Schlägel
auf einen Spucknapf und bezeichnete die Abschnitte. Der Rand
des Napfes war ganz zersprungen. 2
In dem Zeiträume Thien-kien (502 bis 519 n. Chr.) machte
das Reich des mittleren Thien-tschö Spucknäpfe von Berg-
krystall zum Geschenk. 3
In dem ursprünglichen Palaste der Kaiserin befanden
sich fünf Spucknäpfe von weisser Thonerde. 4
Die Königin, die der zur Nachfolge bestimmte Sohn auf
nahm, besass gefirnisste Bücher, silberne Gürtel und einen
Spucknapf. 5
Unter den kaiserlichen vermischten Geräthschaften befand
sich ein Spucknapf von ächtem Golde, vier gefirnisste, runde
und geölte Spucknäpfe. Die theueren Menschen besassen Gürtel
mit Einlegung von ächtem Silber und dreissig Spucknäpfe. 6
1 ,Nach den Dreifüssen fragen 1 ist so viel, als den Himmelssohn ersetzen
wollen.
2 Das Buch der Tsin.
3 Das Buch der Liang.
4 Die alten Dinge der wiederhergestellten Berge und Anhöhen.
5 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
c Die weitere Erklärung der dem Kaiser Wu von Wei überreichten ver
mischten Gegenstände.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Gerätlien.
307
Kaiser Wen von Wei nahm 2^2 |l|| jöljt Sie-ling-yiin
auf. Diese verabschiedete sich von ihren Eltern und schluchzte
den ganzen Tag. Ihre Thränen fielen herab und benetzten
ihre Kleider. Als sie den Wagen bestieg und sich auf den
Weg begab, empfing der Spucknapf aus Edelstein ihre Thränen.
Der Napf war sofort, als ob er von rother Farbe wäre. Als
sie in der Mutterstadt ankam, waren die Thränen in dem Napfe
wie geronnenes Blut. 1
Der König von Kuang-tschuen öffnete das Grab des Kö
nigs Siang von Wei und fand einen Spucknapf von Edelstein. 2
Im vierten Jahre des Zeitraumes Tai-khang (283 n. Chr.)
reichte n'ej Fan-hiung, König von Lin-yi, als ein Geschenk
einen Spucknapf von purpurnem Krystall und je zwei Spuck
näpfe von grünem und weissem Krystall. 3
U-kan, ein kleiner Angestellter von Wu-tschang,
übersetzte einen Fluss und fand einen fünffarbigen Stein. Der
selbe verwandelte sich in der Nacht in ein Mädchen. Dieses
gab vor, sein Weib zu sein. Als er in das Haus gelangte,
sah er den Vater des Weibes, der mit einem Mantel von weissem
Flor bedeckt war und sich auf einer gefirnissten Bank, in einem
kupfernen Spucknapfe, der von Gestalt gleich dem Sammel
hause des Himmels, verborgen hatte. Derselbe nannte sich
den Gott des Flusses. 4
In den von Ma-yung erlassenen Verordnungen heisst es:
In den Häusern darf man keine kupfernen Spucknäpfe
niederstellen.
In den von Ho-siün verfassten Gebräuchen für die Be
stattung heisst es:
Unter den aufbewahrten Dingen heisse man einen thö-
nernen Spucknapf gebrauchen.
Die Wahrzeichen Tsai-yung’s sagen:
Die Gnade, dass man in einer höchsten Verkündung Rauch
fässer und Spucknäpfe schenkt dem Beruhiger des Vorhofes,
in früherer und in späterer Zeit verdoppelt und gehäuft, Vater
und Mutter bei ihren Söhnen, sie können nichts darüber thun.
1 Die von Wang-tse-nien verfasste Geschichte des Auflösens des Verlorenen.
2 Die vermischten Erzählungen der westlichen Mutterstadt.
3 Die vermischten erwähnten Dinge von Kiao-tscheu.
4 Die fortgesetzte Geschichte des Wunderharen der Denkwürdigkeiten.
20*
308
V f i z m a i e r.
In dem Schreiben m n Khung-tsang’s an seinen Sohn
Tschin heisst es:
Der Aufwartende in der Mitte, Ngan-kuö und die Diener,
die nahe stehen und geehrt werden, nach den Gebräuchen
reichen sie nicht die unreinen Geräthe. Noch immer hand
haben sie wiederholt die kaiserlichen Spucknäpfe. Unter den
vorzüglichen Männern des Beruhigers des Vorhofes ist Keiner,
der sich dieses nicht zur Ehre rechnete.
Das Büchergestell.
Wenn der kaiserliche Nachfolger neu ernannt ist, besitzt
er Büchergestelle von Pistazienholz.
Die Königin des zur Nachfolge bestimmten Sohnes be
sitzt gefirnisste Büchergestelle. 1
Der Kamm.
^ Tsie, ^ Su und m Pi sind allgemeine Namen
für ,Kamm'. 2
ffi Su bezeichnet den Kamm, dessen Zähne weit aus
einander stehen. n Pi bezeichnet den Kamm, dessen Zähne
dünn sind und eng beisammen stehen. 3
Das Buch der Gebräuche sagt:
Männer und Weiber haben das Tuch und den Kamm
nicht gemeinschaftlich.
Als Kamm gebraucht man einen Kamm aus dem Holze
des weissgestreiften Baumes. 4 Sind die Haare spärlich, so ge
braucht man einen elfenbeinenen Kamm.
HJ Yü, Nachfolger von Tsin, war Geissei in Tlisin. Er
wollte entfliehen und heimkehren. Er sagte zu der Gemalin
1 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
2 Der erklärte Schriftsclimuck.
3 Die erklärten Namen.
4 Der Baum yjifp Tschen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
309
von dem Geschlechte Ying: Soll ich mit dir heimkehren? —
Sie antwortete: Der unbedeutende Gebieter hiess mich, die
Sklavin aufwarten und in den Händen halten Tuch und Kamm,
um dich sicher zu stellen. Wenn ich jetzt dir folge und heim
kehre, so verachte ich den Befehl des Gebieters. Ich wage es
nicht zu folgen, ich wage es auch nicht zu sprechen. 1
Kaiser Hiao-wen schickte den Hiung-nu’s eine Jacke,
einen Mantel, einen weiten Kamm und einen engen Kamm,
nämlich von einem jeden dieser Gegenstände ein Stück. 2
Li-wen-te war ein guter Freund von ^ $j£
Yen-tü. Er sagte zu den Fürsten und Reichsministern: Yen-tü
besitzt die Begabung eines Gehülfen der Könige. — Er wollte
ihn herbeiziehen und befördern. Tu hörte dieses. Er verfasste
ein Schreiben, in welchem er Wen-te sein Vorhaben aufgeben
hiess und sagte: Ich kämme mich bei Tagesanbruch und sitze
in der Halle der Gäste. Am Morgen sage ich her die Ord
nungen der Bücher von Yü und Hia, die Vorbilder und Ge
bräuche Kung-tan’s, ich überblicke Tschung-ni’s Frühling und
Herbst. Um diese Zeit weiss ich nicht, ob der Himmel ein
Regenschirm, ob die Erde eine Sänfte. Hüte dich, Irrung zu
bringen über den Stamm, wegzuwerfen das Leben. 3
Siü-ki-lung nahm dreizehn verschiedene
Gegenstände und legte sie in eine grosse Kiste. Er hiess
zuerst von Eiern, hierauf von Seidenraupen. Endlich nannte
er jedes Einzelne beim Namen. Bloss aus Su ,weiter
Kamm' machte er Pi ,enger Kamm'. 4
In dem Palaste des Hartriegels gebrauchte man fünf elfen-
beinene Kämme. Unter den Gegenständen des Hartriegel
palastes der Kaiserin befanden sich sechs elfenbeinene Kämme
und sechs Kämme von Schildkrötenschuppen. 5
Die Königin, die der zur Nachfolge bestimmte Sohn auf
nahm, besass drei Kämme von Schildkrötenschuppen. 6
1 Die Ueberlieferungen Tso’s.
2 Das Buch der Han.
3 Das Buch der fortgesetzten Han.
4 Die Denkwürdigkeiten von Wei.
5 Die alten Dinge der wiederhergestellten Berge und Anhöhen.
6 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
310
Pfizmaier.
An der Ostgränze des Districtes Hing-ngan in Lin-ho
befindet sich ein flacher Stein. Auf demselben liegt ein Kamm
und ein Schuh. Man sagt gemeiniglich: Als der König von
Yue den Bach übersetzte, zog er einen Schuh aus und liess
den Kamm hier fallen. 1
Die Erörterungen Thsui-schi’s über die Lenkung sagen:
Ohne Belohnungen und Strafen den geordneten Zustand
des Zeitalters wollen, ist gleichsam so viel, als den Kamm
nicht behalten und den geordneten Zustand des Haupthaares
wollen.
Die Erörterungen über die Ordnung der Dinge sagen:
Wenn bei Ausübung der Macht die Gesetze klar sind, so
lassen sie hindurch den schiffeverschlingenden Fisch. Wenn
die Gesetze nicht klar sind, so haben sie Aehnlichkeit mit einem
feinen Kamm. Bei dem feinen Kamme entstehen Quälerei und
Heimtücke.
Das Buch der Träume sagt:
Träumt man von Kämmen, so ist Lösung des Kummers.
Wenn die Läuse gänzlich Weggehen, werden die hundert Krank
heiten geheilt.
Die Einleitung zu dem von Fu-hien verfassten bilderlosen
Gedichte auf den Kamm sagt:
Die grosse Begabung ordnet das Zeitalter, gleichwie der
Kamm das Haupthaar in Ordnung bringt.
Ein Gedicht Siü-tsin’s sagt:
Ich sehne mich zu sehen des Gebieters Tuch und Kamm,
um aufhören zu machen Mühsal und Beschämung.
Die Ermahnungen der Tochter Tsai-yung’s sagen:
Gebraucht man den Kamm, so denkt man an des eigenen
Herzens Ordnen.
In dem Schreiben Kao-wen-hoei’s an seine Gattin heisst es:
Ich schaffe jetzt einen Kamm von Schildkrötenschuppen herbei.
In dem Schreiben Lö-yün’s an seinen älteren Bruder Ki
heisst es:
Ich ging untersuchend und betrachtete die Geräthe des
Fürsten von Tsao. Die weiten und engen Kämme waren
sämmtlich vorhanden.
1 Die von Sching-hung-tschi verfasste Geschichte von King-tscheu.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
311
Das Gedicht der vier Betrübnisse sagt:
Die Schöne schickt mir Kämme von Sandelholz.
Das von Fu-hien von Tsin verfasste bilderlose Gedicht
auf den Kamm sagt:
Ich freue mich über diesen Kamm, er hasst die Unord
nung, liebt die Ordnung. Wenn Ein Haar des Hauptes nicht
willfährig, hält er es in Wirklichkeit für Schande. Wird er
täglich auch verwendet, ist er doch nicht lässig. Er meldet
nichts von Ermüdung und lässt von selbst ab. Wenn man
ihm das Ordnen mit Gewalt auferlegt, so erschöpft er die Kraft
und verliert dadurch die Zähne.
Die Bürste.
Die Pflanze 1 ^ Li ,kleine Binse' hat Aehnlichkeit mit
der glatten Binse, hat aber eine kleine Wurzel. Man kann
daraus Bürsten verfertigen. 1
Dasjenige, womit man das Haupthaar ordnet, nennt man
m Schuä ,Bürste'. 2
m Schuä ,Bürste' ist so viel als m Sü ,Anführer'. Sie
bewirkt, dass alle Haare des Hauptes, die langen und die
kurzen, ihr wie einem Höheren folgen. 3
Die Königin, welche der zur Nachfolge bestimmte Sohn
aufnimmt, besitzt sieben Bürsten von Schweinsborsten. 4
Die Erörterungen Hi-khang’s über die Pflege des Lebens
sagen:
Wenn man mit Gewalt bürstet, um das Haupthaar zu
ordnen, so gelangt man hierzu schwerlich.
In dem Schreiben Lö-yün’s an seinen älteren Bruder Ki
heisst es:
Ich ging untersuchend und betrachtete die Geräthe des
Fürsten von Tsao. Der Ort, wo die Bürste und das Fett sich
befanden, liess sich noch immer erkennen.
1 Der erklärte Scliriftschmuck.
2 Der gewöhnliche Schriftschmuck des Verkehrs.
5 Die erklärten Namen.
4 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
312
P fi zmaier.
Die Haarzange.
ißfff Nie ,Haarzange' ist so viel als ^ Nie , her vor ziehen'.
Sie zieht das Haupthaar hervor. 1
Dasjenige, das die Haare des Hauptes und den Bart er
fasst und vermindert, nennt man Nie ,Haarzange'. 2
± % m Schi -ngan-schang, Befehlshaber des Di-
strictes Khiuen, trug in dem Busen eine Haarzange. Er hiess
j|| Kö-pö auf sie rathen. Pö sagte: Dieses ist ein
zu einem Spiegel gehörender Gegenstand, der zwei Zacken hat. 3
lj|| I-khang, König von Peng-tsching, schenkte
* SS Sfc Tschin-hi-kuang kupferne Haarzangen. 4
In dem Palaste des Hartriegels gebrauchte man fünf
eiserne, mit Grab Stichel werk versehene Haarzangen. ä
Der Haarzangenfisch ist sieben Schuh lang. Sein Haupt
gleicht einer Haarzange. 6
Kao-tsu hiess immer die Leute der Umgebung ihm die
weissen Haupthaare ausziehen. Der König von Lung-tschang,
sein Enkel, der fünf Jahre alt war, spielte vor dem Bette. Der
Kaiser sprach: Das Kind möge mir sagen, wer ich bin. —
Das Kind antwortete: Der grosse Greis. — Der Kaiser sprach:
Wie sollte es sein, dass ich ein Grossvater unter den Men
schen bin und die weissen Haare ausrisse? — Er warf sofort
Spiegel und Haarzange weg.
Der Knotenlöser.
$j|| Hi ,Knotenlöser' ist ein an dem Gürtel getragenes
Horn mit scharfem Ende. Man kann mit ihm die Knoten
auflösen. 7
1 Die erklärten Namen.
2 Der gewöhnliche Schriftschmuck des Verkehrs.
3 Der Wald des tiefen Thaies.
1 Das von Tschin-yö verfasste Buch der Sung.
5 Die alten Dinge der wiederhergestellten Berge und Anhöhen.
6 Die Geschichte des Wassers und der Erde von Lin-hai.
7 Der erklärte Schriftsehmuck.
Denkwürdigkeiten van chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
313
Die Gedichte sagen:
Die Zweige der weissen Binse! Der Knabe trägt an dem
Gürtel den Knotenlöser.
Das Buch der Gebräuche sagt:
Wenn der Sohn dem Vater und der Mutter dient, trägt
er zur linken Seite an dem Gürtel einen kleinen Knotenlöser
und ein metallenes Feuerzeug. Zur rechten Seite trägt er an dem
Gürtel einen grossen Knotenlöser und ein hölzernes Feuerzeug.
Die Schutzwelir der Schritte. 1
Schl-tsung und 1t 3E Wang-I prahlten gegen
einander. I bediente sich einer vierzig Weglängen messenden
Schutzwehr der Schritte von purpurner Seide. Tsung bediente
sich einer fünfzig Weglängen messenden Schutzwehr der Schritte
von Brocat, um ihm einen Gegner zu stellen.
Die dem Geschlechte |J^- Sie entstammende Gattin
^ $5>§ EE Wang-ying-tschi’s besass Gaben und Scharfsinn.
Jgjt J Wang-hien-tschi 2 hatte einst mit einem Gaste
eine Unterredung. Er erörterte die Anordnung der Ausdrücke
und war im Begriffe, widerlegt zu werden. Die Gattin von
dem Geschlechte Sie schickte die Sclavin und liess Hien-tschi
sagen: Ich möchte für den kleinen Leibwächter die Belagerung
aufheben. — Sie spannte jetzt eine Schutzwehr der Schritte
von grünem gestreiftem Taffet. Sie verdeckte sich mit ihr
und setzte dem Gaste die frühere Berathung Hien-tschi’s aus
einander. Der Gast konnte sie nicht widerlegen. 3
jjj Pao-yuen, König von Kiang-hia, empörte sich
mit jß- lg Tschui-hoei-king. King wurde geschlagen,
1 vj? Pu-tschang, die Schutzwehr der Schritte.
2 Wang-ying-tschi und Wang-hien-tschi waren Söhne des berühmten
Schriftkünstlers Wang-yi-schao. Dieselben sind in der Abhandlung:
,Zur Geschichte der Krün düng und des Gebrauches dm* chinesischen
Schriftgattungen 1 (S. 12 u. 60) vorgekommen.
3 Das Buch der Tsin.
314
Pf izmaier.
Pao-yuen entfloh. Nach einigen Tagen kam dieser zum Vor
schein. Der Kaiser berief ihn zu sich und brachte ihn in die
rückwärtige Halle. Er schloss ihn inwendig durch eine Schutz
wehr der Schritte ein und hiess die kleinen Diener, etliche
zehn an der Zahl, unter Trommel- und Hörnerklang die Aussen-
seite umzingeln. Er schickte Leute zu ihm und liess ihm
sagen: Du hast mich vor Kurzem ebenfalls so eingeschlossen.
— Nach einigen Tagen tödtete er ihn. 1
•jH Yen, König von Lang-ye, führte den Jünglingsnamen
Jin-wei und war der zweite Sohn Wu- tsching’s.
Kaiser Wu-tsching liebte ihn sehr. Auftreten und Bedeckung
waren sehr vollkommen. Der Kaiser befand sich einst mit der
Kaiserin vor dem östlichen Thore des Gartens des blumigen
Waldes. Er spannte ein Zelt, zog eine Schutzwehr der Schritte
und liess ihn es sehen. 2
Die Königin, welche der zur Nachfolge bestimmte Sohn
aufnahm, hesass dreissig Schutzwehren der Schritte von Seide
und Tuch mit lasurblauem Futter, ferner gefirnisste Kleider
stöcke und kupferne Gürtelhaken. 3
Schi-hu baute eine Erdstufe zum Baden. Eine Schutz
wehr der Schritte von gestreiftem Brocat mit Paradiesvögeln
umgab und verdeckte die Badestelle. 4
Ttl fpj- Hiü-yuen-tö nahm seinen jüngeren Bruder
und trat aus der Hauptstadt, um ihn zu vermalen. Die Men
schen, welche hörten, dass es der jüngere Bruder Yuen-tö’s
sei, erwarteten ihn ehrfurchtsvoll. Als sie ihn sahen, war es
ein sehr blödsinniger Mensch, und sie wollten ihn sogleich ver
spotten. Yuen-tö löste desswegen das schmale Band. Die
mm
Menschen konnten hierauf nicht nahe treten.
Lieu-tschin-tschang sprach seufzend: Yuen-tö zieht wegen der
Vermalung seines jüngeren Bruders eine zehnfache eiserne
Schutzwehr der Schritte.
1 Das Buch der Tsi.
2 Das Buch der nördlichen Tsi.
f
3 Die alten Dinge des östlichen Palastes.
4 Die Geschichte des Auflesens der Verlorenen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
315
Der grosse Heerführer strafte £ m Tscheü-pe-jin
und umgab ihn mit einer Schutz wehr der Schritte. Sie war
durch Tage bereits da. Der König sagte: Tscheu-pe-jin’s
Söhne und jüngere Brüder sind blödsinnig. Wie kommt es,
dass sie es nicht wissen und den Leichnam ihres Vaters weg-
nehmeü? — Das Haus des Mannes von dem Geschlechte Tscheu
fasste ihn endlich zusammen. 1
Das Kissen.
Tschin ,Kissen' ist dasjenige, worauf man im Liegen
das Haupt bettet. 2
tfe Tschin ,Kissen' ist so viel als Hien ,Umschlag'.
Man macht damit einen Umschlag um den Hals. 3
In den Gedichten heisst es : Eine Schöne gibt es, gross von
Gestalt und stolz. Zu schlafen nimmer mir gelingt, ich wälze
mich umher und liege auf dem Kissen mit dem Angesicht.
Die Gebräuche der Tscheu sagen : Das Sammelhaus der
Edelsteine befasst sich mit dem Golde, den Edelsteinen und den
Kleinoden des Königs. Wenn grosse Trauer ist, reicht man ihm
ein eckiges Kissen.
König Ling von Tsu wurde in Kien-khi geschlagen. Er
irrte allein in den Wäldern der Gebirge umher. Am dritten
Tage sah er seinen reinigenden Menschen ß)|| Tscheu. Der
König rief ihn und sagte : Ich habe durch drei Tage nicht
gegessen. — Tscheu lief hastig und trat vor. Der König machte
dessen Schenkel zu einem Kissen und schlief auf der Erde.
Als der König schlief, legte Tscheu denselben auf einen Erd-
kloss wie auf ein Kissen und entfernte sich von ihm. 1
Yö-sung war von Sinn gediegen und redlich. Sein
Haus war arm, und er wurde Leibwächter. Er befand sich
einst allein auf der Höhe der Erdstufe und hatte keine Decke.
Er machte zum Kissen ein Hackbret und ass Weinträber
und Kleie. Der Kaiser kam jede Nacht zu der Erdstufe. Er
1 Der Wald der Worte.
2 Der erklärte Schriftschmuek.
3 Die erklärten Namen.
4 Die Worte der Reiche.
316
Pfizmaier.
sah sofort Sung und befragte ihn. Er hatte über ihn grosse
Freude. Seit dieser Zeit befahl eine höchste Verkündung dem
grossen Beständigen, den Leuten von dem obersten Buchführer
abwärts Speisen zu verleihen und ihnen Zelte zu geben. 1
jlr Hoang-hiang diente seinen Aeltern. Wenn es
heiss war, fächelte er das Kissen. Wenn es kalt war, wärmte
er den Teppich mit seinem Leibe. 2
Zu den Zeiten der Wei gab es in Kao-tschang weisses
Salz, das von Gestalt gleich dem Edelsteine war. Die Menschen
von Kao-tschang nahmen es und verfertigten daraus Kissen.
Sie brachten diese als Tribut für das mittlere Reich. 3
m m Su-tsi war Aufwartender im Inneren. yjy
Tung-tschao machte einst das Knie Tsi’s zu einem Kissen, in
dem er sich niederlegte. Tsi stiess ihn herab und sagte : Das
Knie Su-tsi’s ist nicht das Kissen eines Schmeichlers. 4
tx m Tschang-hung verfertigte ein bilderloses Gedicht
auf das Kissen von saurem Aprikosenbaum und Granatapfel
baum. Tschin-tschin war zugegen und erlangte es.
Er zeigte es den vorzüglichen Männern und sagte: Dieses
hat mein Landsmann vj ^ m Tschang-tse-yeu verfertigt. 5
^ zE Wang-tün hielt Yü-tschang nieder. Er wurde
von Vif 3E Wang-tsching aus alter Gehässigkeit beleidigt.
Tün entbrannte immer mehr in Zorn und bat Tsching, in sein
Nachtlager zu kommen. Er wollte ihn heimlich tödten, allein
die Leute der Umgebung Tsching’s, zwanzig an der Zahl,
hielten in den Händen eiserne Pferdepeitschen und bildeten
eine Schutzwache. Tsching hielt immer in den Händen ein
Kissen von Edelstein und schützte sich dadurch. Tün konnte
daher nicht sogleich losbrechen. Später schenkte er den Leuten
der Umgebung Tsching’s Wein. Sie waren betrunken und
liehen ihm das Kissen von Edelstein, damit er es sehe. Er
stieg jetzt von dem Sopha herab und sagte zu Tsching: Warum
1 Das Buch der späteren Han.
2 Die Geschichte der Han von der östlichen Warte.
3 Das Buch der späteren Han.
4 Die Denkwürdigkeiten von Wei.
5 Das Buch der U.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
317
hast du mit Tu-tao einen Bund geschlossen ? — Tiin
befahl dein starken Krieger /£ % Lu-jung, Tsching zu
Tode zu drücken. 1
Ein Wahrsager sagte zu xpp Tung-fung: Dein Kummer
ist das Gefängniss. Bleibe fern zwei Kissen und vermeide drei
Kopfwaschungen. — Als Fung heimgekehrt war, bereitete ihm
seine Gattin ein Kissen und übergab ihm das Erforderliche
zum Kopfwäschen. Fung befolgte bei diesen Dingen nicht den
Rath. In dieser Nacht tödtete er wirklich aus Versehen seine
Gattin. 2
Die Provinz Ning-tscheu reichte gewöhnlich als ein Ge
schenk Kissen von Bernstein. Dieselben waren von Glanz und
Farbe sehr zierlich. Um die Zeit unternahm man den Er
oberungszug im Norden. Weil Bernstein die durch Metall ent
standenen Geschwüre heilt, hatte der Kaiser grosse Freude.
Er befahl, die Kissen zu zerstossen und vertheilte das Pulver
unter die Anführer.
y’lpt Iloen, König von Wu-tschang, war in seiner Jugend
boshaft und widerspänstig. Als er der Gebieter der mittleren
Bücher war, begab er sich jeden Abend nackt und mit ent-
blösstem Haupte in die verschlossene Abtheilung der zer
streuten Reiter und vergnügte sich daselbst. Dabei spannte er
den Bogen und schoss zu den Leibwächtern hinüber. Er traf
ihre Kissen. Dieses brachte ihn zum Lachen und machte ihm
Freude. Auch 5 ® # Tschü-ling-schi liebte in seiner
Jugend das Kriegshandwerk und befasste sich nicht mit den
Mustern von Yai. Sein Oheim von dem Geschlechte aus
Hoai-nan stand ihm an Begabung nach. Ling-schi hiess seinen
Oheim sich in dem Gerichtssaale niederlegen. Er schnitt Papier
stücke von einem Zoll im Umfange ab, faltete sie und legte sie
1 Tu-tao, ein Mann des Volkes von Siang-tscheu, empörte sich im fünften
Jahre des Zeitraumes Yung-kia (311 v. Chr.).
2 Das Buch der Tsin.
318
Pfizmaier.
auf das Kissen des Oheims. Er behängte sich mit einem
Messer und schleuderte es. Die Entfernung betrug acht bk
neun Schuhe. Er schleuderte hundert Mal und traf hundert Mal.
Der Oheim fürchtete Ling-schl. Er wagte es durchaus nicht,
sich zu rühren. 1
.gj| HÜ [jj|I Tschin-hien-tä fühlte sich in dem Zeitalter
Kien-wu (494 bis 497 n. Chr.) nicht sicher. Er wartete bei
einem Feste auf. Nach dem Weine eröffnete er dem Kaiser,
dass er sich ein Kissen ausleihe. Der Kaiser befahl, es ihm
zu gehen. Hien-tä befühlte das Kissen und sprach : Ich bin
bereits alt. Der Reichthümer und Ehren habe ich bereits zur
Genüge. Es sterben aber Wenige auf dem Kissen. Ich begab
mich absichtlich zu dem Kaiser, um es zu erbitten. — Der
Kaiser entfärbte sich und sprach : Du bist betrunken. -
$ [tfJ Tsie-khi führte den Jünglingsnamen ||| jth
Schi-nie. Er war lauter und aufmerksam. Er sagte einst zu den
Menschen: An dem Orte, wo man mit dem Amte betraut ist,
braucht man nicht einmal ein hölzernes Kissen zu verfertigen.
Um wie viel weniger etwas, das bedeutender als dieses ist ? 3
üE Wang-meu war ältester Vermerker von Yung-
tscheu. Jemand unter den Menschen verläumdete ihn, als ob
er sich empören wolle. Kaiser Wu glaubte dieses nicht. Er
liiess ^ *s * Tsching-schao-schö sich zu ihm begeben
und ihn ausforschen. Dieser traf ihn im Bette. Er fragte ihn
desshalb, ob er krank sei. Meu sprach: Es kann sein, dass
ich krank bin. — Schao-schö sprach: Unter den Mauern der
Hauptstadt wird das Tödten und Morden täglich ärger. Es
bewirkt, dass das Thor des Hauses des Gebieters mit Kohle
bestrichen ist. Jetzt will ich die Berathung einleiten. Wie
kommt es, dass der älteste Vermerker noch immer im Bette
liegt? — Meu schleuderte jetzt das Kissen von sich, stand auf
und zog das Reitkleid an. Er folgte Schao-schö, trat ein und
erschien vor dem Kaiser Wu. 1
1 Das Buch der Suug.
2 Das Buch der Tsi.
3 Das Buch der nördlichen Tsi.
4 Das Buch der Liang.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
319
Kaiser Yuen-tsung schnitt einst grosse Decken und
lange Kissen zu. Er theilte beides mit ^ Hien - scliin,
Könige von Ning.
Die ältere Schwester der theuren Königin, die Gemalin
von dem Reiche Kue, war über die Massen prachtliebend
und verschwenderisch. Was sie als Kissen gebrauchte, leuchtete
durch die Nacht. Von diesen Kissen wusste man nicht den
Preis. In der Nacht erleuchteten sie die Thorhalle. Ihr Licht
war gleich dem hellen Tage. 1
Schi-tse sagt: Ein elternliebender Sohn steht an einem
Abend fünfmal auf und sieht nach, ob das Kleid seiner Eltern
dick oder dünn, das Kissen hoch oder niedrig.
Tse-fa, Heerführer von Tsu, liebte die Kriegs
männer des kunstvollen Weges. Es war ein Mensch, der
geschickt stahl. Derselbe ging zu Tse-fä und stellte sich ihm
vor. Tse-fä behandelte ihn gut. Nach einiger Zeit richtete Tsi
einen Angriff gegen Tsu. Der Dieb ging in der Nacht hinaus,
stahl das Kissen des Heerführers von Tsi und kehrte damit
zurück. Am nächsten Abend nahm er wieder dessen Haarnadel.
Er kehrte ebenfalls damit zurück. Das Heer von Tsi gerieth
in grossen Schrecken und trat den Rückzug an. 2
Der König von Yue fragte Fan-tse: Ich, der unbedeutende
Mensch, habe gehört von der Sache des Yin und Yang, von
dem Adel und der Gemeinheit der Kornähren. Kann ich dazu
kommen, es zu erfahren ? — Jener sprach : Wenn das Yang
den Kornähren vorsteht, so sind sie edel. Wenn das Yin den
Kornähren vorsteht, so sind sie gemein. Wenn es daher kalt
sein soll, aber nicht kalt ist, so sind die Kornähren dadurch
plötzlich edel. Wenn es warm sein soll, aber nicht warm ist,
so sind die Kornähren dadurch plötzlich gemein. — Der König
sprach: Vortrefflich! — Er schrieb es auf ein Stück Leinwand
und verwahrte dieses in einem Kissen. Er hielt es für eine
Kostbarkeit des Reiches. 3
Fan-tse sagte: Yao, Schün, Yü und Thang hatten die Er
leuchtung des schon vorbereiteten Sehens. Gab es auch unglück-
1 Das Buch der Thang.
2 Das Buch Hoai-uan-tse.
3 Das Buch der Ueherragung von Yue,
320
P f i zra aier.
liehe Jahre, das Volk war doch nicht elend. —- Der König
sprach: Vortrefflich! — Er schrieb es mit Mennig nieder und
legte es in ein Kissen. Er hielt es für das Schätzbarste des
Landes.
Die Königin, die der zur Nachfolge bestimmte Kaiser-
solm aufnimmt, besitzt alte Haarschöpfe des Drachenhauptes,
Kissen, silberne Ringe, die man an Haken zutheilt. 1
Als Tschao-fei-yen Kaiserin ward, überreichte ihr ihre
jüngere Schwester Kissen von Bernstein und Kissen der Schild
krötenstreifen. 2
Im zweiten Jahre des Zeitraumes Hien-hi von Wei
(265 n. Chr.) ereigneten sich in dem Palaste Nacht für Nacht
Seltsamkeiten. Bisweilen erschreckte ein Brüllen und Rufen die
Menschen. Es gab dann Verletzte und Getödtete. Eine höchste
Verkündung liiess die Palastdiener in der Dunkelheit lauern.
Es erschien ein weisser Tiger, dessen Haar rein von Farbe
und dicht war. Man warf eine Lanze auf den Tiger und traf
ihn sofort in das linke Auge. Man ging unverweilt hin, um den
Tiger zu ergreifen. Dieser war hierauf verschwunden. Man
suchte ihn nochmals und fand ihn in dem Lagerhause. Das
linke Auge eines als Kissen dienenden Tigers von weissem
Edelstein war blutig. Der Kaiser erging sich in Ausrufungen
über die grosse Seltsamkeit, und er fragte die grossen Diener.
Diese antworteten: Einst richtete man Liang-ki hin und fand
ein Kissen, welches ein Tiger von weissem Edelstein war. Man
sagt, dieses Kissen sei von dem Reiche 1 an — tschi
zum Geschenk gemacht worden. Unter dem Brustfleisch befand
sich eine Inschrift, welche besagte: ,1m neunten Jahre des als
Kaiser herrschenden Sin als ein Geschenk gereicht/
Der als Kaiser herrschende Sin ist ^j- Tsch’heu. Gold und
Edelstein haben lange Zeit einen Geist. 3
Der Vater des Tai-sch an. Kaiser Wu von Han
zog im Osten umher und jagte. Er sah den Vater, auf dessen
Scheitel sich ein weissos Licht befand. Derselbe war einige
1 Die alten Sachen des östlichen Palastes.
2 Die vermischten Erzählungen der westlichen Mutterstadt.
3 Die Verzeichnisse des Auflesens des Verlorenen.
Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
321
Schuhe hoch. Der Kaiser rief ihn und befragte ihn. Jener sagte:
Es war ein Mann des Weges. Derselbe lehrte mich göttliche
Kissen verfertigen. Es waren zwei und dreissig Gegenstände.
Vier und zwanzig Gegenstände entsprachen den vier und
zwanzig Lüften. Acht Gegenstände entsprachen den acht
Winden. Ich that ; was er sagte. Im Nu wurde ich klein und
mir wuchsen die Zähne. 1
In dem Zeiträume King-thsu (237 bis 239 n. Chr.) ging
ein Angestellter des Districtes Hien-yang in der Nacht müde
zu Bette, indem er das Ilaupt auf ein Kissen legte. Nach
einer Weile hörte er unter dem Herde eine Stimme, welche
rief: Der Schmuck ist hereingebracht. Warum gebrauchst du
ihn nicht? — Unter seinem Haupte gab man zur Antwort:
Ich werde zu einem Kissen gemacht. Ich kann mich nicht
rühren. Komm du zu mir! — Als etwas kam, war es ein
thönernes Trinkgefass. 2
7E 0)J Lieu-yuen von Tschung-schan sah am Abend
plötzlich einen Menschen. Derselbe trug ein schwarzes Reit
kleid. Yuen nahm ein Licht und beleuchtete ihn. An Gesicht
lind Haupt fehlten die sieben Oeffnungen, das Gesicht war
gross und ebenmässig. Er bat einen Meister, hierüber die
Wahrsagung vorzunehmen. Der Meister sprach: Dieses ist
ein Gegenstand aus einem früheren Geschlechtsalter deines
Hauses. Nach langer Zeit ist er ein Unhold geworden. — Der
Mann von dem Geschlechte Lieu ergriff jetzt ein angebundenes
Messer und hackte mehrmals nach dem Gespenste. Dieses
verwandelte sich in ein Kissen. Es war ein Kissen aus den
Zeiten seines Vorfahren. 3
1k j§ Teng-fang legte sich nieder, indem er einen
gestreiften Stein zum Kissen machte. Plötzlich erschütterte
heftiger Donner dieses Kissen. -Die nebenstehenden Menschen
waren sämmtlich athemlos vor Furcht. Fang bemerkte ein
wenig, dass etwas tönte. Er war darüber nicht erschrocken. 4
1 Die Ueberlieferungen von göttlichen Unsterblichen.
2 Die Ueberlieferungen von Seltsamkeiten.
3 Die Geschichte der gesammelten Seltsamkeiten.
4 Der Garten der Seltsamkeiten.
Sitzb. d. pliil-hist. CI. LXXII. Bd. I. Uft. 21
322 pn zmaier. Denkwürdigkeiten von chinesischen Werkzeugen und Geräthen.
Die von *0 Tschui-yin verfasste Inschrift auf das
Kissen des sechsfachen Sicheren 1 lautet: An dem Kissen ist
Zirkelrundung und Winkelmass, es vereint ehrerbietig- deren
Tugenden. Es stützt das Ursprüngliche, lässt ruhen den Leib,
Anfang und Ende wechseln nicht.
^ Pien-kingAsung verfasste eine Lobpreisung
des Kissens von ,Sorgenlos/ ffi Wu-hoan ,sorgenlos‘ ist
der Name eines Baumes. Es bedeutet, dass der Mensch sich
ohne Sorge auf das Kissen legt.
1 Das sechsfache Sichere bedeutet die sechs Flächen des Kissens.
Horawitz. Des Beatus Ithonanns literarische Tliätigkeit,
323
Des Beatus Rhenanus literarische Tliätigkeit 1
in den Jahren 1530—1547.
Von
Adalbert Horawitz.
Die Geschichtsschreiber alter und mittlerer Zeit sind es
vornehmlich, denen Rhenanus in dieser letzten Periode seines
Lebens alle Kraft zuwendet, wie denn auch als Frucht
historischer Studien in diesem Zeitraum sein Geschichtswerk
erscheint. Schon im Jahre 1531 ist er an der Herausgabe
eines grossen und reichen Sammelwerkes betheiligt.
Die Heerwagen’sche Edition.
Es ist das bei Heenvagen erschienene Work: De rebus
Gothorum Persarum ac Vandalorum 11. VII. Basileae
1531. fol., das eine Fülle historischen Stoffes enthält. Denn
es umfasst ausser Prokop’s Gothenkrieg und des Agathias
Werk über denselben Gegenstand — in lateinischer Ueber-
setzung —: Aretino de bello Italorum contra Gothos, Jornandis
,quem nonnulli Jordanü uocanP über de origine Gothorum, des
Sidonius Apollinaris epistola, qua Theodericü Vesegotliorum
regem eleganter describit und die kurze Schrift Peutinger’s
de gentiü quarundam emigrationibus. Ferner waren hier —
und zwar zum ersten Male — Jordanis de regnorum successione
und des Procopius über de aedificiis abgedruckt. Diese beiden
Editionen waren nur durch die Gefälligkeit Peutinger’s ermög
licht, der die Handschriften seiner Bibliothek für die Ausgabe
herlieh. Von Prokopius und Agathias werden die Biographien —
1 Vergleiche meine Abhandlungen: Beatus Bheuanus eine Biographie und
des Beatus Rhenanus literarische Tliätigkeit von 1508 —1530. (In den
Sitzungsberichten der philos.-histor. Classe der kais. Akademie der Wissen
schaften B. LXX. und B. LXXI.)
324
ilorawit'Z.
aus dem Suidas — gegeben, die des Jordanis ist den Scriptores
eccless. des Trithemius entnommen. Der Index ist sehr
handsam.
Rhenanus wollte auch den Ablauius und Cassiodor der
Sammlung einverleibt wissen, doch hier fehlten die Exemplare
zum Abdruck; die ävsxSwra des Prokop aber, deren Suidas
erwähnt und nach denen sich Rhenanus sehnte, waren — nach
seiner Ansicht — nicht ohne Grund unterdrückt worden. Im
Ganzen machte sich Rhenanus ungern an diese Arbeit, da ihm
nicht recht Zeit zu den gewissenhaften gründlichen Studien
gelassen wird, die seine sonstigen Arbeiten auszeichnen. Denn
erst als ihm die Druckbogen zugesandt wurden, konnte er die
Lesarten des Werkes einsehen; nur widerstrebend machte er
sich an die Vorrede, zu der ihn Heerwagen nöthigte. Sie ist
Bonifaz Amerbach gewidmet und enthält ausser einer schönen
patriotischen Aeusserung einiges beachtenswerte. Wir sollen
uns nicht immer — sagt er — nur mit den Geschichten der
fremden Völker beschäftigen, da wir doch zu Hause haben,
was wir bewundern können und was nicht blos der Ivenntniss,
sondern auch der Nacheiferung würdig scheinen kann. Denn
unser sind die Triumphe der Gothen, Vandalen und Franken,
unser ist der Ruhm der Reiche, die sie in den berühmtesten
Provinzen der Römer, ja in Italien und Rom, der Königin der
Länder, gegründet haben. Er geht sodann auf den Inhalt der
Ausgabe ein. Auch er sieht in Aretino nur einen Paraphrasten
und kritisirt dann ganz kurz die Schriftsteller, welche die
Origines Gothorum behandeln. ,Prokop', meint er da u. A.,
geschieht das, was auch uns geschieht, wenn wir über fremde
Völker schreiben — dass er sich auf Conjecturen stützt. Uebri-
gens konnte Prokop als Grieche Ursprung und Ursitze der
Gothen nicht auffinden. Besser schon hat es Jordanis getroffen
wenn er die Gothen aus Skandinavien abstammen lässt, aber
zu tadeln ist es, wenn er Gothen und Geten für identisch
nimmt. Denn die Gelehrten — sagt Rhenanus — haben den
Gothen den Namen der Geten gegeben, so wie sie Kaiser
Maximilian Maximian und Maximus Aemilianus nannten oder
mit demselben Rechte, wie Pertinax den Caracalla Geticus
nannte, weil dieser seinen Bruder Geta erschlagen. Aus dem
Grunde, dass die Gothen auf ihren Streifzügen sich im Geten-
Des Beatus Rhenanns literarische Thätigteit.
325
lande umhergetrieben, kann man sie doch nicht Geten nennen,
so wenig als man die Franken Gallier, die Westgothen Spanier
nennen wird, weil jene in diesen Landen gelebt. Desshalb
passt der Name der Skythen für die Gothen durchaus nicht. —
Am Schlüsse seiner Vorrede macht Rhenanus die erfreuliche
Anzeige, dass Heerwagen nächstens die Schriftsteller der Lango
barden herausgeben werde. — Die Edition der Gothenschrift
steller, wie die frühere der Panegyriker lieferten reichhaltigen
Stoff und Antrieb für ein Werk, das den Namen des Rhenanus
als Historiker gesichert hat, für ein Werk, das aus lebendiger
Liebe zum Vaterlande, wie aus gründlichen Studien hervor
gegangen, ein Werk, mit dem er eine neue Richtung einschlägt.
Die Res Gernianicae.
Dieses Werk, das er um 1531 bei seinem Hauptverleger
Proben erscheinen liess, trägt in der ersten (Folio-)Ausgabe
den Titel: BEATI RHENANI SELESTADIENSIS RERVM
GERMANICARVM LIBRI TRES. ADIECTA EST IN
CALCE EPISTOLA AD D. Philippü Puchaimerü, de locis
Plinij per St. Aquseiun attactis, ubi mendae quaedam eiusdem
autoris emaculantur, antehac non ä quoquam animadversae.
Unter dem grossausgeführten Froben’schen Wappen steht
BASILEAE, IN OFFICINA FROBENIANA | ANNO M. D.
XXXI. Cum gratia et priuilegio Csesareo in sex annos. Das
Schlussblatt hat die Bemerkung BASILEAE IN OFFICINA
FROBENIANA PER HIEROjNYMVM FROBENIVM, IOAN-
NEM HERVAGIVM || ET NICOLAVM EPISCOPIVM, ANNO
MDXXXI. MENSE MARTIO. Darauf folgt eine typographische
Bemerkung und die Angabe einiger, Errata. Diese Ausgabe
hat 194 Folioseiten. Die zweite Edition erschien bei Froben
in Basel 1551, also nach dem Tode des Verfassers. Das Titel
blatt zeigt einige Veränderungen. Nach Libri Tres folgt die
Bemerkung: AB IPSO AVTORE | diligenter reuisi et emendati,
addito memorabilium | rerum Indice accuratissimo. Quibus
praemissa est Vita Beati Rhenani, ä Joanne Sturmio eleganter
conscripta. Ganz unten heisst es: Cum gratia et priuilegio
Caesareo in quinque annos. Der Text der Rerum Germanicarum
Libri füllt 197 Folioseiten, daran schliesst sich auch hier bis
326
Horawitz.
Seite 206 die Epistel an Pucliaimer. Auf der letzten Seite
stellen unten die Worte: BASILEAE PER HIERONYMVM
FROBENIVM, ET NICOLAVM EPISCOPIVM, MENSE
MARTIO M.D.LI. Auf der Rückseite des Titelblattes ist ein
Brief von Johannes Sturm an Nicolaus Episcopius abgedruckt,
in dem der Erstere erwähnt, wie Sapidus die Pflicht der Dank
barkeit von sich abgewälzt und die Abfassung der Biographie
des Rlienanus auf Sturm’s Schultern geladen. ’ Die ,Widmungs
zuschrift Sturm’s richtet sich an Christoph Herzog von Wirtem-
berg und Deck'. Nach allgemeinen Bemerkungen über die
Berechtigung der Biographien gelehrter Männer, über die
Schwierigkeit, solche zu verfassen, ergeht sich Sturm in der
Auseinandersetzung, warum die Biographie des Rhenanus für
ihn so besonders schwierig geworden, und äussert Worte des
Lobes über Herzog Christoph und die Tübinger Gelehrten.
Darauf folgen die Vita mit einem Gedichte des Sapidus zum
Andenken an Rhenanus und — was einen wesentlichen Vorzug
vor der ersten Ausgabe ausmacht — ein ,Index copiosissimusJ
— Die scheinbare Vermehrung des Textes ist nur auf Rech
nung des splendideren Druckes zu setzen, auch das Wort
,cmendatk am Titel wohl nur auf Ausmerzung der Errata zu
beziehen. Die nächste Ausgabe der Res Germanicae erschien
zu Strassburg 1610 in 8° 2 und — wie es scheint •— die
letzte zu Ulm 1693 unter dem Titel: Beati Rhenani Selesta-
diensis Libri Tres Institutionem Rerum Germanicarum Nov-
Antiquarum, Historico-Geographicarum, Juxta PrimariumCollegii
Historici Imperialis Scopum Illustratarum. Inserta Gormaniae
imo Universae Europae Acclamatione Votiva Sacrae Imperatoriae
Majestati Ipsa Luce ac Horis Ante-meridianis, Coronationis
Regiae Josephi Regis Romanorum Solenniter insinuata Augustae
Vindelicorum a Jacobo Ottone Sac. Caes. Lateranens. Palatii
Com. et Reipubl. Ulm. Consiliario. Ulmae, impensis Georg.
Wilhelmi Kühn, Bibliopolae ibid. Literis Haered. Christiani
Balthasaris Kühn 1693. Dieses Buch, das mit einem Bildnisse
des Rhenanus versehen ist, enthält 659 Quartseiten. 3 Der
1 Am Schlüsse des Briefes: Argentorati XII. Calendas MartiasAnno Christi
nati M.D.LI.
- Diese Ausgabe konnte ich nicht einsehen.
3 Der Brief an Pucliaimer fehlt bei dieser Ausgabe.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
327
grosse Umfang erklärt sich aus den weitläufigen Noten und
Oommentaren Otto’s, die für unseren Zweck nicht in Betracht
kommen.
Das Werk wird mit einer im März 1531 verfassten Vor
rede eröffnet, in der Rhenanus sein Buch dem König Ferdi
nand widmet. Von der Erfahrung ausgehend, dass jeder in
ferne Gegenden Reisende sich einen Führer mitnimmt, oder
sich doch hei Unterrichteten um den Weg erkundigt, meint
er, auch in der Geschichte, in der es doch vornehmlich auf
gute Unterweisung ankommt, sei ein solcher Führer nöthig.
Denn obwohl man mit Namen herumwerfe, so wisse man doch
fast nie, was diese Namen bedeuten, wird ja doch selbst,Ger
mania 4 häufig falsch begrenzt. Rhenanus erwähnt ferner, wie
es so Viele gäbe, die mit ihren Geschichtsstudien grossen Lärm
erheben, aber eigentlich keinen Stein von der Stelle bewegen.
Denn wie oft werden die Namen der Germanen, Alemanen,
Franken, Sachsen, Sueven und Helvetier, die Benennungen
Germania superior und inferior u. A. genannt; wenn aber
Jemand fragt, woher und wann diese Benennungen entstanden
sind, da wird man wenige finden, welche über diese Dinge
gründlich sprechen können. Die Ursache dieses Umstandes
sieht Rhenanus in dem Reichthum an alten Schriftstellern und
in dem Mangel an mittelalterlichen. Dank daher Jenen, die
mit ungeheurer Mühe für Verbreitung der richtigen Kenntnisse
sorgen. Mit Schärfe wendet er sich sodann gegen die eng
herzigen Buchstabenmenschen, die an jedem überlieferten Worte
haften. Es giebt vielleicht noch Viele, die jetzt noch die
alten Zustände sich vorspiegeln, die an J. Cäsar und Ptolemäus
hartnäckig festhalten. Weil es aber Leute von diesem Schlage
gebe, müsse man die übrigen Gelehrten nicht im Stich lassen,
damit tüchtigeren und erleuchteteren Talenten Beistand geleistet
werde. Durch diese Erwägung ward Rhenanus veranlasst,
kurz nach seiner Rückkehr aus Augsburg, den Bitten mehrerer
Freunde — zweifellos war Peutinger dabei — Gehör zu geben,
und sich an die Abfassung des vorliegenden Werkes zu machen.
So schrieb er denn über die römischen Provinzen, welche die
Weltbezwinger auf dem linken Rheinufer und dem rechten
Donauufer Germanien gegenüber besassen, über ihren Zustand
und ihre Verwaltung unter den Nachfolgern Constantin des G.
328
H o r a w itz.
und versuchte es, auch von ihrer Eroberung durch die Franken,
Alemannen, Markomannen u. A. zu handeln. Die Völker
wanderung muss er deshalb ziemlich eingehend in den Kreis
seiner Betrachtungen ziehen, und so meint er — wohl mit
Recht — werde sein Werk auch für gelehrte Männer nicht ohne
Nutzen sein, da diese oft genug das alte und neue Germanien
verwechseln. 1 Was grössere Ivenntniss in diesen Gegenständen
bedeute, meint Rhenanus, hätte die — in seine Knabenzeit fal
lende — Controverse zwischen Wimpfeling und Murner erwiesen,
bei gründlicherem Verständnisse wäre der Streit gegenstandslos
geworden. — Den Schluss der Vorrede bildet ein verunglückter
Versuch, die Genealogie der Habsburger zu bestimmen, der
Glückwunsch an Ferdinand zur Erlangung der Kaiserwürde
und die Bitte an den Kaiser, in den Zeiten der Müsse, welche
die Türkenkriege übrig lassen, dieses Werk in die Hand neh
men zu wollen, da ja die Lectüre dieses Buches über viele
und grosse Veränderungen im Staatenleben belehren werde.
Betrachten wir nun den Gang des Werkes!
Im ersten Buche bestimmt er den Begriff und die Aus
dehnung 1 von Altgermanien (c. 1), giebt dessen Völkerschaften
an — auch er nennt die Germanen indigenae — schildert den
Zustand Deutschlands vor und nach Julius Caesar, gedenkt —
freilich in sein 1 gedrängter Kürze — der Kriege, des Handels
der Germanen, und weist als Grund ihrer Zwietracht die
Aufreizungen der Römer nach. Sodann geht er auf die
Provinzen des römischen Staates über, kommt auf die Donau
länder (Rhetia I et H., Noricum, Panonnia I et II.) 2 zu
sprechen, lässt eine Aufzählung aller Provinzen des römi
schen Reiches, so lange dasselbe unversehrt war, folgen 3
und geht dann sofort auf die Völkerwanderung über, ,obwohl
1 Haec propterea dicere cogor, hoc loco, ne quis Germaniam ueterem
in prouineiis somniet aut quaerat etiam antequam proninciae factae
sunt, itl quod de transdanubianis et Sequanis uerissimum est. (20. 21.)
2 Dabei sucht er die Ausdehnung der Provinzen durch Angabe der ihnen
jetzt entsprechenden Länder zu versinnlichen, z. B. bei der Provinz
Valeria giebt er Croatien als entsprechend an. (!) Savia wird richtig
bestimmt.
3 S. 19—20. .Enumeratio caeterarum ubilibet prouinciarum integra dum re
Romana 1 mit der sonderbaren Bemerkung: ut aliis quoque nationibus gra-
tum faciamus puta Gallis, Brittanis, Italis.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
329
sie eigentlich nicht zur Sache gehöre/ 1 Wie Peutinger, so
lässt auch Rhenanus Bergamo durch Germanen, beiläufig um
die Zeit des Tarquinius Priscus gegründet werden, nach dieser
landläufigen Fabel wendet er sich aber zu beglaubigter Ge
schichte. Als Ursache der Völkerwanderung giebt er die
Sehnsucht nach besserem Boden und die Uebcrvölkerung an,
beginnt hierauf die Geschichte der ersten Wanderungen, wobei
er die der Cimbern und Teutonen ganz gelungen schildert
und deren deutsches Volkstlmm zu erweisen bemüht ist (S. 22).
Aus der Darlegung der Wanderungen nördlicher Germanen in
Mitteldeutschland ist vornehmlich die Schilderung der Franken
und Alemannen hervorzuheben; sie ist aus genauer Prüfung
und Benutzung der alten Schriftsteller hervorgegangen. Rhe
nanus wendet sich sodann zu den Sachsen, über deren Ursprüng
en d Kämpfe er freilich nicht viel sagt, geht auf die Thüringer 2
und Hessen (S. 56) über und behandelt eben so kurz die
,Schlesier 1 ', Preussen, Pommern u. s. w. 3 Bei den Dänen stellt
er die Ansicht auf, sie seien von den Inseln des Oceanus
Germanicus in die alten Wohnsitze der Cimbern gekommen, und
von ihnen stammen die Normannen, doch ausser ihrer Nieder
lage durch Theodebert erwähnt er nichts aus ihrer Geschichte.
— In diesem ganzen Abschnitte laufen manche Verstösse mit
unter ; um nur einen zu nennen, Odoaker wird zum — Sachsen
gemacht (S. 55). Die Schwierigkeit, die sich für den Forscher
in dieser Partie ergiebt, veranlasst den Rhenanus denn auch
1 S. 21. Tametsi Germaniae populorum illae primae emigrationes . . . .
non proprie ad hoc argumentum pertineant, quod nos praeeipue tractamus
nempe distinctionem ueteris Germaniae et prouiuciarum: tarnen ut abso-
lutior suadat libellus, primum uetustissimos ueterum Germanorum exitus
breuissime commemorabimus.
2 Toringi nach der römischen unrichtigen Orthographie geschrieben cf. Zeuss
die Deutschen und ihre Nachbarstämme 354. Die beste Erwähnung
der Thüringer durch Vegetius Renatus (de arte ueterinaria 4. 6), wie die
ofteitirte des Sidonius (Carrn. 7. 323), kennt Rhenanus ebenso wie die
Briefe Theodoricli des Gr. an Ilermenfried (bei Cassiodor) und die Ge
schichte von Bisin dem Thiiringerkönig (Gregor von Tours II. 12.) Die
Stelle Eugipp’s (Vita S. Severini 31) ist ihm freilich unbekannt. Von den
,Misni‘ hat er nur den Satz: verisimile a Septentrione uenisse. Dass seit
dem fünften Jahrhunderte die Thüringer an der Stelle der Hermunduren
erscheinen, weiss er nicht.
3 Das die Prussii Slaven sind, wird nicht bemerkt.
330
Horawitz.
den Wunsch auszusprechen, die Gelehrten möchten sich doch
zu dieser Partie der Geschichte wenden, wie viel Licht
könnte dies in die alte Geschichte bringen. Das wäre in
Wahrheit ein ,illustrare Germanium* (S. 56). -— Rhenanus
macht es sich von da ah zur Aufgabe, die Einfälle germanischer
Völker in die Provinzen des zusammengebrochenen römischen
Reiches zu schildern. Er beginnt mit dem Einbrüche der
Gothen in Italien und Frankreich, wobei Alarich und Rhadagais
sehr oberflächlich behandelt werden, und liefert eine ganz kurze
Geschichte der Burgunder (S. 59), um deren grosse Macht
zu erweisen. Daran schliesst sich eine Darlegung der Ein
brüche der Franken in Gallien, wobei Rhenanus — auf
Apollinaris gestützt — vornehmlich bei der Hunnenschlacht
länger verweilt. Er giebt sodann eine übersichtliche Darlegung
ihrer Eroberungen, unterscheidet scharf zwischen Francia
Teutonica und Francia Romana 1 und spricht von den frucht
losen Versuchen der Römer, die Franken aus Gallien zu wer
fen. (63.) Von den Alemannen erzählt er ihre Rivalität mit
den Franken, deren grösseres Glück die ersteren bei Tolbiacum
niederwarf und stellt Untersuchungen über das Vorkommen
des Namens Alemannia an. (S. 64.) Noch eine Reihe anderer
Völker werden besprochen, so die Quaden (S. 65) in Panno
nien und Valerien, deren Waffen, Pferde und Sitten er — meist
nach Ammian — schildert, die Marcomannen, die er als
Nachfolger der Bojer in Boioheim einrücken lässt, die Heruler
und Rugier (S. 70 kurze und unbedeutende Notizen), die
Langobarden, deren deutschen Ursprung er auf eine sehr wunder
liche Weise zu beweisen unternimmt, 2 die Angelsachsen
(Vortigern S. 74), die Normannen, deren Beutezüge bis zur
Christianisirung des Rollo erwähnt werden. Trotz seines Ord
nungssinnes mischt er in die Völkerübersicht keltische, ja sogar
magyarische Stämme ein, er spricht von den Scoten, Picten
und den Ungarn, wie ihren Einfällen, wobei auch er die alberne
1 Dem von gallischen Scriptoren erfundene Namen Austrasien setzt Ehenanus
Vestria gegenüber, was jene in Neustrien veredelten. Eigentlich bedeuten
aber die beiden Namen nichts Anderes, als Ostrich und Vuestrich, ,uaeli
den Winden so genannt. 1 (S. 60.)
- Die Beweglichkeit des Volkes veranlasst ihn zu dem Ausrufe: Dii boni,
<piae fuit illis gentibus mutandariun sedium libido? (S. 71.)
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
331
Geschichte von der Eröffnung der Pforten (reseratis aditibus)
durch Arnulf vorbringt. In einer kurzen Revue führt er zum
Schlüsse des ersten Buches keltische Völker (Helvetier, Bojer
7%) vor, ganz richtig erkennt er nach Tacitus (Germania 43)
die Gothinnen als Celten und die Osi als Pannonen. Die Scla-
vinnen in Böhmen und Mähren (S. 81) führt er sehr sonderbar
ein. Was wir Einem gethan, sagt er, wird uns von einem
Andern zugefügt, so ging es den Germanen mit ihren Erobe
rungen und Verwüstungen. — Die Slaven zahlten es heim.
Erörterungen über Polen (deren Name er von pole ableitet)
und Wenden machen den Schluss des ersten Buches.
Das zweite Buch beginnt mit detaillirter Aufzählung
und Schilderung der Schicksale einzelner Stämme in der Folge
zeit. Es ist mit einem Worte vorwiegend eine Geschichte der
Franken und Alemannen mit besonderer Berücksichtigung der
culturgeschichtlichen Partien. Mit der Besprechung der Kämpfe
zwischen Franken und Alemannen beginnend, führt er den
Streit zwischen den Rivalen 1 auf die Einbläsereien römischer
Obi'igkeiten zurück, in deren Interesse es lag, dass Jene sich
aufrieben, damit dann das römische Reich wieder hergestellt
werde. 2 Die meist sehr gründliche Darstellung, in der auch
weniger bekannte Thatsachen — z. B. die Raubzüge des Leu-
tharis und Butillin — getreu berichtet werden, bespricht mit
Eifer die Christianisirung der Franken wie ihre Kriege mit
den Burgundern (S. 87), den Thüringern (88), den Sachsen
(88 und 89), Friesen (89), Baiem (89), Langobarden (89),
Slaven (90), wobei sie natürlich Karl des Grossen nicht ver
gisst. Mitten in der Kriegsgeschichte begegnen wir einem
pragmatisirenden Excurs, in dem Rhenanus gewisse Abhängig
keitsverhältnisse (pensitationes! S. 85) seiner Zeit auf die
Schlacht von Tolbiacum und ihre Folgen zurückfuhrt und die
1 Der Humanist kann den Vergleich nicht lassen: Hand aliter olim inter
Poenos et Romanos de summa rerum certatura est. (S. 8ü>)
2 Rhenanns macht den Schluss, dass die Sitze der alten Franken den
Chauken sehr nahe gewesen seien (S. 35), immo verius Chaucorum
gentem fuisse. Dies ist ein Irrthum, denn diese waren Sachsen (cf. Zeuss
381). Wohl ward er hier von Claudian irregefiihrt, so dass er von den
Chauken als von ö^losövei; spricht; er macht keine Sonderung zwischen
salischen und ripuarisehen Franken. Vgl. v. Wietersheim, Gesch. d.
Völkerwanderung III. 61 ff.
332
H o r a vf i t z.
Herz ogsg'ewalt von einst und jetzt vergleicht. Werthvolle Ab
handlungen bilden die Untersuchungen über die Freien und
Unfreien (fiscales und fiscal ini), 1 die servi ecclesiastici (84), die
Duces, Duces militum, Comites, Centgraven, über Grafen und
Markgrafen, über die lex Salica, die Romana Gombata (wohl
Gundobada), das Alod (S. 96 wird es ganz kurz bestimmt als
praedia propria), über Ordalien und Herisliz (S. 91) und die
Bemerkungen über die fränkischen Gesetze, aus denen Rhe
nanus mehrfach (S. 91) Stellen mittheilt. In dem Verlaufe
seiner Darstellung handelt er von der Pietät der Franken gegen
Kirche und Klöster, von den Kirchen und Hospitälern der
Sehottenmönche, dem Bisthum zu Erfurd, von Bonifaeius, den
er Wunefridus (86) nennt. Nach diesen Angaben über mero-
vingisch-karolingische Geschichte giebt er eine kurze, aber
gute Geschichte des deutschen Reiches in dessen ersten Zeiten.
Es wird von Otto von Sachsen gesprochen, wie dieser seines
Alters wegen auf die Königswürde verzichtet und die Wahl
auf Konrad gelenkt habe. Von Konrad’s unglücklicher Regie
rung wird nichts erzählt, wohl aber die Geschichte hervor
gehoben, wie Heinrich I. den' Heriger von Mainz, der ihn
salben und krönen will, zurückweist. Rhenänus bringt hier
überhaupt manches Detail; öfter freilich auch in verwirrter
Fassung, so weis er z. B. von einem Zuge gegen Arnold von
Baiern, oder einer Expedition gegen Rudolf, Herzog von
Alemannien, zu erzählen, spricht von dem Königreich Arelat,
das Heinrich erworben habe. Im ersten Falle soll es statt Arnold
Arnulf heissen, im zweiten verwechselt er Burchard von Ale
mannien mit dessen Gegner Rudolf von Burgund, im dritten
Arelat mit Lothringen. Ungemein auffallend ist es, dass er die
Ungarnbezwingung Heinrichs nirgends erzählt, nachdem er doch
den Lindprand gekannt. Ueber Otto den Grossen, mit dem
er das Imperium Romanum ansetzt, schreibt er ziemlich spär
lich, dessen Schutzstellung ist nicht ganz erfasst, er spricht
nur von einem Zuge gegen Berengar, die Empörungen und
viele andere Beziehungen sind übergangen, die Erfolge gegen
die Byzantiner überschätzt. — Der Abschnitt: Status Germaniae
sub Imperatoribus Saxionibus et iis, qui hos insequuti sunt, ist
1 Vgl. Waitz, Verfassungsgescliiclite. IV. 294.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
333
culturgeschichtlichen Erörterungen gewidmet. Um das Wachs
thum der Städte zu zeigen, greift Rhenanus da in die elsässische
Localgeschichte über, giebt u. A. eine pacis formüla zwischen
Adeligen und Städten und unterbricht diese antiquarischen
Bemühungen durch einen philologisch-kritischen Excurs, in dem
er behauptet, dass der Name der Franken bei Cicero (Ep. ad
Atticum 1. XIY.) nicht vorkommt; die Untersuchung der Hand
schrift hat ihm gezeigt, dass es Vangiones, nicht Frangones
heissen müsse, was auch aus inneren Gründen nachzuweisen
sei. In den nächsten Seiten wendet er sich wieder cultur-
geschichtlichen Stoffen zu, er spricht über Aussehen, Sitten
und Bewaffnung der alten Franken. Nach Agathias vornehm
lich wird die Armatur beschrieben; auch die ,descriptio ains
Frenckischen hackens 1 nach demselben geliefert. Die Gebräuche
der Gothen (102), Sachsen (104), Hunnen werden erwähnt
und sodann der Beweis für die deutsche Sprache der Franken,
Burgunder und Langobarden nach mitgetheilten Proben aus
Otfrieds Evangelienbuche, das Rhenanus zu Freisingen 1530
fand, 1 sowie nach anderen Gründen (Citaten aus Sidonius
Apollinaris, den Legg. Langob.) erbracht. Bei diesen Sprach
studien verweilend, forscht er nach der Sprache der Provincialen
und kommt zu dem Schlüsse, dass die römische Sprache dort
eingeführt worden sei. 2 Ein weiterer Excurs über die Sprache
der alten Gallier führt zu dem Ergebnisse, dass ihre Sprache
mit der der alten Walerr in England werde Aehnlichkeit ge
habt haben. (S. 111.) 3 Damit schliesst das zweite Buch, dem
das umfangreiche dritte Buch von S. 113 bis S. 185 folgt.
Das dritte Buch beginnt mit einer theilweise gelungenen Emen-
dation einer Stelle der Naturalis Historia (1. IV. c. 14), darauf
handelt er von den bischöflichen Diöcesen und giebt dem Ge
danken Ausdruck, dass die römischen Diöcesen mit den bischöf
lichen, die davon den Namen haben, vielfach übereinstimmen.
Daran schliesst sich wieder eine Emendation einer Stelle Cäsar’s
1 Vgl. darüber die hübschen Ausführungen von Raumer, Geschichte der
germanischen Philologie. (S. 24.)
2 Que enim inter dissimilis linguae homines amicitia coalescere queat?
3 Schon früher (S. 80) eifert er gegen den Irrthum, die Germanen und
Gallier hätten je dieselbe Sprache gehabt.
334
Horawitz.
(Comm. de bello Gail. VI. 24. 25) über den hercynischen Wald,
an die sich oro- und hydrographische Notizen (über Neckar
und Donau 121) anreihen, worauf endlich, wie bei Irenicus
(Exegesis Germaniae), eine Topographie der Städte folgt. Dabei
fehlt es nicht an Wiederholungen, in einem langen Excurs
kommt Rhenanus da wieder auf die Bojer, ihr Land und ihre
Geschichte zu sprechen, er kritisirt Strabo, er ergeht sich
in unhaltbaren Studien über deutsche Personennamen u. s. w.
Das Verdienstvollste ist jedenfalls die ausführliche Schilderung,
die er uns von Sehlettstadt, seiner Heimath, von ihren
Kämpfen, Gebäuden und Geschlechtern, sowie von Basel und
Strassburg entwarf. Auch sonst ist aber die Städtetopographie
eine fleissige und vielfach gelungene Arbeit, die namentlich für
Archäologie viel beibrachte. Den Schluss des dritten Buches
und des Werkes macht der Artikel über die Stadt Paris. 1 —
So viel über den reichen Inhalt des Buches, das seinen Lesern
eine sichere Kenntniss von dem Umfange, den Bewohnern und
den Veränderungen des alten Germanien zu geben bemülit war.
Niemand wird leugnen können, dass Vieles, und sogar Vieles,
das jetzt noch genügen kann, gebracht wurde, und dass das
Meiste reichlich durch Belegstellen unterstützt wird. Woher
nahm Rhenanus diese Belegstellen? woher nahm er den Er
zählungsstoff? Wodurch, fragen wir weiter, kam er zu so ge
lungenen, zu so vielen haltbaren Resultaten? Die ersten zwei
Fragen führen uns zu seinen Quellen, die dritte zu der Kritik,
die er an diesen geübt.
Es sind sehr zahlreiche Quellen, die uns, als von Rhe
nanus benützt, begegnen werden. Seine eifrige Lectüre der
Alten, seine bibliographischen Kenntnisse, die in Froben’s und
der Amerbache Haus stete Nahrang fanden, seine Beziehungen
zu den ersten Gelehrten, die Benützung der Bibliothek des
Erasmus, Reucklin, Peutinger u. A., sowie vieler Kloster
büchereien und der Rath der Freunde schafften ihm massen
haftes Material herbei. In letzterer Hinsicht, sowie überhaupt
für die Genesis der Res Germanicae sind die Rathschläge
Willibald Pirkkeimer’s von Bedeutung. Er schreibt ihm 2
1 Vgl. meine Biographie des Khenanus S.
2 In einem in Bilibaldi Pirkheimeri Opera Frankfurt 1610 S. 313 f.
abgedruckten, leider nicht datirten Briefe an Ehenanns.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
335
eine Reihe von Rathschlägen, was er in seiner Germania thun
und was er lassen solle, wie er die Geschichte der Gothen
behandle, dass er die Geschichte der Langobarden ausarbeiten,
dass er die Ungarn nicht mit den Hunnen — ,die auch Ger
manen sind* (!) — verwechseln möchte. Zum Schlüsse räth
er ihm an, sein Werk vor dem Drucke auch dem Stabius und
einigen Anderen zur Durchsicht zu gehen, nam usus experientia
et doctrina facit, ut multi plus quam singuli videant. Aus
drücklich hat Pirkheimer den Rhenanus als auf zu benützende
Quellen, auf Radevicus, Ammonius (Aimonius), Warnefredus,
Jornandes, Luitprand, Prokopius, aufmerksam gemacht. 1 Doch
was Rhenanus seihst benützte, ist weitaus mehr. Ich lasse
zum Beweise dafür ein Verzeichniss all der von Rhenanus
benützten Quellenstellen folgen, die ich nachweisen kann, die
arabischen Ziffern bedeuten die Seite der ersten Ausgabe der
Res germanicae.
Ammianus Marcellinus S. 3, 13 (1. XV.), 14 (XVI.),
15 (XIX.), 65, 123 (1. XVIII.), 124, 127 (XV.), 128, 135,
143, 144, 162, 165, 166 (XVI.), 167, 168/9, 170 (XXVI. qui
nonduni'typis excusus prodiit), 173, 174 (XXVIII.), 175 (XVIII.),
175 (XX.), 176 (XIV.), 177 (fragm. XXVII.), 178, 179, 182.
Arrianus S. 2 (I. 3), 15 (VIII. Es giebt aber kein
achtes Buch nach der gegenwärtigen Eintheilung), 18.
Aristoteles S. 79.
Asinius Quadratus (apud Agathiain) S. 40.
Ausonius carrnen de Mosella, Narbo S. 12, 24, 33, 50,
111, 121, 144, 168, 172.
Bassus (poeta) S. 127.
Claudianus 1, 15 (ad Stiliconem), 18, 23, 34, 37, 38,
50, 51, 54, 64 (de Honorio), 68 (ad Honorinm), 73 (ad Stilic.),
74, 106 (in Rufin um; in laudem Manlii Theodori),' 121.
Cicero S. 98.
Diodor S. 49.
Dionysius (carmen de situ orbis) 127.
Eratosthenes 78.
Odoacer genere Rugus stand Jn dem Briefe, Rlicnatms hat die Emendation
danach S. 55 unterlassen.
336
Horawitz.
Eutropius 31, 33, 42, 45, 51, 70.
Florus S. 6, 16, 18, 22, 69.
Herodot 79, 121.
Josephus advers. App. 79, 180.
Julianus Cäsar in orat. h-'.cyj.v.ic 104, 183.
Julius Cäsar 6 (1. III.), 12, 14, 23 (II. 29), 24, 25, 36,
67, 78, 87 (I.), 111, 112 (I.), 120, 132 (I.), 134 (I. 27), 135,
144 (I.), 162.
Julius Capitolinus 27, 65, 67, 68, 70.
Justin us S. 22.
Livius 6, 21 (V.), 78 (V.).
Lucian S. 120.
Martianus Capelia 121.
Nazarius 31, 33, 42, 43, 49.
Orosius 22, 28, 37, 52.
Pacatus Panegyrista 54, ad Theodosium 72.
Paulus Aemilius 134.
Persius 81.
Plinius Caecilius 127.
Plinius (Naturalis-historia) 2, 15, 27 (IV. c. 12), 28, 52,
96, 99 (IV. B.), 110, 111 (1. XV. c. 25), 115, 134, 138.
Pomponius Mela 1, 22, 116, 119, 171, 175.'
Ptolemäus 12, 13, 24, 26, 29, 53, 56, 71, 78, 99, 119,
124, 125, 126, 132, 133, 147, 151, 163, 165, 167, 168, 169,
171, 176.
Sextus Ruffus 1, 16, 17, 19, 26.
Sidonius Apollinaris 51, 52, 53, 54 ad Lampridium,
Panegyricus in Aviti laudem 55, 57/58, Panegyr. ad Mamercum
Claudianum 58, 59, ad Felicem 60, ad Vincentium 60, Paneg.
Aviti 60, ep. ad Tonantium Ferreolum 61, ad Prosperum 61,
63, 64, 68, 70, 74, 75, Panegyr. Maiorani 100, 102, 104, 106,
108, 109, 127, 164.
Solinus 5, 15, 16, 19, 54.
Strabo 1, 12, 24 (1. IV.), 80, 125, 126 (VII.), 129, 149.
Suetonius 18, 173.
1 Wie sehr dieser Autor behebt war, zeigt u. A. der Brief des J. Cocleus
an B. Pirkheimer (Epistolica 327) und die Correspondenz Zwingli’s (vgl.
über Vadian).
Des Beatus Rhenanüs literarische Thätigkeit.
33?
C. Tacitus 1, 14, 15 (Hist. HI. 5), 21 (Hist. IY. 22,
73), 23 (Agricola 10), 25/6 (Hist. IV. 12), 26 (Ann. II. 63),
27 (Ann. XII. 29), 28, 35 (Ann. XIII. 55), 59, 68, 75, 76, 78,
80, 86 (Germ. 40), 87 (Germ. 8), 99, 101 (Germ. 17), 111
(Hist. IV. 64), 111 (Agricola), 114 (Germ. 2, 43), 114 (Ann. H.
62), 120 (Germ.), 122 (Ann. XII. 57), 125, 129, 130, 132, 133,
137, 138, 151, 169, 170, 171, 173 (Germ.), 174, 175,
177, 179.
Vellejus Paterculus 6, 16, 18, 22, 68, 71, 80, 109, 110,
125, 175.
Vergil 13 (Bucol.).
Vegetius de arte veterinaria 46, 55.
Vopiscus (V. Probi) 33, 40, 110, 120, 121, 174.
Ausserdem müssen noch genannt werden die Panegyriker:
Mamertinus ad Maximinianum 32 in Genethliaco ad
Maximianum 41, 42, 52, 59, 64.
Spartianus in Hadriano 150.
Der Panegyricus ad Constantium 29, 42, 120, 131.
Manlius Statianus 9, und
Trebellius Pollio 174.
Dazu kommen noch:
das Itinerar des Antonin 99, 128, 132j 134, 143, 144,
148, 163, 167, 169, 175, 176;
der über civitatum Gallicarum 147;
der Catalogus qua provinciae Galliae recensentur 131,
133, 138, 141, 142, 147, 159, 165;
Volumen de magistr.atibus Romanorum 54, 84, 142;
das über praefecturarum Romanarum 12, 15, 17, 18,
116, 128, 146, 174, 176, 177;
die cbarta Theodosiana 160;
die Charta Peutingeriana 36, 51, 175;
der über de insignibus Mag. Rom. 164, 171, 176;
libellus de provinciis 14;
über de palatinis officiis 167;
Epistola Senatus Rom. ad Treviros 171.
Ausser diesen gedruckten und geschriebenen Quellen der
alten Welt benutzte Rhenanus auch Inscriptionen und Aus
grabungen, wie er denn überhaupt der Archäologie sehr eifrig
Sitzb. d. phiL-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 22
338
H o r a w i t z.
zugethan war. Für die Res Germanicae benützte er an In
scriptionen :
Eine in Dacien kürzlich ausgegrabene, S. 69,
eine von Verona (apud diuum Florianum) S. 132.
Insc. Vilerii in Helvetiis 133,
„ Aventici 133,
„ Caietae 136,
„ Trajani in Dacien (45),
„ apud Vaiblingam 124,
„ lapidea apud Ettelingam 124,
„ „ „ Constantiam 128.
Tabulae lapideae et inscriptae zu Baden 130.
Epigramma saxo incisum zu Breisach 146.
Steintafeln bei Wolf dem Jüngeren 151, andere 174.
Münzen und gemmae signatoriae 136, 143, 160.
Ausser dem Bisherigen werden auch christliche Schrift
steller herbeigezogen, wie
,diuus‘ Hilarius l3.
Irenaus 13, 85 in libro I. aduersus haereses. 1
Leo Pontifex 13.
Plieronymus ad Gerontiam 6, 22, 165, 168, 55 (Vita
Ililarionis), 63, 86, 92, 112.
Prudentius 74.
t Rupertus Tuitiensis in comment. in sacr. literas 36, 174.
Petrus Langobardus, Parisiorum antistes 101.
Theodoritus Historia Tripartita 172.
An diese Kirchenväter scliliessen sich die mittelalterlichen
Quellenschriftsteller an; nämlich
Agathias S. 3, 52. 64, 85, 86/7, 101, 118.
Paulus Diaconus 6, 29, 51, 54, 55, 59, 178.
Liudprand homo Italus et in Germania quidem versatus
sed nescius linguae (144), 62, 138, 144 (IV. 26), Historia
Ottonis 192 (c. 14).
Chronicon Urspergense (Abbas qui ex variis autoribus
Chronica sua consarcinauit) 36, 65, 88.
Beda 13, 72, 74 (Ann. Anglorum) 75.
Ratlierius Veronensis 96.
1 Zu Irenaus macht Rlienanus die Bemerkung-: uetustissimus inter scriptores
Christianos, qui saltim extent, proximusque tempnribus Apostolorum.
Des Beatus Rhenanus literarische Tliätigkeit.
339
ßegino Prumiensis 44, 54, 138, 159.
Otto Frisingensis 84.
Annonius (Aimoin) 29.
Cassiodor 56, 83, 84.
Jornandes 29.
Gregor von Tours 29.
Die Briefe des Bonifacius 75, 81, 93.
Annales Francorum 56, 60, 88.
Annales Gallorum 95, Gallicorum annalium scrip-
tores 179.
Annales Bohemorum vernaculi 125.
Historiae Carausium 53.
Chron ica monasterii Senonensis 145.
,, monasterii Ebersheimensis 161.
Historiae mediae aetatis 77, 106.
Vita diui Florentii Scoti 162.
Monachorum diui Galli aliquot Vitae diuorum 128.
Vita diui Mauri 131.
Historia diuae Ursulae 142.
Gatalogus Mediomatric. episcop. 171.
„ Basiliensium epis. 142.
Gesta Langobardorum 71.
Maximus Planudes 127.
Suidas 81, 120.
Reichlich sind die Gesetzsammlungen benützt, sowohl die
kirchlichen, als die weltlichen. Ich fand:
Ansegis Sammlung 76, 78. 1
Legg. Franc. 75, 90, 142 uolumen legum Franc.
Legg. Langob. 109.
Codex vetustus de conciliis antiquis Galliarum92.
Legg. Aleman. 84.
Legg. Boiariorum 84.
D ecreta Gratiani auch Decreta Pontifieum (quae Gra
tianus consarcinauit) 117, 131, 166, 171.
1 In praefatione quadam de Meldensi synodo quae An. salutis DCCCXLY.
Charoli vero regis an. VI. celebrata est, sie legitur in Legibus Francoruin,
quas Ans. abbas conportauit. . . 78. Legis q&sdam regum Francicorum
in uuum uolumen collegit A. abbas in Gallia, quemadmodum addita
pi'äfatio deelarat. — Volumen legum franc. in uetustis bibliothecis exta
22*
340
Hofawitz.
Ausser diesen benützte er aucli noch:
Lexicon, quod Isidori titulo circumfertur 65, 74.
Calendarium uetus in bibl. Strassburg 164.
Calendarium peruetus, quod natales martyrum per
inenses iudicat 16. 1
Es bleibt noch übrig, die Urkunden zu nennen, die Rhe
nanus herangezogen, was sich darüber feststellen liess, folgt.
Es sind:
Urkunden der Schlettstädter Kirche diuae Fidei Virg. 152,
alte Urkunden fränkischer Könige, auch Karl des Grossen
65, 148, 159,
literae Basilicae martyrum Turegiensium 65,
diploma vetustissimum apud diuum Leodegarium Lucer-
natem 85,
diploma Ludwichi regis Francorum 119,
diploma Caroli Magni 122.
Ein Brief Rudolphs von Habsburg 153.
Auch der Tradition ist er gefolgt, wenigstens eine Stelle
kann dafür beigebracht werden, S. 139, quod senes indigenae
narrare solent, ita a majoribus suis edocti.
Von neueren Autoren citirt er:
Hermolaus Barbarus 112.
Lionardo Aretino 128.
Felix Hemmerlin in lib. de Thermis 130.
Guarinus Veronensis Strabonis interpres 126.
Stephanus Comment. in Homerum 16.
Dies der reiche, vielseitige, aus verschiedenen Richtungen
zusammenströmende Quellenstoff. Da fällt vor Allem auf, dass
Rhenanus — wie nach ihm Caspar Hedio (lateinische und
deutsche Chronik bis 1543) und Sleidan (Commentarii Carolo V.
1 Ausserdem begegnete ich noch den Bemerkungen: Episcopos Vindonissenses
in antiquis conciliis reperio S. 131, und in uetusto quodam
codice post deereta Lugdunensis synodi in eatalogo subscribentium
antistitmn. Auch eines weiteren Autors erwähnt er: Oudarius semila-
tinus autor, quem in Historia sua Paulus Aemilius inter priinos secutus
est. Unter Paulus Aemilius ist der Veroneser zu verstehen, der als Pariser
Kanonicus um 1529 starb. Mit der ,Historia“ ist dessen zuerst in Paris
erschienenes Werk de rebus gestis Francoruin usque ad a. 1110 gemeint,
das ihm den Namen des französischen Livius erwarb. Leges überhaupt
nennt er S. 87.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
341
Cäsare 1556 und de quatuor summis imperiis) 1 — den traditionellen
Martinas bei Seiten lässt und sich zu den reinsten und ältesten
Quellen wendet, was er selbst oft und ausdrücklich anempfiehlt.
Schon aus diesem Grunde darf bei Rhenanus nicht jener,
sonst keineswegs seltene Vorgang- angenommen werden, als ob
er die Namen der Quellen nur prunkend genannt hätte, ohne
sie benützt zu haben. Die genaueste Vergleichung hat mich
dahin geführt, dass ich überall die Worte des Quellenschrift
stellers selbst oder ihre Paraphrase gefunden. In vielen Fällen
war aber Rhenanus wie kein Anderer in der Lage, auch ferner
liegende Quellen zu benützen. So z. B. die Panegyriker, die
er selbst (vgl. oben) herausgegeben, oder die Scriptores
historiae Augustae, die lange vorher bei Froben in Basel
erschienen waren. Den Ammianus Marcellinus wiederum
hat er wohl nach dem Hirsfelder Codex benutzt, den der Abt
des Klosters dem Hieronymus Froben für die Ausgabe des
dem Rhenanus befreundeten Gelenius (erschien Basel 1533)
geliehen.' 2 Dergleichen war ja ganz hergebracht. 3 Der Anno
nius (Aimoinus) war unter dem Titel Aunonii mon. Ben. . . .
de regum Francorum origine gestisque usq. ad Phil.Aug. libri V.
stud. Parvi zu Paris typis Ascensianis 1514 in fol. erschienen.
Die alten Historiker lagen alle schon in italienischen, franzö
sischen und deutschen Drucken vor. Nothwendiger ist cs zu
fragen, woher ihm die mittelalterlichen zu Theil wurden. Die
Localchrohiken von Schlettstadt hat er offenbar in den ver
schiedenen Klöstern im Manuscript eingesehen, von den wich
tigsten Plistorikern des Mittelalters besass man bereits Drucke.
Von Agathias u. A. war seit 1516 die römische Ausgabe unter
dem Titel IIspl rqc Iouimvtavou ßauiAsiac mit der lateinischen
Uebersetzung des Christ. Persona verbreitet, seit 1519 eine
Augsburger mit unvollständiger Uebersotzung, 1531 erschien
ja die von Rhenanus selbst besorgte zu Basel. Den Paulus
Diaconus benutzte er nach der Augsburger Aussage der
Historia gentis Langobardorum von K. Peutinger 1515. Von
Beda Plistoria ecclesiastiea gentis Anglorum existirten mehrere
Strassburger Editionen aus dem Anfänge des XVI. Jahrhunderts
1 Hegel d. Städtechroniken VIII. 68.
2 cf. Eyssenhardt Amminanus Marcellinus. Praefatin I., VII., VIII.
3 Vgl. den Briefwechsel Peutinger’s mit seinen Freunden bei Veith Lotter.
342
II orawitz.
und eine zusammen mit des Eusebius ecclesiastica Historia.
Hagenau 1506. Regiuo war um 1521 durch Sebastian von
Rotenlian zu Mainz herausgegeben, den Otto von Freisingen
hatte Cuspinian um 1515 schon zu Strassburg edirt, Gregor
von Tours (Opera omnia) waren durch G. Paruus um 1522
zu Paris erschienen, den Ursperger publicirte Peutinger um
1515. Der Jordanis ward von Rhenanus selbst zum Drucke
vorbereitet, nachdem ihn Peutinger 1515 zu Augsburg hatte
erscheinen lassen. Ebenso war es mit dem Prokopius, den
Rhenanus ebenfalls um 1531 edirte. Unklar bleibt mir, woher
er Cassiodor’s Variarum libri nahm, da diese erst 1533 in
Augsburg erschienen, nachdem freilich das Chronicon breue
schon 1529 in den Chronicis Sicliard’s 1 zu Basel veröffentlicht
ward. Wie er Ratherius und Bonifaz’ Briefe benützen konnte
weiss ich nicht. Ueber die Liudprandbenützung bin ich auch
nicht recht ins Klare gekommen. Freilich war die Antapodosis
durch Paruus um 1514 in Paris herausgegeben worden, jedoch
in sehr schlechter Weise. Dagegen befand sich zu Freisingen
ein Codex, der auf fol. 1—85 den Liudprand und zwar auch
die Historia Ottonis, auf 86—198 den Regino enthielt, möglich,
dass Rhenanus bei seinen Forschungen in der Freisinger
Bibliothek, wo ihm ja auch der Otfrid aufstiess, auch diesen
Codex benützte. 2 Doch wie dem immer sei, wir haben
keinen Grund, an des Rhenanus Ehrlichkeit in der Quellen
benützung zu zweifeln, wenn dieselbe auch in sehr verschiedener
Weise vor sich ging, theils excerpirend, theils in der Weise
der Regesten das Wichtigste aus dem Quellenberichte zusammen-
1 Johann Sichard war ein Freund des Rhenanus, vgl. Res Germanicae 98.
Ueber die Art, wie sich die Freunde Handschriften mittheilten, mag die
folgende Stelle aus den Res Germ. Aufschluss gehen: Itaque uolumen
manu scriptum requiro, quod ex Laurisheimensi bibliotheca Joan. Sichardus
noster nuperrime attulerat.
2 Liesse sich in diesem, nun in München bewahrten Codex im Liudprand
der Mangel des Ungarnkampfes Heinrich I. nach weisen, dann wäre die
Benützung dieses Codex durch Rhenanus festgestellt. Ueber die Schick
sale dieser Handschrift vgl. Pertz in der Einleitung zur Ausgabe des
Liudprand.
Do.« Beatus Blionanus literarische Tliätigkeit.
343
fassend, theils auch paraphrasirend. 1 Nicht immer freilich
meinen wir heutzutage, dass die Wahl der Quellen, wie sie
Rhenanus vornahm, jetzt noch für die beste zu halten sei.
Wir werden die Wahl des Dichters Sidonius, des Rhetors
Paulus Diaconus (in der TTistoria Romana) und des Ethno
graphen Jordanis für die Völkerwanderungsgeschichte nicht
billigen können, wir werden Eutrop, Orosius, Ptolemäus, ja
selbst die Notitia dignitatum nur mit Misstrauen gebrauchen. 2
Doch was unsere fortgeschrittene Kritik heutzutage nur mit
scheelem Auge betrachtet, für jene Tage war es ein Fortschritt,
ein Fund, ein kostbarer Gewinn! Schon wir nun, welche
Quellen Rhenanus für die verschiedenen Partien seines Werkes
gebrauchte. Für die älteste Geschichte und die Geschichte
der römischen Provinzialverfassung sind es Agathias,
Ammianus Marcellinus, Arrian, Ausonius, Claudian, Florus,
Jul. Cäsar, Livius, Plinius (Natur, flistoria), Pomponius Mela,
Ptolemäus, Sextus Ruffus, Solinus, Strabo, Sueton, Tacitus,
Vellejus u. A. Für die Geschichte der Cimbern und Teu
tonen: Florus, Orosius, Justinus, Tacitus, Vellejus,• Hieronymus,
Claudian, J. Cäsar, für die Frankengeschichte: Ptolemäus, die
Panegyriker, Eutrop, Claudian, Ausonius, Vopiscus, Ammianus,
Tacitus. Dies als Beispiel für die Quellenbenützung bei der
älteren Geschichte. Bei der mittelalterlichen Geschichte ist
ein so reger Anschluss an die Quellen nicht zu erkennen,
glaubt man auch hie und da Regino, Liudprand oder dem
1 Z. B. Regino 6 b.
Longinns praefectus mittitur.
Cui inter caetera Sophia, quia
Eunuchus erat, hoc fertur man-
classe, quod ciun puellis in gy-
naetio lanarum faceret pensas
diuidere. Ad haec ille respondit
talem se ei telam orditurum
qualem ipsa dum uiueret deponere
non posset.
2 Vgl. z. B. Pallmann, der Sturz
deutschen Söldner. "Weimar 180-1.
das bei Wimpfeling und Irenicus
alte Geschichte herrscht, ist zvva:
er schwört auch nicht auf die rön
Rhenanus Res gerne 71.
Mittitur igitur Longiuus . . . .
Nec abstinuit ab intempestivo contu-
meliosoque joco Sophia Augusta li-
dens liominem quod exeetus esset,
mandat enim illi ut dornum redeat
et pensa puellarum in gyneceio dis-
penset, cui renunciari jussit Narses, . ..
talem se telam exorsurum, quam
ipsa finire nequiret.
des weströmischen Reiches durcli die
S. 5 und 26 ff. Das tiefe Misstrauen,
gegen die elassisclie Tradition für die
■ bei Rhenanus nicht vorhanden, aber
lisehen Scriptores.
344
Horawitz.
Ursperger zu begegnen, so sieht man bei näherer Vergleichung
stets, dass Rhenanus nur das Stoffliche entlehnt hat und dass
er auch hier sehr wählerisch zu Werke ging.
Eine besonders erfreuliche Eigenthümlichkeit des Rhenanus
ist die Angabe der Zeit, in welcher ein Quellenschriftsteller
gelebt hat, beim Namen desselben. Man möchte daraus die
Meinung gewinnen, dass er die Bedeutung dieser chronologischen
Bestimmung für die Glaubwürdigkeit des Berichterstatters hin
länglich gewürdigt. Aber auch sonst ist das Ergebniss der
Prüfung, wie er sich zu den Quellen gestellt, ein günstiges zu
nennen. Fragen wir uns: Ist Rhenanus seines Stoffes Herr
geworden? so müssen wir antworten: Gewiss, er gehört nicht
zu jenen, die durch den Stoff, den sie unverdrossenen Fleisses
herbeischleppten, gehemmt, Lastträgern gleichen, die unter
ihrer schweren Bürde seufzen, nicht recht weiter kommen und
die Last doch nicht wegwerfen wollen. Er verfügt dagegen
mit grosser Geschicklichkeit, mit souverainer Gewalt über sein
Material, das für ihn stets nur Mittel zum Zwecke, das für ihn
stets Material' bleibt. Sein Werkzeug — die Kritik aber weiss
er trefflich zu gebrauchen, unter ihm wird das Rohmaterial
zur schönen Form und fügt sich zum stattlichen Bau. Oder,
um ohne Bild zu sprechen: Rhenanus kennt die Quellen, hat
sie gründlich studirt, prüft ihre Glaubwürdigkeit, traut keiner
blindlings und unterzieht alle der Kritik. Er ist ohne alle
Voreingenommenheit, 1 die Erforschung des Alterthums, das
Finden der Wahrheit ist sein Ziel, 2 er ist auch in seinen Be
weisführungen der bescheidene Mann, der er im Privatverkehre
war, er stellt seine Hypothesen nicht als Dogmata hin, ich
kann es nicht verhehlen, sagt er da wohl, dass ich hier meine
Conjectur äussern werde. (S. 144.) Er ist durchaus nicht ver
trauensselig, ,ich glaube nicht allen Historikern', sagt er aus
drücklich (S. 147) und zeigt dies an vielen Stellen durch die
That. Er vergleicht z. B. die Glaubwürdigkeit zweier
Schriftsteller und weiss ihre Widersprüche geschickt auszu-
1 Nos hic ut in caeteris ingenue nostram opinionem aperuiraus in nullius
certe praeiuclicium. Liberum esto cuique sentire, quod libet 142.
2 Quandoquidem mag’is nobis animus est, antiquitatem excutere, quam
nova stilo persequi, dies ist überhaupt der Keim seines ganzen Wirkens.
Des Beatus Bhenanns literarische Tliätigkeit.
345
gleichen. 1 Da erscheint ihm z. B. Ptolemäus, als aus älteren
,tabellis' schöpfend, als Tacitus, viele Benennungen stimmen da
nicht, bald aber erklärt er dies aus der Namensänderung, die
der Grieche vornimmt. 2 Rhenanus contrölirt einen Quellen
schriftsteller durch den andern, so z. B., wenn er (S. 87) die an
gezogenen Stellen des Agathias mit Stellen aus Tacitus und
Cäsar vergleicht und durch dieselben belegt. Namentlich dem
Tacitus, ,der unter Vcspasian in Deutschland Kriegsdienste ge-
than (S. 79)', schenkt er grossen Glauben, 3 ihm schliesst er
sich auch öfter beinahe wörtlich an. 4 Er erfindet nichts, son
dern giebt nur, was er in den Quellen gefunden, aber auch
dies schreibt er nicht, wie ein sinnloser Compilator wörtlich
ab, sondern prüft den Wortlaut, und wo sein durch philolo
gische Kritik geschärfter Blick ein mendum, eine Sinnlosig
keit entdeckt, sucht er dem verderbten Texte durch eine Emcn-
1 Als Tacitus von den Dörfern der Germanen, Ptolemäus aber von ihren
Städten spricht, giebt Rhenanus dem Ersteren Recht (151), die damaligen
Städte, fügt er hinzu, werden wohl auch nicht anders ausgesehen haben,
als Unsere Dörfer.
2 Dasselbe nimmt er auch von Strabo (126) an, der als Grieche den deut
schen Ausdruck verdorben haben werde.
3 In der Dedication vor seiner Tacitus-Ausgabe nennt er diesen Schriftsteller
denjenigen römischen Autor, welcher der fleissigsten Lectüre würdig sei,
da er nicht wie Livius u. A. nur eine fortlaufende Kriegsgeschichte ge
schrieben, sondern auch die nützlichsten Dinge in die Erzählung ein
streute, die sich bei anderen entweder gar nicht, oder allzu kurz behandelt
finden. Freilich mit dem Style, der bald affectirt oder manirirt geworden,
ist er nicht immer zufrieden, dey, sagt er, kommt dem des Livius nicht
gleich, doch bewunderungswürdig erscheint auch - ihm die ausserordent
liche Kunst der Schilderung, durch die er auf Geist und Gemütli des
Lesers einwirkt.
4 Nur einen Vergleich:
Tacitus Germania 11.
de minoribus rebus principes
consultant. De m aj o r ibu s omnes,
ita tarnen, ut ea quoque quorum
penes plebem arbitrium est,
apud principes pertractentur.
Beatus Rhenanus c. 3.
de majoribus rebus principes con-
sultabant de minoribus omnes, sic
tarnen ut apud principes consilia re-
traetarentur.
Horawitz.
346
clation aufzuhelfen. 1 So räumt er scharfsinnig viele Hinder
nisse des richtigen Verständnisses weg, eine Arbeit, auf die
ich noch zurückkomme. Als besonderer Vorzug seiner Quellen
abhandlung' ward schon früher die Angabe der Zeit genannt,
iu der ein Schriftsteller lebte; den Sidonius Apollinaris hält
er ebendesshalb so hoch und für so glaubwürdig, weil er den
Zeiten und der Persönlichkeiten, über die er schrieb, so nahe
stand, dass er oft nicht blos als Ohrenzeuge, sondern auch als
Augenzeuge berichtet. (S. 62.) Dem Abte von Ursperg traut
er dagegen weniger, er ist ihm ein Compilator. (S. 65.) Ein
vortrefflicher Beweis für die Schärfe seiner Kritik ist die Ori
ginalität, mit der er ganz verschieden von seinen Vorgängern
die lateinische Bearbeitung des Josephus Flavius wegen ihrer
Sinnlosigkeit verwirft und sich ein griechisches Exemplar —
von Johannes von Lasco — verschafft. Dadurch gewinnt er
nun wieder ganz originell die Bestätigung seiner Ueberzeugung,
dass der um 1498 zu Venedig erschienene, sogenannte Berosus
oder Manetho ein falsches, unterschobenes Buch sei, dessen
Bestandtheilc er an einem anderen Orte darlegt. Wie frei und
unbeirrt ist hier sein Blick, er durchschaut das Machwerk, das
die Zeitgenossen naiv und unbedenklich ausschrieben. Aus
den Fragmenten des echten Berosus, die Plinius und Josephus
anführen, hat der Fälscher — so sagt Rhenanus — seine
Träume zusammengeflickt (assuit), wenn er nicht gar das ganze
unter fremdem Namen laufende Buch verfertigt hat. Hier nun
wendet sich Rhenanus in eifriger Kritik auch gegen den Inter
preten des Buches, den Anilins, und bestreitet dessen Ansicht,
der Name Ludwig — der ja doch durch die Franken ins Land
gekommen — sei schon bei den Kelten zu finden. (S. 180.)
Aber freilich, fährt er fort, wird sich Niemand über dergleichen
Fictionen wundern, welcher weiss, dass man bei ihm lesen
kann, zu welcher Zeit Ascanius die Latiner beherrschte und
dass Francus der Sohn des Hektor, der Fürst der Kelten ge
wesen sei. Wer hat denn aber von diesem Francus jemals in
einem Schriftsteller irgend etwas gelesen ? Es ist die Erfindung
eines Betrügers! Die Forscher aber mögen wissen, dass das,
1 Vgl. Dedicatiori d 2 b. Vide quantus labor, sagt er dann wohl einmal,
sit, ex tarn deprauatis autorum loeis antiquitatem einere et quanto faeilius
sit, haec ridere quam praestare.
Dos Beatns Ehenanus literarische Thätigkeit.
347
was er für seinen Berosus aus dem Diodor oder aus anderen
alten Schriftstellern genommen hat, gebilligt werden kann, in
dem aber, was sich auf Spanien, Gallien und Germanien be
zieht, werden meist nur unverschämte Fabeln erzählt. Denn
nach dem Urtheile des Josephus (adv. App.) wussten nicht
einmal die Griechen von jenen Gegenden etwas, viel weniger
also die Chaldäer und Aegypter. — Ebenso scharf und gründ
lich kritisirt Rhenanus das Unwesen, die Namen der Städte
aus erfundenen Königsnamen zu erklären, wie z. B. jener
asinus Cumanus — es ist wohl Nikephoros gemeint — den
Namen Bononia auf einen König Bon zurückführt. Freilich,
wollte man es so wie Berosus machen, dann könne man leicht
alle möglichen Ableitungen erfinden. Uebrigens liegt der Ur
sprung der Königsreihe bei Berosus auf der Hand. Sie ist
aus Diodor und Tacitus durch Verstümmlungen und Verdrehun
gen zusammenges'chweiss't, aus dem Hercules machte Berosus
einen Alemannen, aus dem Tuisco einen König der Sarmaten
(180.) Darin zeigt sich schon der Betrug, dass jene Namen
die Erzählungen gewissermassen schminken sollten, um ihnen
den Anschein des Alters zu geben. (181.) — Doch giebt es
allerdings ein Geschlecht, das dergleichen wie Orakel nachbete.
Und dieses Geschlecht findet Rhenanus in den — Klöstern.
Der alte Humanistengeist regt sich da wieder in ihm, er richtet
sich diesmal gegen das, was ihm und Erasmus das Aerger-
lichste an den Mönchen war, er richtet sich gegen die Un
wissenheit und Kritiklosigkeit der Letzteren. Die Jahrbücher
des Mittelalters — meint er — meist von Mönchen geschrie
ben, bringen nicht weniger läppisches Zeug vor, als der Pöbel
selbst, aus dem ja das Meiste von dem geschöpft wurde, was
die Ankömmlinge durch Ankömmlinge unterrichtet in die Ge
schichtsbücher eintrugen. Rhenanus meint damit die irischen
und schottischen Mönche. Auch bei Gelegenheit der Besprechung
einer Klosterchronik (der von Ebersheim), meint er: Bisweilen
ist wohl wenig Verlass auf Klosterchroniken, in denen Wahr
heit und Fabel so verflochten sind, dass man kaum wahrneh
men kann, was man glauben soll. Und als er von der Vita
Florentii spricht, ruft er aus: Der gute Pater, welcher diese
Vita schrieb, folgte unkundig des Alterthums, wie es die Zeiten
mit sich brachten, jenen Träumereien und tischte eine saubere
348
Horawitz.
Interpretation von Troia auf (obwohl Tronia gemeint ist), weil
er sich erinnerte, in Fabelgeschichten (fabulosis historiis) ge
lesen zu haben, dass die Franken von den Trojanern abstam
men. (S. 169.) 0 somnia monachorum! ruft er da aus — und
einer gewissen Gattung von Geschichtsklitterern des Mittel
alters gegenüber kann man ihm das Recht zu jener Bezeich
nung wohl nicht bestreiten. Ob er aber dabei nicht auch an
des Trithemius Hunnibaldträume und seine Frankengeschichte 1
gedacht?! Jedenfalls war ein Mann, der so scharf und schnei
dig die Kritik auszuüben verstand, der sich mit so viel Muth
dem herrschenden Glauben und dem bequemen Schlendrian
des Bücherzusammenstoppelns widersetzte, wohl befugt, mit
selbstbewusster Ironie auf das compilirende und fabeldichtende
vulgus historicorum herabzublicken (124), den Forschern aber
den Rath zu geben, zum Alterthum selbst und damit zu den
ersten und lautersten Quellen sich zu wenden und diese zu
erforschen, so weit es nur möglich (160). — So viel von des
Rhenanus Kritik im Allgemeinen; sie erstreckt sich aber auch
auf die Besonderheiten und zeigt sich meist als bedächtig,
vorsichtig und erfolgreich. Ich kann es nicht unterlassen,
dafür einige Beispiele zu bringen: S. 2 erkennt er genau die
ungermanischen Völker, die Bojer, Helvetier, Sclavinnen oder
Vinider, S. 20 sehr gut den Unterschied zwischen den Pro-
vincialen der Donauprovinzen und den Germanen, und S. 28
den zwischen den Vandalen und Winden, er weiss sehr wohl,
dass die Cimbern und Teutonen keine gallischen Völkerschaften
sind. 2 Eine ganz treffliche und charakteristische Stelle ist die,
in der er über den Ursprung der Franken spricht, ,nichts
werde ich hier melden als das, was ich durch glaubwürdige
1 cf. Herman Müller, die Quellen, die Trithemius für die Hirschauer An
nalen gebraucht. 1871. Dazu die Besprechung von Ru 1 and in dem Bonner
theolog. Literaturblatt 1871. Nr. 21 und meine Entgegnung in der Zeit
schrift f. d. österr. Gymnasien 1872. II. Heft. 175.
2 Er legt denn auch den Missverstand der Stelle des Orosius: ,Cimbri et
Teutoni, Tigurini et Ambrones Gallorum gentes, bloss, indem er sagt: sic
distinguenda uerba sunt, ut Tigurinos et Ambrones tan tum Gallicas
fuisse nationes intelligamus, quae sint a Cimbris in commilitium ascitae.
Dass jene Stelle des Orosius ebenfalls Irriges enthält, zeigt Zeuss a. a.
O. 148, der die Ambronen als Germanen reclamirt und einzig die Tigu-
riner als Gallier annimmt.
t)es Beatus Rhonanus literarische Thätigkeit.
349
Zeugnisse von Gewährsmännern beweisen kann. Denn ich
werde nicht den Hunibalden und ähnlichen Schriftstellern folgen,
deren Träume das Eitelste sind/ — Und er kann sich über die
Frechheit Jener nicht genug wundern, die, so oft von dem Ur
sprünge eines Volkes so wenig bekannt ist, sich sogleich zu
den Fabeln flüchten, in diesem Stücke die Römer und andere
Völker nachahmend. Daher kommt es, wenn man die
Franken aus Troja herleitet und uns über ihre oft geänderten
Sitze und über die Errichtung von Sicambrien den reinen Un
sinn vordichtet. Kein Wunder freilich, wenn die Mönche in
ungebildeten Zeiten solches zu erfinden gewagt, denn zweifellos
gab es damals ausser ihnen Niemand, der die Wissenschaft
kannte. Darüber aber wundert sich Rhenanus, dass jener
nicht ungelehrte Bischof Gregor von Tours, dass Annoniüs
(Aimoin) und die Uebrigen, welche fränkische Geschichte ge
schrieben, dieselben Fabeln hochhielten; Leute, die doch Alles
von den Galliern, unter denen sie lebten, aus der Tradition
ihrer Väter hätten erfahren können. Aber dies war das Un
glück jener Zeiten, dass sie dunkel die Geschichte überliefer
ten. Wer den Jornandes, der über die Gothen schrieb, den
Paulus Diaconus und den Luitprand über die Langobarden
liest, wh'd darauf schwören, dass sie Fabeln erzählen. So
wenig erklären sie, woher ihre Völker stammen und welche
Wohnsitze sie einst besessen hätten. Desto mehr müssen wir
uns Mühe geben, dass wir die Wissbegiex-igen hierin unter
stützen und zugleich zum Erforschen von Anderem anspomen.
— Sehen wir ihn hier bei einer schai'fen Kritik der mittel-
alterlichen Ueberlieferung, so lässt er es auch nicht daran
fehlen, die Ursachen der fabelhaften Erzählungen, welche
neuere Geschichtsschreiber Vorbringen, anzugeben. Betrug
und jenes Mittelding zwischen Dichtung und Geschichte, das
von den halbgelehrten Poetastern früherer Zeit in Verse ge
bracht ward, tragen hier die meiste Schuld. 1 Besonders scharf
1 S. 29. 33. Haec autem Francornm in hos tractus demigratio quibusdam
ineruditis impostoribns ansam dedit, ut de Sicambria nescio qna constracta
ampullosas nugas comminiscerentur. Nec me fugit a veternm Sicambrornm
sedibus, quibus sattem proximi fuere Franci, ipsos etiam nomen meruisse,
quod iltis non inelegantei reperio tributum a semidoctis illius aeri poe-
tastris, qnorum versieulos historiographi recentes citant.
350
Horawitz.
geht er stets dem falschen Berosus und dessen Interpreten,
dem Annius an den Leib. Der Alleralbernste aber, sagt er
u. A., ist Annius, des fabulosen Berosus fabuloserer Ausleger,
denn so oft jener — wie das Sprichwort sagt — den Bock
melkt, hält dieser das Sieb unter. Ich leugne es trotzdem
nicht, dass der Fälscher des Berosus gelehrt gewesen sein
müsse, denn er mischte so, dass nicht Jeder gleich die Sache
merkt. Jener las beim Tacitus, die Germanen sagen, Hercules
sei bei ihnen gewesen, da ihm nun zufällig ein Königsname
abgeht, so schreibt er, bei den Tuisconen regiert Hercules
Alemannus, und macht diesen zum Sohn des Teuto. In köst
licher Weise macht er dann die Ableitung des Wortes Ale
mannen, wie sie Annius mit Hülfe der — Talmudisten heraus
presst, lächerlich und fügt seine eigene Erklärung bei. 1 Auf’s
Genaueste vergleicht er, wo er kann, den gedruckten Text mit
dem Wortlaute des Manuscripts und lässt sich durch Abände
rungen eines Halbwissers (sciolus) nicht irremachen. 2 So zahl
reich aber findet er die fabelhaften Völkerableitungen, wie sie in
ihren Annalen vorliegen, dass er keinem Autor mehr Glauben
schenkt, als dem, der Zeugnisse herbeibringt. (S. 68.) Er tadelt
denn auch scharf die Vertrauensseligkeit derer, die den Griechen,
dem Diodor, Herodot, Aristoteles und den übrigen Historikern
ohne Weitei'es folgen, wenn diese den Namen der Celten für
Gallier und Germanen gebrauchen. Er verwehrt sich dagegen,
die senonischen Gallier für Germanen zu halten (79) und ver
weist auf Tacitus, der dem Irrthume jener (Germania 43) hin
länglich entgegentritt, die da glauben, Gallier und Germanen
1 Annius nugis nugas cumulans Hebraicam etymologiain, si diis placet,
affert ex Talmutistarum arcanis literis . . . enim alueum significare et
Mannum esse Rlienum. proinde dictos Alemannos, quod ad Rlienum ha-
bitent. O somnia! Novum est Alemannorum nomen et multo recentius
quam Gennanorum. Rhenanus glaubt, die Völker selbst hätten sich ihre
Namen erfunden und zwar so, dass sie recht furchtbar klingen und giebt
dafür Analogien aus seiner Zeit, z. B. den Namen der schwarzen Teufels
rotte. (41.)
2 Porro Claudianus Salii nomine Francum intelligit, quanquam sciolus quis-
piam ausus est pro Salius substituere Sueuus quemadmoduin in excusis
codicibus legitur. Sed nos manu scripti uoluminis fidem sequimur non
hfc tantum. (S. 34.)
Des Beatus Rhenanus literarische Tliätigkeit.
351
hätten eine und dieselbe Sprache gehabt. 1 Wenn er S. 98 die
Schilderung durch den Excurs unterbricht, ob Cicero wirklich
Francones erwähnt, so hat er dabei Gelegenheit, seine Kritik
und sein Vorgehen bei Untersuchungen zu zeigen. Das ist
nun ein schöner Beweis für die Gründlichkeit und Umsicht
seines Vorganges, der sich nicht auf den gedruckten Text be
schränkt. Sondern durch die räthselhaften und abstrusen
Ausdrücke stutzig gemacht, greift er auf eine Handschrift zu
rück und ruht nicht früher, als bis er in den verderbten Text
durch Vergleichung mit dem Vorhergehenden einen besseren
Sinn gebracht. 1 Ueberhaupt zeigt er sich den Handschriften
gegenüber sehr bedächtig und genau, er notirt ängstlich was
im Manuscript steht, wenn er auch nicht damit übereinstimmt,
freilich unterlässt er es nicht, seine Verbesserungsvorschläge
bis ins kleinste Detail vorzubringen. 3 Noch wären zahlreiche
1 Vgl. auch S. 80 und 85. Bei den durch die Franken eingesetzten Cent-
graven bemerkt er: quae de Centenariis apud Germanos scribit Tacitus,
non sunt huc trahenda. S. 86 sagt er von Agathias: nihil autem nouit.
is autor ut homo Graecus de conflictu Tolbiacensi. S. 88 verbessert, er
die Verwechslung des Abtes von Ursperg, der den Theodorich den Ost
gothenkönig und den Theodorich den Bruder Childebert’s identificirt.
S. 90 erkennt er die höhere Bedeutung des Franken aus dem höheren
Wehrgelde desselben und der niederen Strafe.
2 Apud M. Ciceronem epistolarum libro XIIII. quas ad Pomponium Atticum
scripsit abstrusis sensis et aenigmatis plenas, in aeditione uulgata sic
legitur: Redeo ad Theobassos, Sueitos, Francones Equidem mihi
perpensis Tullii uerhis quum uiderem cum de Germanis agere, qui in
Galliam ante Julii Ciisaris aduentum transiissent, suspitio nasci coepit,
totum locum esse deprauatum. Quis enim Theobassoram nomen unquam
aut audiuit aut legit? Et quid Sueui in Gallia facient adeo procul a
Rheno dissiti? Itaque uolumen manuscriptum requiro quod ex Lauris-
heimensi bibliotheca Joan. Sichardus noster nuperrime attulerat. In eo
mera portenta uerborum scripta reperi in linnc raodum Redeo adtebassos
scacuas Frangones. Coepi demde literarum ductus scrupulosius rimari,
deprehendique germanuui Ciceronis lectionem lianc esse: Redeo ad Beta-
sios, Atuas, Vangiones .... Jam ut melius Ciceronis mens intelligatur,
operae precium est ascrihere uerba, quae praecedunt.
3 Bei nulli inferius nobilitate schreibt er hinzu: hic leue erratum est, sed
tarnen de hoc lectorem admonere uoluimus, ut totum caput per purgatum
liabeat. Ich erwähne hierbei noch einiger Ausführungen des Rhenanus.
S. 125 z. B. nennt er die Geschichte von der Libussa eine Fabel. S. 126
nimmt er von Strabo an, dass er selbst die Lesart verdorben, im Codex
352
tlorawitz.
Beweise für die Gründlichkeit und den Scharfsinn des Rhe
nanus beizubringen, doch mag- es bei den aufgeführten bleiben,
nur jene treffende Bemerkung über die Bestimmung des Alters
der Städte, die er S. 150 macht, mag noch folgen. Man solle,
meint er dort, den Städten, bei denen sich keine römischen
Inschriften und Ueberreste von alten Gebäuden finden, deshalb
doch nicht ihr Alter absprechen; dergleichen sei ja im Laufe
der Zeiten völlig untergegangen. Damals sei auch nicht soviel
gebaut worden. Sonst sähe man andere Ruinen, wenn solche
Häuser bestünden, wie sie jetzt der Luxus z. B. in Basel,
Bern und Freiburg erbaute. Wer hätte auch damals sein Geld
auf Gebäude verwenden mögen, da stets Einfälle zu befürchten
waren, selbst Chlodovech habe ja damals zu Strassburg nur
eine hölzerne Kirche gebaut. Doch genug davon, betrachten
wir einen andern Vorzug des Rhenanus, den er ebenfalls aus
der philologischen Schule herübergebracht — nämlich seine
Conjecturen und Textverbesserungen. Freilich nicht,
als ob er überall das Richtige getroffen, im Gegentheil, er hat
sehr oft über das Ziel hinausgeschossen, aber der Eifer, die
Lebendigkeit und Rastlosigkeit, mit der er in die oft grässlich
corrupten Texte Sinn zu bringen bestrebt ist, wirkt höchst an
regend und verdient alle Anerkennung. Die Conjecturen und
Emendationen sind ausserordentlich zahlreich, er emendirt die
Alten und die mittelalterlichen Chronisten, den Ammian Mar
cellinus, das Itinerar des Antonin, Plinius den ältern, Julius
.Cäsar, Ptolemäus und Sidonius Apollinaris gerade so, wie den
Agathias und den Ursperger Abt. 1 Und seine Abänderungen
und Purgationes zeugen nicht blos von philologischer Tüchtig
keit, Kenntniss der Handschriften und überraschender Geistes
gewandtheit, sondern auch von einer scharfen und vorsichtigen
Asulanicus 1 , sagt er, ,steht ßovidajrov statt ßoußtEp&v, wofür Guarinus Bu-
biemum schreibt. Vielleicht, meint aber Ehenanus, war doch ß&viVp.ov
zu lesen. Sed fieri potest, ut ipse Strabo Gennanicam dictionem sic
corruperit, ut sunt in peregrinis etiam in Latinis incuriosiores Graeci . . .
Er fordert auch Andere zur Kritik auf, z. B. S. 129. Monendum id
duxi, quod certius investigari locus queat.
1 Johannes Sturm giebt in der zweiten Auflage der Res Germanicae von
der Dedication des Ehenanus die loci ex auctoribus an, a Rhenano uel
expositi melius, uel a mendis repurgati, atque in integrum restituti.
Des Beatus Rhenanns literarische Thätigkeit.
353
Kritik. Die Stelle z. B. beim Ammian (S. 52) ubi terminales
lapides Rom. et Burgund, confmia . . . emendirt er so: ubi
terminales lapides Alemannorum et Burgundiorum confinia und
fügt hinzu: Quid hic faciunt lapides Romanorum, quum Ale
mannia prouincia non fuerit. In vielen Fällen ist die gegen
wärtige Texteskritik weit über ihn hinausgeschritten, Vieles
von seinen Funden und Entdeckungen blieb doch bestehen. 1
1 Um von den Conjecturen des Ehenanus einen Begriff zu gehen,-lasse ich
einige Beispiele folgen. Mit Unrecht liest Rhenanus (S. 13) bei Ammian
XV. 11. 17 statt fluentem suum.et nomen adsciscit ... in fluentum aut
suum ei nomen adsc.; passend dagegen Tacitus III. 5 statt Rheni (S. 15)
Reni (rig. Aeni), S. 23 Cäsar II, 29 statt Catuaci: Aduatici, S. 30 beim
Panegyristes Constant. statt meatibus eallidis: meatibus Sealdis, S. 45
bei Ammian (XVII. 1) statt Moenum: Rlienum. S. 53 bei Apollinaris
statt Talibus aligunt: Talibus se ligant. 68 bei Julius Capitolinus Mar-
comanni Varistae; Rhenanus liest: M. Narisci, statt Et Burei, hi aliique
cum Vietuali Sosibes: Et Buri, Taiphalique cum Victophalis. S. 75 Ta
citus I. 67: Heluetii Gallica gens soli in armis virisque liest Rhenanus
H. G. g. olim armis v. (So lesen auch die Neueren.) 104 Sidonius
additurque uultus, Rhenanus: abditurque uultus. 121 Cäsar: de cacu-
mine montis ad novem, liest Rhenanus: d. c. m. Abnobae, nam librarii
uitiüm est. Vorzüglich dem Plinius und dem Ammianus Marcellinus
wendet er sein Emendationstalent zu. Sein drittes Buch beginnt er mit
der Emendation des 14. Capitel des IV. Buches der Naturalis Historia
(bei Janus ist es das 28.), am Ende des Werkes fügt er in dem Briefe
an Puchaimer einen Excurs über die Lesarten des Plinius an. Ganz gut
wehrt er sich da (113/4) gegen Sinnlosigkeiten. Quid hic faciunt Vinde-
lici ruft er z. B. aus, qui Prouinciales fuere subjecti Romanis, nam Rlietia II
inhabitarunt. Scribendum Vandili. Nam Cornelius Tacitus inter Germa-
nicae gentis appellationes et uera ac antiqua nomina Vandalios sine
Vandilos recenset. Ilinc apparet illorum foeda hallucinatio Vandalos
nobis ex Vinidis hoc est Germanos ex Sclauinis Scythis facientium. 1ta
quibusdam non labor, non animus deest, sed judicium. Es
ist nicht uninteressant, einen Vergleich zwischen der Hirschfelder Hand
schrift des Ammianus Marcellinus, den Rhenanus in Bezug auf den Text
autorem corruptissimum nennt, zwischen den Abänderungsvorschlägen
des Rhenanus und den Lesarten der neuesten Ausgabe des Ammian (von
Eyssenhardt) anzustellen.
Codex Hirschfel-
densis:
XVI. 12. Dum haec
rex Chnodomarius re-
perta copia discedendi
lapsus per funerum
Lesart des Rhena
nns :
S. 102. prodigiose cor-
ruptis verbis apud Mar-
celUnum. Istam Marcel-
lini periodum ego sic
Sitzb. d. phil.-hist. 01. LXXII. Bd. I. Hft.
Ausgahevon Eyssen
hardt:
D. h. aguntur r. Ch.
r. c. d. 1. p. f. s. c. s.
p. c. r. p. ad castra quae
p Tribun cos et C. m.
23
354
Horawitz.
Dabei ist die Frische und ; Lebendigkeit, mit der er seine
Untersuchungen fortführt, für den Leser geradezu fesselnd, 1
er reisst ihn mit sich fort und lässt seinen Antheil an dem
behandelten Gegenstände nicht erkalten, er zwingt ihn, die
Geistesarbeit mitzumachen. Weniger kann eine andere Eigen-
struens cum satelliti-
bus paucis cleritate
rapida properabat ad
eastra quae prope Tri-
boccos et Concordiam
munimenta Roinana
fixit intrepidus, ut ac-
censis navigiis dndum
paratis ad Casus anci-
pites in secretis seees-
sibus emendaret. Et
quia non nisi Rheno
transito ad tentoria
sua poterat peruenire
multuni, ne agnoscere-
tur operiens sensim
retulit pedem.
lego distinguoque: D. li.
gernntur r. Ch. r. c. d.
1. p. f. st. e. s. p. c. r.
p. castraque prope T. et
C. m. R. f., i. u. ascen-
sis n. d. p. a. c. a. i.
s. snccessibus euade
ret. E. q. n. n. Rh. t.
a. territoria s. p. per
uenire, u. n. a. o. s. r. p.
Aleman., explere, prae-
clara oportunitate, ex-
strncta, isdem, praeter
ambit, obstinatis, illnm,
Barbari, discurrentes, ri-
parnm, erumpendi copia,
commentato, postremo
. . . dedidernnt, aliquot
eximendo periculo, quum
. . . ad sua eastra.
R. f. in Triboceis ut
escensis n. d. p. a. c.
a. i. s. se secessibus
amendaret et q. n. n.
Rh. t. ad territoria s.
p. peruenire u. n. a. o.
s. r. p.
Alam., expleri, präda-
rnmopimitate, exinanita,
i isdem, praeterlambit,
destinatis, inluni, bar-
bari, discurrere, pruina-
rum, erumpendnni quo-
piam, comento, postrema
. . . dederunt, ad quos
eximendos, cum . . .
eastra fehlt.
1 Voll Selbstbewusstsein schreibt er bei Gelegenheit der Emendationsver-
suclie beim Plinius: Nam arbitror rnultis jam seculis a nullo morta-
lium ibidem uerba Plinii intellecta, quae tarnen ab Omnibus scriptoribus
tum ueteribus tum novis nnsquam non inculeautur. In causa est, qnod
illic sunt vocabnla, quae Germanice lingua requirant, Itaque non miror
liaee a nullo exterorum deprehensa. Alia autem sunt errata, quae miror
castigatores omnes fefelisse. Er macht sodann auf die häufige Verwechs
lung des ui und in durch die Abschreiber aufmerksam und fährt, nach
dem er die Stelle des Plinius mitgetheilt, eifrig fort: Quid hic nobis de-
lirat Plinius Cimbros, Isteuonibus annumerans, quos ante Yigeuones esse
dixit? Hane ob causam omnes legunt Cimbri mediterranei, de quibus
suaue est legere varias autorum recentium conjecturas, quo loco po-
nendi sint nescientium . . . Ingens hic mendum est et locus pessime
deprauatus. Tn sic castiga: Quorum pars Sicambri. Et colon adde, nam
hic sententiae finis est. Nachdem er noch einige nicht immer glückliche
Emendationen vorgeschlagen, sagt er: Porro uidere facile est, quantus
labor sit emendare Plinium et quam res necessaria, ut pessime de literis
mereantur, qui hoc agenteis non solum lident, sed etiam conviciis
proscindunt.
Des Beatus Rlienanus literarische Thätigkeit.
355
thümlichkeit des Historikers dem heutigen Leser imponiren,
es ist dies das dem Rhenanus wie so vielen seiner Zeit
genossen liebgewordene Etymologisiren. Mit grossem Ernste
werden die allerunmöglichsten Ableitungen vorgetragen, Er
klärungsversuche, über die der Kenner der Sprache heutzutage
nur lächeln kann. Doch darf diese unglückliche Passion mit
ihren mangelhaften und meist völlig grundlosen Ergebnissen
dem Rhenanus nicht allein in die Schuhe geschoben werden,
sie ist den meisten Gelehrten jener Zeit eigen, in ihr ersah
man so recht eigentlich den Gipfel der Gelehrsamkeit. Es
schien für jene Männer in den unerklärlichsten Namen gerade
ein eigentümlicher Reiz zu liegen, sie suchten den Schlüssel
zu finden und strebten danach, das Geheimniss der Ableitung
der Namen zu erklären. Da entstanden denn wahre „portenta“
des Etymologisirens. Die grosse Unkenntniss in der ableiten
den Sprachwissenschaft, wie sie der Gelehrsamkeit jener Zeit
anhaftet, erklärt zur Genüge die Misserfolge jenes Dilettantis
mus. Nur einige Beispiele, wohin die Manie des Etymologi
sirens einen Gelehrten und klaren Kopf wie Rhenanus geführt!
Den Namen Germani übersetzt er mit viriles und stellt ihn
mit Gerhard-durum und Gerbrecht-celeber zusammen, Seligen
stadt leitet er von den salischen Franken ah (S. 34), Odoaker
von der Verwüstung der Aecker, a populandis agris (70), die
Schweizer (Suiteri) von Vitae, einem Sachsenstamme (76), 1
Schweinfurt und Ochsenfurt von den Sueven und Fosen
(S. 124), Maguncia erklärt er (S. 169) als von Magum do-
mus et Cia fluviolus herkommend, Kaufbeuern von campis
Cauinis (128) u. s. w. 2 Besonders schlimm geht es ihm hei
seinen gutgemeinten Studien über deutsche Personennamen,
nur einige seiner ganz falschen Deutungen seien genannt.
Pharamund leitet er ,a veritate oris*, Grimoald ,a seua
potestate', Romuald ,a plausibili', Berthrada ,a precioso the-
1 S. literam adjecit amans sibili lingua uulgaris. Er beruft sieb dabei
auch auf die Volkssage der Schweizer, die auf den Wohnsitz der Viten
hinweist.
2 Man vgl. noch die Erklärungen (115) Ingaeuones = Vigeuones, Istaeuones
= Usserstenuuones, Henniones = Hemuuones (von Her = terra).
Mäh ly giebt a. a. O. eine weitere interessante Zusammenstellung von
dergleichen Etymologien.
23*
356
Horawitz.
saure/ u. w. s. (S. 178) Her. Bei den meisten Ableitungen
spannt er die Worte auf ein Prokustesbett, und zieht gewöhn
lich die Sitte des gemeinen Volkes zur Erklärung heran, fremde
Benennungen sich mundgerecht zu machen und durch Quetschen
(torquere) so weit zu bringen, dass sie doch etwas ihm Ver
ständliches zu bedeuten scheinen. 1 Damit hat er — freilich
unwissentlich — seine eigene Methode charakterisirt. So reich
lichen Stoff Bhenanus auch gebracht, so klare und einschneidende
Kritik er geübt, Menge und Art des vorhandenen Quellenstoffes,
sowie Methode und Stand der Forschung in jenen Tagen Hessen
— wie natürlich — auch viele Fehler unterlaufen, Mannigfaches
hat ihm schon der grosse Forscher über elsässisches Alterthum,
hat ihm Schöpflin (in der Alsatia illustrata) nachgewiesen
und getadelt. Fredgar, meint er z. B. (I. 34), hätte Bhenanus
benützen sollen, dann hätte er wohl eine andere Erklärung
von Alsatia abgegeben. Auch gegen misslungene Etymologien 2
(wie Kaurici = Vrigavia und Tigurini = Urii) wendet er
sich und zwar mit der Bemerkung (S. 40), man müsse sich
hüten, Alles aus dem Deutschen herzuleiten, was aus dem
Celtischen allein zu erklären sei, und tadelt den Rhenanus
(S. 94), dass er alle celtischen Kamen aus dem Germanischen
ableiten wolle. Er weist auch nach (S. 60 u. 61), wie Rhe
nanus durch seine Verbesserungsvorschläge selbst in arge
Fehler gerieth, so z. B. bei Cäsar I. 51, wo er statt Sedusios
Sebusios lese, er zeigt, wie Rhenanus aus dem fehlerhaften
Codex des Ammianus Fehlerhaftes in den richtigen Text des
Cäsar bringt. Uebrigens theilt Rhenanus viele der gerügten
Fehler 3 mit S. Münster, viele aber entspringen nur aus der
1 Solet enim uulgus incognitas uoces detorquere in aliquod forte significatum
qualibet absurdum (S. 120) detorquet autem multa uulgns ceu saepe
monuimus. (168.)
2 Schöpflin (I. 638) sagt selbst: Beatus Rhenanus in inquirendis voeum
etymis diligens, sed interdum infelix.
3 S. 134 wirft ihm Schöpflin noch vor, dass er I. p. 18 Tribonos nach
einem corrupten Ms. des Ptolomäus gelesen, tadelt S. 204 eine falsche
Conjectur. 244. Intolerabilis quoque conjectnra est Beati Rhenani alio-
rumque, quibus Stratburg contractum a Storatburg ab Argentorato deriuare
placuit, quam uiolentam conjecturam recte pronuntiat Guillimannus. Vgl.
z. B. auch noch ibidem 233, 417, 642, II. 366, 367, 383, 387 (nomen Se-
busiorum fictitium).
Des Beatus Rlienanns literarische Tliätigkeit.
357
Schadhaftigkeit der von ihm benutzten Handschriften, wie aus
seiner Lieblingsneigung, der Wortableitung. Doch genug von
seinen Fehlern, Verstössen und Schwächen; freuen wir uns
lieber, dass Rhenanus in so vielen Beziehungen Treffliches
geleistet. Auch darüber wollen wir nicht klagen, dass er sein
Werk lateinisch geschrieben, war es doch ja seiner ganzen An
lage nach nicht für das Volk, sondern für Gelehrte bestimmt.
Sein Latein ist übrigens fliessend und strebt nach Eleganz, 1
öfter wendet er die Phrasen des Tacitus an; seine Darstellung
ist lebhaft anregend und spannend. Was uns aber diese Dar
stellung so angenehm macht, ist vornehmlich die eigenthiimliche
Frische und die fröhliche Forscherlust, die bei den trockensten
Untersuchungen zu Tage tritt. Rhenanus plaudert nicht so
gemüthlich wie Wimpfeling, er will nicht doctrinär sprechen
wie Andere, er will nicht blos Material Zusammentragen wie
Nauclerus, oder uns durch seine Eloquenz fortreissen und über
rumpeln wie Bebelius; was seinen eigenthümlichen Reiz aus
übt, das ist die Ueberzeugung, die der Leser gewinnt, dass es
diesem Historiker mit der Wahrheit Ernst sei, dass er keinen
tendenziösen Journalisten, keinen gewandten Federhelden einer
Partei, keinen Dichter und Fabelhans, keinen Fälscher oder
Pedanten, sondern einen echten Priester der Wissenschaft vor
sich hat. Und dann, welchen liebenswürdigen Zw'ang übt er
doch auf seine Leser aus! Das ist keine gewöhnliche Lectiirc,
das ist ein Dialog, den der Verfasser mit dem Leser beginnt.
,Glaub’ es mir, Leser!' ruft es uns da aus den ernsten Zeilen
des Buches zu, ,diese Stelle des Cäsar ist nicht frei von Feh
lern !•' Oder er macht uns aufmerksam, dass er jetzt eine Con-
jectur machen werde. Gut! ich schreibe jetzt statt Remotes
Venetes. Gute Götter! ruft er da wieder aus, oder: Sieh’, wie
sich die Sache verhält, sieh’, wie scharf Cäsar hier wieder
unterscheidet. Diese Lebendigkeit der Darstellung lässt uns
ahnen, dass dem Rhenanus Schilderungen vorzüglich gelingen
müssten. Und in der That, das Wenige, in dem sich das
1 cf. S. 13 quam elegantiores superiorem uocant, er achtet auf die
feinere Form, die Anwendung der damals bei den homines bilingues so
sehr beliebten griechischen Ausdrücke ist bei ihm nicht häufig. S. 139
z. B. me non habebunt ojao A/jcpov; Tacitus gebraucht er oft z. B. 172.
358
Horawitz.
Erzähle rtal ent des grossen Gelehrten zeigt, die Schilderung
von Schlettstadt, des Zuges der Bürger gegen den Friedens
brecher Heinrich Greph sind mit ihren frischen Farben, dem
schnellen Rythmus der Darstellung geradezu Cabinetsstücke, die
es lebhaft bedauern lassen, dass sie die einzigen Proben jenes
epischen Talentes in dem Gssehichtswerke des Rhenanus sind.
Doch nein — auch das plastische Bild, das er von seinem lieben
Basel entworfen, 1 verdient einen Ehrenplatz. Denn wir sehen
sie vor uns, ,die wahrhaft königliche Stadt' — wenn wir des
Rhenanus Beschreibung lesen — wir versetzen uns im Geiste auf
ihre schönen, reingehaltenen Strassen, besehen ihre schön auf
geführten Gebäude, spazieren auf dein prächtigen Petersplatz,
auf der Rheinbrücke, gemessen aus lieblichen Gärten die Aus
sicht auf den Rhein und begreifen es, wenn Rhenanus meint,
dass selbst solche, die in Italien gewesen, an der durch das
Concil reich gewordenen Stadt Gefallen finden können. Im
Verfolge seiner Darstellung weiss uns Rhenanus noch manches
Culturgeschichtliche von Basel zu erzählen, wie es denn
überhaupt zu seinen Vorzügen gehört, dass er für die Cultur-
geschichte sich den Sinn offen hält. Da wird z. B. von der
Berühmtheit des norischen Eisens gehandelt (S. 16. 17) und
sogar Homer dafür citirt, der ,ausserordentlich edle' Elsässer
Wein und sein Export nicht vergessen, auch eine Beschreibung
und Aufzählung der Schätze der Mainzer Kirche wird gegeben.
Oder Rhenanus lenkt unseren Blick auf die zu seiner Zeit
noch nicht hinweggeräumten Ruinen von Ruffach, das durch
Heinrich IV. zerstört wurde (S. 146), wir hören, dass in den
Ruinen von Altmainz sich Leprose eingenistet hätten (169),
erfahren von dem berühmten Colmarer Sebastian Murrho und
dessen uns von Wimpfeling her bekannten (Einleitung zum
Epitome Res Germanicarum) frühgestorbenen Sohne, von dem
,Apel]es von Colmar' Martin Schön (Bellius) und dessen Brü
dern, den kunstgewandten Goldschmieden Paul und Georg
(S. 147), und viele andere werthvolle Notizen, die hier aufzu-
1 Wie es damals Sitte war und auch von R. Gagninus, Celtis u. A. geübt
ward, feierte Bhenanus die ihm so wertlie Stadt durch eine eigene, wie
aus Mähly’s Bemerkungen (a. a. 0. S. 256) hervorgeht, leider nicht
mehr auffindbare Schrift.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
359
zählen zu weit führen würde. 1 Verwandt mit seinem cultur-
geschichtlichen Interesse ist auch sein Eifer für Archäologie.
Hat er auch kein Inscriptionenwerk herausgegeben, wie Konrad
Peutinger, dessen Werk er so wie ein anderes um 1520
erschienenes seltsamer Weise nicht nennt, so zeigt er doch
überall für die Denkmale des Alterthums die lebhafteste Theil-
nahme. Da giebt er Nachweisungen über liömersteine (150,
151), Rathschläge für Nachgrabungen (160) und Restaurirung
(163), Fingerzeige für die, welche Reste aus der Römerzeit
wünschen. Getreulich verzeichnet er alle Funde von Inschrif
ten, Steinen und Töpfen, von Sarkophagen und Aschenkrügen
(135, 136, 143, 160, 173, 174, 151; 143, 144, 148, 150, 163,
166, 167, 177). 2 Er klagt um die herrlichen Werke der
Römer in den Provinzen, von denen heute nichts mehr übrig
sei, da die Alemannen und Franken Alles von Grunde aus
verwüstet hätten (S. 62) und weist darauf hin, wie die Orte,
an denen castra stativa bestanden, die eigentlichen Fundorte
von Ueberresten der römischen Cultur wären (167, 177, 150).
Wir sahen schon früher, wie aber dieses Interesse für das
römische Alterthum, die eifrige Forschung nach den Denk
malen des eigenen Volkes nicht ausschloss. Vor Otfrieds
Evangelienbuch steht er voll Bewunderung, er nennt es egre-
gium thesaurum antiquitatis (107), er macht Studien über die
deutsche Sprache, vindieirt dieselbe verschiedenen Stämmen,
wie den Burgundern und Langobarden. Bei den Langobarden
plagen sich die italienischen Commentatoren erbärmlich — auch
Ilermolaus Barbaras schwitzt umsonst darüber — und können
doch weder den Himmel noch die Erde berühren, nur Deutsche
könnten die Namen der Langobarden erklären. Auch im
Französischen findet er viele deutsche Wurzeln, freilich geht
er soweit, im Deutschen — hebräische Worte finden zu
1 Vgl. darüber meine Bemerkungen in v. Lützow’s Zeitschrift für
deutsche Kunst 1S73.
2 Ein Beispiel von seiner Art dergleichen zu erwähnen: urnae fictiles nobi-
lium Romanorum cinerem continentes et Sarcophagi sed et gemmae
signatoriae ac vascula figlini operis rubella in coenobio Divitensi contra
Agrippinam vulg'us Tuitium vocat corrupte, quurn murus cpiidam dirue-
retur, reperta est tabula lapidae cum inscriptione . . ,
II orawitz.
360
wollen. 1 Noch wären an stofflichen Vorzügen seines Baches
die richtige Auffassung des Causalnexus 2 und die oft so zu
treffenden localgeschichtlichen Bestimmungen und Angaben 3 zu
erwähnen. Zu den Vorzügen, die sich an Beatus Bhenanus
als Historiker beobachten liessen, zur umfassenden vielseitigen
Quellenkenntniss, zu dem kritischen Talente und der Kunst
ungeschminkter, einfacher, sachlicher und eben deshalb um so
dankenswerterer Darstellung kann man ohne Bedenken auch
eine der schönsten Tugenden des Geschichtsschreibers hinzu
fügen; ich meine die strenge Unparteilichkeit, die bei Rhenanus
mit einer ernsten und innigen Vaterlandsliebe gepaart ist. Trotz
dieser Vaterlandsliebe, die in der Schilderung der deutschen
Geschichte sich oft genug zeigt, hat sich dieselbe doch nie
in jener Phrasenhaftigkeit, in jenem Gefühlsüberschwang oder
gar in jener tendenziösen Weise der Entstellung und Ver
drehung gefallen, die leider bei anderen nationalgesinnten
Männern Platz griff. Gegenüber einer gewissen kindischen
1 Ei - erwähnt auch der Deutschen idiomata und meint (112), nur bei Pli-
nius fände sich ein deutsches Wort, aber dies ist unrichtig und lässt sich
gegenüber den Lesarten neuerer Ausgaben nicht halten.
2 Er sucht z. B. bei der Völkerwanderung nach den Gründern dieser Er
scheinung, oder bemerkt S. 62, wenn die Franken es früher gewusst
hätten, dass die römische Herrschaft ihr Ende linden und sie die Herren
der Provinzen würden, so würden sie schonender mit den römischen
Denkmalen umgegangen sein, die sie aus Furcht, die Körner könnten
zurückkehren, so gänzlich zerstört hätten. Oder er schliesst (S. 77), aus
der commoditas portuum müssten jene Städte entstanden sein, quas illic
(in Brabant und Flandern) aetas liostra maximas vidite modicis vicis ad
istam uisendam amplitudinem opulentiamque inter quingentorum annorum
spacium paullatim peruenisse. Auch ist er stets bemüht, die Ursachen
einer Erscheinung darzulegen, z. B. die Ursachen des Zwistes zwischen
Alemannen und Franken. (S. 82.)
3 Vor Allem sind es die ihm lieben und bekannten Selilettstätter Verhält
nisse, von denen er umständlich nnd durchweg verlässlich erzählt, von
ihnen macht er per analogiam Schlüsse auf Anderes (cf. 96, 151). Im
Einzelnen hat er bei Bestimmung der Römerorte wohl geirrt, doch in
Manchem das Richtige getroffen. Nur eine Aeusserung eines bekannten
Localhistorikers mag hier Platz finden. Strobel, Geschichte des Elsasses I.
62 n. sagt: Die Meinung des Rhenanus, dass in dem Bericht des Ammian
von der Alemannenschlacht der Rebberg bei Hausbergen zu verstehen sei,
scheint mir immer noch die wahrscheinlichste.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigkeit.
361
Auffassung, die jeden Ruhmesflitter der Fremden sich aneignen
möchte, um das eigene, reich mit superlativischen Attributen
geschmückte Volk noch mehr aufzuputzen, hat Ehenanus die
objective Ruhe des Geschichtsforschers mit der warmen Liebe
zu seinem Vaterlande 1 trefflich zu verbinden gewusst. Er ist
weit entfernt, von jener abgeschmackten und knabenhaften
Manier, nur die Siege des eigenen Volkes aufzuzählen, seine
Niederlagen aber ,zu verschweigen, um sie als nie besiegt
erscheinen zu lassen. Sein Patriotismus ist ein würdevoller,
männlicher, ganz ehrlich und gerade schildert er auch die
Schlachten und Verluste, die sein Volk erlitt. Kaiser Julian,
sagt er u. A., hat mit wenigen Soldaten unzählige Alemannen
geschlagen. (S. 149.) Bei der Erzählung von der grossen Ale
mannenschlacht (44) begnügt er sich, seinen Antheil durch ein
jiiostri' zu zeigen. Er freut sich nicht wie Irenicus über die
grossartigen Zerstörungen, die mit den Siegen der Germanen
verbunden waren, ,denn welcher Gefühlvolle würde solche Ra
sereien nicht verabscheuen ? ( (Präfatio ad Procopium.) — Das
ist ein grosser Fortschritt. Und wirklich imposant nimmt sich
bei solcher Unparteilichkeit das gehaltvolle Wort aus, mit dem
Rhenanus die überschwenglichen Historiker unter seinen Lands
leuten trifft, das Wort: Ich kann mich nicht genug wundern
über jene ehrgeizigen Lobhudler unter den Deutschen, welche
auch die Triumphe der sennonisehon Gallier den Germanen
zuwenden wollen unter dem Vorwände, dass der Name der
Celten ein weiter sei und weil die Cliorographen der sennoni-
schen Sueven gedenken. Und wie stolz und selbstbewusst
klingen dann die wenigen, ernsten Worte: Deutschland hat der
Ehre und des Kriegsruhms genug, wenn wir auch den Galliern
1 S. 8 beklagt er die Zwietracht der Germanen und schreibt sie den Ver
lockungen der Körner zu. S. 39: Isti vero Barbari (Franci) nobilissimum
in Galliis regnum constituerunt, quae perpetua Germanorum laus
est multisque seculis tenuerunt, doncc paulatim obsorberentur. At inter
Gallos ho die, ut quisque procerum plus Francici sanguinis a majoribus
suis habet ita regno fit propior. Et darat adlmc, durabitque inclytum
Francorum nomen. Quem enim pudeat a tarn strenua geilte duxisse
originem? Certe Romanis minus de sui iuitio gloriari licet. Vgl. S. 62
über das deutsche Francien. S. 72. Licet hic videre Germanos semper
Germanorum viribus ex Italia depulsos. Tantum eaeteras nationes ingenio
praeualeant.
362
Horawitz.
das Ihrige lassen. (S. 79.) Ja er räumt sogar ein (78), dass
es eine Zeit gegeben, in der die Gallier die Germanen an
Tapferkeit übertroffen und Colonien über den Rhein geschickt
hätten. Das hätte Wimpfeling nie zugegeben!
Diese Erinnerung an Wimpfeling mag uns zugleich zei
gen, wie überlegen Rhenanus seinen unmittelbaren Vorgängern
auf dem Gebiete der Geschichtsschreibung ist. Gegenüber
dem rhetorischen Wesen Bebels, der compilirenden Tendenz
geschichte Wimpfeling, dem poetisirenden Celtis und dem sehr
verdächtigen Trithemius ist er der Einzige, der den Namen
des Geschichtsforschers verdient. Denn er allein hat Methode,
Unparteilichkeit und macht die schwere, aber unerlässliche
Arbeit der Kritik durch. Einzelne dieser Vorzüge theilen
auch andere Zeitgenossen mit ihm, ich nenne nur Peutinger
und Irenicus, doch in der philologischen Methode ist er Allen
überlegen. Freilich, schon lebten die, welche ihn an Tiefe des
Blickes, an populärer Wirkung weitaus übertrafen — Sebastian
Frank und Johannes Auentinus! — Aber neben dieser
Richtung liess sich eine denken und wünschen, welche die Me
thode des Rhenanus bewahrt und ausgebildet hätte. Leider kam
keine solche Richtung zum Durchbruche. — Rhenanus hat keine
Schule gemacht; als ein Einzelner, der das Richtige getroffen,
steht er da, und dieser Umstand ist es denn auch, der seine
Bedeutung für die Geschichte der Geschichtswissenschaft —
trotz seiner grossen Verdienste — herabgemindert hat.
Die Tacitusausgabe.
Von dem historischen Studium wendet sich Rhominus
wieder seinem eigentlichen Gebiete — der Editionsthätigkeit
zu. Aus dem Jahre 1532 ist mir gar nichts Anderes von
Rhenanus bekannt, als die Ausgabe des Moriae Encomium —
die Edition selbst konnte ich leider nicht einsehen. In diese
Zeit fällt aber die Vorbereitung eines grossen Werkes, die
Vorbereitung zur Tacitusausgabe.
Sie erschien zu Basel bei Froben 1533 unter dem Titel:
P. CORNELII TACITI equitis Romani ANNALIUM AB
EXCESSV AVGVSTI SIcut ipse uocat, siue Historiae Augustae,
Dos Beatus Ehenanus literarische Thätigkeit.
363
qui uulgo receptus titulus est, libri sedecim qui supersunt,
partim liaud oscitanter perlecti, partim nempe posteriores ad
exemplar manuscriptum recog’niti magna dde nec minore iudicio
per BEATYM RHENANVM. Nihil hic fingi docebnnt casti-
gationes suis quaeq; libris additae Libellus de Germanorum
populis, Dialogus de oratoribus, deniq; Vita Julii Agricole, non
solum emaculatius prodount, sed etiam explicatius adiunctis in
hanc rem scholiis. Super haec omnia aecesserunt in initio
operis Tliosaurus constructionü, locutionumq; et uocum Tacito
solenniü citatis etiam ex Liuio plerunq; testimoniis, ac in
calce rerum memorabiliü index copiosissimus. Nee desunt
aliorum in hunc autorem ante aeditae annotationes praefationesq;
siue Beroaldi seu Alciati. Die Dedicationsepistel richtet sich
an den Cardinal Bernhard von Trient und geht von der' Be
trachtung des ungemeinen Werthes und der nicht genug zu
würdigenden Bedeutung der Wissenschaft aus, einer Betrach
tung, welche die äusserste Sorgfalt und Hochachtung für die
Denkmale der Alterthums zur Folge habe. Glücklicherweise
habe es an vornehmen Gönnern der Wissenschaft nie gefehlt,
Rhenanus erinnert an Salomo, Alexander den Grossen, Ptole-
mäus und Augustus; die Verdienste Kaiser Sigismund’s,
Matthias Corvinus’ und Maximilian’s in dieser Richtung
dürften nur Wenigen unbekannt sein. Aber auch von den
zeitgenössischen Herrschern, sowohl von Kaiser Karl, als
auch von dessen Bruder Ferdinand hofft er, dass sie von
dem löblichen Beginnen ihres Grossvaters nicht abweichen,
sondern dasselbe in eben dem Masse überstrahlen werden, als
ihre Macht zugenommen — wenn sie nur einmal von den aus
wärtigen und inneren Kriegen aufathmen könnten. Wenn
aber schon weltlichen Fürsten die Begünstigung der Wissen
schaft zum Lobe gereicht, wie viel mehr geziemt sie den Kir
chenfürsten, deren eigentliches Feld das Studium sei, die ihr
Vermögen nirgends besser anlegen können, als in dem Schmuck
der Wissenschaft. Das Verhältniss der Letzteren zur Religion,
welche ohne sie weder recht verstanden noch vertheidigt wer
den kann, fordert namentlich im gegenwärtigen Augenblick
von den Priestern die Unterstützung der Wissenschaft. Frei
lich sage er dies nicht, weil der Cardinal eines Mahners be
dürfe, da er ja längst schon aus eigenem Antriebe Förderer
H o r a w i t z.
364
der schönen Künste geworden sei und Alles thue, was zur
Verbreitung derselben führen könne. Italienische Gelehrte
erfüllten ja seinen Hof, mit denen Bernhard disputire. Indem
Rhenanus der weiteren Verdienste Bischof Bernhard’s um
Ferdinand und die Bekämpfung der Türken gedenkt, kann er
es nicht unterlassen, sich der Erfolge in Ungarn zu erfreuen
und schreibt: Tum recepta Pannonia magnum nobis contra
Turcas propugnaculum rursus acccdet. — Mit grosser Beschei
denheit dankt er, ,qui nihil in literis suin‘ für das kürzlich
zum Geschenk erhaltene silberne Bildniss des Bischofs, für das
er als papiernes Gegengeschenk die vorliegende Tacitusausgabe
übersendet. Interessant, was er über ihre Entstehung sagt.
Als er nämlich erfahren, dass man eine neue Ausgabe des
Tacitus voi'bereite, hielt er dafür zu untersuchen, ob es der
Mühe werth sei, den Text der Editio uulgata mit dem eines
Manuscriptes zu vergleichen, das ihm kürzlich zugekommen
war. Dieses Manuscript stammte aus der Ofner Bibliothek
des Matthias Coruinus und kam durch Jakob Spiegel in Ehe
nanus’ Hände. Dieser, der sehr bald erkannte, wie viele
Stellen jämmerlich depravirt seien, machte sich mit Genauig
keit an die Vergleichung und ruhte nicht eher, als bis er das
ganze Werk bis zum Schlüsse sorgfältig collatiouirt hatte. Bei
den fünf ersten Büchern, ,dic zu Corvey aufgefunden und
etwas später in Rom herausgegeben wurden', sowie bei der
Germania, dem ,Dialogus Oratorunü und dem Agricola. fehlte
es freilich an Handschriften, hier blieb die Vergleichung auf
die Editio uulgata beschränkt. Was er am Tacitus geleistet,
wünscht er von Anderen für Cicero, Liuius, Plinius und den
nicht minder verunstalteten Florus gothan, denn von den Ge
lehrten müsse man dies erwarten. Freilich schreckt die Meisten
nicht der Mangel an Erfahrung, sondern die Mühe, welche des
Ruhmes entbehrt, und die Tadelsucht der Ungelehrten, die ent
weder spotten oder schmähen. Und doch giebt es keinen
anderen Weg, den Schriften der Alten auf die Beine zu helfen,
als in erster Linie aufmerksame Vergleichung der Handschriften,
sodann die Conjectur (judicium). — So überdrüssig er auch
der Arbeit geworden sei, das Bewusstsein des Nutzens, den
sie schaffen müsse, habe ihn doch dabei festgehalten. Uebri-
gens ist er auch völlig von der Bedeutung des Tacitus durch-
Des Beatus Rlionanus literarische Tliätigkeit.
365
drangen. Immer habe er ihn für sehr würdig einer steten
Beschäftigung mit ihm gehalten, und zwar vornehmlich darum,
da er nicht wie Liuius und Andere eine ewige Kriegsgeschichte
geschrieben, sondern auch sehr nützliche Dinge eingestreut
habe, die sich bei Anderen entweder gar nicht oder nur zu
kurz vorfinden. Nach dem Urtheile berühmter Gelehrter sei
Tacitus dem Liuius nicht nachzusetzen, ja sogar vorzuziehen —
freilich nicht seines manirirten Stiles wegen, 1 sondern wegen der
Darlegung ausserordentlicher Begebenheiten.
Die Auswahl der Beispiele kennzeichnet den Rhenanus
als Sohn seiner Zeit, die stets nach Klugheitsregeln und Bei
spielen der Lebensweisheit verlangt. Das — meint er — habe
uns Tacitus so schön und lehrreich beschrieben: wie Einer
der unverdienten Hinrichtung tapfer entgegengegangen, wie
ein Anderer verläumderisch Angeklagter sich vor Gericht be
nommen, wie vorsichtig man mit denen verkehren müsse, die
durch einen Wink allein verderben könnten u. s. w. — Aus
führlich rechtfertigt er sich sodann, warum er abweichend von
Franciscus Puteolanus und Philipp Beroaldus dem Jüngeren 2
des Tacitus Werk mit dem Titel Annalium libri überschrieb.
Tacitus selbst habe ja jene Bezeichnung gewählt, aber auch
bei Jornandes findet sie sich. Während er sich noch aus an
deren Gründen veranlasst fühlt, diese Bezeichnung für die
passendste zu halten, stellt er die Verstümmelung des taciteischen
Werkes als apodictisch hin, deutet ihre Ursachen an und zollt
den Mönchen Dank, die doch Einiges bewahrten. — Viele Bogen
hindurch folgen dann unter dem Titel Thesaurus Locutionum
Constructionumque et vocum Tacito solennium per Beatum
Rhenanum obiter collectus, adiunctis plerumque ex T. Liuio
testimoniis, cuius etiam liaud pauci loci hic restituuntur. Zu-
1 aa. 3. nö quod liuius floridum ac meditationein et curam olens dicendi
genus, quäle sub Yespasiatiis placuit ae indies exin degenerauit in affee-
tatam quandam compositionem exolescente paulatim sennonis Latini
puritate, Liuianae dictioni illi naturaliter amabiliterq; fluenti nam id seeu-
lum purissimü fuit aequari debeat atit praeferi.
2 Puteolanus gebrauchte den Namen Actionum diurnatium historiae Augustae,
dann aber auch den Actorum diurnalium, Beroaldus nannte sie Ab excessu
diui Augusti historiarum libri. Das Ofner Manuscript, das Rheuanus
vorlag, war ein ccv£7t(Ypaoov.
366
Horawitz.
sammenstellungen des tacitoisclien Sprachgebrauches, der durch
diesen Historiker mit Vorliebe gewählten Redensarten. Zum
Schlüsse bemerkt er, dass er die eigenthümlichen Ausdrücke
des Tacitus beibehalten habe — da es die Sache eines nicht
blos unbesonnenen, sondern auch geradezu ungelehrten Mannes
sei, die Lesarten der alten Handschrift umzuändern. Oberlin
lobt diesen Thesaurus sehr und meint, er hätte die Aufnahme
durch Gronovius wohl mehr verdient, als die Noten des Saliuc-
rius. Die Eintheilung der Bücher der Annalen ist bei Rhe
nanus dieselbe, die auch wir gebrauchen, nur ist noch das
ganze sechste Buch zu dem V. hinzugekommen. Den fünf
Büchern folgen von S. 123—127 die üblichen Castigationen, 1
wie ja auch Philippus Beroaldus solche hinzufügte — freilich,
bemerkt lihenanus, hätte er besser und sicherer gehen können,
wenn ihm der Corveyer Codex vorliegen würde, der sich jetzt
wohl noch in Rom befinde. Ueber dieses Ms., um das er oft
seufzt, bringt er S. 125 die Worte: Utinam licuisset hic cxem-
plar illud Saxonicum inspicere quod Quästor quidam Pontificius
quum e Dania rediret, in Corbeiensi bibliotheca repertum,
Romain secum detulit ad Leonem X. Pont. Max. bonarum
literarum haud illiberalem patronum, qui illi quingentos ducatos
numerari jussit. Man kennt die Art der Castigationes bei
Rhenanus — sein Herbeiziehen anderer Autoren zur Erklärung
von Lesarten führt ihn hier zu einer Aeusserung über eine
ihm vorliegende Liviushandschrift, die ihm der Dechant Rein
hard von Rietpur geschickt. — Diesen Castigationen schliesst
sich der Abdruck einer Einleitung zum Tacitus von Franciscus
Puteolanus an, der eine Anrede des Beatus Rhenanus an den
Leser und weitere Castigationes — zum XI. Buche folgen.
In der ersteren bringt Rhenanus wieder seine Klage vor über
den Verderb, der durch die Unwissenheit der Abschreiber den
Denkmalen der Vergangenheit zugefügt wird, und äussert sich,
dass ihn nur das Andringen seines Freundes Hieronymus
Frohen dazu vermocht habe, die editio uulgata mit jener Ab
schrift zu vergleichen, die Matthias Coruinus nach einem jungen
Manuscripte in Italien habe machen lassen. Dieselbe conserva-
tive Weise, dieselbe sorgsame Bewahrung der alten Lesart, die
1 In ihnen beruft er sich auch einmal auf seine ,Res germanicae“. (Ö. 123.)
Dgb Beatus Rlienanus literarische Thätigkeit.
367
Scheidung des Textes von den Castigationen treffen wir auch
hier an, ebenso die ehrliche Anerkennung seiner Vorgänger,
z. B. des Berardinus Lanterius von Mailand und des Franciscus
Puteolanus. 1 -— Besonders eingehend sind die Castigationes
zur ,Germania‘; in dem Bericht an den Leser (S. 421)
erwähnt Rhenanus, dass er dieses Buch schon 1519 mit einem
Drucke verglichen, der ihm durch die Güte des Arztes Hiero
nymus Artolphus 2 zugänglich geworden, und bemerkt, dass er
in den Noten wohl ausführlicher geworden wäre, wenn er
nicht gehört hätte, dass der junge Gelehrte Andreas Althamer
dieses Werk kürzlich mit eigenen Noten versehen habe. Diese
Vergleichung um 1519 geschah wohl damals, als Froben jene
elegante Tacitusausgabe erscheinen Hess, die eigentlich nichts
Anderes, als ein Abdruck der Beroaldina war, deren Vorrede
und Noten nebst den Observationes des Alciat auch beigegeben
sind. — Was die Castigationes selbst anbelangt, so finden sich
in ihnen zahlreiche Hinweise auf die Ausführungen in den
Rerum Germanicarum Libri III., 3 ebenso die doi’t besproche
nen etymologischen Künsteleien 1 und Citate aus den in seinem
1 Hierauf folgen von S. 130—134 die Castigationes zum XI. Buche, der
Text des XI. Buches his 146, sodann die Castigationes des XII. Buches
his S. 150, das XII. Buch bis 169, die Castigationes zum XIII. Buche
bis 174, das XIII. Buch bis 193, Castigationes zum XIV, Buche bis 197,
das XIV. Buch bis 217, Castigationes zum XV. Buche bis 223, das XV.
bis 246, Castigationes zum XVI. bis 248, das XVI. Buch. Dann lässt
Rlienanus die Castigationes zum XVII. Buche (d. i. das T. der Historien)
bis 2G6, bis 296 das Buch selbst, von hier bis 303 die Castigationes zum
XVITI. (II. der Historien) und dieses bis 335, Castigationes zum XIX.
(Hist. III) bis 341, das XIX. bis 370, Castigationes zum XX. (Hist. IV.)
bis 376, das Buch bis 409. Von da bis 412 reichen die Castigationes
zum XXI, Buch, und dann his 421 dieses selbst.
2 Ueber die Art der Benutzung des Artolph’sehen Codex bei der Herausgabe
der Germania vgl. Oberlin’s Tacitusausgabe Prüf, zum II. B. 5. 6.
3 Vgl. z. B. 421 und den längeren Excurs p. 422 f.
4 Z. B. 422. Sed tarnen Artolplii über habebat Barditum, Veluti sit a uerbis
quae Germani uuort appellät tractmn vocabuln. Nisi debet esse Blafitum
und die Ausführung über Asciburgium = aarujiupyiov, 424, cogitandum an
Odonis sylua der Odonuualdt a Mercurio nomen liaboat, ut a Marte
Martianum nenms des Sehuuartzuualdt. 427. ab idoneis esse relatum
autoribus, indc nomen Alpium ortum, quod sua lingua montes Galli uocent
Albas. Vgl. S. 428 über Anthaim und Banthaim.
368
Hora w i t z.
historischen Werke benutzten Quellen. 1 Beim Dialoge de
Oratoribus zweifelt Rhenanus beinahe an der Autorschaft des
Tacitus (S. 445 in den Castigationes), bei diesem Dialoge wie
bei der Vita Julii Agricolae war er bei den Verbesserungen
einzig und allein auf sein Talent beschränkt, denn eine alte
Handschrift zur Vergleichung fehlte, es blieb nichts übrig, als
die Editio uulgata fleissig durchzugehen und, wie Rhenanus
sich ausdrückt, ,meoque Marte quaedam errata deprehendi.‘
Den Schluss der Ausgabe des Rhenanus bilden von S. 492
an die Annotationes des Andreas Alciatus und ein Index. —
In das Jahr 1534 fällt die Einleitung zum Epitome grammaticae
g-raecae seines Freundes Michael Hummelberger, die zu Basel er-
schien, von der ich aber leider kein Exemplar auftreiben konnte.
Die Liuiusausgabe.
1535 dagegen sehen wir in der Liuiusausgabe eine grössere
Frucht der philologischen Studien des Rhenanus. Das Ver
dienst, ,die Wunden des Liuius theilweise geheilt zu haben',
wie Drakenborch 2 sagt, theilte Rhenanus übrigens mit
Sigismund Gelenius. Rhenanus behandelte nämlich die ersten
sechs Bücher mit dem zweiten punischen Kriege, dem Gelenius
wies er die vier letzten Bücher der ersten Decade und den
philippischen und antiochischen Krieg zu. Rhenanus arbeitete
schon 1519 mit grossem Eifer daran. Er benützte einen
Wormser Codex, dem freilich die ersten zwei Ternionen und
der Schluss fehlten, der aber sonst — nach dem Urtheile des
Gronouius 3 — ein sehr guter war, und ausserdem noch ein
Manuscript aus Speier, verglich mit diesen Codices die Aldina
und die Kölner Ausgabe des Jacob Sobius. Bis 1529 arbeitete
Rlienanus ohne noch etwas herausgegeben zu haben, er nahm
eben die Sache wie immer sehr ernst und scheute keine An
strengung, um die Lücken auszufüllen, ja selbst Reisen unter-
1 Hie und da macht er Bemerkungen über die Gegenwart, B. über den
bevorstehenden Türkenkrieg (S. 429) oder wenn er (42{t) sagt: Nos auitae
ferociae plusculum retinemns.
2 Liuiusausgabe t. XV. p. IV.
Ep. ad Heinsium in Burrmann, Syllog. Epist. t. III. p. 114.
Des Beatus Rhenauus literarische Thätigkeit.
369
nahm er deshalb, wie die nach Freising — in den Rer. Germ.
11. p. 201 erwähnte — die freilich für die Auffindung einer
Liuiushandschrift erfolglos blieb. Auch die Hoffnung, die von
Viglius angeregt worden war, durch den Cardinal Bembo' ge
fördert zu werden, erwies sich als trügerisch — Rhenanus
überliess endlich die Hauptsache bei der Edition dem Gelenius.
Um 1535 erschien denn das Werk bei Froben mit den Noten
des Rhenauus und Gelenius. Auch hier zeigt sich uns Rhe
nanus wieder voll Lebendigkeit, er ärgert sich über jene, die
er nicht überzeugen könne, dass die Bücher des Plinius bisher
noch voll Fehler seien, er sei schon zu einer Zeit im Castigiren
des Plinius erfahren gewesen, als die im Urtheilen so nase
weisen noch stumpfsinnig waren und ovot itpo? -cupav. 1 Die neuere
Liuiuskritik hat das Verdienst der Herausgeber anerkannt,
Drakenborcli 2 u. A. ist es, der sich dahinausspricht, dass
die Herausgeber zahllose Stellen, welche durch die blinde
Barbarei früherer Zeiten oder durch beklagenswerthe Nach
lässigkeit der Abschreiber verunstaltet worden waren, verbes
sert hätten.
Die Einleitung zum Origenes und kleinere Schriften.
Oft — aber entschieden mit Unrecht — spricht man von
der Origenesausgabe des Rhenanus, die um 1536 erschienen
sein soll. Des Rhenanus Thätigkeit beschränkte sich hierbei,
wie mir scheint, darauf, die Ausgabe des Origenes, wie sie
Erasmus und Sig. Gelenius 3 besorgten, mit einleitenden Be-
1 Vgl. in dieser Richtung den Brief an Puchaimer hinter den Rer. Germ,
libri III.
2 Drakenboreli 1. c. von LIV. — LXV., vgl. auch zu VII. pag. XXXI. sq.
Gronovius ad 1. XXVIII. e. XIX. § 2. Rhenanum multa egregie resti-
tuisse. Gelenius nennt Rhenanus: kominem juuandi literis natum.
3 Die Bücher des Origenes gegen Celsus wurden von Gelenius übertragen.
Cf. die Ausgabe des Origines von 1557 (Basel, Froben) p. 7J5 ff. die
mir durch die Güte des Herrn Bibliothekars Ringelshöfer aus der
Casseler Bibliothek zugemittelt wurde. L. Humfried schreibt darin an
Antonius Cauus: Octo deinde libros contra Celsum Epicureum beatae
memoriae D. S. Gelenius ad graecum exemplar latinos reddidit, ut purius
et fidelius Origenes suae Origini restitueretur.
Sitzt, d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. I. Hft. 24
370
Horawitz.
merktmgen und einem kurzen Lebensabrisse des gefeierten
Freundes zu versehen. Erschien ja doch die Edition der
Werke des Origenes kurz nach dem Ableben des Erasmus;
Beatus Rhenanus erfüllte nur einen der Wünsche dos Dahin
geschiedenen, wenn er die Ausgabe mit einem Widmungs
schreiben an Hermann von Wied, den bekannten Erzbischof
von Köln, versah. 1 Dieses Schreiben zerfällt in zwei Theile,
in eine Lobpreisung des Origenes und in den biographischen
Versuch über Erasmus. In dem ersten Theile spricht Rhenanus
von dem Lobe, das dem Origenes von Hieronymus und Augustinus
gezollt ward und preist ihn als Einen, der alle Nacharbeitenden
gefördert und gleichsam das Eis gebrochen habe. Denn wenn
man den Liuius, Andronicus und Q. Ennius, als den ersten
Dichtern, dem Laelius Lanuuinus und dem Seruius Clodius,
als den ersten Grammatikern bei den Lateinern Preis spende,
wie sehr müsse man erst den Origenes loben, den Auffinder
nicht der profanen, sondern der heiligen Geschichte, den Weg
weiser zum richtigen Verständnisse der Schrift. Wie es bei
Allen geht, sei auch leider dieser Autor von Schäden und
Verstümmelungen nicht frei; 2 was Erasmus an Hieronymus,
Cyprian, Hilarius, Irenaus und Augustinus geleistet, habe er
auch an Origenes mit dem grössten Floisse und bewunderungs
würdiger Urtheilskraft gethan und nichts unterlassen, was zur
Aufhellung dieses ausgezeichneten Interpreten der heiligen
Schrift gehöre. Das Falsche habe er vom Echten gesondert,
ein Leben des Origenes geschrieben und Bemerkungen beige
geben. — Rhenanus geht dann auf das Lob Hermanns von
Wied über, dem Erasmus diese seine letzte Arbeit habe widmen
wollen, 3 und rühmt dessen Geschlecht. — Sehr interessant sind
1 Datärt: Ex Selato ueteri munimento Eomanorum, quod aucto uoeabulo
Germani Selatistadium dixere et per collisionem hodie Sietstadium.
Decimo oetauo calend. Septembreis. Anno a partu uirginis matris
M.D.XXXVI.
2 ,Quis porro über a mendis purus hodie? quis autor ab impostoribus non
contaminatus ?‘
3 Bescheiden bemerkt ßhenanns: Nunc habes epistolam infamem ac ieiunam
quam ab illo quum doctam, tum eloquentem acceptiuus eras ut imprimis
tua mihi eelsitudo obsecranda ueniat, re tarn inepto Scriptori succenseat,
sed balbutiem meam boni consulat ac animum hominis toto pectore sese
dedentis interim aestimet.
I)es Beatus Rhenanus literarische Tliätigkeit.
371
dabei die Auslassungen gegen die Wiedertäufer, die wieder
den streng'kirchlichen und antirevolutionären Sinn des Mannes
erweisen. Er dankt nämlich der Thätigkeit Hermann’s von
Köln bei der Belagerung von Münster, durch welche diese
Stadt von der Secte befreit ward, welche sie erfüllte,, einer
Secte, die das ,Unsinnigste, Verpestetste und Verderblichste auf
Erden gewesen', eine Secte, die er mit der lernäischen Hydra
vergleicht. 1 Nach dieser Invective kommt Rhenanus auf
den Lebensgang des Erasmus zu sprechen. Freilich, eine ein
gehende, ausführliche Biographie darf man in dieser Darstel
lung nicht suchen, sie enthält nichts als Notizen über die letzten
Tage und Leiden, über die gelehrten Verbindungen, Mäcenaten
und Freunde, sowie über das Testament des Erasmus, dessen
Tugenden panegyrisch beleuchtet werden. Aber wenn auch
Alles ohne Ordnung durcheinandergeworfen und von chronolo
gischer Bestimmung kaum eine Spur zu finden ist, so durch
dringt doch eine lebendige Wärme die kurze Schilderung, der
Verlust des grossen Freundes war noch neu, die Wunde noch
fühlbar; war ja Erasmus erst kürzlich dahingeschieden. (Am
12. Juli 1536, diese Notizen sind aber am 19. September des
selben Jahres geschrieben.) — Der bibliographischen Genauig
keit halber sei bemerkt, dass ein Theil dieser Dedicationsepistel
unter dem Titel DES. ERAS - ROTERODAMI VIRI INCOM-
PARABILLS VITA mit Epitaphien zusammen separat zu Ant
werpen (apud Joannem Stalsium. Ann. 1536 mense octob. In
scuto Burgundiae) erschien. 2 — Um 1539 erschien die vierte,
nach dem Görzer Codex emendirte Ausgabe des Tertullian.
Von den kleineren, mir unzugänglichen Schriften des Rhenanus
nenne ich die um 1602 erschienene Illyrici descriptio, de Ar-
gentariae Antiquitatibus, Epistola de missarum uarietate, Versio
latina duorum Epistolarum Gregorii Nazianzeni ad Themistium,
Präfatio in Baptisti Guarini 1. de ordine docendi et discendi,
Präfatio in Marsilii Patauini defensor pacis, Versio sermonis
Basilii M. de differentia usiae et hypostasis, ferners die Aus
gaben von Marcelli Virgilii oratio de militiae laudibus, von
1 U. A. schreibt er auch: Intererat autem totius Germaniae, imo orbis
Christiani, hanc excetram esse deletara.
2 Auf der Wiener Hofbibliothek mit der Signatur *38. Y. 144.
24*
372
Horawitz.
Ludov. Bigi Pictorii opusculorum christianorum metricorum
11. III., von Pontii Paulini carmen jambicum christianam pieta-
tem commendans, von Thomas Morus Epigram mein, von Enae
platonici dialogus de immortalitate animorum und von Xysti
philosophorum enchiridion. Zeugniss von seinen archäologischen
und rechtshistorischen Studien giebt ausser dem bisher Ge
nannten auch der Briefwechsel mit Zasius über die Comitien. 1
— Gewiss eine reiche und vielseitige Thätigkeit, 2 deren Schluss
punkt — wie ihren Anfangspunkt — eine Biographie bildet
— die Biographie seines theuersten Freundes, des Erasmus.
Die Erasmus-Biographie.
Sie erschien vor der grossen Sammlung der Werke des
Erasmus, die durch die Editio Frobeniana 1540 in die Oeffent-
lichkeit trat. Mit hochgespannter Erwartung nähern wir uns,
die wir Rhenanus bisher bei so verschiedener Thätigkeit als
einen Mann von bedeutender Geisteskraft und edler sittlicher
Haltung kennen gelernt, diesem Werke, dessen Abfassung so
schwierig und doch so leicht war. Denn wohl galt es, den
gelehrtesten Manu seiner Zeit zu schildern, einen nicht leicht
zu verstehenden und schwer zu beurtheilenden Charakter, einen
Charakter, dessen geistiges Bild ,durch der Parteien Gunst
und Hass entstellt*, bei seinem Leben schon verzerrt war, einen
Mann, der auf alle Hauptrichtungen des vielseitigen deutschen
Lebens einen beispiellosen Einfluss ausgewirkt! Dies war und
ist noch immer eine schwere Aufgabe der Biographik, eine
Aufgabe, die einen geübten Psychologen, einen Kenner der
Zeit und des gesammten wissenschaftlichen Lebens verlangt.
— Und doch — wie ist diese Aufgabe für Rhenanus auch
so leicht! Der Freund hat ja vom Freunde zu reden, wer
kann uns den Mann genauer, lebensvoller beschreiben, als der
1 Epistolae U. Zasii ed. Riegger a. a. 1516 Ep. Zasius 4S5 a. a.
1520 p. 393.
2 Die kleine Schrift Beati Rhenani Relatio ex Pamasso de vino, Wizen-
husano, London 1755 (in der Casseler Bibliothek), rührt nicht von
unserem Autor her, sondern ist, wie ein flüchtiger Blick in dieselbe zeigt,
ein gelehrter Witz späterer Zeiten.
Des Beatns Rhenanus literarische Thätigkeit.
373
Vertraute, der ihn so genau kannte, der sein ganzes Leben
mit ihm vereint verlebte, stets in demselben Gedankenkreise
mit ihm sich bewegend, dieselben Ziele verfolgend. — Und
wirklich lässt die Art, wie uns in dem Schreiben an Hermann
von Köln von dem Leben des Erasmus erzählt wird, Gutes
hoffen. Sehen wir aber nun, wie Rhenanus unseren diesmals
sehr hochgespannten Erwartungen entspricht.
Schon die äussere Gestalt der Biographie 1 enttäuscht uns;
nicht so sehr vor der gelehrten Welt preist Rhenanus den
Freund, es ist kein Epitaph oder Encomium, zu dem ihn sein
liebendes, dankbares Herz veranlasst, es ist keine eingehende
Würdigung seiner Verdienste um die Wissenschaft, die dar
gelegt wird — sondern eben nur eine epistola dedicatoria an
den Kaiser. Da aber gilt es nun freilich, salonmässig zu er
scheinen, d. h. für die damalige Zeit — einen möglichst clas-
sischen Panegyricus mit rhetorischem Pathos und — gewöhn
lich wenigstens — mit steifleinerner Pedanterie vorzutragen.
Das, was wir erwarten, die Wärme des Gefühls, bleibt da nur
zu leicht aus. Und in der That hat die Dedication an den
Kaiser,-die Tendenz, diesem den Erasmus nur im besten Lichte
zu zeigen, an dem Kaiser einen Protector zu gewinnen, der
ihn gegen seine Feinde mit dem Ajaxschilde seiner Autorität
schützen möge, auf die Haltung der Biographie einen wesent
lich schädigenden Einfluss genommen. Wie häufig erscheint
doch statt Erasmus dem Gelehrten der treue Diener des kaiser
liehen Herrn, dessen Werke der Letztere beschützen soll.
,Erasmus wird' — so erzählt Rhenanus einmal — ,in allen
Städten mit hohen Ehren aufgenommen' — wir begreifen dies
sofort völlig, wozu also die kümmerliche Erklärung: nam
notum erat non paucis, eum tuae Majestati esse a eonsiliis!
Statt einer eingehenden Darlegung seiner wissenschaftlichen
Bedeutung erhalten wir eine Aufzählung all’ der Ehren, die
ihm von Päbsten, Kaisern, Königen, Bischöfen, Fürsten und
Städten zu Theil wurden. Dazu kommt auch noch anderes
Störende. Die Biographie hat durch das Hineinziehen pane
gyrischer Ergüsse über Karl V., den ,grössten Regenten, den
Bezwinger von Tunis, den Friedensbringer für Italien' u. s. w.
Vor den Opuscula Erasmi 1540. 13 Polioseiten stark.
374
H o r a w i t z.
gewiss nicht gewonnen; es zerstreut das Interesse, indem es
dasselbe zwischen den zwei Helden — wenn ich so sagen darf —
theilt, hält die Darstellung auf und steht Anderem, Wichtige
rem im Wege. — Dennoch bricht, um nicht ungerecht zu
werden — durch die Lobesphrasen, die diesem Werkchen
auch einen gewissen geschraubten, unnatürlichen Styl anheften,
das gerade, aufrichtige Wort hindurch: Nichts schadet den
Fürsten, vorzüglich den Geistlichen (dies ist die Abschwächung)
mehr, als wenn man ihre Thaten lobt und ihnen nicht zeigt,
was sie thun sollten.
Was nun die Darstellung in der Biographie betrifft, so
beginnt sie Rhenanus mit der Aeusserung, es sei begreiflich,
dass sich so viele Städte um Homer gestritten, nichts ehre ja
eine Stadt oder ein Land so sehr, als wenn sie einen Mann
hervorgebracht, durch den sie für alle Folgezeit feierlichen
Ruhm erlangen. Erasmus aber ist ein solcher, durch ihn ist
Rotterdam für alle Zeiten berühmt geworden, die Entwickelung
seines Geistes ist ein wahres Wunder, er hat nicht blos in
Deutschland, sondern auch in Italien als Instaurator gewirkt.
Die sehr objectiv, aber nicht sehr übersichtlich gehaltene Er
zählung des Lebens 1 des Erasmus giebt werthvolles Material,
aber nur selten tritt die warme Begeisterung und das lebendige 2
Interesse an der Persönlichkeit, die geschildert wird, hervor,
ein Interesse, das. zu erwarten wir wohl berechtigt sind. Aller
dings, Rhenanus hält sich überhaupt sehr bescheiden im Hinter
grund , nicht einmal schildert er seine nahe Beziehung zu
dem grossen Philologen oder prahlt mit seiner Vertraut
heit. Man kann ihm auch nicht vorwerfen, dass er bei der
Schilderung des Erasmus Gold auf Gold gemalt, sein Lob
des Gelehrten wird wohl Jeder billigen, höchstens die
Notiz von der Beständigkeit seiner freundschaftlichen Gefühle
dürfte eine subjective Ansicht sein. Sehr schön schildert er
1 Merkwürdig, dass der getreue Freund des Erasmus nicht einmal dessen
Geburtsjahr kennt.
2 Dennoch ist die Darstellung an einigen Stellen wieder ziemlich lebhaft,
z. B. wenn er Sintheim’s Prophezeiung von der grossen Zukunft des
Erasmus,' oder die Geschichte, wie Erasmus mit dem Pestarzt verwech
selt und beschimpft wird, erzählt, oder wie er beim Aldus Manutius
warten muss.
Des Beatus Rhenanus literarische Thätigheil.
375
dagegen, was Erasmus hätte werden, was er hätte thun können
und was er wirklich that. Durch den Kaiser hätte er Alles
werden, durch die Fürsten in Pracht und Glanz leben können,
doch habe er es vorgezogen, rastlos der Wissenschaft zu dienen
und so sei durch seine Bemühungen, wie die Sonne aus den
Wolken geht, die •— Philologie emporgestiegen. — Der Schluss
der Biographie wendet sich wieder an den Kaiser und fordert
ihn auf, seiner Pflicht eingedenk und wie seine Vorgänger
wie schon der zweite 1 Kaiser Borns Octauian u. A. der Wissen
schaft ein Gönner zu sein, der Wissenschaft, ohne die eine
schauderhafte Finsterniss Alles bedecken würde und die Men
schen von den Bestien (a brutis animantibus) nicht zu unter
scheiden wären.
Hat nun auch diese Biographie das nicht gehalten, was
wir uns von dem genauesten Freunde des Erasmus, was wir
uns von dem Verfasser der deutschen Geschichte erwarteten,
so dürfen wir doch deshalb nicht unbillig werden. Die Kunst
der Biographik ist schwierig und nicht Jedem gegeben. Sie
erfordert eine grosse Geschicklichkeit im Charakterisiren und
Gruppiren, tiefes psychologisches Verständniss, geschärften Blick
für alle Eigenthümlichkeiten und Besonderheiten, Virtuosität
im Auffinden dos Bezeichnenden und im Ausscheiden des Un
wichtigen. — Alles das ist nicht die Sache jener Zeiten, jener
Männer. Begränzt ist der Kreis ihrer Muster, an die sie sich
in Form und Darstellung anschliessen. So entstehen jene
biographischen Persönlichkeiten ohne Hintergrund, ohne Körper.
Reich behängt mit dem Flitterschmucke panegyrischer Super
lative schreiten sie Alle einher, Einer dem Andern gleichend.
— Dadurch entsteht jene trostlose Uniformität, bei der die
individuelle Besonderheit sich verbirgt oder gänzlich ver
schwindet.
Aber namentlich bei Rhenanus dürfen wir nicht unbillig
werden; jetzt am Schlüsse meiner Aufsätze liegt mir daran,
den erfreulichen Eindruck, den dieses Mannes Leben und
Wirken gemacht, nicht zu stören. Fragen wir uns lieber:
worin lag des seltenen Mannes Bedeutung? Ich meine nicht
zu irren, wenn ich sie in der aller Tendenz entbehrenden,
1 Als Erster wird Julius Cäsar angesetzt, ein Fehler, den — irre ich nicht —
auch Wimpfeling macht.
Horawitz. Des Beatus Rlienanus literarische Thätigkeit.
376
stets nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit suchenden
gründlichen Forschung, wenn ich sie in der scharfsinnigen und
doch vorsichtigen Kritik finde. Nicht blos — wie Schöpflin
(Alsatia illustrata Vorrede) 1 sagt — als der erste Historiker
des Eisass, sondern -überhaupt als Einer der hervorragendsten
unter den Humanisten Deutschlands erscheint er mir. 2 Denn
er war es, der mit den Lügengeschichten und den Larven auf
dem Boden der Ueberlieferung glücklich aufräumte, er war
es, der auf die reinsten Quellen zurückführte, er war es, der
als Philolog nicht blos, sondern auch als Historiker eine ächt
wissenschaftliche Methode besass. Kein Geringerer, als der
grosse Scaliger gebrauchte über ihn das bedeutende Wort:
Rhenanus hat das Alterthum wieder auf die Füsse
gestellt. 3
Ist des Rhenanus Name heutzutage auch den Gebildeten,
ja sogar manchem Fachgenossen unbekannt, so prangt er
doch ruhmvoll und unvergesslich im Ehrenbuche des deutschen
Geisteslebens und in der Geschichte der zwei Wissenschaften,
denen er so eifrig, denen er so erfolgreich gedient! Denn er
steht mitten unter den Ahnherren jener langen Reihe ehren
hafter Gelehrtengeschlechter, deren ganzes Sein in dem Streben
aufging, den schönen, grossen und, edlen Sinn der Alten der
Menschheit zu erschlossen und diese dadurch menschlicher und
freier zu machen.
1 Omnium, qui ex Alsatia prodierunt, Historicorum doctrina et perspicacia
mentis praestantissimum.
2 J. Scaliger (Scaligerana) I, p. m. 129. II. p. 204 zählt ihn zu den
berühmtesten Gelehrten Deutschlands, dem nicht blos Deutschland, son
dern alle Gelehrten für die Herstellung der alten Autoren danken sollten.
3 Andere Würdigungen hat Mälily 1. c. 248 zusammengestellt, so z. B.
die des Scioppius, des Kobortell, des Pope Blount u. A. Ich erwähne
hier nur noch der Worte Schöpflin’s, der die Rerum Germ. 11. ein
goldenes Buch nennt und sich I. 333 über Rhenanus folgendermasgen
äussert: post Literas restauratas solcrs historicarum rerum indagator,
Critieo judieio pollens.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
LXXII. BAND. II. HEFT.
JAHRGANG 1872. — NOVEMBER.
25
Sitzt, d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. II. Hft.
379
XXIV. SITZUNG- VOM 6. NOVEMBER 1872.
Der Secretär legt vor
1. ein Dankschreiben des neu gewählten correspondirenden
Mitgliedes Herrn Prof. Dr. Stumpf in Innsbruck.
2. das durch Vermittlung der k. und k. Gesandtschaft in
Madrid der kais. Akademie offerirte Werk des Don Aureliano
Fernandez-Guerra y Orbe betitelt El Fuero de Aviles (Ma
drid 1865).
Das wirkliche Mitglied Herr Prof. Dr. Julius Ficker in
Innsbruck sendet die Fortsetzung seiner Abhandlung ,über das
Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute'.
Das correspondirende MitgliedHerr Prof. Dr. M. Biidinger
legt Untersuchungen über ,egyptische Einwirkungen auf hebräi
sche Cuite' vor.
Das correspondirende Mitglied Herr Prof. Dr. Fr. von
Schulte in Prag sendet eine Abhandlung:,Beitrag zur Geschichte
des canonischen Rechts von Gratian bis auf Bernhard von
Pavia'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academie Imperiale des Sciences de St. Petersbourg: Memoires. VII® Serie.
Tome XVI, Nrs. 9—14 (1871); Tome XVII, Nrs. 1-12 (1872); Tome
XVIII, Nrs. 1—7 (1872). St. Petersbourg; 4». — Bulletin. Tome XVI,
Nrs. 2—6 (1871); Tome XVII, Nr. 1—3 (1871—72). St Petersbourg; 40.
Accademia, Reale, Dei Lincei: Atti. Tomo XXV. Anno XXV. Sessione
1»—3». Roma, 1871—72; 4».
Akademi e der Wissenschaften, Königl. Schwedische: Handlingar. Ny Följd.
VII, Bd. 2. Hft. (1868); VIII. Bd. (1869); IX. Bd. (1870). Stockholm,
1869 — 1S71; 4°. — Öfversigt. XXVI u. XXVII. Argängen, Stockholm,
1870 & 1871; 8°. — Lefnadsteckningar. Bd. I, Hft. 2. Stockholm
25*
380
1870, 8°. —Meteorologlska Jakttagelser i Sverige. IS.—XI. Bd. 1867 —
1869. Stockholm, 1869—71; Quer-4 n . — Carlson, F. F., Minnesteck-
ning öfver Erik Gustaf Geijer. Stockholm, 1870; 8°.
Academy, The Wisconsin, of Sciences, Arts, and Lettres: Bulletin. Nos
2—5. Madison, 1871; 8°. — Act of Ineorporation. 8°.
Bericht über den Handel, die Industrie und die Verkehrsverhältnisse in
Nieder-Oeaterreich während des Jahres 1871. Erstattet von der Handels
und Gewerbekammer in Wien. Wien, 1872; 8°.
Commission Imperiale Archeologique ä St. Petersbourg: Compte-rendu
pour l’annee 1869. St. Petersbourg, 1870; 4°. Avec un Atlas in folio.
F.ernandez-Guerra y Orbe, Aureliano, El fuero de Aviles. Discurso.
Madrid, 1865; 8 n .
Gesellschaft der Wissenschaften, K. Dänische: Skrifter. 5 Raekke, natur-
vidensk. og matliem. Afd. IX. Bd. 5. ICjrrbenhavn, 1871; 4°. — Oversigt
i Aaret 1871, No. 2. Kjobenhavn ; 8°.
Gesetzsammlung, russische, vom Jahre 1857. (Fortsetzung. 2 Bände.)
St. Petersburg, 1871; kl. 4°. (Russisch.)
Institut Egyptien: Memoires ou travaux originaux. Tome I er . Paris, 1862;
4°. — Bulletin. Annees 1859 — 71, Nrs. 1—11. Alexandrie, 1859—1872; 8°.
Lii ttich, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1868—69.
8° u. 4».
Report, Annnal, of the Board of Supervisors of the Louisiana State Univer-
sity, for the Year ending December 31, 1870. Session of 1871. New
Orleans, 1871; 8°.
„Revue politique et litteraire“ et „La Revue scientifique de la France et
de l’etranger“. II C Anuee, 2° Serie, Nrs. 17—18. Paris & Bruxelles,
1872; 4°.
Society, The Asiatic, of Bengal: Bibliothcca Indica Old Series. Nr. 227;
New Series. Nrs. 231—243. Calcutta, 1871 ; 4° &. 8°.
Young, Edward, Special Report on Immigration; accompanying Information
for Immigrauts etc. Washington, 1872; 8°.
Ficker. lieber das Eigenthum des Reichs am Reich,skirchengute-
381
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchen-
gute.
Von
Julius Ficker.
IY.
38. Nutzungsrechte des Reichs am Reichskirchengute. Regalien
recht hei Erledigung der Kirche. — 39. Spolienrecht. — 40. Regaliensperre.
— 41. Regalienrecht bei Hoftagen — 42. Reichsverwaltung bei besetztem
Stuhle. — 43. Die Leistungen der Reichsbischöfe und Reichsabte als Beweg
grund dfer königlichen Schenkungen. — 44. Verpflichtung zu besonderer Unter
stützung des Reichs wegen des verliehenen Gutes. — 45. Einzelne Lei
stungen. — 46. Bedeutung des Reichskirchengutes für das Reichskriegswesen.
Verpflichtung zur Reichsheerfahrt. — 47. Kosten der Heerfahrten. — 48. Los
kauf von der Heerfahrt. — 49. Kriegsdienst der weltlichen Fürsten vom
Reichskirchengute. Königliche Benefizien aus Reichskirchengut. — 50. Reiclis-
kirchenlehen der weltlichen Fürsten und des Königs.
38. Fassen wir die ausgedehnten Nutzungsreclite des
Reichs am Reichskirchengute genauer ins Auge, so er
gibt sich einmal bestimmt die Auffassung, dass der bezüglichen
Kirche als solcher nicht blos kein Eigenthum, sondern nicht
einmal ein Recht auf Besitz und Nutzung des zu ihr gehörigen
Gutes zukommt. Nur ihr zeitweiliger Vorsteher erwirbt ein
solches Recht durch die ihm vom Könige ortheilte Investitur;
erlischt die Wirksamkeit der Investitur, so fallen auch Besitz
und Nutzung des Gutes an den König als Eigenthümer zurück.
Weiter aber ergibt sich, dass der Eigenthümer auch für die
Dauer der Investitur keineswegs auf jede Nutzung seines Gutes
verzichtet; überlässt er die unmittelbare Nutzung dem Inve-
stirten, so wird es ihm mittelbar dadurch nutzbringend, dass
der Investirte zu sehr bedeutenden Leistungen an das Reich
382
Ficker.
verpflichtet ist; sogar die unmittelbare Nutzung steht dem
Könige bei Lebenszeit des Investirten in Einzelfällen zu.
Auf jene erste Auffassung führt insbesondere das Re
galienrecht bei Erledigung der Kirche. Nach kirch
lichen Vorschriften sollte nach dem Tode des Bischofs das
Gut der Kirche von einem Oeconomen zum Nutzen des Nach
folgers verwaltet werden. Statt dessen fallen bei den Reichs
kirchen die das gesammte Gut umfassenden Regalien nach
dem Tode des Investirten an den König zurück und verbleiben
in Besitz und Nutzung desselben, bis er dieselben dem Nach
folger durch Investitur übertragen hat. Nur freilich so, dass
diese und andere verwandte Befugnisse des Königs unmittel
bar nur die Güter und Rechte treffen, welche dem Investirten
zur freien Verfügung standen. Was vom Gute dem Capitel
und den abhängigen Kirchen zugewiesen oder an Vasallen und
Ministerialen verliehen war, blieb natürlich in ihrem Besitze,
sie folgten gleichsam ihrem Gute an den König als den obern
Herrn, dem sie dann aber auch unmittelbar zu den Leistungen
verpflichtet waren, welche sonst zunächst dem Investirten ge
bührt hätten.
Zeugnisse dafür, dass von den Königen und andern
Grossen die Einkünfte des Kirchengutes bei erledigtem Stuhle
beansprucht wurden, finden sich schon vielfach in fränkischer
Zeit (vgl. Thomassin P. 3 1. 2 c. 54). Kirchlicherseits wird
das allerdings als unberechtigter Eingriff behandelt, anderer
seits aber doch auch wieder der König als Hüter des Gutes
anerkannt, nur nicht zu eigenem Nutzen. Dass schon der Ent
stehung des anfangs als Missbrauch betrachteten Rechtes die
Anschauung eines Eigenthums des Königs am Gute der Bis-
thümer zu Grunde lag, dürfte kaum wahrscheinlich sein. Eher
glaubte ich annehmen zu dürfen, dass das besondere Bedürf
nis eines Schützers für das Gut bei Erledigung auf die Fest
setzung jener Anschauung einwirkte (vgl. § 16).
In späterer Zeit aber handelt es sich da in keiner Weise
um missbräuchliche Ausdehnung staatlicher Hoheitsrechte. Es
handelt sich einfach um die Anwendung eines allgemeinen
Grundsatzes auf die dem Reiche gehörenden Kirchen, des
Grundsatzes nämlich, dass Kirchengut mit dem Tode des In
vestirten an den Investitor zurückfallt. Das ergibt sich deut-
Ueber das Eigenthnm des Reichs am Reicbskircliengutt*.
383
lieh daraus, dass wir noch später auch da, wo der Investitor
ein Geistlicher ist, ganz denselben Grundsatz eingehalten
finden, was denn hier ganz zu denselben Missbrauchen führte,
wie da, wo die Investitur einem Laien zustand. So heisst es in
einer Aufzeichnung über die Rechte des Probstes am Stifte
St. Kastor zu Coblenz aus dem Anfänge des dreizehnten Jahr
hunderts, dass an diesem die Früchte erledigter Pfründen nicht
dem investirenden Probst, sondern der Kirche zu Gute kommen :
Talis autem consuetudo non inutiliter ddscrepat ab institutis
aliarum ecclesiarum, in qnibus vacantia seu suspensa stipendia
ad eum, de cuins manu ipsorum pendet donum, redire solent,
tum quia, dum ecclesia inde iuvatur, abusio sic vitatur, tum
etiarn quod cupiditas illa, que vel protrahende investiture vel
immoderati gravaminis causa esse potest, tune prepositis ampu-
tatur, quando in Ms nullus ab eis fructus privatus expectatur
(Beyer U. B. 2, 361).
Das hat sich denn auch weiterhin in verschiedenen Formen
erhalten. Das kirchliche Jus deportuum ist offenbar ganz aus
derselben Auffassung hervorgegangen, wie das Regalienrecht
des Königs. Erklärt K. Friedrich I., dass das Gut des Bis
thums ad eandem manum zurückfalle, de cuius munere eas con-
stat descendisse (Bouquet Scr. 16, 695), so handelt es sich um
dasselbe Recht; nur dass es hier von einem Laien, dort
von einem Geistlichen geübt wird.
Fehlen aus früherer Zeit bestimmte Zeugnisse über die
Uebung des Rechts durch die deutschen Könige, so haben wir
doch keinen Grund, zu bezweifeln, dass K. Friedrich I. mit
Grund sagen durfte, dass er dasselbe ex antiquo iure reguin et
imperatorum atque ex cotidiana consuetudine übe. Von ihm
selbst ist es rücksichtslos ausgeübt worden (nähere Belege bei
Scheffer-Boichorst K. Friedrichs I. letzter Streit mit der Curie
190). Das Recht erscheint jetzt mehrfach in der Weise ge
nauer bestimmt, dass die Einkünfte dem Könige durch ein Jahr
nach dem Tode des Bischofs zustehen. Das geht zweifellos
weit über den Zeitraum hinaus, der in der Regel bis zur Be
stellung des Nachfolgers verfloss, da nach Reichsrecht die Wahl
binnen sechs Wochen geschehen sein sollte (Sächs. Landr. 3,
59 § 2). Aber der König hatte es immer in der Hand, durch
Verzögerung der Investitur sein Nutzungsrecht übermässig aus-
384
Ficker.
zudehnen, und zumal bei Reichsabteien scheint das nicht selten
geschehen zu sein; heisst es von Lorsch, dass es unter K.
Heinrich Y. nach Entsetzung eines Abtes durch sechs Jahre
in dispositione imperiali war, dass unter K. Konrad III. nach
dem Tode eines Abtes durch drei Jahre abbatie procuratio ad
regalem manum devolvitur (Mon. Germ. 21, 435. 444), so wird
das zweifellos durch missbräuchliche Ausdehnung des Regalien
rechtes zu erklären sein. Es konnte daher im Interesse der
Kirchen selbst liegen, wenn dafür mit Feststellung eines be
stimmten, wenn auch weitgegriffenen Zeitpunktes der Grund
entfiel. Ein ähnlicher Brauch wird sich dann auch bezüglich
der andern Herren gehörigen Kirchen entwickelt haben, so
dass hier zweifellos der Ausgang der spätem kirchenrechtlichen
Annaten zu suchen ist. Doch wird dadurch eine ausgedehn
tere Befugniss des Königs bei ausnahmsweiser längerer Erledi
gung, wie sie insbesondere durch eine streitige Wahl herbei
geführt werden konnte, nicht beseitigt sein; noch 1205 ver
pflichtet sich K. Philipp, Verpfändungen des Wirzburger
Kirchengutes auch für den Fall anerkennen zu wollen, si
decedente electo discordes fuerint successuri episcopi electores et
ex eorum discordia reditus episcopatus ad manus nostras deve-
nennt (Mon. Boica 29, 510).
Es war dann Pabst Innocenz III., welcher die Gunst der
Umstände benutzend von den auf seine Unterstützung ange
wiesenen Königen den Verzicht auf diese und andere verwandte
Befugnisse durchzusetzen wusste. Im Privileg K. Otto’s von
1209 und gleichlautend in dem K. Friedrichs von 1213 heisst
es: lllum quoque dimittimus et refutamus abusum, quem in occu-
pandis bonis decedentium praelatorum aut etiam ecclesiarum va-
cantium nostri consueverunt antecessores committere pro motu pro-
priae voluntatis (Mon. Germ. 4, 217). Werden in diesen und
ähnlichen Urkunden, deren Fassung wohl durchweg von der
Curie vorgeschrieben war, die aufgegebenen Rechte als Miss
brauch bezeichnet, so wird uns das nicht einmal für die Auf
fassung dieser Zeit massgebend sein dürfen. Innocenz hat sich
in solchen Dingen nicht mit dem sachlichen Erfolge begnügt.
Was er will, dass soll ihm gewährt werden nicht in der Form
eines freiwilligen Verzichtes, sondern als etwas, worauf er ein
Recht hat, für dessen Gewährung die Kirche Niemandem zu
Ueber das Eigonthum des Reichs am Reichslnrcliengute.
385
Danke oder zu irgend welcher Entschädigung verpflichtet ist. Es
genügte ihm nicht, die Könige zum Verzichte auf die mittel
italienischen Reichslande zu nöthigen; die Widerrechtlichkeit,
die er sich durch Besetzung derselben hatte zu Schulden
kommen lassen, sollte dadurch verdeckt werden, dass er den
Verzicht in Formen verlangte, welche umgekehrt den bisheri
gen Besitz des Reiches als widerrechtlichen erscheinen liessen.
So auch hier. Es handelte sich nicht blos um die Sache; es
sollte damit zugleich eine Demüthigung des Königsthums ver
bunden sein. Es konnte doch nicht leicht etwas der Würde
des Reichs schwereren Eintrag thun, als wenn diese Könige
sich dazu verstanden, auf das wohlbegründete Recht ihrer Vor-
ganger nicht nur ohne jeglichen Ersatz zu verzichten, son
dern dasselbe auch als verabscheuungswürdiges Unrecht anzu-
erkennen.
K. Friedrich hat dann 1216 in Verbriefungen für die
Reichskirchen selbst in weniger anstössiger Form auf das Recht
verzichtet, wonach seine Vorgänger gewohnt waren, redditus et
proventus per totins primi anni circulum ita prorsus auferre,
nt nec solvi possent debita decedentis, nee succedenti prelato
necessaria ministrari (Mon. Germ. 4, 227). Damit scheint nun
nicht zu stimmen, wenn noch 1238 der Rechtsspruch erfolgt,
quod teloneum, moneta, officium scidteti et iudicium seculare, nec
non et similia, que principes ecclesiastici recipiunt et tenent de
manu imperiali et predecessoruin nostrorum, sine consensu nostro
infeodari non possint, cwnque quilibet Imperator in indicta curia
percipere debet integraliter et vacantibus ecclesiis omnia usque ad
concordem electionem habere (Mon. Germ. 4, 329).
Man könnte annehmen, es habe sich bei der Verbriefung
von 1216 nicht um Beseitigung des Rechtes überhaupt, sondern
um die Ausdehnung desselben auf ein ganzes Jahr gehandelt.
Das dürften aber weder die sonstige Fassung, noch die vorher
gehenden ganz allgemeinen Verzichte zulassen. Ich denke viel
mehr, dass sich eine Unterscheidung dahin festgestellt hat, dass
Einkünfte aus Hoheitsrechten, welche überhaupt nie Privat
eigenthum sein, auch von Laien nur lehnweise besessen werden
konnten, nach wie vor bei Erledigung dem Könige zukamen,
nicht aber die Einkünfte aus dem liegenden Gute der Kirche.
Mit dem Wortlaute der Verzichte von 1209 und 1213, wo von
386
F i c lc o r.
den bona ecclesiarum vacantmm die Rede ist, ist das durchaus
vereinbar; scheint die Verbriefung' von 1216 solche Unter
scheidung weniger zuzulassen, so ist wenigstens nirgends aus
drücklich gesagt, dass der König auf Nutzung aller und jeder
Regalien verzichtet hat. Unserer Annahme scheint auch zu ent
sprechen, wenn 1281 erwähnt wird, dass der König zu Lüttich
bei Sedisvacanz herkömmlich das Recht hat, einen Villicus zu
senden, dem die Ernennung der Schöffen, demnach wohl über
haupt die Verwaltung jener Hoheitsrechte zustelit; dagegen be
stellt das Capitel einen Verwalter für die Güter, deren über-
schiessende Einkünfte dem nachfolgenden Bischöfe zu Gute
kommen (Schoonbroodt Inventaire de eh. du chap. de S. Lam
bert a Liege 95).
Keinenfalls wird man aber den Rechtsspruch von 1238
mit Zöpfl (Alterth, 2, 43; vgl. oben §. 30) zur Begründung
der Annahme verwerthon können, dass nur jene Ploheitsrechte
Regalien und somit reichslehnbar gewesen seien. Abgesehen
von andern, früher erörterten Gegengründen kann nicht einmal
die Fassung der Stelle selbst dafür sprechen. Wenn die Hoheits
rechte, welche man dort im Auge hat, auch nur damals die
Regalien erschöpften, warum ist dann nicht schlechtweg von
einer Verleihung der Regalien überhaupt die Rede? Und noch
weniger wird sich daraus folgern lassen, dass das königliche
Regalienrecht auch früher sich nur auf jene Hoheitsrechte be
zog. Das Regalienrecht überhaupt war ja längst aufgegeben;
es bedarf einer Erklärung, dass es auch nur in diesem Um
fange noch geübt werden konnte. Glaube ich diese darin finden
zu dürfen, dass man es nur für die Hoheitsrechte, nicht für
die übrigen Regalien festhielt, so könnte das dann allerdings
darauf hingewirkt haben, dass man später unter Verkennung
des ursprünglichen Verhältnisses beim Ausdrucke Regalien vor
zugsweise nur jene im Auge hatte, nur auf sie die Belehnung
der geistlichen Fürsten bezog. Doch ist mir für diese letztere
Auffassung auch später kein urkundliches Zeugniss aufgefallen;
griff die erstere wirklich Platz, so würde umgekehrt sich eher
folgern lassen, dass man sich auch später bewusst blieb,
Gegenstand der Belehnung seien nicht blos die Hoheitsrechte,
und desshalb in den Lehenbriefen dem Ausdrucke Regalien
die Ausdrücke Temporalien und Lehen zufügte (vgl. § 21).
Ueber das Eigeuthum des Reichs am Rßichskircliengute.
387
39. Mit dem Regalienrechte häutig zusammen erwähnt,
aber bestimmt davon zu scheiden ist das Spolienrecht.
Was der Bischof oder Abt bei seinem Tode an fahrender
Habe hinterlässt, gilt als erworben aus dem ihm nur auf Le
benszeit zur Nutzung überlassenen Gute, bildet einen Zubehör
dieses und kommt daher weder an seine .Verwandten, noch
aber auch an seine Kirche oder seinen noch nicht vorhandenen
Nachfolger, sondern an den Herrn, an den das Gut selbst zu
rückfällt ; bei Reichskirchen also an den König. Es war das
ein in mancher Beziehung für die Kirche noch lästigeres Recht,
als das Regalienrecht. Denn die Ansprüche des Herrn be
schränken sich nicht etwa auf das hinterlassene Geld und am
dere Werthgegenstände oder was zum persönlichen Gebrauche
des Verstorbenen bestimmt gewesen war, sondern sie erstrecken
sich auch auf die auf den Stiftsgütern vorhandenen Mobilien,
insbesondere auf das Vieh, das Getreide, den Wein und andere
Wirthschaftsvorräthe, so dass der ganze wirthschaftliche Be
trieb empfindlich gestört wurde, da nun beim Amtsantritte des
Nachfolgers weder Saatkorn, noch Vorräthe zum Unterhalte
der Knechte und der Besatzung der Burgen vorhanden waren,
wie wir das aus Privilegien für Köln von 1166 und für Hers-
feld 1184 ersehen, in welchen der Kaiser auf so weitgehende
Ausdehnung seines Rechtes aus besonderer Gnade verzichtet
(Lacomblet U. B. 1, 298; Böhmer Acta 143).
Mit vollem Recht bemerkt Zöpfl Alterth. 2, 45, dass sich
aus rein lehnrechtlichen Grundsätzen das Spolienrecht durch
aus nicht erklären lasse. Aber gewiss eben so wenig, wie er
denkt, aus der Schirmvogtei des Königs, insofern wir dabei
den Schutz im Auge haben, zu welchem derselbe allen Kirchen
gegenüber verpflichtet ist (vgl. §. 37). Das Spolienrecht er
scheint durchaus als Befugniss des Herrn der Kirche, nicht
des Herrschers als solchen; und zwar auch den Bisthiimern
gegenüber, ln Frankreich übt es der König nur bezüglich der
ihm unmittelbar gehörenden Bisthiüner; hat das Bisthum einen
Grossen zum Herren, so steht es diesem zu, wie wir das ins
besondere aus den zahlreichen Urkunden ersehen, durch welche
im zwölften und dreizehnten Jahrhunderte zu Gunsten ein
zelner Bistliümer auf das Recht ganz oder theilweise verzich
tet wird. Auch im Kaiserreiche kommt das vor ; die Grafen
388
Ficker.
von Savoyen verzichteten im zwölften Jahrhunderte auf die
Spolien des Erzbisthums Tarentaise und des Bisthums Aosta
(Gallia christ. 12, 382; Monum. patriae Ch. 1, 979). Nur tliat-
sächlich erscheint das Spolienrecht in Deutschland Bisthiimern
gegenüber als ausschliessliche Befugniss des Königs, weil
diesem die Bisthüpier fast ausnahmslos gehörten. War aus
nahmsweise Heinrich der Löwe Herr der überelbischen Bis-
thümer, so ergeben denn auch die Urkunden, durch welche er
für dieselben das Spolienrecht ausschliesst (Meklenburg. U. B.
1, 59. 74), dass dasselbe hier dem Könige nicht zustand. Auch
wo der Herr ein Geistlicher war, wurde es geübt. So gehörte
die Abtei Petershausen dem Bischöfe von Constanz; als der
Abt 1115 starb, befahl der Kaiser, die Hinterlassenschaft dem
Bischöfe zu übergeben (Mon. Germ. 20, 660). Kirchlicherseits
wurde das Kecht allerdings mit grösserem oder geringerem
Erfolge immer bekämpft. So wurde es auf der Synode zu Kob
lenz 922 dem dominus aecclesiae ausdrücklich abgesprochen;
zwei Drittel des Nachlasses sollten zu wohlthätigen Zwecken
verwandt werden, ein Drittel der Kirche zukommen. So weit
es aber anerkannt oder in Uebung war, erscheint es immer als
Kecht des Herrn der Kirche. Insbesondere auch nicht des
Vogtes, wenn dieser nicht zugleich der Herr ist; wenn der
Vogt als solcher es beansprucht, wird das als Missbrauch
betrachtet. Sehr bezeichnend ist dafür eine Urkunde K. Fried-
richsl. um 1160, wodurch dieser Missbrauch für den Hildesheimer
Spi'engel verboten wird; die Verfügung über den Nachlass
soll dem Bischöfe oder den sonstigen dazu berufenen geistlichen
Personen zustehen; si ve.ro fundus ecclesie ad laice persone
dominium spectat, ipsa supellex secundum pristinae consuetu-
dinis observationem in tres portiones dividatur, quarimi prima
ecclesiae, secimda parentibus, tertia domino fundi ecclesie con-
signetur, nullam vero advocati portionem in bis constituimus
(Böhmer Acta 107.)
Deii deutschen Reichskirchen gegenüber scheint das Recht
vom Könige von jeher geübt worden zu sein. Der Abt von
Lorsch erhält 778 auf dem Todbette vom Könige die aus
drücklich erbetene Erlaubniss, ein Drittel seiner Mobilien für
sein Seelenheil zu Almosen verwenden zu dürfen. Weist der
Verfasser der Lorscher Chronik darauf die Würdenträger seiner
lieber das Eigenthum des Reichs am Reiclislrirchengute.
389
Zeit als Beispiel jetzt nicht mehr üblicher Gewissenhaftigkeit
hin, so scheinen dieselben ziemlich allgemein wenigstens das,
was von Werthsachen in ihrer Hand war, auf dem Todbette
nach Belieben verschenkt zu haben. Von einem spätem Abte
wird das ausdrücklich gemeldet und nicht getadelt, weil er es
den Armen gab, während es sonst an Nichtarme gekommen
wäre (Mon. Germ. 21, 349. 451). Ausdrückliche Zeugnisse für
Uebung des Rechtes finden sich beim Tode des Erzbischofs
von Mainz 913, des Erzbischofs von Bremen 1072 (Belege,
auch für das Folgende, bei Seheffer a. a. 0. 193). K. Fried
rich I. konnte es daher gewiss mit Recht als althergebrachte
Befugniss bezeichnen; behauptet dagegen K. Otto IV., es sei
ein von jenem eingeführter Missbrauch, so wird höchstens an
zunehmen sein, dass von Friedrichs Vorgängern, zunächst etwa
von K. Lothar, das lästige Recht nicht streng geübt wurde. Unter
K. Friedrich I. war das nach mehrfachen Zeugnissen der Fall;
nur einzelnen Kirchen wurden Ermässigungen gewährt. Hein
rich VI. war bereit, auf das Recht zu vei’zichten, legte auf
dasselbe aber so bedeutendes Gewicht, dass er glaubte, das Auf
geben desselben den geistlichen Fürsten als Ersatz für die Zu
stimmung zur Erblichkeit der Krone bieten zu können. Auch
Iv. Philipp, obwohl gleichfalls zum Verzichte bereit, hielt noch
an dem Rechte fest, da er nur aus besonderer Gunst 1205 dem
Bischöfe von Regensburg gegenüber darauf verzichtete. K. Otto
hat sich dann gleich bei seiner Wahl und wieder 1209 zum
völligen-Aufgeben des Rechtes verpflichtet; ein Verzicht, welchen
K. Friedrich 1213 dem Papste wiederholte und dann 1216 und
1220 auch den geistlichen Fürsten selbst verbriefte. Wird die
Abschaffung dennoch dem Bischöfe von Hildesheim erst 1226
als besondere Gnade bewilligt (Huillard H. D. 2, 652), so
dürfte das seinen Grund darin haben, dass dort anscheinend
nicht der König, sondern die Beamten und Ministerialen in
seinem Namen das Recht ausübten.
Hat die Kirche das Spolienrecht, wo es in den Händen
von Laien war, aufs entschiedenste bekämpft und die Beseiti
gung durchzuführen gewusst, so war das auf ihrem eigenen
Gebiete bekanntlich nicht der Fall. Wir sehen auch hier, wie
die Kirche Befugnisse, für welche sich vielleicht auch ein
kirchlicher Gesichtspunkt auffinden liess, welche aber doch in
390
£ i c 1c e i'.
der Form, welche sie gewonnen hatten, zunächst in dem dem
kirchlichen Rechtsgebiete fremden und anstössigen privaten
Ilerrschaftsverhältnisse über Kirchen wurzelte, da fortbestehen
liess, wo sie von Geistlichen geübt wurden, sie wohl gar da,
wo sie die Rechte der weltlichen Herren beseitigt hatte, nun
für sich in Anspruch nahm. Das Recht, auf welches die Könige
dem Drängen der Päbste nachgebend verzichten mussten, wurde
dann später von diesen für sich beansprucht (vgl. Thomassin.
P. 3 1. 2 c. 56. 57).
40. Aus dem Eigenthum des Reichs am Reichskirchen
gute ergab sich weiter das Recht auf Besitz und Nutzung des
selben im Falle der Regaliensperre. Bischöfe und Aebte
waren dem Könige an und für sich zur Treue verpflichtet, wie
je’der andere Unterthan. Ueberdies aber waren sie der Inve
stitur mit den Regalien wegen zu besonderer Treue verpflichtet,
wie denn bei der Investitur auch ein besonderer Treueid ab
gelegt wurde (vgl. Heerschild 54). Mag das Verhältniss nicht
gerade von jeher dem des Vasallen zum Herrn ganz gleich
gestellt sein, so war jedenfalls auch hier immer die Anschau
ung massgebend, dass das Recht auf den Besitz des Gelie
henen die Fortdauer der Treue gegen den Verleiher zur Vor
aussetzung habe. Galt das als selbstverständlich, so wurde es
vereinzelt auch später wohl noch besonders betont. K. Konrad
verleiht 1139 die Reichsabtei S. Maximin dem Erzbischöfe von
Trier und per ipsum suis in perpetuum sitccessoribus canonice
ordinatis et in regni fidelitate manentibus (Beyer U. B. 1, 567).
Wie dem weltlichen Vasallen, so konnte auch dem geistlichen
Fürsten wegen Verletzung seiner Verpflichtungen gegen das
Reich, der allgemeinen, wie der besondern, durch Urtheil das
Gut, mit dem er investirt war, -aberkannt werden.
In solchen Fällen war das Lehngut des weltlichen Va
sallen auch für dessen Erben verwirkt; es stand dem Könige
zu freier Verfügung. Beim Kirchengute zeigt sich da ein Unter
schied. Der Grundsatz, dass dieses der Kirche, zu der es
gehört, nicht dauernd entfremdet werden soll, macht auch sonst
wohl Abweichungen von der lehenrechtlichen Regel nöthig. So
heisst es im Sächs. Lehnr. 76 §. 3, dass der Herr, der dem
Manne aufsagt, damit sein Recht auf das Lehngut verliert, so
tfeber das Eig^ntliura dos Reichs am fteichskircliengute.
391
dass der Mann damit an den obern Herrn folgt, ausgenommen,
wenn es Eigen des Herrn ist, oder hört it in en goddeshus,
dcir’t nicht ut körnen ne mach. Das findet sich auch hier be
achtet. Wird einem geistlichem Fürsten das Gut aberkannt, so
macht das Eigenthumsrecht des Reiches sich allerdings in so
weit geltend, als der König nun in Besitz und Nutzung des
Gutes tritt. Andererseits soll freilich die Schuld des einzelnen
Vorstehers das dauernde Recht der Kirche nicht schädigen.
Nur sein persönliches Recht ist verwirkt; sein Nachfolger hat
wieder einen Anspruch auf die Investitur mit dem Gute. Das
ist ausdrücklich ausgesprochen in einem, wohl von K. lvonrad
III, herrührenden Gesetze: Item si clericus, veluti episcopus vel
abbas, habens beneficium a rege datum, non solum persone, set
ecclesie datum, ipsum per suam culpam perdat, vivente eo et ho
norem ecclesiasticum habente ad regem pertineat, post mortem vero
eius ad successorem revertatur (Mon. Germ. 4, 38). Dem ent
sprechend betont auch Otto von Freising, dass 1154 den Bi
schöfen von Bremen und Halberstadt wegen Nichtleistung der
Heerfahrt regalia personis tantum, qida nec personis, sed ecclesiis
perpetualiter a principibus tradita sunt, abiudicata fuere (Gesta
Frid. 1. 2 c. 12).
Dieses Recht der Regaliensperre wurde von den Königen
nicht selten ausgeübt, und über manche Fälle haben wir ge
nauere Nachrichten. Niemals wird dann ein Unterschied ge
macht, der darauf schliessen liesse, dass die Temporalien nur
zum Theil reichslelmbar, zum Theil aber Eigenthum der Kirche
waren; die gesammten Güter und Rechte der Kirche werden
für das Reich eingezogen und zum Nutzen desselben verwaltet
(vgl. Heerschild 67).
Es liegt auf der Hand, dass gerade in dieser Richtung
das ganze Verliältniss für das Reich von grösster politischer
Bedeutung war, dass darin eine überaus gewichtige Bürgschaft
für die Treue der Bischöfe lag, dass daraus nicht am wenig
sten die Einmüthigkeit zu erklären ist, mit der das deutsche
Bisthum so oft für die Rechte des Reiches auch dem Rabste
gegenüber eintrat. Die Doppelstellung desselben musste da
freilich oft zur peinlichsten Collision der Pflichten führen. Mit
dem häufig ausgesprochenen Satze, dass der Bischof dem Pabste
392
P i c k ö f.
in geistlichen, dem Kaiser in weltlichen Dingen zu gehorchen
habe, war da nicht auszureichen; eine Grunze zwischen dem
Gebiete beider Gewalten, welche beiden hätte genügen können,
hat auch damals niemand zu ziehen gewusst. Es blieb da
nichts übrig, als einen andern, bestimmter hervortretenden Ge
gensatz ins Auge zu fassen, den zwischen den geistlichen und
weltlichen Befugnissen des Bischofs, von welchen er die einen
der Kirche, die andern dem Reiche verdankte, von welchen er
demnach die einen oder die andern durch Ungehorsam gegen
eine der beiden Gewalten verwirkte.
Gingen manche Könige da weiter, suchten sie die Geist
lichen durch die härtesten Zwangsmassregeln etwa zum Halten
des Gottesdienstes während des Interdictes oder anderweitigem,
die Spiritualien betreffenden Ungehorsam gegen Gebote des
Pabstes zu zwingen, so konnte der König bei grösserer Mäs-
sigung es der eigenen Erwägung der Geistlichen überlassen, ob
sie glaubten, gegen ihn gerichteten Geboten des Pabstes nach-
kommen zu müssen. Kur mussten sie dann freilich ihrem Ge
wissen das weltliche Gut zum Opfer bringen. Die Verhältnisse
lagen da kaum anders, als bei dem Vasallen, der von zwei
Herren belehnt ist; gerathen beide in Fehde, so mag er sich für
diesen oder jenen entscheiden, muss aber auf das Gut ver
zichten, das ihm vom andern geliehen ist. Wollte der König
sich auch jedes Zwanges auf kirchlichem Gebiete enthalten, so
konnte er doch natürlich das Gut des Reiches nicht in den
Händen solcher lassen, welche die Bedingung der Treue gegen
das Reich, unter der es ihnen geliehen war, nicht einhielten,
welche den Geboten des Pabstes gehorchend das Reichsgut
zur Bekämpfung des Reichs verwandt haben würden. Diesem
Gesichtspunkte entspricht eine Verordnung K. Friedrichs II;
den Prälaten soll der Wunsch des Kaisers, dass trotz des In-
terdicts celebrirt werden möge, mitgetheilt werden; wollen sie
aber nicht, so soll man sie nicht zwingen, lediglich die Rega
lien für das Reich einziehen (Huillard II. D. 3, 51).
Es ist erklärlich, wenn gerade in Zeiten heftigem Kampfes
zwischen der geistlichen und weltlichen Gewalt von den Kö
nigen ihr Recht in dieser Richtung am rücksichtslosesten ge
übt wurde. Und oft in einer Weise, welche doch nicht blos
Üeber das Eigenthnm des Reichs am Reiclislrirchengute.
B93
den zeitigen Inhaber traf, sondern auch die dauernden Inter
essen der Kirche schädigte. Unter Heinrich V. wurde das
Gut der ungehorsamen Bischöfe nicht blos unter die Verwal
tung kaiserlicher Villici gestellt, sondern auch vielfach an An
hänger des Kaisers zu Lehen gegeben (Jaffe Bibi. 5, 295.
Böhmer Acta 596). K. Friedrich gab 1166 das Salzburger
Kirchengut an Laien zu Lehen (Ann. Reichersb. Mon. Germ.
17, 473); bis zum Frieden von Venedig 1177 blieben die Re
galien in der Hand des Reiches ; dann aber wurden auf Spruch
der Fürsten vom Kaiser alle in dieser Zeit geschehenen
Belehnungen und sonstige Veräusserungen des Kirchenguts
für nichtig erklärt und Erzbischof Conrad mit den Regalien
in dem Stande belehnt, in welchem sie 1164 beim Tode
Erzbischof Eberhards gewesen waren (Mon. Germ. 4, 159).
K. Friedrich II. befahl 1249 seinem Hauptmann in Steier,
alle Güter des Patriarchen von Aglei, des Erzbischofs von
Salzburg und anderer ungetreuer Prälaten einzuziehen und sie
an solche zu verpfänden, welche bereit seien, zur Treue zu
rückzukehren und ihm zu dienen. In solchen Fällen wird nurr
freilich .oft schwer zu entscheiden sein, was dem Könige recht
lich zustand, was er sich willkürlich erlaubte. Durch Ver
leimung und Verpfändung wurde das Gut der Kirche nicht
entfremdet, aber freilich zu ihrem Nachteile belastet. Solche
Belastung stand dem Bischöfe als Besitzer zu, wenn die
Zustimmung des Königs als Eigentümer hinzukam. Daraus würde
sich folgern lassen, dass solchen Verfügungen des Eigentü
mers in Zeiten, wo er zugleich Besitzer war, nichts entgegen-
stehon konnte. Das war aber auch der Fall, wenn das Gut
durch den Tod des Bischofs dem Reiche ledig geworden war;
und dann hören wir doch nie von ähnlichen Verfügungen des
Königs. Auf die in dieser Zeit oft als notwendig erwähnte
Zustimmung des Capitels wird da kaum Gewicht zu legen sein.
Ich denke, dass solche Verfügungen dem Könige allerdings zu
standen, wenn ihn ein Spruch des Fürstengerichts dazu be
rechtigte, und dass sich in dieser Richtung wohl herkömmlich
festgestellt hatte, dass man nur dann zu solchen weitergehenden,
die Kirche selbst benachteiligenden Massregeln griff, wenn es sich
nicht blos um persönlichen Ungehorsam des Vorstehers handelte,
sondern auch Capitel und Clerus ihn dabei unterstützten.
Sitzt, d. phil.-Mst. Cl. LXXII. Bd. II. Hft. 26
394
Ficker.
Auch hier handelt es sich übrigens um ein Recht, welches
nicht blos dem Könige, sondern in entsprechender Weise auch,
jedem andern Herrn einer Kirche zustand. Als der Bischof
von Gurk sich weigerte, von seinem Herrn, dem Erzbischöfe
von Salzburg, die Investitur mit den Regalien zu nehmen, er
klärte K. Heinrich 1228 den Erzbischof für befugt, alle Re
galien von Gurk für sich und seine Kirche einzuziehen (Böhmer
Acta 282).
41. Eine unmittelbare Nutzung gewisser Regalien durch
das Reich ergab sich auch aus dem Regalien recht bei
Hoftagen in Bischofsstädten. Nach den Bestimmungen des
Privilegs für die geistlichen Fürsten von 1220 wurden, wenn
der König in einer Stadt derselben einen öffentlich angesagten
Hoftag hielt, Zoll, Münze und Gerichtsbarkeit von Beamten des
Königs zum Nutzen desselben verwaltet, und zwar für einen
Zeitraum, der acht Tage vor dem Hoftage begann und acht
Tage nachher endete; während dem Könige das Recht nicht
zustehen sollte, wenn er sich anderweitig in der Stadt auf
hielt. Dasselbe ergibt sich aus einem schon besprochenen
Rechtsspruche von 1238 (Mon. Germ. 4, 237. 329; vgl. §. 38).
Auch nach Privilegien, in welchen der König 1209 und 121G
zu Gunsten des Erzbischofs von Magdeburg auf das Recht ver
zichtet, bezieht sich dasselbe nur auf die Zeit eines Hoftages,
während als Gegenstand Zoll, Münze und ceterae ntilitates ge
nannt werden (Orig. Guelf. 3, 640; Huillard H. D. 1, 460).
Findet sich in einer Aufzeichnung über die Rechte des Königs
bei Anwesenheit zu Metz (Klipffel Metz eite episc. et imp. 382)
die Beschränkung auf die Zeit des Hoftages nicht ausdrücklich
ausgesprochen, so scheint doch angenommen zu werden, dass
. der König zu dem Zwecke kommt, um dort Ploftag zu halten.
Findet sich dieses Recht insbesondere in dem Rechts
spruche von 1238 mit dem Regalienrechte Sede vacante zu
sammengestellt, so scheint mir doch nicht, dass beide auf dem
selben Gesichtspunkte beruhen, dass es sich auch hier um die
Eigenthumsrechte des Reichs am gesammten Gute der Kirche
handelt. Denn abgesehen davon, dass dieses Recht sich nur
auf gewisse Regalien bezieht, fehlt es in diesem Falle nicht
an einem berechtigten Besitzer; aus der Stellung des Ober-
Ueber das Eigenthum aes Reichs am Reichskirchengute.
395
eigenthümers zum Nutz eigen thüm er im allgemeinen würde sieh
ein solches Recht nicht erklären; wir müssten denn annehmen,
die Investitur sei nur unter dem Vorbehalte der Unwirksam
keit hei persönlicher Anwesenheit ertheilt.
Solche Vorbehalte finden sich wohl gemacht. So behält
der Erzbischof von Trier 1158 bei Verleihung der Burg Nassau
sich einen Ort zur Erbauung von Wohnhaus und Capelle vor,
qui noster ent proprius, cum ibidem presentes fuerimus, et cum
inde recesserimus, cum predicta possessione ipsis in ins redibit
feodale (Beyer U. B. 1, 672). Etwas Aehnliches findet sich in
einem Privileg von 1157, in welchem der Kaiser, indem er
dem Erzbischöfe und dem Capitel von Vienne die sonstigen
Besitzungen der Kirche einfach bestätigt, ihnen die Stadt mit
Burgen und Pallast unter der beschränkenden Bemerkung
übergibt: Praefata enim civitas regice cathedrce excellentia nullum
;praeter nos debet habere possessorem, sed quamdiu absumus, ipsam .
per eiusdem loci archiepiscopum et per cathedrales canonicos cus-
todiri oportet (Böhmer Acta 95). Dabei handelt es sich aber
sichtlich* um eine Ausnahme, die darin ihre Begründung findet,
dass Vienne Hauptstadt des Königreiches ist, und die uns
nicht zu der Annahme berechtigen wird, dass die Bischofs
städte überhaupt als im Besitze des Königs befindlich und nur
für die Zeit seiner Abwesenheit der Hut des Bischofs anver
traut betrachtet wurden. Auch sonst finden sich wohl Verlei
hungen unter Bedingung einer entsprechenden Leistung bei
Anwesenheit des Königs am Orte. Dem Bischöfe von Basel
verleiht der König Holzbezüge zu Basel, ita quod ipse et sui
successores nobis ac nostris in imperio Romano successoribus,
quamdiu in eadem civitate steterimus, de lignis providere ple-
narie p>ro cottidianis ignibus teneantur (Herrgott. Geneal. 3, 490.)
Aber daraus ergibt sich nur eine Leistung des Bischofs, nicht
ein Vorbehalt zeitweiser unmittelbarer Reichsverwaltung. Die
Verpflichtung der Bischöfe und Aebte zur Beherbergung und
Verpflegung des Königs, für die sich zahlreiche Zeugnisse
finden, ist wesentlich verschieden von jenem Rechte, wonach das
Reich bei Hoftagen in unmittelbaren Besitz und Nutzung gewisser
Regalien trat. Dieses Recht scheint vielmehr zusammenzuhängen
mit dem in den Rechtsbüchern (Sachs. Landr. 3, 60 §. 2; Schwab.
26''
396
tfickef.
Landr. 133) ganz allgemein ausgesprochenen Satze, dass dem
Könige überall, wohin er kommt, Münze, Zoll und Gericht
ledig sind. Es macht sich da der Begriff von Hoheitsrechten
geltend, welche nicht Privateigenthum seien können, überall
dem Könige zustehen, der sie nur in seiner Abwesenheit
durch andere übt, bei Anwesenheit selbst in deren Stelle ein-
tritt, wie das insbesondere bezüglich des Gerichtes auch sonst
oft ausgesprochen ist. Entsprechende Befugnisse stehen dem
Könige denn auch in Städten zu, welche nicht Bischofsstädte
sind (vgl. z. B. Jäger Ulm 728). Die Beschränkung auf die
Zeit der Hoftage scheint nach dem Privileg von 1220 eine
neuere Concession des Königs zu. sein. Und ist von einer ent
sprechenden Befugniss des Königs in Städten weltlicher Fürsten
nicht die Kede, so erklärt sich das daraus, dass die Hoftage
ausschliesslich in Reichsstädten oder Bischofsstädten gehalten
wurden.
Jedenfalls wird uns dieses Verhältniss nicht zu dem
Schlüsse berechtigen, dass nur jene Hoheitsrechte den Gegen
stand der Belehnung bei Reichskirchen gebildet hätten. Denn
es handelt sich hier in keiner Weise um ein Recht, welches
dem Obereigenthümer überhaupt an dem gesammten von ihm
geliehenen Gute zugestanden hätte, sondern um ein Recht,
welches der König überall nur bezüglich gewisser von ihm
verliehener Hoheitsrechte übte. Das mag dann darauf einge
wirkt haben, dass, nachdem der König auf das auf andern Ge
sichtspunkten beruhende Regalienrecht bei erledigtem Stuhl
im allgemeinen verzichtet hatte, es auch hier in der Beschrän
kung auf jene bestimmten Hoheitsrechte noch fortgeübt wurde
(vgh §• 38).
42. Wir finden endlich Fälle einer Verwaltung der
Regalien durch das Reich bei besetztem Stuhle.
War der Bischof ein schlechter Verwalter der Regalien, so
wurde dadurch das Interesse des Reichs nicht minder geschä
digt, als das der Kirche. Es konnte dann der Gedanke nahe
liegen, die Regalien in unmittelbare Reichsverwaltung zu
nehmen. Lag aber kein Grund vor, ihm die Regalien durch
Urtlieil abzuerkennen, so konnte das wohl nur geschehen, wenn
er selbst seine Zustimmung dazu gab und die Regalien dem
Ueber das Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute.
397
Könige freiwillig resignirte. So sagt der Kaiser 1236 von dem
den Aufgaben der weltlichen Herrschaft nicht gewachsenen Bi
schöfe von Brixen: spontanea voluntate in manibus nostris una
cum confratnbus suis capitulo et de assensu et de consilio mini-
sterialium suorum resignavit omnia iura regalia eiusdem ecclesie,
tarn in castris, quam in civitatibus, villis, oppidis, ministeria-
libus, hominibus et aliis rationibus suis, in nostra et imperii
custodia, procuratione et affectione singula committens, ut ea
custodiri ad indemnitatem ecclesie faciemus et efficaciter procu-
rari (Huillard 4, 898); werden dann einzelne Güter ausdrück
lich zum Unterhalte des Bischofs angewiesen, so ergibt sich
doch auch hier wieder deutlich, dass die Begalien die gesamm-
ten weltlichen Güter und Rechte der Kirche umfassen. Aehn-
liclie Massregeln finden wir 1282 und 1294 bezüglich der
Reichsabtei Fulda getroffen (Dronke Cod. dipl. Fuld. 418;
Böhmer Acta 379). Die Zustimmung mochte dann freilich unter
Umständen erfolgen, wo sie nicht zu umgehen war. Wenn da
gegen K. Friedrich 1236 ohne Zustimmung des Bischofs das
Stift Trient unter Reichsverwaltung stellte, sich nur darauf be
rufend, dass so besser für die Kirche und ihr Gebiet gesorgt
sei, so haben wir darin wohl nur einen durch politische Gründe
veranlassten Willkürakt zu sehen (vgl. Ital. Forschungen 2,
508. 3, 454). Jedenfalls werden aber solche Massregeln doch
einen weiteren Beweis dafür geben, dass man dem Reiche ein
Obereigenthum an den gesammten Temporalien der Reichs
kirchen zusprach.
43. Fassten wir bisher insbesondere die .Fälle ins Auge,
wo dem Reiche unmittelbar Besitz und Nutzung des Kirchen
gutes zustand, so sind damit die Nutzungsrechte des Reiches
an demselben in keiner Weise erschöpft. Es wurde ihm ins
besondere nutzbar durch die ausgedehnten Leistungen der
Reichsbischöfe und Reichsäbte, zu welchen diese dem
Reiche als zeitweise Besitzer des Reichskirchengutes ver
pflichtet waren.
In diesen haben wir zweifellos vorzugsweise denBeweg-
grund zu den könig 1 ichen Ver gabungen an die Reichs
kirchen zu sehen. Die bisher besprochenen Befugnisse, welche
wohl, zu zeitweise sehr bedeutenden, aber doch ganz unregel
mässigen Einkünften des Reichs führten, reichen dazu nicht
398
Ficker.
aus. Auch wird es keines Beweises bedürfen, dass der fromme
Sinn der Herrscher, so sehr er in den Urkunden betont werden
mag', da nur eine ganz untergeordnete Bedeutung hatte; wo
wir wirklich der besondern Sachlage nach das Motiv zunächst
in Frömmigkeit zu suchen haben, da sind es in der Hegel
ärmere Stiftungen, nicht die mit weltlichem Gute ohnehin so
reich ausgestatteten Reichskirchen, deren Bedürfnissen der
König durch Schenkungen abhilft. Auch lässt sich deutlich
verfolgen, wie seit dem Investiturstreite, wo das ganze Ver-
hältniss in Frage gestellt war, die Vergabungen an Reichs
kirchen sich ausserordentlich mindern, dann, seit die Könige
ihren ausgedehnten Befugnissen bezüglich des Reichskirchen
gutes nach und nach entsagt hatten, wenigstens in früherer
Weise ganz aufhören; in späterer Zeit finden wir solche Schen
kungen in der Regel nur noch dann, wenn dieselben durch ganz
bestimmte persönliche oder politische Beweggründe veranlasst
sind, wenn es sich darum handelt, den bezüglichen Fürsten der
Sache des Königs geneigt zu machen, ohne dass dabei der
Unterschied zwischen geistlichen und weltlichen Fürsten noch
ins Gewicht fiele. Durchaus anders ist das in der frühem Zeit.
Mochten auch da im Einzelfalle persönliche Rücksichten auf
den betreffenden Bischof oder Abt eingreifen, so sieht man
doch bald, dass die zahllosen Vergabungen gerade an Reichs
kirchen in ihrem Zusammenhänge nur dadurch veranlasst sein
können, dass man den dauernden Interessen des Reichs damit
zu dienen glaubte.
Handelt es sich dabei um Verleihungen der Grafengewalt
und anderer staatlicher Hoheitsrechte, so geben politische Ge
sichtspunkte allerdings eine genügende Erklärung. Seit die
Aemter mehr und mehr zu erblichen Lehen wurden und damit
der König die weltlichen Reichsbeamten nicht mehr nach eige
nem Ermessen setzen konnte, lagen die Vortheile auf der
Hand. Waren die bezüglichen Aemter nun auch dauernd mit
, einer bestimmten Reichskirche verbunden, so ergab sich daraus
keine entsprechende Beschränkung der königlichen Befugnisse,
so lange der König unmittelbar oder mittelbar die Person be
stellte, welche die Rechte der Kirche auszuüben hatte. Aber
überwiegend handelte es sich bei den Vergabungen um Güter
und Rechte, bei welchen lediglich die nutzbringende Seite ins
Ueber das Eigenthuin des Reichs am Reichskircliengute.
399
Gewicht fiel. Reichen da rein politische Gesichtspunkte zur Er
klärung nicht aus, so ist diese darin zu suchen, dass zwar Be
sitz, Verwaltung- und Nutzung des Gutes dem jeweiligen Bi
schöfe oder Abte überlassen, dieser aber dafür dem Reiche zu
so bedeutenden Leistungen verpflichtet war, dass er auch in
dieser Richtung zunächst fast nur als ein Beamter erscheint,
der das Gut zum Nutzen des Reichs zu verwalten hat. Auch
in Quellen jener Zeit selbst finden wir. wohl die Auffassung
ausgesprochen, dass der Bischof bezüglich der Temporalien nur
ein Procurator oder Villicus des Königs sei (Petri Damiani
Epp. L. 1 ep. 13).
Bringen wir in Anschlag, wie ausserordentliche Schwierig
keiten es unter den damaligen Verhältnissen haben musste, die
ungeheuren Massen von Reichsgut unmittelbar vom Hofe aus
in genügend nutzbringender Weise zu verwalten; vergegen
wärtigen wir uns die Richtung der Zeit, den freigesetzten Be
amten in einen erblichen Vasallen zu verwandeln, welche bei
einer Verwaltung durch Laien voraussehen liess, dass der Krone
die freie Verfügung über das Gut ohnehin auf die Dauer kaum
gewahrt bleiben würde; ziehen wir in Rechnung, dass die
kirchliche Güterverwaltung durchweg eine geordnetere, nutz
bringendere war, als die der Laien; bedenken wir weiter, dass
auch das eigene persönliche Interesse und das dauernde Inter
esse der Kirche ein genügender Antrieb sein mussten, den
Ertrag des Gutes möglichst zu steigern: so wird sich mit Fug
behaupten lassen, dass die Vergabung von Gütern und nutz
bringenden Rechten an die Reichskirchen, um die Leistungs
fähigkeit derselben zu steigern, gewiss in den meisten Fällen
die für das Reich vortheilhafteste Verfügung war, ihm mittel
bar grössere Erträgnisse sicherte, als wenn es das Gut in
eigener Verwaltung behalten hätte.
44. Die Leistungen der Reichskirchen sind in keiner
Weise etwa nur darauf zurückzuführen, dass sie dem Verbände
des Reichs angehören, den Schutz desselben gemessen und
demnach auch zur Theilnahme an den Reichslasten verpflichtet
sind. Das würde alle Kirchen im Reiche treffen und derartige
Leistungen derselben finden sich auch wohl erwähnt (vgl. §. 37).
Die Leistungen der Reichskirchen aber sind viel zu bedeu
tend, als dass dafür lediglich Reichsangehörigkeit und Schutz-
400
Ficker.
bedürfniss hätten massgebend sein können. Es handelt sich
hier um eine Verpflichtung zu bes o n derer Unter s tüt-
zung des Reiches wegen des geliehenen Gutes. Mit
der Investitur hat das Reich für Lebenszeit des Bischofs keines
wegs auf Nutzung des Gutes verzichtet. Der Bischof hat das
selbe zunächst zum Nutzen des Reiches zu verwalten, ist
diesem zu einer Menge ordentlicher und ausserordentlicher Lei
stungen verpflichtet, während dann die Ueberscliüsse allerdings
ihm persönlich zu Gute kommen.
Diese Auffassung, dass das Reichskirchengut vor allem
auch bestimmt ist, den Bedürfnissen des Reichs zu dienen,
dass die umfassenden Verleihungen an die Reichskirchen zu
nächst auf diesem Gesichtspunkte beruhen, findet sich nicht
selten ausgesprochen. Bei einer Schenkung an Fulda 1024 er
mahnt der Kaiser den Abt, das Kirchengut zusammen zu halten:
Oportet, ut in ecclesiis multe sint facultates et. maxime in Ful-
densi, quia cui plus committitur, plus ab eo exigitur; multa
enim debet dare servicia et Romane et regali curie, propter quod
scriptum est: reddite que sunt cesaris cesari et que sunt dei deo.
Precipimus ergo sub districtione divini iudicii, ut omnes tradi-
ciones regum et decreta apostolicorum atque oblationes fidelium
sub tuta custodia teneantur et fideliter observentur (Dronke Cod.
dipl. Fuld. 350). Der Pabst sagt 1111 von den deutschen
Kirchenfürsten: ministri enim altaris ministri curie facti sunt,
quia civitates, ducatus, marcliias, monetas et cetera ad regni ser-
vitium pertinentia acceperunt (Mon. Germ. 4, 69). Den Erz
bischof von Salzburg tadelt der Kaiser 1160, dass er seinen
Verpflichtungen gegen das Reich nicht nachkomme, cum Salz
bur gensis ecclesia tanto amplioris servitii debito teneatur imperio,
quanto amplius ab imperiali munificentia prae ceteris ditata et
exaltata collatis sibi beneficiis et honoribus gaudere dinoscitur;
er droht ihm, bei längerem Ungehorsam so über die Kirche zu
verfügen, ut et lionor dei et religio non imminuatur, et debitum
servitmm imperio de caeteris rationabiliter exolvatur (Mon. Germ.
4, 130). Bedarf jede Veräusserung oder dauernde Belastung
des Reichskirchengutes der Genehmigung des Königs (§. 34),
so ist dafür der Gesichtspunkt massgebend, dass durch die
Minderung der Leistungsfähigkeit auch das Reich beeinträch
tigt wird. So verbietet K. Otto 998 die missbräuchlichen Ver-
lieber das Eigenthum des Reichs am Reicliskirchengute.
401
leihungen von Kirchengut, quia Status ecclesiarum dei annullci-
tur, nostraque imperialis maiestas non minus patitur detrimen-
tum, cum subditi nobis debita non possunt exhibere obsequia; er
erklärt die geschehenen für nichtig, ut deo et nobis debitum
obsequium valeat exliibere (Mon. Germ. 4, 37). Es wird wohl
geradezu ausgesprochen, dass das Reich ohne die Leistungen
der Reichskirchen, welchen die Hauptmasse des Reichsgutes
übergeben sei, gar nicht bestehen könne. Auf das Verlangen
nach Aufgeben der Investitur antwortete 1111 K. Heinrich:
quid de nobis fieret ? in quo regnum nostrum constaret ? quoniam
omnia fere antecessores nostri ecclesiis concessenmt et tradide-
runt; und der Pabst rechtfertigt seine Bewilligung an den
Kaiser damit: predecessores enim vestri ecclesias regni sui tantis
regalium suorum beneficiis ampliarunt, ut regnum ipsum maxime
episcoporum presidiis vel abbatum oporteat communiri (Mon. Germ.
4, 70. 73).
Wir finden so die Leistungen der Reichskirchen überall
zurückgeführt auf das ihnen übergebene Reichsgut. Es wird
dabei vorausgesetzt, dass das zur Kirche gehörige Gut das
eigene Bedlirfniss derselben übersteigt. Wo das nicht der Fall
ist, werden die Leistungen wohl nachgesehen. Der Abt von
Werden wird 888 wegen seines geringen Besitzes insbesondere
vom Kriegsdienst befreit, nisi forte regia liberalitate adiutus
beneficii copiam quandoque accipiat illud faciendi (Lacomblet
U. B. 1, 40). Das traf denn insbesondere solche Kirchen, bei
welchen eine Divisio des Gutes vorgenommen war. Als K.
Heinx-ich 1023 der Abtei S. Maximin ihr gesammtes, nicht
zum Unterhalte des Abtes und der Brüder nöthige Gut nahm
und es Getreuen zum Lehen gab, die dafür den Kriegsdienst
und den Hofdienst zu leisten hatten, erliess er ihr. überhaupt
das Servitium für das Reich, so lange nicht jenes Gut ganz
oder theilweise an sie zurückgelangt sei (Beyer U. B. 1, 349).
Von Benediktbeuern sagt 1143 der König, dass es von allen
Reichsleistungen befreit sei, quoniam regalia omnia, que eidem
ecclesie collata fuerant, inde penitus ablata sunt (Mon. Boica
7, 102). Derselbe Gesichtspunkt findet sich axich wohl bei
Kirchen eingehalten, welche nicht dem Reiche gehörten. So
war bei der Gründung von Görz durch den Bischof von Metz
bestimmt: quod si (abbas) omnem teneret abbatiae terram, opor-
402
Ficker.
teret et satellites teuere, cum quibus publice militaret; sin autem
nil amplius hdberet, nisi quod ad mensain fratrum pertinerat,
nullum deberet servitium, nisi fratribus ministrare et religioni
providere (Calmet Ii. de Lorr. 1, 338).
Wurde demnach, worauf wir zurückkommen, der Kirche
wohl alles entbehrliche Gut ganz entzogen, um dem Seiche die
Leistungen genügender zu sichern, so erfolgte auch die Ver
gabung von Reichsabteien wohl aus dein ausdrücklich aus
gesprochenen Grunde, weil man erwartete, dass sie in der
Hand des neuen Besitzers, dessen Verpflichtungen sich dadurch
steigerten, dem Reiche nutzbringender sein würden, als bisher.
So bestimmt der König 1152 bei der Vergabung von Altaich
an den Bischof von Bamberg: ut abbati et monachis suis sti-
pendia sua intacta et imminuta permaneant; ea vevo, que fisco
exinde annuatim solvebantur, in usum episcopi de cetero trans-
eant, quatenus episcopus vice abbatis plenius et devotius curia
regali deservire et necessitatibus predicti monasterii commodius
et uberius providere valeat (Mon. Boica 11, 165). Und als Grund
für die Vergabung der herabgekommenen Fürstabtei Lorsch an
den Erzbischof von Mainz 1232 gibt der Kaiser ausdrücklich
an, dass durch den Erzbischof und die Kirche von Mainz
servitium eiusdem principatus imperio debitum, quod per eius-
dem ecclesie impotentiam nobis liactenus est subtractum, integre
poterit exhiberi (Huillard H. I). 4, 327). Eine solche Reichs
abtei wird sichtlich nicht viel anders behandelt, als ein unter
Verwaltung des Abtes stehendes Reichsgut, dessen Erträgnisse
zunächst den Bedürfnissen des Reichs in jener Gegend dienen
sollen. Um 970 ertauscht der Kaiser vom Erzbischöfe von Trier
die Abtei S. Servaes zu Mastricht, ut, quoniam in eisdem par-
tibus pro disponenclis regni negociis pluribus indigemus, nostris
eam successorumque nostrorum perpetualiter usibus adiungeremus
(Beyer U. B. 1, 185).
45- In den einzelnen Leistungen der Reichskirchen
zeigt sich grosse Mannigfaltigkeit. Manche finden sich von
vornherein nur bei einzelnen Kirchen; andere sind allen ge
meinsam, doch so, dass dann auch wohl wieder einzelne Kirchen
durch besonderes Privileg davon befreit sind. Bei manchen
handelt es sich um einen feststehenden Betrag; andere sind
ungemessen, werden nach Belieben des Königs unter Rück-
Ueber das Eigentliura des Reichs am Reichskirchengute.
403
sichtnahme auf die Leistungsfähigkeit der Kirche in Anspruch
genommen. Alle Leistungen der verschiedensten Art werden
wohl unter dem Ausdrucke Servitium regis oder negni zusammen
gefasst, so dass derselbe insbesondere sich auch auf die Ver
pflichtung zur Hoffahrt und zur Heerfahrt erstreckt.
Im engern Sinne bezeichnet der Ausdruck Leistungen an
Geld oder Naturalien, welche zu gewissen Zeiten oder bei be
stimmten Veranlassungen den einzelnen Kirchen zur Last fielen,
wohl durchweg in herkömmlich feststehendem Betrage. Jährliche
Geldzahlungen werden am häufigsten bei Abteien erwähnt; bei
den reichsten scheint der Satz von hundert Pfund üblich ge
wesen zu sein, bei andern ist der Betrag geringer. Zuweilen
besteht das Servitium von vornherein in Naturalien oder es
war die Geldzahlung- durch solche zu ersetzen, wenn etwa die
Nähe des Hoflagers das wünschenswerth machte. Oft handelt
es sich nicht um ein jährliches Servitium, sondern die Ver
pflichtung zur Leistung tritt ein, so oft der König in das be
treffende Land oder in eine bestimmte, der Abtei näher gele
gene Stadt kommt. Bei Bisthümern wird eine jährlich zu zah
lende Königssteuer seltener erwähnt, und sie hat dann oft mehr
den Charakter eines Ehrengeschenkes, wenn etwa einige Pferde,
Waffen oder Kleidungsstücke zu liefern sind. Das Servitium
der Bischöfe bestand insbesondere in den sehr bedeutenden
Leistungen, zu welchen sie dem Könige verpflichtet waren, so
oft dieser in der Bischofsstadt Hof hielt.
Dieses Servitium im engeren Sinne war aber keineswegs
die einzige, noch auch nur die bedeutendste Leistung für das
Reich. Zu dem Erträgnisse, welches dem Könige das früher
besprochene Spolienrecht und Regalienrecht gewährten, kam
die herkömmliche Abgabe bei der Investitur, deren Betrag sich
oft so steigerte, dass die Zahlung den Charakter eines Erkaufens
der Kirche gewann. Bei besondern Veranlassungen wurde wohl
der Gesammtheit der Reichskirchen die Zahlung einer grös
seren Summe für Reichszwecke auferlegt und dieselbe auf die
einzelnen Kirchen nach deren Leistungsfähigkeit ausgetheilt.
Die Verpflichtung, der Bischöfe und Aebte zur Hoffahrt war
eine sehr kostspielige ; mehr noch die Verpflichtung, im Dienste
des Reichs Gesandtschaftsreisen auf eigene Kosten unternehmen
zu müssen. Nicht gering ist es weiter anzuschlagen, dass die
404
Ficker.
zahlreichen Cleriker, welche am Hofe im Staatsdienste ver
wandt wurden, durchweg mit Pfründen an den Reichskirchen
ausgestattet waren. Der König hatte herkömmlich das Recht,
aus jedem deutschen Domstifte ein Mitglied unter Beibehaltung
seiner Pfründe am Hofe zu verwenden. Gewisse Pfründen hatte
der König wohl von vornherein zu vergeben, bei andern ge
nügte sein Wunsch, um sie der von ihm ausersehenen Person
zuzuwenden. Insbesondere die einträglichste Stellung, die des
Probstes, finden wir sehr gewöhnlich in den Händen der
im Reichsdienst verwandten Cleriker ; die angesehensten
von diesen, Reichskanzler und Protonotar, waren oft mit
einer ganzen Reihe von Pfründen an den Reichskirchen
ausgestattet.
46. In eine nähere Erörterung dieser und ähnlicher Ver
pflichtungen denke ich an anderm Orte näher einzugehen. War
es hier zunächst nur meine Absicht nachzuweisen, von wie
grosser Bedeutung die aus dem Eigenthum des Reichs am
Reichskirchengute sich ergebenden Befugnisse waren, so wird
es da genügen können, einen einzelnen Punkt hervorzuheben
und etwas näher zu verfolgen, nämlich die Bedeutung des
Reichskirchengutes für das Reichskriegswesen.
Denn dieser gegenüber scheint mir alles andere, wozu die
Reichskirchen verpflichtet waren, von ganz untergeordnetem
Gewichte zu sein.
Dass bei Reichskriegen die Reichskirchen in erster Reihe
einzustehen haben und zwar wegen ihres Gutes, betont 1157
der Erzbischof von Mainz : Legibus atque decretis irrefragabili
catholicorum virorum, tarn sanctorum patrum, quam piissimorum
principum sanctione diffinitum est, ut ecclesie, que munificentia
sunt imperiali dotate, pro imperiali obsequio et imperii necessi-
tate debeant se ipsas exponere, atque ad imperialis honoris pro-
mooendam maiestatem plena presidia collatione bonorum suorum
presertim in bellico examine, ubi de maiestate imperii agitur,
pro viribus administrare (Guden Cod. dipl. 1, ,225).
Auf die schwer zu lösende Frage, in wie weit die Ver
pflichtung zur Reichsheerfahrt für die geistlichen Für
sten eine strengere war, als für die weltlichen, will ich hier
nicht näher eingehen. Ist die Verpflichtung der letztem wesent
lich nach den allgemeinen lehnrechtlichen Grundsätzen zu be-
Üeber das Eigentlinm des Reichs am Reichskirchengute.
405
messen, so wird uns das für jene nicht in gleicher Weise mass-
gebend sein müssen. Wir finden durchweg, dass das Reichs
kirchengut zu ungleich bedeutenderen Leistungen verpflichtet,
als das Lelingut. Es würde diesem allgemeinen Verhältnisse
nur entsprechen, wenn das auch bezüglich der Heerfahrt der
Fall war. Wie die Verpflichtung der Ministerialen eine strengere
ist, wie die der Vasallen, so würde es nicht auffallen können,
wenn etwa geistliche Fürsten auch dann zur Theilnahme ver
pflichtet waren, wo das bei weltlichen Fürsten nicht der Fall
war, wenn sie etwa eine verhältnissmässig grössere Zahl von
Streitern zu stellen hatten, ihnen die Kosten in ausgedehnterer
Weise selbst zur Last fielen. Ich denke an anderm Orte auf diese
Frage zurückzukommen. Es mag hier genügen, auf einzelne
Thatsachen hinzuweisen, welche darauf schliessen lassen, in wie
ausgedehntem Maasse die Reichskirchen bei Reichskriegen in
Anspruch genommen wurden.
Was die Zahl der zu stellenden Mannschaft betrifft, so
haben wir ein Verzeichniss über die Geharnischten, welche 980
zum kaiserlichen Heere nach Italien zu führen waren. Danach
hatten neunzehn Bischöfe 1072, zehn Aebte 410, zwanzig Her
zoge, Grafen und andere weltliche Grosse 498 Geharnischte zu
stellen (Jaffe Bibi. 5, 471). Es ergibt sich demnach, dass we
nigstens von diesem Heere drei Viertheile von den Reichs
kirchen gestellt waren. Und ich glaube kaum, dass dieses
Verhältniss gerade als ein ausnahmsweises zu betrachten ist.
Ausser Sachsen scheint ganz Deutschland gleichmässig berück
sichtigt zu sein. Vom Herzoge von Niederlothringen heisst es
allerdings, dass er zum Schutze des Landes zu Hause bleiben
und nur zwanzig Streiter schicken soll, was gewiss nicht seiner
vollen Leistungsfähigkeit entspricht. Aehnliche Gründe mögen
auch sonst veranlasst haben, die weltlichen Grossen weniger
zu bex-ücksichtigen. Aber einmal werden solche Gründe dann
auch in andern Fällen wirksam gewesen sein, es würde sich
nicht weniger heraussteilen, dass man zumal für Heereszüge
in entferntere Gegenden vorzugsweise auf die Mannschaft der
Reichskix-chen angewiesen war. Dann aber ist ein anderes zu
berücksichtigen. Von den Reichsabteieu ist nur ein kleiner
Theil genannt; von einem Gi'afen aber heisst es, dass er cum
diutorio abbatum zwölf Geharnischte stellen soll. Das mag auch
406
Ficker.
sonst der Fall gewesen sein. Ich glaube demnach annehmen zu
dürfen, dass in jener Zeit der grössere Theil der Reichsheere
von den Reichskirchen gestellt wurde, selbst wenn wir von dem
später zu besprechenden Umstande ganz absehen, dass auch die
weltlichen Grossen den Kriegsdienst grossentheils für ihnen ver
liehenes Kirchengut leisteten.
Für spätere Zeit sind mir keine Angaben bekannt, welche
eine bestimmte Verhältnisszahl ermitteln Hessen. Aber ich
zweifle nicht, dass auch in der staufischen Zeit die Reichsheere,
so weit sie überhaupt von den Fürsten gestellt wurden, noch
überwiegend aus Mannschaften der Reichskirchen bestanden.
Aus Einzelangaben über die Zahl der Ritter, welche die an
gesehensten der Kirchenfürsten zur Heerfahrt oder auch zu
Hoftagen mit sich führten, sehen wir, dass sie hinter den mäch
tigsten weltlichen Reichsfürsten nicht zurückblieben, dieselben
nicht selten überboten; und konnten da nicht alle Bischöfe es
einem Erzbischöfe von Mainz oder Köln gleich thuen, so war
die Zahl der geistlichen Fürsten an und für sich, wie -der
auf den einzelnen Heerfahrten anwesenden, grösser, als die
der weltlichen.
Die zum Reichskriegsdienst nöthig-e Mannschaft konnten
sich Bischöfe und Aebte in einer Zeit, wo das Söldnerwesen
noch nicht entwickelt war, nur dadurch sichern, dass ein
grosser Theil des Kirchengutes an Vasallen und Ministerialen
zu Lehen gegeben wurde, dessen Nutzung damit der Kirche
dauernd entzogen war.
47. Es war das aber nicht die einzige Last, welche die
Heerfahrten den Kirchen brachten. Es war damit nur die
kriegspflichtige Mannschaft gesichert; bei jeder Heerfahrt waren
nun überdies die Mittel aufzubringen, welche zur Ausrüstung
und . zum Unterhalte der Mannschaften, so weit diese ihnen
nicht selbst oblag, nöthig waren. Für die Kosten der Heer
fahrten standen allerdings manche ausserordentliche Mittel zur
Verfügung. Wir finden in Rechtsaufzeichnungen überaus häufig
die Leistungen an Geld, Lebensmitteln, Pferden und anderen
Ausrüstungsgegenständen aufgeführt, zu welcher die Hinter
sassen der Kirche eben nur im Falle der Reichsheerfahrt ver
pflichtet waren. Insbesondere wurden dann auch die mittel
baren Kirchen herangezogen, welche selbst vom Kriegsdienst
Heber das Eigentlmm des Reichs am Reicliskirchengnte.
407
befreit waren, aber den Bischof oder sonstigen Herren zu
unterstützen hatten.
Aber auch in Verbindung mit den regelmässigen Ein
künften aus dem in den Händen des Bischofs befindlichen
Kirchengute scheinen diese Mittel fast nie ausgereicht zu haben.
Hie und da nahm wohl ein sorgsamer Prälat darauf Bedacht,
aus den laufenden Einkünften Summen für solche Zwecke an
zusammeln, wie das zur Zeit K. Friedrichs I. vom Abte von
Lorsch gemeldet wird (Mon. Germ. 21, 451). In der Regel
hatten die Fürsten die nöthigen Summen nicht bereit liegen.
Dann blieb nichts übrig, als Güter und nutzbare Hoheitsrechte
der Kirche zu verpfänden, wofür in solchem Falle die könig
liche Genehmigung natürlich nicht fehlte; damit war dann ein
Theil der Einkünfte auf lange Zeit vorweggenommen. Zahl
reiche Zeugnisse finden sich da insbesondere aus der Zeit
K. Friedrichs I. Für den Krieg gegen den Lombardenbund
seit 1174 verpfändete der Erzbischof von Köln die Münzgefälle
um 1000, die Zolleinkünfte um 600, zwei Stiftshöfe um 400 Mark
(Lacomblet U. B. 1, 318. 319. 328); und schwerlich werden
diese uns zufällig erhaltenen Verbriefuugen die Gesammtsumme
erschöpfen.
Doch war auch auf diesem Wege das baare Geld
nicht immer so schnell zu beschaffen, als man dessen be
durfte. Dann findet sich mehrfach erwähnt, dass zunächst die
Kirchenschätze unmittelbar verwandt werden oder als Faust
pfand dienen müssen, zu deren Wiederersetzung oder Lösung
dann bestimmte Einkünfte angewiesen werden. Der Erzbischof
von Mainz nimmt urgente imperii necessitate 1163 einen gol
denen Kelch im Werthe von 409 Mark und überweist einigen
Domherren und Laien einen bischöflichen Hof um ihn aus den
Einkünften zu restituiren (Guden C. D. 1, 242). Wie schwer
die Züge K. Friedrichs I. auf den Reichskirchen lasteten, er
weist vor allem eine Urkunde von 1161, in welcher der Kaiser
bekundet, qualiter II. Wirceburgensis episcopus, ad serviendum
nobis et imperio in Italicam expeditionem iturus, in pecunia et
in ceteris, qnae ad tantum negotium et tarn magnum sumpium
necessaria erant, penitus defecit, adeo quod sine omnimoda de-
structione Wirceburgensis episcopatus, qui ab episcopo G. etiam
pro necessitate et servitio imperii ex parte dissipatus erat, tarn
408
Ficker.
difficilis res debitum. et konestum finem sortiri non potuit; dess-
halb hätten Capitel und Ministerialen eingewilligt, alle Kirchen -
schätze zu verpfänden, welche aus sämmtliclien ihnen über
wiesenen Einkünften des Bischofs zu lösen sind. Und wieder
müssen dann 1173 die Kirchenschätze verpfändet werden, um
dem Bischöfe 350 Mark zu schaffen, welche er für die Heer
fahrt nach Italien nötlrig hat. (Mon. Boica 29, 362. 416). Man
sieht übrigens aus diesen Stellen deutlich, wie es sich auch
hier, wie bei sonstigen Leistungen, nicht um eine Verpflichtung
der Kirche selbst, sondern des mit dem Kirchengute inve-
stirten Bischofs handelt.
48. Weiter aber scheint auch das Geld, dessen der König
für die Heerfahrten bedurfte, vorzüglich von den Reichskirchen
aufgebracht worden zu sein. Wurde zur Aufbringung der Kosten
des Friedens von Venedig 1177 den deutschen geistlichen
Fürsten eine Steuer von tausend Mark auferlegt und auf die
einzelnen ausgetheilt (Mon. Germ. 4, 151), so lässt das rvohl
schliessen, dass überhaupt bei Geldnoth des Reiches solche
Umlagen gestattet waren. Wie aber 1177 die Beisteuer zwei
fellos nur von jlen in Deutschland zurückgebliebenen Kirchen
fürsten zu zahlen war, so wird bei Reichskriegen die regel
mässige Form der Unterstützung die des Loskaufes von
der Heerfahrt gewesen sein. Es stand im Ermessen des
Königs, ob er von den einzelnen Fürsten Theilnahme an
der Heerfahrt verlangen, oder aber ihnen den Loskauf gestattön
wollte (Näheres bei Weiland in den Forsch, zur deutschen G.
7, 143 ff.).
Ist wohl von einem Abkaufen der Heerfahrt durch Prin-
cipes schlechtweg die Rede, so scheint das auf Gleichstellung
der geistlichen und weltlichen Fürsten zu deuten. Ob die letz
teren die Pflicht des Loskaufes überhaupt in gleicher Weise
traf, ist mir zweifelhaft, ohne dass es möglich wäre, hier in
Kürze näher darauf einzugehen. Jedenfalls aber glaube ich an
nehmen zu dürfen, dass es sich da bei den geistlichen Fürsten
um ganz unverhältnissmässig grössere Summen handelte. Die
Loskaufssumme betrug 1166 für den Bischof von Hildesheim
400 Mark, 1220 für den Abt von St. Gallen 350 Mark (Or.
Guelf. 3,495; Mon. Germ. 2,172). Es wird weiter mit Weiland
anzunehmen seien, dass der Betrag der Loskaufssumme, wenn
tJeber das Eigenthum des Reichs am-Reiehshirchenguie.
409
in Einzelfällen auch andere Gesichtspunkte eingreifen mochten,
im allgemeinen der Zahl der herkömmlich zu stellenden Mann
schaft entsprochen haben wird; er wird zugleich nach dem be
messen sein, was den Fürsten die Theilnahme an der Heer
fahrt voraussichtlich gekostet haben würde. Für den Abt von
S. Gallen scheint die Zahl von zwanzig Rittern festgestanden
zu haben; wenigstens nimmt er mit so vielen an Heerfahrten
K. Philipps in Mainfranken und in Thüringen Theil, wovon
ihm jene 150, diese 350 Mark kostete. Wird geäussert, der
Abt würde die Kosten des Zuges von 1220, welchen er mit
350 Mark abkaufte, mit 200 haben bestreiten können, so ist
dabei berücksichtigt, dass die kaiserlichen Geschenke einen
Theil der Kosten ersetzt haben würden (Mon. Germ, 2, 162.
172). Diese Angaben dürften die Annahme rechtfertigen, dass
die geistlichen Fürsten die Heerfahrt mit etwa fünfzehn bis
zwanzig Mark für den Geharnischten abzukaufen hatten.
Ein durchaus anderes Verhältniss finden wir nun in dem
Privilege für die Könige von Böhmen von 1212, wonach es
beim Römerzuge im Ermessen derselben stehen soll,, utrum ipsi
nobis trecentos armatos transmittant vel trecentas marcas persol-
vant (Huillard H. D. 1, 217). Der leistungsfähigste aller Reichs
fürsten hat also weniger zu zahlen, wie ein Reichsabt, wie
einer der weniger reichen deutschen Bischöfe. Wäre uns nur
die Summe genannt, so könnten wir an eine ganz ausnahms
weise Herabsetzung denken. Aber die Summe muss doch
in einem gewissen Verhältnisse zur Zahl der Mannschaft
stehen. Bei dieser aber handelt es- sich um die altherkömmliche
Zahl von dreihundert Rittern, wie sie schon bei den Römer
zügen von 1111 und 1132 erwähnt wird (Cosmas, Mon. Germ.
11, 121. 138).
Es bedarf also der Umstand einer Erklärung, wess-
halb der Abt von S. Gallen für jeden Ritter als Loskauf
fast zwanzigmal so viel zahlen muss, als der König von
Böhmen. Ich weiss diese nur in Folgendem zu finden. Den
geistlichen Fürsten fiel zweifellos im allgemeinen dör Unter
halt ihrer Mannschaft während der Heerfahrt zur Last. So
wird 1153 vom Könige als Grund des Verbotes der Ver
leimung oder Verpfändung der erzbischöflichen Tafelgüter
von Köln angegeben: His nimirum bonis utilitati ipsius
Sitzb. d. phil.-hiat. CI. LXXII. Bd. II. Hft. 27
410
Ficker.
duntaxat archiepiscopi non providetvr, verum cunctis in beneficia-
tis a Coloniensi archiepiscopo baronibus et ministerialibus, eccle-
siasticis quoque personis, archidiaconis, abbatibus et prepositis
in placitis et curiis archiepiscopi, in curiis quoque. et exerciti-
bus regum et ■ imperatorum cum suo archiepiscopo statuta singulis
stipendia debentur (Lacomblet U. B. 1, 258). An weiteren Zeug
nissen dafür würde es nicht fehlen. Jenen Unterschied nun
weiss ich nur daraus zu erklären/ dass das hei den weltlichen
Fürsten nicht in gleicher Weise der Fall war, dass diesen die
Heerfahrt keine oder nur unbedeutende Kosten verursachte,
dass da, wo Zahlung des Soldes durch den König erwähnt
wird (vgl. Weiland a. a. 0. 160), zunächst an die weltlichen
Fürsten zu denken ist. Damit würde dann stimmen, dass
meines Wissens von fast unerschwinglichen Summen, welche,
wie wir sehen, die Heerfahrten den Reichskirchen kosteten,
bei weltlichen Fürsten nicht die Rede ist. Dass der König von
Böhmen in dieser Richtung günstiger gestellt war, als andere
Laienfürsten, ist nicht anzunehmen, eher dürften sich Gründe
für das Umgekehrte geltend machen lassen. Ich denke auf
diese Verhältnisse, deren Verfolgung mich hier zu weit führen
würde, an anderm Orte zurückzukommen.
Wurde das baare Geld, welches der König für die Heer
fahrt bedurfte, wohl grossentheils durch die Loskaufssummen
beschafft, zu welchen, wie ich annehme, die geistlichen Fürsten,
wenn nicht ausschliesslich, doch in unverhätnissmässig höherem
Betrage verpflichtet waren, so scheint überdies noch wohl
Reichskirchengut verpfändet zu sein, um dem Könige weitere
Summen gegen Verpflichtung zu späterer Rückzahlung zu ver
schaffen. Es muss scheinen, dass auf Kirchengut leichter Geld
zu erhalten war, als auf Reichsgut. Denn zu dem Zuge von
1174. beschaffte der Bischof von Lüttich dem Kaiser tausend
Mark durch Verpfändung von Stiftsgut, während der Kaiser
ihm und seinen Nachfolgern wieder Reichsgut dafür verpfändet;
ähnlich stellte Werner von Boland 1220 der Kirche von Lüt
tich ein Stiftsgilt zurück, nachdem der König die 1100 Mark,
um welche es verpfändet war, gezahlt hatte (Schoonbroodt In-
ventaire 6. 15).
49. Fasson wir die Leistungen au Mannschaft und Geld
zusammen, so denke ich, dass auch noch im zwölften Jahr-
Uebor das Eigenthum des Reichs am Reichslrircliengute.
411
hunderte dem Reiche die Mittel zur Kriegführung zum über
wiegenden Theile durch die Leistungen der geistlichen Fürsten
zu beschaffen waren. Wir würden aber irren, wenn wir damit
die Bedeutung des Reichskirchengutes für das Reichskriegs
wesen für erschöpft hielten. Es wird insbesondere noch der
Kriegsdienst der weltlichen Fürsten vom Reichs
kirchen gute zu berücksichtigen sein.
Seit der Karolingerzeit hatte sich das Reichskriegswesen
in der Richtung entwickelt, dass die Theilnahme an den Heer
fahrten nicht mehr als allgemeine Unterthanenpflicht galt. Dem
nach kann es auch bei den weltlichen Fürsten nicht mehr als
Amtspflicht gefasst werden, wenn sie eine bestimmte Zahl von
Streitern zum Reichsheere zu stellen haben. Grundlage der
Verpflichtung bildet jetzt das Gut, welches ihnen vom Reiche
als Benefiz überlassen ist und von ihnen weiter ihren Vasallen
und Ministerialen. Dabei handelte es sich aber vorzugsweise
um königliche Benefizien aus Reichskirchengut.
Es ist bekannt, wie grosse Massen von Kirchengut durch die
Divisio zur Zeit der Söhne Karl Martells in weltliche Hände
gekomipen waren. Bisthümer werden allerdings später von
solchen Massregeln in der Regel nicht mehr betroffen, es ist
eine Ausnahme, wenn 993 erwähnt wird, dass der König einem
Markgrafen Gut der Magdeburger Kirche auf Lebenszeit zu
Beneficium gegeben hatte (Cod. dipl. Anhalt. 1, 63). Ausser
andern Gründen (vgl. Roth Beneficialw. 345 ff.) wird darauf
insbesondere eingewirkt haben, dass man wohl die Mittel fand,
dem Reiche durch die Bischöfe selbst den genügenden Kriegs
dienst auf den neuen Grundlagen zu sichern. Wenigstens ver
einzelt finden sich sogar Beispiele, dass nicht nur an Laien,
sondern an Bischöfe selbst fremdes Kirchengut zu Benefiz ge
geben wurde. So restituirt K. Otto II. 973 der Abtei S. Ma
ximin ihr Gut im Nahegau, Wormsgau und Speiergau, quod
hactenus R. Maguntiacensis arckiepiiscopus in beneficio teuere vi-
debcitur vel milites eins (Beyer U. B. 1, 298).
Klöstern gegenüber wurde auch später die Massregel in
ausgedehntester Weise fortgesetzt. Zum Theil so, dass die ganzen
Klöster an Laien zu Benefiz gegeben wurden. Dann aber auch
nach wie vor in der Form der Divisio, so dass der Kirche
nur das unumgänglich Nöthige belassen, das gesammte übrige
27*
412
Ficker.
Gut aber vom Könige an Laienfürsten zu Benefiz gegeben
wurde, die davon den Kriegsdienst zu leisten hatten (Nähere
Belege Heerschild 81 ff. 101). Fallen diese Theilungen selbst
ins neunte und zehnte Jahrhundert, so wusste man auch später
noch recht wohl, dass der Heerdienst der weltlichen Fürsten
zum guten Theil von Benefizien aus Klostergut geleistet wurde.
Die Mönche von Fpternach konnten sich 1192 darauf berufen,
dass der Herzog von Brabant, die Grafen von Geldern, Lüt
zelburg, Flandern und Holland den Reichskriegsdienst zum
guten Theil von ursprünglichem Gute ihres Klosters zu leisten
hatten. Noch Herrman von Altaich weiss, dass die Herzoge von
Baiern dem Reiche für das einst von Herzog Arnulf einge-
zogene Gut der baierischen Klöster zu dienen haben.
Es handelte sich dabei um ausserordentliche Gütermassen.
Der Abt von Moyenmoutier hatte bis zur Zeit K. Lothars II.
selbst mit dreissig Rittern und der entsprechenden Zahl von
Schildträgern gedient; dann erhielt der Herzog von Loth
ringen 1515 Mansen aus dem Klostergute vom Könige zu
Lehen, wofür er den Kriegsdienst zu leisten hatte. Wenn K.
Heinrich 1023 der Abtei S. Maximin 6656 Mansen nahm, so
dass nun drei weltliche Fürsten dafür den Kriegsdienst leisten
sollten, so wären davon, wenn wir die Bestimmungen der Con-
st.itutio de expeditione Romana zum Massstabe nehmen wollen,
665 Geharnischte mit 1340 Schildträgern zu stellen gewesen.
Ist das das letzte Beispiel einer durchgreifenden Divisio, so
finden wir, wie früher, so auch später noch, dass die Könige
über einzelne Kirchengüter zu Gunsten ihrer weltlichen Va
sallen verfügen, sie ihnen einfach selbst zu Lehen geben oder
dem Abte die Belehnung befehlen.
-Allerdings finden wir nun oft genug Zeugnisse, dass man
solches Vorgehen als Unrecht betrachtete. Könige selbst er
kennen an, dass ihre Vorgänger da non sine peccato gehandelt
haben; man sucht es damit zu entschuldigen, dass es pro
.summa reipublicce necessitate geschehen sei. In der Urkunde für
S. Maximin 1023 sagt der Kaiser selbst, ne anime nostre detri-
mentum inde patiamur, si ea, cpie a fidelibus Christi eidem sacra-
tissimo loco collata sunt, nos inivste auferre videamur, so erlasse
er zum Ersätze der Abtei das Servitium. Das hat natürlich
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
413
auch vom Standpunkte unserer Auffassung nichts Auffallendes;
stand das Eigentlmm am Gute dem Reiche zu, so hatte die
Kirche doch ein Recht auf dauernde Nutzung, welches durch
solche Verfügungen verletzt wurde.
Andererseits sieht man aber wieder deutlich, dass es sich
dabei nicht einfach um Handlungen königlicher Willkür han
delte. Als 972 um Befreiung des Klosters Ottobeuern von den
Reichslasten nachgesucht wurde, erklärten sich die Fürsten unter
der Bedingung damit einverstanden, dass ein Theil des Kir
chengutes ausgeschieden und vom Könige dem Herzoge von
Schwaben zu Lehen gegeben werde, damit dieser den Reichs
dienst davon leiste. Aus der Urkunde über die Divisio des
Gutes von S. Maximin sieht man deutlich, dass dieselbe im
Einverständnisse insbesondere mit den rheinischen Erzbischöfen
erfolgte. Und vor allem muss auffallen, dass man jenes Vor
gehen, wenn es auch als sündhaft bezeichnet wird, doch immer
als rechtsbeständig anerkennt. Die Belehnungen werden nicht
etwa von folgenden Königen rückgängig gemacht; geben die
Beliehenen später einzelne Güter zurück, so erscheint das als
ein freiwilliger Act der Frömmigkeit, der überdies, wie viele
Zeugnisse lehren, der ausdrücklichen Erlaubniss des Königs
bedarf. Stellt ausnahmsweise 1051 der Kaiser dictante iustitia
einen Hof an S. Maximin zurück, den der Abt auf seinen Be
fehl hatte zu Lehen geben müssen, so liegt der Grund nur
darin, dass bei der Divisio der Abtei der Besitz dessen, was
ihr verblieb, ausdrücklich zugesichert war.
Nach Allem scheint die massgebende Auffassung die ge
wesen zu sein, dass ein solches Vorgehen allerdings sündhaft
sein möge, dass es aber nicht gegen das weltliche Recht ver-
stosse. Hätte man den Kirchen Eigenthum an ihrem Gute zu
gestanden, so wären solche Verfügungen ohne groben Rechts
bruch natürlich nicht möglich gewesen. Eigenthümer war aber
das Reich. Allerdings unter der Verpflichtung, Besitz und
Nutzen für immerwährende Zeiten dem jeweiligen Vorsteher
der Kirche zu überlassen. Aber doch nur unter der Bedingung
dass dieser leistete, was das Reich zu fordern berechtigt war.
Konnte oder wollte er diese nicht erfüllen, so scheint, wenn
König und Fürsten sich mit ihrem Gewissen darüber abzu
finden wussten, von Seite des weltlichen Rechts nichts im Wege
414
Ficker.
gestanden zu haben, wenn das Reich über sein Eigenthum in
anderer, seinen Interessen mehr entsprechender Weise verfügte.
50. Finden wir im zwölften Jahrhunderte wohl noch
Vergabungen ganzer Reichskirchen, welche dem Reiche nicht
von genügendem Nutzen waren, so hörte dagegen die früher
übliche Verwandlung eines Theiles ihres Gutes in unmittel
bare Reichslehen auf. Suchte ich den Grund dafür früher zu
nächst in den strengen kirchlichen Verboten (Heerschild 84),
so wird da insbesondere noch ein anderer eingegriffen haben.
In den ausgedehnten Reichskirchenlehen der weltli
chen Fürsten und des Königs war jetzt ein Weg ge
funden, das Reichskirchengut in ausgedehntester Weise für das
Reichskriegswesen nutzbar zu machen, ohne es doch formell
den Kirchen zu entziehen.
Handelte es sich um Personen geringeren Standes, so
scheint man auch früher gewöhnlich die mildere Form ange
wandt zu haben, dass der Abt selbst sie auf Andrängen des
Königs zu belehnen hatte. Auch solche wollten sich dann wohl
nur als Reichsvasallen betrachten, weigerten sich, ihren Pflichten
als Vasallen des Abtes zu genügen (vgl. Beyer U. B. 1, 440).
Bei Herzogen und andern mächtigen Reichsbeamten war aber
jene Form schon desshalb nicht anwendbar, weil diese es mit
ihrer Würde nicht vereinbar hielten, Vasallen der geistlichen
Fürsten zu werden. Andererseits musste natürlich dem Könige
daran liegen, gerade ihre Leistungsfähigkeit für die Reichskriege
möglichst zu steigern. Damit war man darauf hingewiesen,
ihnen das Kirchengut als Reichslehen zu überlassen.
Im Laufe des eilften Jahrhunderts griff da aber eine an
dere Anschauung Platz. Zuerst in Norddeutschland, später auch
im Süden, verstanden sich nun auch die mächtigsten Laien
fürsten dazu, Vasallen der Reichskirchen zu werden. Aber
freilich nur dafür, dass ihnen gewaltige Massen von Kirchen
gut zu Lehen gegeben wurden. Um der Ehre theilhaftig zu
werden, einen so mächtigen Grafen, wie den von Stade zum
Manne zu haben, musste Erzbischof Adalbert von Bremen ihm
Kirchengut überlassen, dessen jährlicher Ertrag auf tausend
Pfund Silber geschätzt wurde, während er dem Sohne des
Herzogs von Sachsen über tausend Mansen lieh. Der Erzbischof
von Trier gab sechshundert Mansen, um sich die Mannschaft
Ueber das Eigentlium des Reichs am Reichskirchengute.
415
des Grafen von Lützelburg zu erwerben. Wie gewaltige Massen
von Rei ehskirchengut auf diese Weise an die Laienfürsten
kamen, ergibt insbesondere eine um 1160 entstandene Aufzeich
nung über die Fürstenleben von Fulda, die allerdings im einzel
nen ungenau sein, im allgemeinen aber docli ein richtiges Bild
davon geben wird, welche Ausdehnung dieses Verhältnis ge
wonnen hatte. Es heisst, in den verschiedenen Theilen des Rei
ches seien fühnzelintausend Manseri zu dreissig Fürstenlehen be
stimmt gewesen, jedes zu fünfhundert Mausen; damit aber hätten
sich die Fürsten nicht begnügt, so dass nun einzelne über drei
tausend Mansen zu Lehen hätten (Belege Heerschild 87 ff.).
Damit war nun dem Interesse des Reichs in dieser Richtung
in ausgiebigster Weise gedient; denn von allen diesen Reiclis-
kirchenlehen hatten die Laienfürsten den Reichskriegsdienst
ebenso zu leisten, als wenn es unmittelbare Reichslehen gewe
sen wären. Die davon zu stellende Mannschaft aber stritt bei
den Reichskriegen zweifellos nicht unter dem Banner der Kirche,
sondern unter dem des Laienfürsten, und die blosse Verglei
chung der Zahl der Mannschaften, welche von einzelnen
geistlichen und weltlichen Fürsten ins Feld geführt wurde,
reicht demnach in keiner Weise aus, um uns die Bedeu
tung des Kirchengutes für das Reichskriegswesen zu ver
gegenwärtigen.
Das erhielt nun seinen Abschluss dadurch, dass in der
staufischen Zeit auch die Könige selbst sich dazu verstanden,
Vasallen der Reichskirchen zu werden (Näheres Heerschild
37 ff.). War da die Bahn einmal gebrochen, so musste das
Verhältniss natürlich rasch die ausgedehntesten Dimensionen
gewinnen, da der König sich mit wenigem nicht begnügte und
die Kirchenfürsten nicht leicht in der Lage waren, dem Könige
die Belehnung - mit dem, w'as er wünschte, zu verweigern. Das
kam dann aber zweifellos in erster Reihe wieder dem Reichs-
kriegswesen zu Gute, da die Könige diese Lehen vorzugsweise
zur Ausstattung der Reichsdienstmannschaft verwandt haben
werden, welche in der staufischen Zeit vorzugsweise den Kern
aller Reichsheere bildete.
Fassen wir Alles zusammen, so werden wir zweifellos
sagen dürfen, dass der Reichskriegsdienst ganz überwiegend
auf Grundlage des Reichskirchengutes geleistet wurde, theils
416
Ficker.
unter dem Banner der Kirchen von den kleineren Vasallen
und den Dienstmannen derselben, theils unter dem Banner des
Königs und der Laienfürsten von den Gütermassen, welche
theils den Kirchen überhaupt genommen und zu Reichslehen
verwandt, theils von den Kirchenfürsten selbst an König und
Fürsten zu Lehen gegeben waren.
So sonderbar auf den ersten Blick eine Entwicklung
scheinen mag, nach welcher der Kriegsdienst unmittelbar oder
mittelbar gerade den Kirchen zur- Last fällt, so wenig kann
dieselbe im Allgemeinen befremden. Wollte man die Kirchen
nicht von vornherein von jedem Grundbesitze ausschliessen,
so Hess sich auch nicht verhindern, dass überaus ausgedehnte
Gütermassen in geistliche Hände übergingen. Das musste aber
in Zeiten, wo die Kriegspflicht an den Grundbesitz geknüpft
erscheint, die Wehrfähigkeit des Reiches empfindlich schwä
chen, wenn nicht Wege gefunden wurden, auch das Gut der
Kirchen in dieser Richtung in ausreichendem Maasse heranzu
ziehen. Mochte das anfangs in mehr ungeregelter, das billige
Mass überschreitender Weise geschehen, so ergab sich da all-
mählig eine festere Ordnung. Konnte aber der König nicht
blos der Treue der geistlichen Vasallen sicherer sein, als der
der weltlichen, sondern jetzt auch, wie es scheint, das Reichs
kirchengut in viel ausgedehnterer Weise für den Kriegsdienst
in Anspruch nehmen, als das Lehngut der Laienfürsten, so hat
der Gegensatz kaum mehr etwas Befremdendes, dass man
früher den Kirchen ihr Gut nahm, um die Wehrfähigkeit des
Reichs zu steigern, ihnen jetzt aber umgekehrt Reichsgut zu
demselben Zwecke übergab.
Ueher das Eigenthum des Seichs am Reichskirchengute.
417
V.
61. Zum Investitur streite. Besetzung der Bisthümer durch den König.—
52. Würdigung des Verbotes der Laieninvestitur. — 53. Im Sinne der Besei
tigung des Eigenthums der Laien am Kirchengute war dasselbe formelles —
5-t. und materielles Unrecht. — 55. Das Versprechen der Fortdauer der Lei
stungen konnte dem Reiche nicht genügen. — 56. Belassung der Rechte der
geistlichen Herren. Bedrückung der Kirchen durch dieselben. — 57. Einfluss
des Herrschaftsverhältnisses auf die ungleiche Vertheilung der kirchlichen Ein
künfte. — 58. Hineinziehung der Pfarrkirchen in dasselbe. — 50. Nichtaus
dehnung des Investiturverbotes auf Geistliche. — 60. Zusammenhang mit dem
Streben Gregor’s VII nach Ausdehnung des Obereigenthums der römischen
Kirche. Voraussichtlicher Erfolg einer Durchführung des Investiturverbotes
bei den Reichskirchen. — 61. Ausgang des Investiturstreites. — 62. Spätere
Entwicklung.
51. Unsei’e bisherigen Untersuchungen ergaben, dass ein
mal dem Reiche das Eigenthum an den Reichskirchen und an
deren gesammtem Gute zustand; dass es sich weiter dabei kei
neswegs nur um ein formelles, seiner realen Befugnisse ent
kleidetes Recht handelte, dass dem Reiche vielmehr auch die
ausgedehntesten Nutzungsrechte an diesem Gute zukamen. Es
liegt auf der Hand, dass dieses Ergebniss insbesondere von
Bedeutung ist für die richtige Würdigung des Investitur
streites. Es ist nicht meine Absicht, die bezüglichen ge
schichtlichen Thatsachen in ihrem Zusammenhänge zu ver
folgen. Kamen manche derselben schon bei den bisherigen Un
tersuchungen zur Sprache, so mögen hier schliesslich noch
einige bezügliche Bemerkungen über Punkte ihre Stelle finden,
welche mit dem Hauptgegenstande in näherer Verbindung
stehen.
Die völlige Unvereinbarkeit des Verhältnisses mit den
Interessen der Kirche liegt auf der Hand. Nicht gerade das
Eigenthumsverhältniss selbst und die sich daraus ergebenden
Leistungen an das Reich sind da das Massgebende. Blieb den
Kirchen der Genuss, gingen die Leistungen nicht so weit, wie das
im allgemeinen niemals behauptet wurde, dass für die eigentlich
kirchlichen Bedürfnisse nicht genug erübrigte, so konnte die
Kirche an und für sich ein Verhältniss recht wohl hinnehmen,
ohne dessen Bestehen zweifellos nur ein geringer Tlieil des
Gutes, welches sie besass, in ihre Hände gekommen wäre. Was
aber vom kirchlichen Gesichtspunkte aus nicht hinzunehmen
war, das war die aus jenem Verhältnisse sich ergebende B e-
418
Ficker.
Setzung d-er Bisthümer durch den König. Dieser
Punkt tritt denn' auch bei dem Investiturstreite so sehr in den
Vordergrund, dass man darüber damals, wie auch in neuerer
Zeit, sehr häufig die massgebende Vorfrage nach dem Eigen-
thümer des Reichskirchengutes übersah.
Die Wirksamkeit derganzen kirchlichen Ordnung wird natür
lich durch nichts mehr bedingt sein, als dadurch, dass bei der Ein
setzung ihrer wichtigsten Organe, der Bischöfe, die kirchlichen
Gesichtspunkte den Ausschlag geben. Kann nun solchen auch
bei Einsetzung durch den weltlichen Herrscher an und für sich
immerhin Rechnung getragen werden, so wird das doch selbst
da selten genügend der Fall sein, wo für den Bischof wesent
lich nur seine Stellung als Würdenträger der Kirche in Be
tracht kommt. Bei der Doppelstellung des Rciehsbisthums aber
konnte davon nicht die Rede sein. Der Bischof war zugleich
Beamter des Reichs, Verwalter des Gutes desselben. Der Kö
nig beachtete zunächst natürlich diese Seite seiner Stellung;
ihm musste in erster Reihe das Interesse des Reiches mass
gebend sein; vor den politischen und finanziellen Gesichts
punkten mussten die kirchlichen durchaus zurücktreten. Die
eifrige Verwendung im Dienste des Reiches, nicht der Kirche,
gab den Anspruch auf Erlangung der höchsten kirchlichen
Würden. Vielfach auch Reichthum, wie das bei der materiellen
Grundlage des Verhältnisses nicht befremden kann. Es schien
nicht unbillig, wenn man von dem, dem die Kirche mit ihrem
Gute auf Lebenszeit überlassen wurde, verlangte, dass er dafür
auch aus seinem Eigengute zur dauernden Ausstattung der
Kirche, deren Reichtlmm dann wieder dem Reiche zu Gute kam,
nach Kräften beitrage; es ist bekannt, wie schwer bei der Ein
setzung mancher Bischöfe das reiche Erbgut ins Gewicht fiel,
das sie der Kirche zuwenden konnten. Aber dabei blieb es
nicht. Bisthümer und Abteien wurden schliesslich an den
Meistbietenden verkauft.
War damit gewiss auch den dauernden Interessen des
Reiches nicht gedient, so musste insbesondere diese Ausartung
des Verhältnisses dasselbe von kirchlichen Gesichtspunkten aus
ganz unerträglich erscheinen lassen. Die kirchlichen Reform
bestrebungen fassten denn auch bald die Besetzung von Kir
chen durch Laien ins Auge; schon auf Synoden von 1059
Uebor das Eigenthnm des Reichs am Reichslcirchengute.
419
und 1063 heisst es: Et per laicos nullo modo quilibet clericus
aut presbiter obtineat ecclesiam, nec gratis, nec precio. Aber ab
gesehen von der verschiedene Deutungen zulassenden Fassung
finden wir doch keine Versuche, das durchzufüliren; man be
schränkt sich darauf, gegen jene ärgste Ausartung, gegen die
Simonie, mit grösstem Nachdrucke einzuschreiten. Darauf be
schränkt noch Petrus Damiani im wesentlichen seine Forde
rungen, es freilich der Simonie gleichachtend, wenn jemand
dem Idofdiensto kirchliche Würden verdankt; die Verleihung der
Kirchen durch die Fürsten betrachtet er allerdings als missbräuch
lich, aber er nimmt sie als herkömmlich hin, ermahnt jene nur,
dieselben nicht nach Willkür, sondern in gottgefälliger Weise
zu besetzen; er findet es in der Ordnung, dass der Kaiser den
unwürdigen Wigger von Ravenna entsetzt und fordert ihn auf,
für einen tüchtigen Nachfolger zu sorgen (vgl. Epp. 1. 1 ep.
13; 1. 2 ep. 3; 1. 7 ep. 2). Aber bei Fortdauer des bisherigen
Zustandes war kaum darauf zu rechnen, auch nur die Simonie
gründlich zu beseitigen. Was die Bewerber in erster Reihe im
Auge hatten, waren weniger die Spiiitualien, als das mit der
Kirche, verbundene weltliche Gut; dass derjenige, welcher über
dieses zu verfügen hatte, dabei den eigenen Vortheil ganz ausser
Acht lassen, dass er nicht immer solche finden sollte, welche
zu einer Gegenleistung für die Verleihung der Temporalien be
reit waren, war nicht leicht zu erwarten. Eben so wenig war
natürlich zu erwarten, dass die weltlichen Herren der Kirchen
sich freiwillig ihres herkömmlichen Rechtes begeben würden,
das Gut nur einer ihnen genehmen Persönlichkeit zu verleihen.
Bei der Doppelstellung insbesondere des deutschen Bisthums,
wie sie sich geschichtlich einmal gestaltet hatte, war eine den
Interessen beider Gewalten gerecht werdende Lösung wohl nur
auf dem Wege gegenseitiger Verständigung zu erreichen. Aber
statt die Lösung des Knotens zu versuchen, zog Gregor VII.
es vor, ihn zu zerhauen ; er sah. einfach von jener Doppelstel
lung ganz ab, fasste die Bischöfe einseitig als Diener der
Kirche. Ohne alle Verständigung mit den weltlichen Gewalten
wurde 1075 das Verbot der Laieninvestitur erlassen , dasselbe
dem Könige als vollendete Thatsache kundgegeben, mit der
einfachen Forderung, sich zu unterwerfen, neben der es wönig
bedeuten wollte, wenn der Pabst sich zu solchen Milderungen
420
F i c lt e r.
bereit erklärte, welche mit dem Interesse der Kirche vereinbar
sein würden. (Grregorii Reg. ed. Jaffe 1. 3 ep. 10).
Mit dem einfachen Verbot der Investitur war nun aller
dings dem kirchlichen Interesse in ausreichendster Weise ge
nügt. Denn an die Investitur knüpften sich nicht allein die bis
herigen Missbrauche, sondern der Einfluss des Königs auf die
Besetzung der Bisthümer überhaupt. War sie beseitigt, so stand
nichts mehr im Wege, dass diese ausschliesslich nach kirch
lichen Gesichtspunkten erfolgte. War die Massregel aber eine
vom kirchlichen Standpunkte aus zweckmässige, so ist es eine
andere Frage, ob sie überhaupt oder wenigstens in der Weise,
wie sie erfolgte, zugleich eine berechtigte war.
52. Bei der Würdigung des Verbotes der Laien
investitur wird in der Regel vorwiegend der Gesichtspunkt
eingehalten, dass es sich dabei um die Beseitigung der Verlei
hung von Kirchenämtern durch Laien handelte. Es ist nun
allerdings richtig, dass das Verbot zunächst dadurch veranlasst
war, dass das Investiturrecht thatsächlich eine Verfügung von
Laien über Kirchenämter zur Folge hatte. Freilich nur that
sächlich. Formell hat die Investitur nie die Bedeutung gehabt,
dass durch dieselbe ein Kirchenamt übertragen werde. Niemand
behauptete, dass die Investitur des Königs jemand zum Bischof
mache; kam die Consecration nicht hinzu, so war er wohl Be
sitzer der Güter des Bisthums, aber nicht Bischof. Allerdings
lag in den Formen der Investitur manches, was den Gedanken
an die Verleihung des Kirchenamtes durch dieselbe nahe legen
konnte. Kirchlicherseits wurde das denn auch möglichst be
tont, um dadurch ihre Verbote zu rechtfertigen. Aber es han
delte sich dabei doch um unwesentliche Dinge, deren Abstel
lung keinen Schwierigkeiten unterlegen haben würde.
Man wies einmal darauf hin, dass als Gegenstand der In
vestitur nicht blos das Gut der Kirche, sondern die Kirche
selbst bezeichnet wurde. Das entsprach allerdings der dama
ligen Auffassung, wonach die Kirche selbst als im Eigenthum
des Herrn stehend betrachtet wurde. Aber niemand dachte doch
daran, dass mit der Kirche zugleich die in ihr zu übenden
kirchlichen Befugnisse verliehen würden. Es handelte sich da
im wesentlichen nur um einen herkömmlichen Sprachgebrauch;
fand man diesen anstössig, so stiess seine Beseitigung sicher
Heber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
421
auf keine Schwierigkeiten, wie diese Beseitigung wirklich später
erfolgte, ohne dass von der einen oder andern Seite Werth
darauf gelegt zu sein scheint; man gewöhnte sich allmälig, als
Gegenstand der Investitur nicht mehr die Kirche selbst, son
dern die Regalien oder Temporalien derselben zu bezeichnen
(vgl. §. 20. 21).
Kaum mehr Bedeutung hatte es, wenn kirchlicherseits be
tont wurde, dass die Investitur gerade durch Ring und Stab,
durch Symbole des bischöflichen Amtes geschehe. Es scheint
allerdings, dass man auf Seiten des Reichs einen gewissen
Werth darauf legte, nicht blos an der Sache selbst, sondern
auch an der althergebrachten Form festzuhalten. Aber gewiss
nicht in dem Masse, dass die blosse Forderung einer Aende-
rung der Form jemals die Verständigung hätte hindern können,
wie es sie später nicht gehindert hat. Das Verbot bezog sich
ja keineswegs nur auf die Investitur durch Ring und Stab, son
dern auf die Investitur durch Laien überhaupt. Nur dann
würden jene Formen eine irgend wesentliche Bedeutung ge
wonnen haben, wenn daraufhin wirklich von Seiten der An
hänger des Königs geltend gemacht wäre, dass durch die In
vestitur das Kirchenamt übertragen werde. Das ist nie der Fall;
es wird von ihnen umgekehrt immer aufs bestimmteste betont,
dass die Investitur sich nur auf die Temporalien beziehe. Schon
den Verboten der Simonie gegenüber wurde geltend gemacht,
dass bei Erkaufung der Investitur von Simonie eigentlich nicht
die Rede sein könne, da damit ja nicht das sacerdotium, son
dern lediglich die possessio prediorum erkauft werde; dass Si
monie erst dann vorliege, wenn die Consecration erkauft sei.
(Petri Damiani Epp. 1. 1 ep. 13; 1. 5 ep. 13). Formell war
das auch zweifellos richtig.
Dagegen konnten nun freilich die Vertheidiger des Ver
botes mit Recht geltend machen, dass mit dieser formellen Un
terscheidung nichts gewonnen sei, dass thatsächlich durch die
Investitur dennoch über das Kirchenamt verfügt werde, da eben
nur der Investirte consecrirt werden könne. Allerdings hatte die
Kirche es in der Aland, dem Investirten die Consecration zu
verweigern; gingen dann aber dieser und der König' auf die
Rückgängigmachung der Investitur nicht ein, so führte das zu
solchen Missständen für die bezügliche Kirche, dass eine An- •
422
Ficker.
Wendung dieser Massregel sich nur in den dringendsten Füllen
empfehlen konnte.
Glaubte nun die Kirche, um diesen Misständen abzuhelfen,
die Investitur ganz verbieten zu sollen, so war sie dazu an und
für sich gewiss durchaus berechtigt. Die Bedingungen, unter
denen sie das bischöfliche Amt ertheilen wollte, standen natür
lich in ihrem Ermessen. Verweigerte sie demjenigen, der sich
von einem Laien investiren liess, die Consecration, so wider
sprach das dem Herkommen; aber die Kirche hielt sich dabei
doch auf dem Gebiete, welches ihr naturgemäss zustand, griff
nicht in die Rechte Anderer ein. Natürlich unter der Voraus
setzung, dass die Bischöfe nun auch auf alles verzichteten, was
ihnen durch die Investitur übertragen war, auf Besitz und
Nutzung des Kirchengutes. Es war freilich ein gewaltiges
Opfer, wenn diejenigen, welche bisher mit Gütern dieser Welt
besonders reich gesegnet waren, jetzt auf die Zehnten und die
Gaben der Gläubigen hingewiesen sein sollten. Handelte es
sich aber wirklich für die Kirche um eine Lebensfrage, konnte
diese ohne freie Verfügung über die Besetzung der Bisthümer,
wie sie mit der Investitur nicht vereinbar war, ihre Aufgabe
nicht erfüllen, so durfte von rein kirchlichen Gesichtspunkten
aus ein so scharfer Schritt nicht gescheut werden, wie ihn
Pabst Paschal ja wirklich nicht gescheut hat. Freilich steht
er ganz vereinzelt in der Kirche seiner Zeit.
53. Als Pabst Gregor die Laieninvestitur verbot, lag ihm
nichts ferner, als auch nur das Geringste von dem aufzugeben,
was die Kirchen auf Grundlage der Investitur besassön. Im
vollsten Widerspruche mit dem bestehenden Rechte erklärte
man, dass alles, was die Kirchen besassen, ihr Eigenthum sei
und ihnen auch nach Fortfall der Investitur verbleiben müsse.
In diesem Sinne erlassen bedeutete das Verbot der Laieninve
stitur zugleich eine Aufhebung des E i g e n t h u m s der
Laien am Kirchengute, erscheint damit als ein so gewalt
samer Eingriff in die wohlerworbenen Rechte Anderer, dass er
sich wohl nur neuern Massregeln vergleichen lässt, durch welche
das bisher anerkannte Eigenthum der Kirche beseitigt und
alles Kirchengut für Staatseigenthum erklärt wird.
Zur Entschuldigung Hesse sich etwa geltend machen, dass
man sich des formellen Unrechtes, welches in solchem
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichslcirchengute.
423
Vorgehen lag, damals gar nicht bewusst war, dass man in der
Investitur, in den Leistungen der Bischöfe und andern Befug
nissen des Königs am Reichskirchengnte lediglich missbräuch
liche, wenn auch herkömmliche Rechte an einer fremden Sache
sah; dass man wirklich alles, was die Kirchen besassen, auch
für deren Eigenthum hielt; dass man nicht mehr erkannte, dass
jene einzelnen Befugnisse nur Ausflüsse des Eigenthums am
Kirchengute waren. In nöthiger Beschränkung mag das zu
zugeben sein. Insbesondere mochte man zu Rom, wo die
Eigenthumsfähigkeit der Kirchen nach römischem Rechte an
scheinend immer anerkannt blieb, das wesentlich auf germa
nischen Anschauungen beruhende Rechtsverhältniss leicht ver
kennen. Aber auch sonst sieht man wohl, wie selbst Verthei-
diger der Reichsrechte nicht einfach auf das Eigenthum des
Reichs hinweisen, sondern die von der Kirche bestrittenen Ein
zelbefugnisse als Ausnahme anerkennen und als solche zu be
gründen suchen. So etwa, wenn man die Befugniss des Kö
nigs zur Investitur auf besondere Privilegien der Päpste Pla-
drian und Leo VIII. zurückführte, oder wenn man geltend
machte, dass der mit dem heiligen Oele gesalbte König nicht
als Laie zu betrachten sei. Aber man würde durchaus irren,
wenn man annähme, das eigentliche Rechtsverhältniss sei jener
Zeit unbekannt gewesen, und demnach behaupten würde, es
sei unstatthaft, Berechtigung oder Niclifberechtigung auch für
jene Zeit nach dem zu ermessen, was sich jetzt als Ergebniss
der Forschung darstellt.
Es ist möglich, dass man in den dem Investiturstreite zu
nächst vorhergehenden Zeiten sich des zu Grunde liegenden
Rechtsverhältnisses nicht bestimmter bewusst war, sich einfach
an die einzelnen Befugnisse hielt. Das aber wusste man doch
allgemein, dass die Investitur sich zunächst auf das Kirchen
gut bezog, dass nur diese ein Recht auf Besitz desselben gab;
und es ist doch schwer abzusehen, wie sich, wenn auch die
Eigenthumsfrage ausser Spiel blieb, der einseitige Erlass eines
Gesetzes rechtfertigen liess, welches die Investitur beseitigte
und dennoch dein Bischöfe dasselbe Recht auf das Gut beliess.
Jedenfalls musste dann aber in Folge des Investiturverbotes
das Verhältniss der Gegenstand eingehendster Erörterungen
werden. War das im Anfänge vielleicht der Fall, so konnte
424
Ficker.
wenigstens im Verlaufe des Streites der eigentliche. Sachverhalt
nicht unklar bleiben. Es genügt ein Hinweis auf das in der
spätem Zeit des Streites geschriebene Buch des Placidus von
Nonantula de honore ecclesiae, um zweifellos zu machen, dass
alles, was wir auf Grundlage der Ergebnisse unserer Forschung
gegen die Berechtigung des Investiturverbotes einzuwenden
hätten, auch damals wirklich gegen dasselbe geltend gemacht
wurde. Er kennt die Bedeutung der Investitur ganz genau,
weiss recht wohl, dass sie eine Befugniss des Eigentümers ist
(vgl. §. 8. 20); gerade von diesem Gesichtspunkte aus be
kämpft er sie, weil das Heiligthum des Herrn nie Eigenthum
von Laien sein dürfe. Bekämpft er die Behauptungen, dass
der Kirche nur die Verfügung über die Spiritualien zustehe,
die Temporalien aber Eigenthum des Reiches seien; dass die
Kirchen wohl Mobilien, nicht aber Grundstücke und Hoheits
rechte zu Eigen haben könne; dass wenigstens an diesen dem
Könige das Eigenthum zustehe, wenn man auch zugebe, dass
Kirche und Kirchhof als Gott geweiht nicht Privateigenthum
sein könne (Cap. 41. 43. 150), so sieht man doch deutlich, dass
nicht davon die Rede sein kann, man sei sich in jener Zeit
der wahren Sachlage überhaupt nicht bewusst gewesen.
Am bestimmtesten sprechen dafür aber die Abmachungen
des Jahres 1111 (vgl. §. 23). Diesen sind natürlich die
eingehendsten Erörterungen vorausgegangen. Wenn vom
Pabste und zwar ganz ungezwungen im ersten Vertrage den
Bischöfen und Aebten der Verzicht auf die Regalien befohlen
wird, so liegt darin doch der bestimmteste Beweis, dass der
Pabst und seine Rathgeber sich überzeugt hatten, dass das
Verbot der Investitur ohne Verzicht auf das, was durch die
selbe übertragen wurde, ein Unrecht sei.
.Mit diesem Vertrage war auf’s bestimmteste der Weg zu
einer dem Interesse der Kirche an canonischer Besetzung der
Kirchenämter vollständig genügenden und doch kein Recht An
derer verletzenden Lösung der Frage vorgezeichnet. Man wird
nicht läugnen können, dass mindestens von da ab der Kampf
mit dem vollen Bewusstsein geführt v 7 urde, dass es sich we
niger um die Investitur, als um das Eigentlmm am Reichskirclien-
gute handelte. Es kann nicht dem geringsten Zweifel unter
liegen, dass der Kaiser auch später jeden Augenblick bereit
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
425
gewesen wäre, auf die Investitur zu verzichten; aber freilich
nicht auf seine wohlbegründeten Rechte am Reichskirchengute.
Die kirchliche Partei aber verlangte einfaches Eingehen auf
ihre Forderung, ohne die sich aus dieser nothwendig ergeben
den Gegenforderung zuzugestehen. Als der Kaiser 1119 den
Verzicht unter der Formel: Dimitto omnem investituram omnium
ecclesiarum anbot, genügte das den Bischöfen nicht; sie meinten,
er werde daraufhin etwa die Güter der Kirchen einziehen oder
verlangen, dass man sich mit diesen investiren lasse. Auch von
einem Eingehen auf die vom Kaiser 1111 gemachte Concession,
dass nur das vom Reiche selbst herrührende Gut zurückzustellen
sei, zeigt sich keine Spur; in den Synodaldecreten von 1119
schliesst sich an die Erneuerung des Investiturverbotes unmit
telbar die Bestimmung an, dass die gesammten Besitzungen der
Kirche, que liberalitate regum, largitione principum vel oblatione
quorumlibet fidelium eis concessae sunt, denselben für alle Zeiten
verbleiben-sollen (Jaffe Bibi. 5, 358. 362). Mindestens hätte
man doch das Zugeständniss erwarten sollen, dass die Iloheits-
reclite des Reichs, welche die Bischöfe verwalteten, nach Be
seitigung der Investitur dem Reiche heimfallen müssten. Auch
davon ist nicht die Rede; Placidus von Nonantula behauptet
ausdrücklich, dass es auch für Ilerzogthümer, Markgrafschaften
und Grafschaften, für Vogteien, Münzen und Städte keiner In
vestitur bedürfe, da dieselben Eigenthum der Kirchen seien
(Cap. 150).
An Versuchen, solche Ansprüche der kirchlichen Partei
zu rechtfertigen, hat es allerdings nicht gefehlt. Der Behaup
tung, dass die Kirchen des Grundeigenthums unfähig seien,
begegnete man durch den Hinweis auf die Einrichtungen der
Apostel, die Lehre der Väter, welche von einer Investitur nichts
wisse, und die Gesetze der römischen Imperatoren. Und hätten
die Kirchen früher nur einzelne Güter gehabt, so sei es klar,
dass, seit Constantin dem Pabste das ganze Reich des Westens
schenkte und dieser die Schenkung annahm, die Kirchen auch
Herzogthümer und andere grosse Besitzungen zu Eigen haben
könne. Damit halte man freilich besten Falles nur die Fähig
keit der Kirchen zum Eigenthum überhaupt erwiesen, in kei
ner Weise aber, dass das, was sie damals besassen, nun auch
wirklich ihr Eigenthum sei. Dass ihnen das geltende Recht der
Sitzl). d. phil-hist. CI. LXXII. Ba. II. Hft. 28
426
Picker.
Zeit, welches die Kirche seit Jahrhunderten im Interesse ihres
weltlichen Besitzes hingenommenen hatte, das Eigenthum nicht
zugestand, war nicht zu läugnen. Vei’kennen neuere Forscher,
wie etwa Zöpfl, nicht, dass sich ein Eigenthum der Kirchen an
ihrem Gute nur auf Grundlage des damals geltenden Rechtes
begründen lasse, versuchen sie daher nachzuweisen, dass die
Investitur das Eigenthum des Geliehenen an dem Geliehenen
nicht ausschliesse, oder dass die Investitur sich nur auf gewisse
Hoheitsrechte bezog, so ist mir aus jener Zeit nicht einmal der
Versuch solcher Beweisführung bekannt geworden. Man er
klärt einfach das Eigenthum der Laien an Kirchen und deren
Gütern als etwas an und für sich Unzulässiges; das Heiligthum
des Herrn könne nicht Privateigenthum sein; Spiritualien und
Temporalien gehörten zusammen, wie Seele und Leib, könnten
nicht Verschiedenen gehören; was einmal einer Kirche gewid
met sei, werde damit zum Eigenthum Gottes, beanspruche ein
Laie noch Rechte an demselben, so sei das sacrilegische An-
massung. Es würde überflüssig sein, auf Beweisführungen nä
her einzugehen, welche den Boden des geltenden Rechtes ganz
verlassen, nicht beachten, was Recht ist, sondern einfach von
dem ausgehen, was nach dem Ermessen ihrer Partei Recht sein
sollte. Von solchen allgemeinen Erwägungen aus konnte man eben
so wohl zu ganz entgegengesetzten Ergebnissen gelangen. Es
war ebenso gerechtfertigt oder ungerechtfertigt, wenn eine an
dere Partei, auf das Beispiel und die Lehre Christi hinweisend,
den weltlichen Besitz der Kirche überhaupt für Unrecht erklärte.
Dass vom Boden des damals geltenden Rechtes aus, welches
den Kirchen das Eigenthum an ihren Gütern absprach, sie
aber im Besitze derselben schirmte, das Verbot der Laieninve
stitur ohne Verzicht auf das Gut mindestens ein formelles Un
recht, war, wird nicht zu bestreiten sein. Und dass es auch
auf kirchlicher Seite nicht an Männern fehlte, welche unbe
fangen genug waren, das anzuerkennen, zeigt das Vorgehen P.
Paschals.
54. Leichter würde sich anscheinend die Behauptung be
gründen lassen, dass in jenem Vorgehen wohl ein formelles,
aber kein materielles Unrecht lag. Man könnte geltend
machen, dass hier das Ausschlaggebende nicht das Eigenthum,
sondern das Recht auf Besitz und Nutzung sei, wie es bisher
Heber das Eigen tlmm des Reichs am Reicliskirchengufie.
427
den Kirchen zustand, dass, wenn das bisherige Verhältniss sich
unhaltbar erwies, es in der Billigkeit lag, dass nicht die Kir
chen auf ihren Besitz, sondern die Herren auf ihr Ohereigen
thum verzichteten, welches, auf eine jetzt antiquirte Auffassung
des germanischen Rechtes zurückgehend, anscheinend nur eine
formelle Bedeutung hatte. Es zeigt sich ja auch sonst bei ver
wandten Entwicklungen, dass es schliesslich die Rechte des
Obereigenthümers sind, welche, wenn eine Auseinandersetzung
nicht mehr zu vermeiden ist, denen des Nutzeigenthümers zu
weichen haben. Aber schon aus früher Gesagtem dürfte sich
genügend ergeben, wie wenig eine solche Auffassung gerade
hier zutreffen würde.
Ist unsere Annahme über die Entstehung des Privat
eigenthums an Kirchen und ihrem Gute richtig, so hatte das
selbe anfangs allerdings nur eine formelle Bedeutung. Gestand
das germanische Recht der Kirche selbst die Fähigkeit zum
Grundeigenthume nicht zu, so ergab sich das Bedürfniss nach
einem Schutzeigenthümer, dessen Recht ihren Besitz deckte.
Thatsächlich wurde durch das Eingreifen dieser Anschauung
zunächst kaum etwas geändert, die Kirche besass, was sie
auch ohnedem besessen haben würde; der Herr, der das Schutz
eigenthum übernahm, hatte dabei anfangs wohl weniger eigenen
Yortheil, als das Interesse der Kirche im Auge, genügte damit
einer frommen Verpflichtung; wurden ihm einige Vortheile aus
dem Kirchengute zugewandt, so mochte das als billiger Ersatz
gelten für die Bemühungen, welche jenes Verhältniss ihm auf
erlegte. Hätte dasselbe einfach auf dieser Grundlage fort
gedauert, so hätten sich manche Missbrauche ansetzen mögen;
aber es würde kaum grossen Schwierigkeiten begegnet sein,
das ganze Verhältniss wieder zu beseitigen, sobald die geän
derten Anschauungen den Kirchen selbst die Aufrechthaltung
desselben entbehrlich machten. Wenigstens in materieller Be
ziehung würde es sich dann zweifellos gerechtfertigt haben,
wenn man für die Kirchen das als freies Eigenthum in An
spruch nahm', was von jeher ihr Eigenthum gewesen ,sein
würde, wenn jener Umstand nicht genöthigt hätte, es formell
als Eigenthum ihres Herrn zu behandeln.
So lagen diese Dinge aber nicht mehr, als das Verbot
der Laieninvestitur erfolgte. Die Rechte der Herren an ihren
28*
428
Ficker.
Kirchen und an deren Gute hatten im Laufe der Zeit die weit-
greifendste materielle Bedeutung gewonnen, es handelte sich
dabei gewiss nicht selten um ihre einträglichsten Vermögens
rechte. Allerdings mögen in der gewaltthätigen fränkischen
Zeit die Befugnisse der Herren am Kirchengute zunächst miss
bräuchlich weiter ausgedehnt sein. Würde es sich nur darum
handeln, so Hesse sich immerhin behaupten, es sei unbillig ge
wesen, von der Kirche zu verlangen, dass sie mit Rücksicht
auf Befugnisse, welche sich missbräuchlich entwickelt hatten,
ihrem Güterbesitze entsagen sollte.'
Solchen Einwürfen gegenüber scheint mir der Umstand
durchaus ausschlaggebend zu sein, dass die Kirche zweifellos
den grössten Theil ihres Güterbesitzes ohne jene Ausdehnung
der Befugnisse der Herren gar nicht erworben haben würde.
Steigerten sich die Ansprüche der Herren, so ergab sich für
die Kirchen dadurch eine Ausgleichung, dass sie nun auch von
den Herren mit um so reichern Schenkungen bedacht wurden.
Auch da, wo diese zunächst religiösen Motiven entsprangen,
mussten sie doch zweifellos gar sehr durch die Erwägung ge
fördert werden, dass damit zugleich die Leistungsfähigkeit der
Kirchen und die Einkünfte der Herrschaft gesteigert wurden,
dass demnach das Opfer, welches bei anscheinend sehr bedeu
tenden Vergabungen gebracht wurde, ein sehr geringes war,
thatsächlich wohl oft gar kein Opfer vorlag. Dann aber finden
wir bereits in karolingischer Zeit diese Verhältnisse so auf die
Spitze getrieben, dass zweifellos unter Beseitigung aller reli
giösen Motive vielfach Kirchen nur desshalb gegründet und do-
tirt wurden, um damit ein nutzbringendes Geschäft zu machen
(vgl. Rettberg Kirchengesch. Deutschi. 2,619). Insbesondere
wird auch in dieser Richtung das Recht des Herrn auf Be
setzung der Kirche zu beachten sein; viele Kirchen wurden
sichtlich nur gegründet und dotirt, um einen Sohn oder eine
Tochter als Abt oder Aebtissin angemessen zu versorgen; das
Gut, welches man selbst der Kirche zuwies, vergrösserte sich
durch die Gaben der Frommen; es war damit dem Geschlechte
eine reiche Einkommensquelle, eine bequeme Gelegenheit zur
Ausstattung einzelner Familienglieder für immer gesichert. Und
das Bewusstsein, ein Gott wohlgefälliges Werk zu thun, wurde
dadurch kaum geschmälert; es konnten trotz alledem zugleich
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskircliengute.
429
religiöse Motive in wirksamster Weise eingreifen. Das aber
wird sich nicht bestreiten lassen, dass die meisten gar nicht
daran gedacht haben würden, solche Gütermassen kirchlichen
Zwecken zu widmen, wären das Eigenthum und die sich dar
aus ergebenden Nutzungen und Befugnisse nicht ihnen und
ihren Erben geblieben.
Alles das trifft aber die Reichskirchen in erhöhtem Masse.
Wir führten schon früher aus (vgl. §. 43), wie bei den umfas
senden Vergabungen der Könige an die Reichskirchen nicht
religiöse, sondern politische und finanzielle Motive durchaus
das Ausschlaggebende waren. Bei den ausserordentlichen Lei
stungen, zu welchen die Reichskirchen verpflichtet waren, wird
man sich da von der Auffassung eines wesentlich nur formellen,
seiner realen Befugnisse entkleideten Eigenthumes des Reiches
ganz losmachen müssen. Man wird umgekehrt gerade bei den
Reichskirchen sagen müssen, dass es sich hier bei der einzel
nen Kirche nur um ein formelles Recht auf das ihr zugewie
sene Gut handelt, ihre Beziehung zu demselben sich wesentlich
darauf beschränkt, dass ihr zeitiger Vorsteher dasselbe für das
Reich verwaltet. Es liegt auf der Hand, dass, so lange dieses
Verhältniss fortbestehen sollte, der König nicht zugeben konnte,
dass Bisthümer und Abteien des Reiches ohne seine entschei
dende Einflussnahme besetzt würden. Wollte die Kirche das
nicht mehr zugestehen, so war offenbar nicht blos formell, son
dern auch materiell die Forderung durchaus berechtigt, dass
dem Reiche das Gut zurückgestellt wurde, welches zweifellos
seiner Hauptmasse nach ohne Voraussetzung des dem Reiche
verbleibenden Eigenthums nie in den Besitz der Kirchen ge
kommen wäre.
Nur in einer Beziehung konnte da das Festhalten am
formellen Rechte in vollem Umfange als unbillig erscheinen.
Das gesammte Gut der Reichskirchen war Eigenthum des Rei
ches, konnte von diesem beansprucht werden, wenn es auf die
Investitur verzichten sollte. Aber nur bei der Hauptmasse,
nicht bei allen, handelte es sich um ursprüngliches Reichsgut.
Die Billigkeit schien zu fordern, dass den Reichskirchen we
nigstens das verbleibe, was ihnen nicht von den Königen ge
schenkt war. Diesem Gesichtspunkte wurde ja aber auch im
Vertrage von 1111 bereitwilligst Rechnung getragen (vgl. § 23).
430
Ficker.
Aber die kirchliche Partei wollte von keiner Lösung wissen,
als einer solchen, welche den Kirchen alles als Eigenthum be-
liess, was ihre Vorsteher bisher auf Grund der Investitur be
sessen hatten.
55. Die Berechtigung der Behauptung, dass das König-
tlium ohne .die Leistungen aus dem Beichskirchengute der Lö
sung der ihm obliegenden Aufgaben nicht mehr gewachsen sein
würde, konnte man freilich nicht bestreiten. Man wagte es da
her auch nicht, die Beseitigung dieser Leistungen, die doch
aufs engste mit der Investitur zusammenhingen, zu verlangen.
Es wird umgekehrt wohl betont, dass das Verbot der Investi
tur die Fortdauer der Leistungen an das Reich
nicht zugleich in Frage stellen müsse. So erklärt P. Gregor,
schon 1077, dass es nicht seine Absicht sei, durch das Verbot
das zu beseitigen, quocl ad servitium et debitam fidelitatem regis
gertinet (Greg. Reg. 1. 5 ep. 5). Bei den Verhandlungen von
1119 wird besonderes Gewicht darauf gelegt. Der Bischof von
Chalons stellt dem Kaiser vor, dass er, ohne investirt zu sein,
seinem Könige de tributo, de milicia, de theloneo et de Omnibus,
que ad rem publicam pertinebant antiquitus, eben so diene, wie
die deutschen Bischöfe dem Kaiser; er erklärt es später für
unwahr, dass der Pabst dem Reiche etwas entziehen wolle;
derselbe sei vielmehr bereit, den Bischöfen zu befehlen, ut in
exhibitione miliciae et in ceteris Omnibus, in quibus tibi et ante-
cessoribus tuis servire consueverant, modis Omnibus deserviant
(Jaffe Bibi. 5,354.359). Auch Placidus von Nonantula berührt
das Verhältniss mehrfach; Leistungen aus Kirchengut an Laien,
die sich auf den Willen der Stifter gründen, erklärt er für zu
lässig; er gesteht auch dem Kaiser zu, was derselbe sich bei
Schenkungen ausdrücklich Vorbehalten habe oder was alther
gebracht sei; der Zins gebühre dem Kaiser und sei auch von
den Aeckern der Kirche zu zahlen. Aber befreunden kann er
sich sichtlich mit jenen Leistungen nicht, er lässt wiederholt
durchblicken, dass der Kaiser doch wohl besser thue, seines
Seelenheiles willen freiwillig auf jene Leistungen zu verzich
ten; seine eigene Ansicht geht wesentlich dahin, dass die Kirche
dem Kaiser genug leiste, wenn sie das Volk zum Gehorsam
anhalte, während sie in dringender Noth des Reiches ein Sub-
sidium caritatis nicht verweigern werde. Insbesondere aber
Ueber das Eigenthum des Keichs am Keichskirchengute.
431
macht er die Statthaftigkeit solcher Leistungen davon abhän
gig, dass sie nicht gegen die Canones verstossen (vgl. Cap, 56.
81. 117. 140. 151).
Und damit ist zweifellos der Punkt bezeichnet, der solche
Zusicherungen als durchaus ungenügend für das Reich erschei
nen lassen musste. Man könnte sagen, wenn dem Reiche alle
Leistungen gewahrt blieben, so war es gleichgültig, ob das Gut,
auf dem sie hafteten, als Eigenthum des Reichs oder der Kir
chen betrachtet wurden-. Aber es würde sich gar bald gezeigt
haben, wie wenig es sich bei dieser Aenderung der rechtlichen
Natur des Gutes um Unwesentliches handelte. Blieb dasselbe
Reichsgut, so war auch ferner das weltliche Recht für dasselbe
massgebend; das Urtheil darüber, zu welchen Forderungen der
König berechtigt sei, zu welchen nicht, stand lediglich den
Reichsfürsten zu; die Leistungen waren dadurch gesichert, dass
dem Bischöfe, der seine Pflichten gegen das Reich hintansetzte,
durch Spruch der Fürsten das Gut aberkannt wurde. War aber
das Reichskirchengut einmal als Eigenthum der Kirchen aner
kannt, wie das nach den Forderungen der kirchlichen Partei
auch äusserlich darin seinen Ausdruck finden sollte, dass der
Bischof die Investitur, statt vom Könige, fortan vom Erzbischöfe
zu erhalten habe (Plac. Non. c. 81), so unterlag dasselbe fort
an einfach der kirchlichen Gesetzgebung. Wie bald diese die
verschiedenen Leistungen aus Kirchengut an Laien für unca-
nonisch erklärt und mit ihnen aufgeräumt haben würde, wird
keiner nähern Begründung bedürfen. Schon mit den damals
geltenden Kirchengesetzen wäre eine Fortdauer der bisherigen
Befugnisse unvereinbar gewesen. Um von den Verboten des
Spolienrechtes und Regalienrechtes abzusehen, mag ein Hinweis
auf das in der Zeit des Investiturstreites mehrfach wiederholte
Verbot genügen, Kirchengut an Laien zit Lehen zu geben. Da
gegen war gewiss nichts einzuwenden, wenn man sich in die
Zeiten der Apostel und älteren Kirchenväter, auf welche man
sich immer berief, zurückversetzte. Aber wie war es dürchzu-
führen ohne Schädigung des Reiches, nachdem das ganze Reichs
kriegswesen wesentlich auf den Lehen aus Kirchengut beruhte?
Womit sollten die Reichsbischöfe ihrer Kriegspflicht genügen,
wenn ihnen nicht mehr gestattet war, das ihnen heimfallende
Gut wieder zu Lehen zu geben?
432
Ficker.
Und. dagegen hätte bei den Gesichtspunkten, welchen die
kirchliche Partei in diesen Dingen folgte, selbst ein Privileg
des Pabstes, welches dem Reiche alle bisherigen Leistungen
verbürgt hätte, keinerlei Schutz gewähren können. Man darf
nicht vergessen, dass auch die kirchliche Partei in der Inve
stitur keineswegs eine blosse Anmassung des Kaisers sali, dass
sie die damals allgemeine Annahme nicht bestritt, dass das
Recht zur Investitur den Kaisern durch Pabst Hadrian verliehen
sei. Aber das hielt sie nicht ab, dennoch die einseitige Auf
hebung dieses Rechtes für durchaus gerechtfertigt zu halten.
Der Pabst, liiess es, habe nichts bewilligen dürfen, was mit der
Lehre der Schrift und der Väter nicht in Einklang zu bringen
sei. Oder man gab zu, dass das päbstliche Privileg den Ver
hältnissen früherer Zeiten entsprochen haben möge, dass das aber
seine Zurückziehung nicht hindern könne, wenn jetzt das In
teresse der Kirche das erfordere (vgl. Plac. Non. c. 67. 69.
70. 102. 116). Welche Stellung die kirchliche Partei den eid
lich bekräftigten Zusicherungen Pabst Paschals gegenüber ein
nahm, ist bekannt. Ging sie von dem Grundsätze aus, dass
demjenigen, was die Kirche als durch ihr Interesse gefordert
erklärte, jedes entgegenstehende Recht zu weichen habe, wie
bestimmt es auch begründet sein möge, so verloren alle Ver
sprechungen der Kirchengewalt ihren dauernden Werth; begab
sich der König einmal der Mittel, Achtung seines Rechtes
nötigenfalls erzwingen zu können, so konnten ihm alle Ver
briefungen und Schwüre keine Bürgschaft für Einhaltung des
selben geben.
Fassen wir alles zusammen, so wird ein Unbefangener die
Berechtigung des insbesondere von K. Heinrich V. dem Investi
turverbote gegenüber eingenommenen Standpunktes nicht wohl
bestreiten können. Er steifte sich in keiner Weise auf sein
wohlbegründetes formelles Recht. War die Doppelstellung des
Bistliums mit dem Interesse der Kirche nicht mehr vereinbar,
so war er bereit, das.ganze Verhältnis zu lösen, in den Bi
schöfen nur noch Organe der kirchlichen Ordnung zu sehen,
die Art ihrer Einsetzung den Bestimmungen der kirchlichen
Gesetzgebung anheimzugeben. Dann aber konnten die Bischöfe
nicht mehr ferner Beamte des Reiches, Verwalter seines Gutes
sein. Wollte man darauf kirchlicherseits nicht verzichten, so
lieber das Eigentlmm des Reichs am Reichslcirchengute.
433
musste auch der Kaiser an seinem Investiturreclite festhalten,
da der ganzen Sachlage nach nur durch dieses die Interessen
des Reichs genügend gewahrt erscheinen konnten. Hielt die
kirchliche Partei die ihr angebotene Freiheit der Kirche, unter
der man damals vorzugsweise die Beseitigung des kaiserlichen
Einflusses auf die Bischofswahlen verstand, durch Verzicht auf
das Reichskirchengut für zu theuer erkauft, so war das nicht
Schuld des Kaisers.
56. Wenn Pabst Paschal in dieser Richtung mit seiner
nur das wahrhaft kirchliche Interesse ins Auge fassenden An
sicht anscheinend ganz allein stand, so wird das manche Be
denken bezüglich der Motive der kirchlichen Forderungen er
regen müssen. Das ganze Vorgehen der kirchlichen Partei
scheint doch mehr hierarchischen, als eigentlich religiösen Ge
sichtspunkten zu folgen. Mindestens müssen die Führer der
Partei überzeugt gewesen sein, dass bei der Masse derselben
die Anhänglichkeit an das weltliche Gut zu gross sei, als dass
man, wenn man ihr dieses nicht zu sichern wusste, noch auf
sie hätte rechnen dürfen. Und darauf scheint insbesondere
noch ein anderer Umstand zu deuten, der bei Erörterung die
ser Verhältnisse wenig berücksichtigt zu werden pflegt, näm
lich die Belassung der Rechte geistlicher Herren.
Man darf nicht übersehen, dass die Herrschaft über Kirchen in
früher besprochener Weise keineswegs nur in den Händen von
Laien wai’, dass es sich vielmehr wohl überwiegend um geist
liche Herren handelte und zwar sehr gewöhnlich um solche, welchen
die kirchliche Ordnung selbst an der betreffenden Kirche keinerlei
Ansprüche eingeräumt haben würde, deren Befugnisse ebenso
auf das weltliche Recht zurückgingen, wie die der Laien.
Wenn trotzdem dieses Verhältniss ganz unberührt blieb,
so würde man gar sehr irren, wollte man den Grund etwa darin
suchen, dass die geistliche Herrschaft für die unterworfenen
Kirchen weniger empfindlich gewesen sei und das kirchliche
Leben weniger beeinträchtigt habe. Ueberaus häufig finden
sich Zeugnisse für das Gegentheil, für die grössere B e-
drückung der" Kirchen durch geistliche Herren.
Wenn die Reichsabteien sich ausnahmslos dagegen sträubten,
an Bischöfe gegeben zu werden, wenn das Bisthum Gurk die
Versuche, die Herrschaft des Salzburger Erzbischofs mit der
434
Ficker.
des Reichs zu vertauschen, wieder und wieder erneuete, so
wird man darin sicher nicht blos ehrgeiziges Streben nach
Reichsunmittelbarkeit sehen dürfen. Verlangte das Reich viel,
so scheinen die geistlichen Herren durchweg noch mehr ver
langt zu haben. Als S. Emmeran im zehnten Jahrhunderte
vom Reiche an die Bischöfe von Regensburg gekommen war,
setzten diese gar keinen Abt ein, verwandten die Einkünfte
für sich und Hessen die Mönche bittere Not.h leiden, es ihnen
selbst überlassend, sich Unterhalt und Kleidung wie immer zu
verschaffen (Vita S. Wolfkangi, Mon. Germ. 6, 532); noch im
zwölften Jahrhunderte werden dem Kloster vom Bischöfe Gü
ter restituirt, welche seine Vorgänger damals unbefugt zu Lehen
gegeben hatten (Ried Cod. dipl. 1. 234). Um 980 gab der Bi
schof von Toul fast das ganze Gut der Klöster Moyenmoutier
und S. Die an die Herzogin und einen Sohn nach ihr zu Be
nefiz, nur die Klöster selbst mit unbedeutendem Gute in seiner
Hand behaltend (Vita S. Gerardi, Mon. Germ. 6, 503). Bene
dictbeuern kam 1052 an Bischof NitRer von Freising, von dem
es viel zu leiden hatte; es folgte Bischof Ellenhard, qui plus
quam antecessor in nostra cervice crassatus est; der Abt wird ver
trieben, ein anderer eingesetzt. Weiter wurde die Abtei an
Bischof Albero von Trient gegeben, bis endlich das Schlimmste
kam, die Vergabung an den Sprengelbischof, lnitium dolorum
hoc; etenim exteriores dominos pati, quorum tarnen spiritali ob-
edientia non constrin'gimur, grave est et revera permolestum; ha
bere vero dominum et cum illo manum conserere, qui utroque gla-
dio pugnat, mortale est et exitio proxiraum; denique duo Fri-
singenses et Ule Tridentinus nobis a tergo fuerunt, qui spirita-
liter constringere non potuerunt; Augustensis vero nobis in fronte
est, faciemferit, liabens potestatem sive spiritaliter examinandi
sive materialiter opprimendi; worauf dann seine Gewaltthaten
erzählt werden (Chr. Benedictobur., Mon. Germ. 11, 234). Um
die Mark Bullion erkaufen zu können, veräusserte der Bischof
von Lüttich 1096 die Kirchenschätze des Klosters Lobbes
(Gesta abb. Lobb., Mon. Germ. 21, 318). Der Kaiser sagt 1104,
dass die Abtei Schwarzach, seit sie vom Reiche an den Bischof
von Speier gegeben, ganz heruntergekommen sei, weil die Bi
schöfe die Güter an ihre Mannen zu Lehen gaben und uner
schwingliche Abgaben verlangten (Guden Sylloge 454). Die
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
435
Reichsabtei Nienburg war 1166 unter ausdrücklichem Vorbehalt
ihrer Güter und Rechte an Magdeburg vertauscht; alsbald kam
der Erzbischof tamquam probaturus ivga boum, quae emerat,
forderte unmässiges Servitium und nahm der Abtei einen Theil
ihres Gutes (Chr. M. Sereni ed. Eckstein. 36).
57. Besonders beachtenswerth scheint mir aber weiter zu
sein, dass jenes Ilerrschaftsverhältniss die ausserordentliche
Ungleichheit der V ertlieilung der kirchlichen Ein-
künfte vorzugsweise herbeiführte. Wenn in den kirchlichen
Streitschriften jener Zeit die religiösen Zwecke betont werden,
denen das Kirchengut dienen soll, wenn darauf hingewiesen
wird, wie dasselbe eigentlich ein Gut der Armen sei, nur ne
benbei auch den Priestern den nöthigen Unterhalt sichern solle,
so mochte sich solche Auffassung leicht mit Stellen der Väter
belegen lassen. Aber den tliatsächlichen Zuständen jener Zeit
entsprach sie in keiner Weise. Nur in sehr untergeordneter
Weise kam das Kirchengut eigentlich kirchlichen oder wohl-
thätigen Zwecken zu Gute. Seiner Hauptmasse nach diente es
dazu, eine verhältnissmässig geringe Zahl kirchlicher Würden
träger.. zu bereichern, ihnen zu gestatten, in Aufwand jeder
Art mit den mächtigsten weltlichen Grossen zu wetteifern oder
sie zu überbieten.
Der Grund ist vorzugsweise darin zu suchen, dass das
Recht auf Besitz und Nutzung des Gutes nur durch Investitur
erworben werden konnte und durch diese das Recht nicht der
gesammten kirchlichen Anstalt, sondern nur ihrem zeitigen Vor
steher übertragen wurde, so dass auch nur diesem die Verfü
gung über dasselbe zustand. Er hatte allerdings die Verpflich
tung, für die Bedürfnisse des Gottesdienstes und den Unter
halt der andern zur Kirche gehörigen Personen zu sorgen; aber
wie er das thun wollte, lag zumeist in seinem Ermessen. Kirch
liche Vorschriften konnten da kaum einen durchgreifenden Er
folg haben, wenn das weltliche Recht nur ein Verfügungs
recht des Investirten anerkannte. Sollten die Aebte die Ein
künfte der Ordensregel gemäss verwenden, so finden sich schon
früh Beispiele ganz willkürlichen Vorgehens (vgl. Roth Bene-
ficialw. 263.) Später finden wir dann fast in jeder Klosterchronik
Klagen darüber, wie manche Aebte die Mönche Noth leiden
Hessen, für den Gottesdienst ungenügend sorgten, nur auf sich
436
Ficker.
und ihre Verwandten dachten, vor allem durch Ausbeutung des
Kirchengutes die Summen, welche die Investitur sie gekostet
hatte, wieder einzubringen suchten.
Allerdings befanden sich nun in ähnlicher Weise, wie das
Gut einer Reichskirclie Reichsgut ist, das aber mit der be
stimmten Kirche dauernd verbunden sein soll, auch innerhalb
des Gesammtgutes eines Bisthums oder einer Abtei Gütermas
sen, welche dauernd für eine gewisse Einzelkirche, für gewisse
Personen bestimmt waren. Diese ergaben sich häufig daraus,
dass eine schon mit Gütern ausgestattete Kirche vom Bischöfe
oder Abte unter der ausdrücklichen oder stillschweigenden Be
dingung erworben war, dass er derselben ihr Sondergut be
lassen solle, was dann freilich oft genug nicht eingehalten
wurde. Oder der Herr hatte selbst einen bestimmten Theil
des Gutes für immer ausgeschieden, so insbesondere der Bi
schof für das Oapitel oder für die von ihm gegründeten Klö
ster, der Abt für den Convent. Hielt er sich nicht daran, so
mochte das sündhaft sein, aber auf dem Rechtswege war kaum
etwas auszurichten; auch das Gut der Capitel war gegen Will
kür des Bischofs oft wenig gesichert (vgl. z. B. Cod. Udalr.
ep. 20); höchstens, dass päbstliche und kaiserliche Bestätigungs
briefe da einigen Schutz gewährten.
Mit diesen ausgeschiedenen Gütermassen wurde dann aber
wieder von dem Bischöfe als Herrn in der Regel nicht die
ganze Congregation, sondern der Abt, Probst oder sonstige Vor
steher investirt. Durch die Leistungen, zu welchen dieser ver
pflichtet war, zog dann der Herr seine Nutzungen aus dem
besonderen Kirchengute, über dessen Einkünfte übrigens zu
nächst nur der Investirte zu verfügen hatte. Das konnte sich
mehrfach fortsetzen. Auf solche Weise mussten natürlich die
Erträgnisse des Kirchengutes vorzugsweise dazu dienen, den
hochgestellten Würdenträgern ganz unverhältnissmässige Ein
kommen zuzuwenden. Durch Bestimmung der Gründer, durch
Herkommen, durch ausdrücklichen Verzicht des Herrn konnten
sich da wohl engere Schranken feststellen. Aber auch dann
erscheint doch immer derjenige, der das Kirchenvermögen in
Investitur hatte, ganz unverhältnissmässig bedacht. Die Capi-
telskirche zu Coblenz gehörte dem Sprengelbischofe, dem Erz
bischöfe von Trier; dieser investirte den Probst. Hier war der
Ueber (las Eigentlmm des Reichs am Reichskirchengute.
437
Probst sowolil bezüglich der Einkünfte, wie der Zutheilung der
Pfründen sehr beschränkt; aber ein volles Drittel des gesammten
Kirchengutes und der Zehnten war für ihn ausgeschieden. Und
das wird als ein sehr günstiges Ausnähmsverhältniss betrach
tet ; die Gründer hätten erwogen, quod quam, plures aliarum ec-
clesiarum prepositi iure dispensatorio, quod habebant, sepe et ni-
mis abusi sunt; bona namque ecclesie distraxerunt plurima in
alienos usus, residuumque ad usum proprium Converter mit; si
quid quoque victualium aliquando restituerunt, id demum, quod
vilius et levioris precii inveniebatur, fratribus tenuiter et minus
iusto dederunt (Beyer TJ. B. 2, 355). Vereinzelt suchte man da
her auch wohl das ganze Verhältniss fern zu halten; 1045
hatte dei- Erzbischof vor. Bisanz bezüglich der von ihm ge
gründeten Collegiatkirehe S. Paul bestimmt, ne in loco supra
nominato abbas ponatur, nec prepositus ordinetur, quia lioc magi-
strorum genus, posthabitis frat.rum commodis, lucro inhiat pro-
prietatis; decanus constituatur ad regimen, qui a fratribus eligatur
(Böhmer Acta 54).
58. Am nachtheiligsten für das kirchliche Leben war aber
zweifellos die Hineinziehung der Pfarrkirchen in diese
Verhältnisse. Bezüglich ihrer ergab sich schon in früherer Zeit
eine verwandte Stellung dadurch, dass der Bischof als Eigen-
thümer des Gutes der Kirchen seines Sprengels betrachtet
wurde. Der Uebergang zu der spätem Auffassung ergab sich
da leicht; der Bischof galt nun, wo kein anderer Herr vor
handen war, als Herr der Kirchen; diese wurden zum Gute
des Bisthums gerechnet. Wäre dieses der kirchlichen Regel
entsprechende Verhältniss das allgemeine gewesen, so würden
herkömmliche Leistungen an den Bischof, wie sie auch früher
stattfanden, gerade keinen Bedenken unterlegen haben. Aber
dabei ist es nicht geblieben. Einmal standen eine grosse Zahl
von Seelsorgskirchen in Folge der Gründung und Dotirung von
vornherein unter anderer Herrschaft, indem die Gründer sich
das Eigenthum vorbehielten oder die Kirche einem andern
geistlichen Herrn, als dem Sprengelbischof, unterwarfen. Dann
aber verfügten nun die Bischöfe auch über die Pfarrkirchen,
welche sich von altersher im normalen kirchlichen Verhält
nisse zu ihnen befanden, ganz wie über anderes Kirchengut. Es
erging damit, wie mit den Zehnten; sie wurden vom Bischöfe
438
Picker.
verschenkt, vertauscht, auch an Laien zu Lehen gegeben; vor
zugsweise aber als nutzbringendes Gut einzelnen Würdenträ
gern oder Klöstern zugewiesen. Und die Aebte verfügten dann
wieder sehr willkürlich über die ihren Klöstern gehörigen Kir
chen; noch 1156 vertauschte der Abt von Epternach vier und
zwanzig Kirchen gegen einen grösseren Grundbesitz an den
Grafen von Holland (v. d. Bergh, Oorkondenb. 1, 96). Die
kirchliche Gesetzgebung hielt dem gegenüber wohl immer das
normale Yerhältniss im Auge, verstand sich da aber doch selbst
zu weitgehenden Concessionen (vgl. Philipps K. R. 7, 333 ff.)
während die Urkunden zeigen, dass man thatsächlich weit über
diese hinausging.
Die Folge davon war nun vor allem die, dass die Ein
künfte aus dem Vermögen der Kirche nicht dieser, dem an
ihr bestellten Geistlichen und mittelbar der bezüglichen Ge
meinde zu Gute kommen, sondern in erster Reihe dazu dienten,
das Einkommen des Herrn zu mehren. Der vom Herrn inve-
stirte Pfarrer oder Vicar wurde auf das Allernothwendigste be
schränkt. Dass die Ansprüche der Herrschaft sich auf be
stimmte Leistungen beschränkten, scheint der seltenere Fall
gewesen zu sein. Eine Pfarre, die früher Erblehn der Grafen
von Vianden war, 1187 vom Abte von Prüm an das Stift ge
geben wird, hat jährlich neunzig Scheffel Weizen zu liefern,
während das Uebrige dem Pfarrer bleibt. Der Erzbischof von
Trier schenkt 1208 einem Kloster eine Pfarrkirche mit den zu
gehörigen Gütern und bestimmt, dass von dem bisher dem
Pfarrer zukommenden Drittel der Einkünfte fortan der Vicar
nur noch die Hälfte haben soll. Der Vicar einer 1212 an Kar
den geschenkten Kirche hat nur ein Drittel gewisser Zehnten,
alles andere kommt an das Stift. Am häufigsten scheinen alle
Einkünfte von vornherein der Herrschaft zuzustehen, die ledig
lich verpflichtet ist, den Vicar mit Nahrung und Kleidung zu
versehen; bei einer Pfarre des Klosters Oeren ist ausdrücklich
bestimmt, dass er auch fructum laboris sui sive in oblationibus
sive in elemosinarum largitionibus gewissenhaft an die Stiftdamen
abzuliefern habe (Beyer U. B. 2, 127. 278. 323. 327). Und
selbst jener Verpflichtung kamen die Herren oft so ungenügend
nach, dass die kirchliche Gesetzgebung sich mehrfach zum Ein
greifen veranlasst sah (vgl. Phillips K. R. 7, 349).
lieber das 'Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
439
So drückte die ganze Last dieser Zustande schliesslich
vorzüglich auf die Seelsorgsgeistlichkeit, auf die untersten, aber
für die Durchführung der kirchlichen Aufgaben in weitesten
Kreisen wichtigsten Organe der kirchlichen Ordnung. Was ur
sprünglich für die Bedürfnisse der Ortsseelsorge bestimmt war,
kam unmittelbar oder mittelbar entfernten Würdenträgern oder
ohnehin reichen Abteien zu Gute. Während Bischöfe und
Aebte, Pröbste und Stiftsherren reich gesegnet waren mit Gü
tern dieser Welt, macht alles den Eindruck, dass die regel
mässige Seelsorge überwiegend in den Händen solcher war,
welche mit der Noth des Lebens zu kämpfen hatten. Was das
für das kirchliche Leben bedeuten musste, werden wir nicht
ausführen dürfen.
59. Diesen Verhältnissen gegenüber muss die Nicht
ausdehnung des Investiturgebotes auf Geistliche
gewiss befremden. Es treten da eine Reihe Uebelstände zu
Tage, die ihren Grund in der Investitur überhaupt, nicht ge
rade in der Investitur durch Laien hatten. Das Hauptübel lag
darin, dass das Gut der einzelnen Kirchen einem fremden
Herren, gehörte, ohne dessen Uebertragung der Vorsteher der
Kirche nicht in den Besitz des Gutes gelangen konnte. Das
beeinträchtigte das kirchliche Leben da, wo der Herr ein Geist
licher war, nicht weniger, als da, wo er ein Laie war. Ob der
König oder aber ein fremder Bischof einen Günstling einsetzte,
begründete doch kaum einen Unterschied. Und durch Simonie
wurden Kirchen von Bischöfen und andern geistlichen Würden
trägern eben so wohl, wie von Laien erlangt. Wollte man da
im Interesse der kirchlichen Gesammtordnung mit voller Ent
schiedenheit Vorgehen, so musste man nicht blos die Laienin
vestitur, sondern die Investitur überhaupt, wenigstens in der
Form und Bedeutung, welche sie damals hatte, beseitigen, je
der Kirche die volle Nutzung ihres Gutes, so weit es sich nicht um
allgemeingültige Abgaben an die kirchlichen Obern handelte,
sichern, sie von jeder Abhängigkeit von einer andern Gewalt,
als der normalen des Sprengelbischofs, befreien. Die hier vor
liegenden Uebelstände hat man kirchlickerseits auch sichtlich
nicht verkannt. Liess man die Wurzel des Uebels unberührt,
so finden sich doch in der kirchlichen Gesetzgebung jener Zeit
eine Menge Bestimmungen, welche auf Beseitigung einzelner
440
Picker.
aus jenem Verhältnisse sieh ergehender Missstände, auf mög
lichste Wiederherstellung der ordentlichen Gewalt des Spren-
gelbischofs gerichtet waren. Und was man, wo es herkömm
lich war, bestehen Hess, das wurde wenigstens bei neuen Ge
staltungen fern gehalten. Wird bei dem während des Investi
turstreites entstandenen Orden von Citeaux besonderes Gewicht
darauf gelegt, dass die Klöster weder einen weltlichen, noch
einen geistlichen Herrn ihrer Temporalien haben dürfen, dass
sie in geistlichen Dingen nur der ordentlichen Gewalt des
Sprengelbischofs unterstehen, ohne ihm zu weltlichen Leistun
gen verpflichtet zu sein, dass sie ohne Vogt nur auf den allen
gebührenden weltlichen Schutz des Landesherrn angewiesen
sein sollen (vgl. Reichsfürstenst. l,32(i ff.), so zeigt sich doch
deutlich, dass man von der Schädlichkeit der Zustände, welche
man durch solche Bestimmungen fern halten wollte, durchaus
überzeugt war. Und später ging man dann noch einen bedeu
tenden Schritt weiter; die weitverbreitete Ueberzeugung, dass
nicht blos die besonderen Verhältnisse des weltlichen Besitzes,
sondern dieser selbst ein Hemmniss des kirchlichen Lebens sei,
gelangte in den Bettelorden zum unumwundesten Ausdrucke.
Beim Beginn der bezüglichen kirchlichen Massregeln fin
den sich denn auch geistliche und weltliche Herren ganz gleich
behandelt. Das Verbot der Erkaufung der Investitur, gegen
deren Behandlung als Simonie sich wenigstens theoretisch man
ches geltend machen Hess, traf die einen, wie die andern in
gleicher Weise. Dann aber hält man beide auseinander. Nur
nach der einen Seite hin behauptet man, dass das Uebel der
Simonie nur durch Verbot der Investitur an der Wurzel ge
fasst werden könne. Die durchgreifende Massregel kehrt ihre
Spitze ausschliesslich gegen die Laien; ihnen gegenüber trägt
man kein Bedenken, wohlbegründete Vermögensrechte einfach
für beseitigt zu erklären, während sich offenbar den kirchlichen
Würdenträgern gegenüber ein solches Vorgehen der Kirche,
die sich da mehr auf eigenem Gebiete bewegte, ungleich leichter
hätte rechtfertigen lassen. Die bezüglichen Rechte der Mitglie
der der Hierarchie Hess man unberührt, obwohl dieselben auf
keinem andern Gesichtspunkte beruhten, den normalen Grundla
gen der kirchlichen Ordnung nicht weniger widersprachen. Wenn
der König etwa einem fremden Bischöfe ein Kloster verkaufte
Uebor das Eigenthnm des Reichs am Reichslcircliengute.
441
oder vertauschte, so war alles in Ordnung, dieser mochte dann
ungehindert alle Befugnisse üben, welche dem Könige unter
sagt gewesen wären. Es muss scheinen, als habe man absicht
lich vorzugsweise die mehr formelle Seite des Verhältnisses, die
scheinbare Verleihung geistlicher Würden durch die Hände ge
rade von Ungeweihten, betont, um nicht auf kirchlichem Ge
biete entsprechend aufräumen zu müssen. Dass man da wohl
Gesichtspunkte auffinden kann, welche das Recht bei geist
lichen Herren, die in grösserer Abhängigkeit von der Kirchen
gewalt standen, minder bedenklich erscheinen lassen, als bei
Laien, ist gewiss nicht zu läugnen. Aber, ausschlaggebend
waren da zweifellos andere Gründe. Man musste sich bewusst
sein, dass das Ziel auch den weltlichen Grossen gegenüber nicht
zu erreichen sein werde, wenn man das Interesse der kirch
lichen Grossen nicht schonte. Sollte die Freiheit des Bisthums
vom Könige damit erkauft werden, dass nun auch die Bischöfe
auf die ihrer Herrschaft unterworfenen Kirchen verzichteten,
so wäre das sicher demselben Widerstande begegnet, als der
Vertrag von 1111, durch welchen ihnen im Interesse der Kirche
der Verzicht auf das Reichsgut angesonnen wurde. Und vor
allem wird zu beachten sein, dass der Schöpfer des Investitur
verbotes hier dieselben Interessen mit den übrigen kirchlichen
Würdenträgern theilte, dass eine Ausdehnung desselben auf
Geistliche auch die Interessen der römischen Kirche verletzt
hätte, insbesondere aber mit sonstigen Bestrebungen gerade
Gregors unvereinbar gewesen sein würde.
60. Eben bei P. Gregor VII. finden wir in den verschie
densten Richtungen ein Streben nach Ausdehnung des
Ob er eigenthu m s der römischen Kirche. Es dürfte
die Annahme nahe liegen, dass gerade die eingehendere Beach
tung der mit der Investitur zusammenhängenden Rechtsver
hältnisse, des Unterschiedes zwischen Nutznießer und Eigen-
thümer, ihn bestimmter auf jene Bestrebungen hinwies. Bei
ihm tritt noch nicht die Auffassung späterer Päbste hervor,
wonach schlechtweg ausser der geistlichen auch alle weltliche
Hoheit und Herrschaft als von Gott dem Pabste verliehen in
Anspruch genommen wird, demnach diesem gleichsam von
vornherein das Obereigenthum an der ganzen Welt zusteht.
Gregor weiss da zwischen geistlicher und weltlicher Herrschaft
Sitz!), d. |Sl.-hist. Cl. LXXII. Bd. II. Hft. 29
442
Ficket.
recht wohl zu unterscheiden. Nur jene steht von vornherein
überall dem Pabste zu. Aber nebenbei ist die römische Kirche
auch jedös weltlichen Eigenthums, jeder weltlichen Herrschaft
fähig. Und das Streben des Pabstes ist nun unablässig- darauf
gerichtet, ihre Eigenthumsrechte möglichst auf alle Güter die
ser Welt auszudebnen und damit einer Entwicklung entgegen
zutreten und sie zu überbieten, welche den Kaiser zum Eigen-
thümer der Hauptmasse des Kirchengutes hatte werden lassen.
Dass man die römische Kirche jederzeit des Eigenthums,
insbesondere auch an Grund und Boden, fähig hielt, möchte
ich nicht bezweifeln. Die germanische Anschauung von der
Eigenthumsunfähigkeit der Kirchen scheint überhaupt in Italien
nie ganz durchgedrungen zu sein; so weit ich sehe, war dort
der Zustand der, dass die Kirchen zwar vielfach einen Ober-
eigenthümer hatten, ihn aber zum Schutze ihres Gutes nicht
gerade haben mussten. Ueberdies blieb zu Rom selbst das
römische Recht immer das herrschende, gewannen dort germa
nische Rechtsanschauungen wenig Einfluss. Hätte der Kaiser
als weltlicher Schutzherr der römischen Kirche dauernd seinen
Sitz zu Rom gehabt, so würde die Entwicklung auch hier kaum
eine andere gewesen sein. Versuchte man, in das Decret von
1059 über die Pabstwahl eine Bestimmung einzuschieben, welche
die Investitur des Pabstes für den König beanspruchte, inve-
stirte 1061 der junge König den Cadalus als Pabst, so zeigen
sich wenigstens Ansätze, auch die römische Kirche als Eigen
thum des Reichs zu behandeln. Aber im allgemeinen scheint
jene Anschauung der Nothwendigkeit eines Obereigenthümers
auch für die römische Kirche nie bestimmter geltend gemacht
zu sein. Von dieser Seite bot sich also kein Hinderniss, wenn
nun Pabst Gregor nach den verschiedensten Richtungen hin
Obereigenthumsrechte der römischen Kirche zur Geltung zu
bringen suchte.
Wie der Pabst das in grossem Massstabe betrieb, bald
von diesem-, bald von jenem Königreiche oder Lande behaup
tete, dass es ad jus et proprietatem des h. Petrus gehöre, von
den Königen verlangte, dass sie sich ihm als Mannen verpflich
teten, haben wir hier nicht näher zu verfolgen. Dass er sich im
Anschlüsse an das System der Zeit mit der Idee trug, der feu
dalen Gestaltung des Reichs eine feudal-hierarchische Univer-
lieber das Eigenthum des Reichs am Reichslrirchengute.
443
salmonarchie entgegenzustel 1 en , wird doch kaum bezweifelt
werden können.
Für unsern Zweck wird insbesondere zu beachten sein,
dass, wenn er bestrebt war, die Eigenthumsrechte der Laien
am Kirchengute zu beseitigen, es ihm sichtlich nicht genügte,
nun selbst bezüglich desselben nur den Einfluss zu üben, den
ihm die kirchliche Ordnung gestattete, dass er zweifellos dahin
strebte, auch auf dem Gebiete des weltlichen Rechts der römischen
Kirche das Eigenthum am Kirchengute in möglichst weiter
Ausdehnung zuzuwenden. Auch ganz abgesehen von der kirch
lichen Ordnung war die römische Kirche weltliche Herrin einer
grossen Zahl von Abteien, dann auch vieler Bisthümei-, insbe
sondere in Italien. In diesen stand die Investitur dem Pabste
zu; nach dem die Auffassung der kaiserlichen Partei ausspre
chenden unterschobenen Privilege Pabst Leo’s VJII. hätte der
Kaiser in diesen dem Pabste die Investitur überlassen; im
Wormser Concordate wurden sie ausdrücklich vom Investitur
rechte des Kaisei’s ausgenommen. Der Pabst hatte hier denn
auch den mit der Investitur verbundenen Einfluss auf die Be
stellung; fand auch eine Wahl statt, so scheint es doch, dass
der Pabst die zu xvählende Pei-son bezeichnete (vgl. z. B. Greg.
Reg. 1. 5 ep. 3).
Dass ein solches Verhältniss bereits vorlag, ist zweifellos
für die Beurtheilung der Zustände, welche sich aus einer stren
gen Durchführung des Vei-botes der Laieninvestitur voi’aussicht-
lich ei-geben haben würden, wohl zu beachten. Vielfach ist das
Verbot, auch abgesehen vom Reiche, nicht durchgedrungen. So
wird beispielsweise noch 1181 bei Gründung des Stifts Wald
see ausdrücklich bestimmt, dass der Probst vom Ilei-zog von
Schwaben zu investiren sei; so werden 1267 bei der Theilung
unter den Herzogen von Braunschweig insbesondere auch die
Investituren genannter Aebte vertheilt (Wirtemb. U. B. 2, 214;
Or. Guelf. 4, pr. 13). Oder man suchte das Vei’bot formell zu
umgehen (vgl. §. 8). Oder man scheint unter Verzicht auf die
Form der Investitur dennoch die Kirche als Eigenthum betrach
tet zu haben. So steht Laach von seiner Gründung 1093 bis
zur Uebei’gabe an den Erzbischof von Köln 1144 sichtlich im
Eigonthume der Rheinpfalzgrafen; aber von einer Investitur
durch diese ist in den die Vei’hältnisse des Klosters ordnenden
29*
444
Ficket.
Urkunden nie die Rede, während dann bei der Uebergabe an
den Erzbischof sog’leich die Investitur durch diesen betont wird
(Beyer U. B. 1, 444. 481. 487. 588). Vielfach zeigt sich aber
doch, dass die Laien das Investiturverbot nicht blos formell
beobachten, sondern auch auf den ihm zu Grunde liegenden
Gedanken eingehen, dass das kirchlichen Zwecken Bestimmte
nicht Eigenthum von Laien sein dürfe, demnach bereit sind,
ihrem Eigenthume zu entsagen. Hatte man sich aber sichtlich
noch nicht in den Gedanken gefunden, dass es eines Schutz-
eigenthümers für die einzelnen Kirchen und ihr Gut nicht be
dürfe, so handelte es sich nicht blos um den Verzicht, sondern
auch um die Frage, wem sie das Eigenthum ihrer Kirche nun
übertragen sollten. Am nächsten liegend und der kirchlichen
Ordnung am meisten entsprechend war natürlich Uebergabe an
den Sprengelbischof. Aber nach manchen Erfahrungen (vgl.
§. 56) werden sich dagegen insbesondere die Klöster am meisten
gesträubt, eher Uebergabe an einen benachbarten Bischof vor
gezogen haben, wie solche denn auch in dieser Zeit noch mehr
fach erfolgt. Im allgemeinen scheinen aber doch die Bischöfe
mit den ihnen gehörenden Klöstern so willkürlich geschaltet zu
haben, dass man den Laien schwerlich zumuthen durfte, in der
Uebergabe ihres Eigenthums an dieselben ein frommes Werk
zu sehen. Da war nun der Gedanke einer Eigenthumsübertra
gung an die römische Kirche ganz naheliegend, welche sich
durchweg mit einem geringen Recognitionszins begnügte und
deren Macht so gestiegen war, dass ihr Schutz genügte. So
wurden nun eine grosse Menge von Klöstern in ihren Tempo
ralien der römischen Kirche unterworfen, theils noch in den
strengeren Formen eigentlicher Eigenthumsübertragung, theils
in der Uebergangsform, dass man Gott und die bezüglichen
Heiligen als Eigenthümer fingirte und die römische Kirche zum
Schutze ihrer Rechte bestellte (Näheres Reichsfürstenst. 1, 324).
Und das finden wir denn wohl auch da, wo Bisthümer im
Eigenthume von Laien standen. So sagt 1085 der Graf von
Melgueil: episcopatum Magalonensem — dono et trado per allodium
sanctae Romanae ecdesiae, so dass nun insbesondere der Pabst
auch den Bischof setzen soll (Hist, de Languedoc 2, 321).
Damit scheint mir deutlich genug der Weg gezeigt, auf
dem sich die Rechtsverhältnisse des Reichskirchengutes weiter
lieber das Eigeutliura des Reichs am Reichskirchengute.
445
entwickelt haben würden, wenn bezüglich desselben die Durch
führung des Investiturverbotes gelungen wäre. Das Obereigen
thum würde vom Reiche auf die römische Kirche tibergegangen
sein. Auch bei den Bisthümern sollte nach Beseitigung der
Hechte des Königs nicht etwa die Investitur ganz aufhören;
sie wurde für den Erzbischof beansprucht (vgl. §. 55), der
damit als der höhere Herr des Gutes des Bisthums erscheint.
Musste aber auch der Erzbischof nach den Anschauungen der
Zeit das Beeilt auf die Temporalien von einem höhern Herrn
erhalten, so konnte das natürlich nach Beseitigung des Königs
nur der Pabst sein. Ist, so weit ich sehe, von der Forderung
der Investitur der Erzbischöfe durch den Pabst nicht aus
drücklich die Rede, so ist da die Form bedeutungslos; der
Natur der Sache nach war eine andere Entwicklung nicht wohl
möglich; war für den Erzbischof ohnehin bereits die päbstliche
Bestätigung der Wahl und der Empfang des Pallium nöthig,
so würde sich da zweifellos, selbst wenn eine neue, der In
vestitur entsprechende Form nicht hinzugekommen wäre, die
Anschauung festgestellt haben, dass auch sein Recht auf die
Temporalien auf den Pabst als Obereigenthümer zurückgehe.
Und das würde nicht blosse Form geblieben sein. Rechte
und Leistungen, wie sie bisher dem Könige zustanden, würden
nun.vom Pabste beansprucht sein. Ich zweifle nicht, dass Pabst
Gregor selbst das nicht anders aufgefasst hat. Es war bisher
ein Recht des Königs, dass die Bischöfe Kirchengut nur mit
seiner Zustimmung zu Lehen geben durften; auf der römischen
Synode 1078 wird das für den Pabst und die Erzbischöfe in
Anspruch genommen. Dafür lassen sich immerhin rein kirch
liche Gesichtspunkte als massgebend denken. Bezeichnender
scheint mir ein anderes. Wie der Pabst schon 1076 vom
Bischöfe von Trient die Stellung von Mannschaft zum Dienste
des h. Petrus verlangt, so heisst es 1079 im Gehorsamseide
des Patriarchen von Aglei ausdrücklich: Bomanam ecclesiam
per sciecularem militiam fideliter adiuvabo, cum invitatus fuero
(Jaffe Bibi. 2, 355. 535). Keine Art kirchlicher Unterordnung
konnte den Pabst zu solcher Forderung berechtigen. In seinen
Temporalien stand Aglei in keinerlei Abhängigkeitsverhältnisse
zur römischen Kirche. Nur dem Reiche hatte der Patriarch als
Besitzer des Reichskirchengutes, als Herzog von Friaul und
446
Ficker.
Markgraf von Istrien Kriegsdienst zu leisten; nur die auf
Lehen aus Kirchengut sich gründende Verpflichtung seiner
Vasallen bot ihm die Mittel dazu. Ich weiss nicht, wie sich
solche Forderung des Pabstes anders begründen lässt, als darin,
dass er sich bereits als den Obereigenthümer alles Kirchen
gutes betrachtete. Gelang es damals, den König als Herrn
endgültig zu beseitigen, so war eine Entwicklung nicht hintan
zuhalten, durch welche der Pabst nicht blos zum geistlichen,
sondern auch zum weltlichen Herrn der Keichskirchen und
damit das Gut derselben, bisher der werthvollste Bestandteil
des Reichsvermögen, seinen Zwecken dienstbar geworden wäre.
Haben sich ja trotz des Belassens der Investitur später die
Wege gefunden, das in ziemlich weitgreifender Weise ins
Werk zu setzen. Bedenkt man, dass es sich hier nicht allein um
das Gut handelt, welches unmittelbar in Nutzung der Kirchen
stand, dass ungeheure Gütermassen von den Kirchenfürsten zu
Lehen gegeben waren, für deren allmälige Wiedereinziehung
die kirchliche Gesetzgebung sicher die Mittel gefunden haben
würde, dass, wenn die Zuwendungen an Kirchen mit welt
lichen Nebenabsichten auch aufgehört hätten, das Kirchengut
sich doch durch Schenkungen aus religiösen Motiven immer
gemehrt, die kirchliche Gesetzgebung dagegen jede Minderung
desselben unmöglich gemacht haben würde: so erklärt es sich,
wenn zur Zeit des Investiturstreites manche meinten, si ita
liaec pemtianse'i'int, ecclesia omnia terrena obtinere poterit (Pla
cidus Nonant. c. 91). Und das würde unter Verhältnissen ge
schehen sein, aus welchen sich die Anschauung eines Ober
eigenthums der römischen Kirche am gesammten Kirchengute
nothwendig ergeben musste; die Bischöfe würden dem Papste
zu Gehorsam verpflichtet gewesen sein, nicht blos als dem
Haupte der kirchlichen Ordnung, sondern auch als dem Herrn
ihres weltlichen Gutes, würden sich keinen Forderungen dessel
ben haben entziehen können, zu welchen die weltliche Ord
nung den Herrn berechtigte.
Handelte es sich um einen andern Pabst, etwa um
1 aschal, so würde uns die nachträgliche Erwägung dessen,
was sich der Sachlage nach als Folge ergeben musste, gewiss
nicht zur Annahme berechtigen, dass das Investiturverbot in
seiner einseitigen Beschränkung auf Laien von vornherein
Ueber das Eigenthum des Reichs am Reichskirchengute.
447
auf Herbeiführung eines solchen Zustande berechnet gewesen
wäre. Dass aber bei einem Pabste, wie Gregor, der sichtlich
das grösste Gewicht darauf legt, überall Obereigenthumsrechte
der römischen Kirche zu behaupten und zu begründen, solche
Erwägungen nicht wirksam gewesen sein, dass er nicht
beachtet haben sollte, wie der Verzicht, den man insbesondere
dem Reiche zumuthete, schliesslich, auch ohne dass das
bestimmt ausgesprochen wurde, nur der römischen Kirche zu
Gute kommen konnte, wenn man die entsprechenden Rechte
der geistlichen Herren unberührt liess, ist gewiss nicht an
zunehmen. Wurde der so naheliegende Schritt, wie die Simonie,
so auch die Investitur schlechtweg zu verbieten, unterlassen,
so musste dafür, auch abgesehen von den Rücksichten, welche
man auf die sonstigen kirchlichen Würdenträger zu nehmen
hatte, schon das Interesse der römischen Kirche selbst sprechen.
So hielt die Kirche für ihren eigenen Bereich jenes auf
dem Boden des weltlichen, und zwar des germanischen Rechts
erwachsene, von kirchlichem Standpunkte aus kaum zu ver-
theidigende Herrschaftsverhältniss fest. Allerdings war die
kirchliche Gesetzgebung dann vielfach bemüht, es entsprechend
zu modificiren. Aber überall lassen sich seine Nachwirkungen
deutlich erkennen; vielfach sind einzelne Seiten desselben erst
später weiter ausgebildet. Auf ihm beruhen zweifellos manche
vom spätem Kirchenrecht anerkannte Formen, wie insbesondere
die kirchliche Investitur (vgl. Phillips K. R. 7, 504), manche
Leistungen aus Kirchengut an geistliche Obere, welche aus
rein kirchlichen Gesichtspunkten sich kaum erklären Hessen.
Und insbesondere sind viele der spätem Anforderungen des
päbstlichen Stuhles sichtlich aus jenem im weltlichen Rechte
wurzelnden Herrschaftsverhältnisse hervorgegangen oder ihm
nachgebildet. Das genauer zu verfolgen, dürfte nicht ohne
Interesse sein. Unsern nächsten Zwecken liegt es fern. Denn
zu den weitgreifenden Rückwirkungen, welchen das Verbot
der Investitur nur für Laien bei strenger Durchführung auf
die Reichsverhältnisse hätte ausüben müssen, ist es nicht
gekommen, weil gerade am entscheidenden Punkte, bei den
Reichskirchen, auf die Durchführung verzichtet werden musste.
61. Der für das Reich günstige Ausgang des Investitur
streites wurde wohl vor allem dadurch herbeigeführt, dass
448
Ficker
auch die deutschen Fürsten weitergehenden Concessionen an
die Kirche in dieser Richtung abgeneigt waren. Einigten sich
die Fürsten beider Parteien auf dem Würzburger Tage 1121,
bezüglich der Investiturfrage einfach dahin zu wirken, ut in
hoc regnum honorem suum retineat, so war das doch wesentlich
gleichbedeutend mit dem vom Kaiser selbst eingenommenen
Standpunkte. Das Wormser Concordat kann als ein billiges
Abkommen der beiden Gewalten erscheinen, insofern es unter
Wahrung der Rechte des Reichs durch Gestattung canonischer
Wahlen unter Ausschluss aller Simonie der Kirche eine Bürg
schaft bot, dass fortan auch ihre Interessen bei Besetzung der
Bisthümer nicht unberücksichtigt bleiben würden. Sieht man
aber in erster Reihe auf das, was seit dem Verbote der Laien
investitur Hauptgegenstand des Kampfes gewesen war, so
bezeichnet uns das Concordat doch im Wesentlichen eine
Niederlage der kirchlichen Partei. Nur verdeckt wurde diese
durch die formellen Errungenschaften, durch die Aenderung
der Symbole, durch die Beziehung der Investitur auf die
Regalien, nicht auf die Kirchen selbst. In allem Wesentlichen
blieb dem Reiche sein Recht gewahrt. Mit dem Belassen der
Investitur war ausgesprochen, dass das Reichskirchengut Eigen
thum des Reiches bleiben solle; der Fortbestand der dem
Reiche zukommenden Leistungen war ausdrücklich zugesiehert;
durch die Gestattung der Anwesenheit des Kaisers bei den
Wahlen, der Entscheidung streitiger Wahlen durch ihn, der
Investitur vor der Conseeration war dem Reiche ein aus
schlaggebender Einfluss auf die Besetzung der Bisthümer auch
ferner verbürgt, wie ich das schon an anderm Orte zu be
gründen suchte (Deutsches Königth. u. Kaiserth. 87). Wurden,
was neuere Forschungen durchaus zweifelhaft machen, von der
kirchlichen Partei bei Lothars Wahl weitergehende Concessionen
verlangt, so ist mindestens sicher, dass der König sich nicht an
dieselbe gehalten hat, der Pabst nicht auf denselben bestanden
ist (vgl. Forschungen zur deutschen G. 8, 79 ff.; 12, 108 ff.).
62. Die spätere Entwicklung zeigt uns denn freilich
auch in dieser Richtung eine fortschreitende Schmälerung der
Befugnisse der Reichsgewalt. Vor allem sind es die aus der
Doppelwahl des J. 1198 sich ergebenden Verhältnisse gewesen,
durch welche die ausgedehnten Rechte des Königthums be-
Ueber das Eigentlium des Reichs ain Beichskircliengute.
449
züglicli des Reichskirchengutes zuerst wesentlich geschmälert
wurden. Jetzt gelang es dem PaB'sthume allerdings, den Ein
fluss des Königs auf die Besetzung der Bisthümer ganz zu
beseitigen, dafür den eigenen zu stärken; es gelang ihm, von
den Gegenkönigen Verzichte auf manche dem Reiche bisher
zustehende Leistungen aus dem Kirchengute zu erwirken, die
wir dann wieder später durch ähnliche Leistungen an den
päbstlichen Stuhl ersetzt finden. Aber auch die geistlichen
Fürsten selbst wussten die Schwäche des Königthums, dann
die Abneigung I\. Friedrichs II., den Kampf mit dem deutschen
Fürstenthum aufzunehmen, dazu zu benutzen, sich ihrer aus
gedehnten Verpflichtungen gegen das Reich möglichst zu ent
ledigen. Wurde, worauf ich an anderm Orte zurückzukommen
denke, seit dem Investitur streite das Reichskirchengut mehr
und mehr dem sonstigen Reichslehengute gleichgestellt, die
Beziehungen der geistlichen Fürsten zum Reichsoberhaupte
nach den allgemeinen Satzungen des Lehenrechtes beurtheilt,
so strebten nun Bischöfe und Achte mit Erfolg dahin, auch
ihre Verpflichtungen auf das zurückzuführen, was der Vasall
überhaupt seinem Herren schuldetb. Lassen sich besondere
Befugnisse des Königs auch später noch mehrfach "verfolgen,
so sind das insbesondere solche, deren Uebung vorwiegend
im eigenen Interesse der Kirche lag. Erklärt der König' etwa
auf Bitten eines Bischofes oder Abtes die durch den Vorgänger
geschehenen Verleihungen oder Verpfändungen von Kirchengut
für nichtig, so war es nicht das Interesse des Reichs, das da
den Ausschlag gab.
Formell aber ist weder durch das Wormser Concordat,
noch durch die spätere Entwicklung an der rechtlichen Natur
des Reichskirchengutes irgend etwas geändert. Je bestimmter
jetzt die Formen des Lehenrechts angewandt werden, um so
weniger kann das Eigenthum des Reichs einem Zweifel unter
liegen. Und zwar am gesummten weltlichen Gute der Reichs
kirchen, falls es mir, wie ich denke, gelungen ist, nachzu
weisen, dass sich auch früher die Investitur auf das gesammte
Gut bezog; denn der während des Investiturstreites gemachte
Vorschlag, zwischen dem, was ursprünglich vom Reiche
herrührte, und dem, was den Kirchen anderweitig zugekommen
war, zu scheiden, ist nicht zur Ausführung gelangt; auch in
450
Ficker. Ueber das Eigentlium des Reichs am Reicliskircliengnte.
dieser Richtung- ist durch das Concordat nichts geändert.
Wenn späteren Puhlicisten das Verhältniss unklar war, so ist
das begreiflich; da die früheren ausgedehnten Nutzungsrechte
des Reichs durchweg beseitigt waren, die Leistungen der
geistlichen Fürsten fest standen, da es insbesondere heim
Reichskirchengute nie zu einem Heimfalle, der Lehen an das
Reich kommen konnte, so mochte die Frage, ob nur einzelne,
oder aber alle Güter und Rechte der Reichskirchen reichs-
lehnbar seien, praktisch ohne alle Bedeutung scheinen und so
der ursprüngliche Sachverhalt in Vergessenheit gerathen. Bei
anderer Entwicklung hätte freilich in der Zeit der Reformation
die Frage eine weitgreifende praktische Bedeutung gewinnen
können. In Böhmen wurde damals mit Entschiedenheit geltend
gemacht, dass das Kirchengut Eigenthum der Krone sei; und,
wie ich denke, nicht ohne Grund, wenn ich mich der ab
weichenden Ansicht eines der gründlichsten Kenner böhmischer
Zustände gegenüber da auch nur auf die allgemeine Ent
wicklung der Verhältnisse des Kirchengutes beziehen kann
(vgl. Gindely G. der Ertheilung des böhmischen Majestäts
briefes 205). Hätte in Deutschland die Reichsgewalt selbst
sich der reformatorischen Bewegung angeschlossen, so würde
sie zweifellos zu dem Verlangen berechtigt gewesen sein, dass
der grösste Theil des einzuziehenden Kirchengutes dem Reiche
heimfalle. Widerstrebte sie der Einziehung überhaupt, so ist
es erklärlich, wenn damit der Umstand, dass die Einziehung
grossentheils mit Verletzung der Rechte des Reiches als Ober-
eigenthümers geschah, kaum zur Erörterung kam. Mag man
sich aber später des wahren Sachverhaltes nicht bestimmt
bewusst gewesen sein, so wird sich andererseits doch auch
nicht behaupten lassen, dass sich da etwa auf dem Wege
abweichender Gewohnheit ein anderer Rechtszustand heraus
gebildet, man später herkömmlich nur einzelne Hoheitsrechte
oder Güter der Reichskirchen als reichslehnbar betrachtet habe.
So weit sich irgend Veranlassung bietet, auf die Beantwortung
der Frage nach dem Eigenthume am Reichskirchengute Werth
zu legen, wird dieselbe, wie ich denke, nur dahin beantwortet
werden dürfen, dass für den ganzen Verlauf der Reichs
geschichte bis zur Säcularisation hin dem Reiche das Eigen
thum am gesammten Gute der Reichskirchen zustand.
ßü ding er. E gyptiscbe Einwirkungen auf hebräische Culte.
451
Egyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
Untersuchungen
von
Max Büdinger,
correspondirendem Mitglieds der kais. Akademie.
Die nachfolgenden Untersuchungen sollen auf einem
gleichsam verschütteten Gebiete Beiträge zu den Beobachtun
gen über das Bewusstsein der Culturübertragung liefern, welche
ich für die Begrenzungsepochen dos griechisch-römischen und
des römisch-germanischen Lebens im J. 1866 in einer Züricher
Bectoratsrede der gelehrten Beurtheilung vorgelegt habe. Zur
Vervollständigung des hier Vorliegenden bedarf es noch einer
Reihe von Ausführungen theils persönlicher x\rt über die Stel
lung der Leiter des Auszuges zu beiden Völkern, Egyptern
und Hebräern, theils sachlicher über die Grundanschauungen
der Hebräer vor ihrer nationalen Umgestaltung. Diese Unter
suchungen bilden aber wieder ein Ganzes für sich.
1. Schlangendienst.
Der Seher Arnos von Thekoa konnte um 800 vor Christo
seinem Volke als eine bekannte Thatsache in’s Gedächtniss
rufen, dass der Dienst Jahve’s während des Aufenthaltes der
Hebräer in der Wüste vernachlässigt worden sei. 1 Näher be-
1 ,Habt Ihr Opfer und Gabe mir in der Wüste gebracht vierzig Jahre lang,
Haus Israel? 1 Amos V, 25 übers, von Ewald, Propheten (1840) I, 104.
Die Zeitbestimmung gebe ich nach Hitzig, kleine Propheten (1852) 93,
und Schräder (De Wette’s Einleitung in d. alte Testam., 8. Ausg. 1869) 457.
452
Büdinger.
stimmt im sechsten Jahrhundert v. Chr. Ezechiel die religiöse
Richtung des Volkes in der Wüste dahin, dass es sich an den
Missgestalten (gillule) von Egypten verunreinigt und dieselben
trotz Jahve’s Mahnung nicht verlassen habe: freilich seien das
auch die Anbetungsgegenstände ihrer Väter gewesen. 1 In der
That berichtet denn auch das letzte Kapitel des Buches Josua 2
von einem-förmlichen, nach der Landeseroberung zu Sichern
gefassten Volksbeschlusse (v. 14 und 23), die von den Vätern
jenseit des Eufrat und in Egypten angebeteten ,fremden* Götter
nunmehr zu verlassen.
Im Pentateuch finden sich jedoch keine näheren Nachrichten
über diese egyptischen Formen im G’ultus des wandernden Volkes,
da die Anbetung des goldenen Kalbes ausdrücklich als eine
vorübergehende Verirrung bezeichnet wird, auf welche man erst
in des Königs Jerobeam Zeit zurückkam. :s Nur wird berichtet
(Numeri 21, 9), dass ,Moses eine eherne Schlange verfertigte
und auf eine Stange (nes) 4 setzte; und es geschah, wenn Je
manden eine Schlange biss, so sah er die eherne Schlange
und blieb leben*. Auf den ganz bestimmten Anlass einer gött
lichen Heimsuchung des wegen mangelnder Nahrung murrenden
Volkes durch den Biss giftiger Schlangen wird die Aufstellung
dieses Bildes zurückgeführt.
Zwei andere Nachrichten über diesen Cult stimmen jedoch
nicht zum besten mit der hier geschilderten Einführung des
selben. Bei Gelegenheit der Zerstörung ,der ehernen Schlange,
welche Moses gemacht hatte*, auf Befehl des Königs Hiskia
wird (II. Könige 18, 4) einerseits gemeldet, dass ihr die Israe
liten ,bis zu dieser Zeit räucherten*, also göttliche Verehrung
erwiesen, anderseits dass man sie N/stn nannte. Diese fünf
Consonanten braucht man aber nur hieroglyphisch umzuschrei
ben, 5 um zu erkennen, dass die erste Hälfte des Wortes aus
1 Ezechiel 20, 7, 8, 24. Ueber gillulim, bei Ewald (Propheten II, 283
bis 285) ,Klötze 1 übersetzt, vgl. Gesenius thesaurus I, 287 b.
2 Ueber die Abfassung dieses Kapitels vgl. Knobel, exegetisches Handbuch
(1861) XIII, 483.
3 Exodus 32 und dazu Winer, bibl. Realwörterbuch unter ,goldenes Kalb 1 .
4 Im Egyptischen ist nes technischer Ausdruck für die Stangen der Götter
bilder bei Processionen (freundliche Mittheilung).
5 Brugseh, hieroglyphisch - demotisches Wörterbuch III, 799; IV, 1347 flg.
ägyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
453
ne/i ,beschützen', die zweite aus 'seten ,Königskrone' gebildet
ist; denn das lautlich denkbare 'suten ,König' ist durch die
sogleich zu erörternde Bedeutung des Ganzen ausgeschlossen.
Die masorethische Lesung Nechu§etan, schon von der grie
chischen Uebersetzung 1 nicht gebilligt, ist der Klangähnlichkeit
des Namens und des Metalles (nechoiet) 2 dieses Idoles ent
nommen. Die von den Egyptern auf die Hebräer übergegan
gene Bezeichnung Nechusetan oder Nechisetan 3 in der
Bedeutung von ,Kronscliutz-' entspricht vielmehr genau der
griechischen von ßatnXtV/.o: für die in Egypten verehrte Natter;
denn auch dieses Wort ist ja nur eine Uebersetzung von uara,
ara, koptisch ouro, welches zugleich ,Natter' und, wohl ur
sprünglicher, 4 ,König' bezeichnet.
Ein Bild dieser Schlange gehörte regelmässig zum Kopf
schmucke der Pharaonen. Auch bei verschiedenen Göttern
erscheint dieser Kopfschmuck, und das Bild der Schlange be
zeichnet hieroglyphisch die Göttin. 5
Ein anderer als der erwähnte, mit dem königlichen stim
mende Name, der diesem gefährlichen Thiere beigelegt wurde,
war der gräcisirte: ,Thermuthis'. 6 Es kann aber nicht Wun-
1 ed. Tiscliendorf (Lipsiae 1860) I, 481: NesaOav oder Neo0äv.
2 Noch Gesenius thesaurus IT, 876 leitet das Wort davon ab. Ueber die
Unzulässigkeit der Wiedergabe des egyptischen einfachen s (bei Brugsch,
Wörterbuch IV, 1149) durch ein hebräisches s (Schin) statt Samech (hier
Sin) lind umgekehrt des hebräischen s durch egyptisches s hat sich der
Vicomte de Rouge (revue archeol. n. s. XVI, 87 und mem. de la soc.
fran$. de numism. et d’arch6ol. 1869 I, 9) erschöpfend ausgesprochen.
Ueber die Wandlung der Zischlaute in Fremdwörtern bei den Hebräern
bringt von anderer Seite Aufschlüsse (1872) Schräder: ,die Keilinschriften
und das alte Testament* S. 247 und die ,assyrisch-babylonischen Keilin
schriften* (Ztschft. d. deutschen morgenl. Ges. XXII) 168, 176, 195 flgde.
3 Das von Masorah und LXX überlieferte a der Scliluss-Sylbe wird man
beibehalten dürfen.
4 G. Ebers, Egypten und die Bücher Moses (Leipzig 1868) I, 265, Anm. Z. 3.
5 Gardner Wilkinson in G. Rawlinson’s Herodotus (1862) II, 104 und des
selben customs a. manners, new series I, 239, II, 239 first series II, 184«
Unzutreffende, weil jüngere medicinische Auffassungen bei Knobel a. a.
O. 110.
6 This serpent (the asp) was called Thermuthis. G. Wilkinson n. s. II, 239*
The title Thermuthis ,the giver of death* (?), if it was really applied to
her (Isis) Ib. I, 367.
454
Bü dinge r.
der nehmen, wenn dieser Name des im ursprünglichen mosai
schen Cultus bedeutsamen Thieres von der Ueberlieferung der
Juden, wahrscheinlich in Egypten, der dortigen Königstochter
beigelegt wurde, 1 von welcher Moses erzogen worden sein soll.
2. Die Schlange und der Jalivedienst.
Trotz der Verehrung aber, welche wirklichen Schlangen
an einigen Orten in Egypten gewährt wurde, 2 und trotz sym
bolischer Verwendung ihres Bildes zu den angegebenen Zwecken
hat ein Cult gleich dem des hebräischen Nechusetan in Egypten
nicht bestanden. Man wird in demselben vielmehr, wie der
Name ankündigt, die Erhebung des Attributes einer schützen
den Kraft zu einer getrennten und neuen religiösen Gestaltung
zu erkennen haben.
Hier gewinnt nun die Versicherung Horapollon’s Bedeu
tung, dass in der Schlange die egyptische religiöse Anchauung
das Sinnbild der Ewigkeit sowohl als der Welt gesehen habe. 3
Anderseits aber berührt sich der in dem ehernen Bilde dar
gestellte Gedanke mit der ausdrücklich auf Moses zurückge
führten Einführung des Jahvecultes, 4 den auch die für Ver
gangenheit wie Gegenwart freie Betrachtungsweise des Propheten
Hoseas als bei dem Auszuge aus Egypten aufgekommen an
sieht. 5 Mag nun das Wort Jahve den Hervorbringer des Seins,
den Seienden oder auch nur den Himmel bezeichnen, 0 so darf
man doch als gewiss annehmen, dass der neue Name die Vor-
1 0sp[j.ouOi? ?)V Ojyccrrjp tou ßaatX£ü)<;• — — auxov (Mtouarjv) 7iaioo7:oiEn:ai.
Josephus, antiqq. II, 9, 5 und 7 (I, 186, 190 ed. Obertliür).
2 Herodot II, 74.
3 Atcova Bk "k(youaiv Atyu~vioi Bia touSe tou £wou orjXouaOat. — Koap-ov ßou-
Xo'p.Evoi Ypa'|ai ocpiv £ioypacpou(7t trjv iautou iaOfovxa oupav. Horapoll, liierogl.
I, 1 u. 2 (3 u. 5 ed. de Pauw.).
4 ,Mit meinem Namen Jahve habe ich mich ihnen (den Erzvätern) nicht
kund gethan. 4 Exod. 6, 3 vgl. 3, 14.
5 ,Ich aber, Jahve, Dein Gott vom Aegyptenlande her. 4 ,Durch einen Pro
pheten führte Jahve Israel aus Egypten herauf. 4 Hosea 12, 10; 12, 14;
13, 4 (Ewald, Propheten I, 161. 162).
6 Ewald, Gesell, d. Volkes Israel II, 204 (zweite Aufl.). Hitzig, Gesch. des
Volkes Israel I, 81. Lauth, Moses der Ebräer (München 1868, S. 74
und 76) glaubt, ,wenn auch vielleicht nicht zur Bezeichnung Gottes 4 , den
Namen in einer früher nachweislichen egyptischen Form Juaa zu erkennen.
Egyptisclie Einwirkungen auf hebräische Culte.
455
Stellung der Ewigkeit — ,was 1 ist und sein wird' und schon
über den Vorfahren waltete — und der allgemeinen Herrschaft
erwecken sollte. 2 So sehr erschien Moses persönlich als Be
gründer dieser Jahveverehrung, dass zwei jüngere genealogische
Berichte (Exodus 6, 20; Numeri 26, 59) seine Mutter ,Jahve
ist Ehre 1 , Jokebed, nennen, während die älteste Nachricht
über seine Abstammung (Exodus 2, 1) freilich nur beide noch
ungenannte Eltern dem ,Hause Levi' zuschreibt, von dessen Ein
fügung in die Stammordnung des Hebräervolkes in einem an
dern Zusammenhänge zu reden sein wird.
Wenn nun die nahe Verwandtschaft dieses hebräischen
Namens der Mutter und des egyptischen der Stiefmutter von
Jahve und der Schlange einleuchtet, so wird man auch
den Beinamen der gegen Verletzungen schützenden Gottheit
nicht mehi - befremdlich finden, welchen Jahve bei dem
ältesten Erzähler einmal führt: ,Ich bin Jahve, Dein Arzt.' 3
Denn Jahve schliesst auch die in der Schlange Necliusetan
dargestellte göttliche Kraft in sich.
3. Nächstes Ergebniss.
Man wird hienach sagen dürfen, dass in der ehernen
Schlange eine schützende Gewalt, unbestimmt ob der Könige
oder von Göttern, versinnlicht war; ihr aufgerichtetes Bild
stand in Egypten aber auch auf dem Haupte des Gottes Chnef
(Chnubis), der den ,Athem' oder ,Geist' bezeichnet, und ist
ein Attribut des Agathodämon, der hohen Schutzgottheit der
Könige und der Tempel: des Hor-IIat. 1 Indem Moses das
Sinnbild der Schlange aufrichtete — losgelöst von Götter
darstellung, nur als ,Kronschutz' bezeichnet und einem ausge-
1 Exodus 3, 14 und 15, Auffassung des jüngern Erzählers.
2 ,Mein ist die ganze Erde.* Exodus 15, 9 (nach Ewald, Gesell. II, 160:
,uralte Worte*). ,Die Erde ist Jahve’s.* Exod. 5, 29.
3 ani jahve ropheeka: Exod. 15, 2G. Ewald II, 144 Anm.: ,Dein Heiler
(Heiland)*.
4 At the cataracts I have fouiul bim witli the asp rising between bis (Chnubis)
horns. Wilkinson c. a. m., n. s. I, 239. first ser. II, 184.
456
Büdinger.
drückten Volks wünsche 1 begegnend — so blieb doch das Wesen
des neuen Gottes der Ewigkeit und Weltherrn Jahve unsicht
bar und undarstellbar.
Aus den egyp tischen Anbetungsformen ist die Menschheit
mit diesem Schlangenbilde gleichsam handgreiflich zu neuen
geführt worden.
Die Darstellung des alten Erzählers sucht den Wider
spruch zur sonstigen Bildlosigkeit des Jahvedienstes leidlich
auszugleichen, der in diesem Erzbilde, wie in den Cherubs des
Bundeszeltes, immerhin vorliegt und bis auf die Neuzeit 2
empfunden worden ist. Doch wird man sagen dürfen, dass die
eherne Schlange mehr ein Scheiden von den alten egyptischen
Diensten bezeichnet, als eine Zurückwendung zu denselben.
4. Freigebuug der Privatculte.
Ein Forscher von so genauer, ja etwas bedenklicher 3
Kunde der Geschichten des Wüstenzuges wie der Prophet Je-
remia 4 sprach um 600 v. Chr. die Ueberzeugung aus, dass
nicht nur, wie Amos meinte, damals Jahve’s Dienst vernach
lässigt worden sei, sondern dass Jahve selbst bei der Befreiung
aus Egypten dem Volke ,iiber Angelegenheiten von Voll- und
Schlachtopfer' nichts ,geredet noch befohlen' habe. Sein Dienst
wäre sonach ursprünglich wie ohne Bild, so ohne Cultusform
gewesen.
Mit dieser Meinung und auch mit Amos’ Worten dürfte
eine wenig bemerkte und doch deutliche gesetzliche Bestim
mung jener Zeiten zu verbinden sein. Als ein mit in die
Wüste gezogener Egypter, dessen Mutter eine Hebräerin war,
1 Das betreffende Fragment beginnt: ,Das Volk ward verdrossen auf dem
Wege und redete wider Gott (Elokim) und wider Moses. 1 Numeri 21, 4
und 5. Der Anlass der Schlangenbisse beruht dann sichtlich auf unge
nügender Erforschung des Autors; vgl. über dessen Verfahren auch
Knobel a. a. 0. 8. 108.
2 Ewald, G. d._ Volkes Israel II, 163: — ,bleibt eine gewisse Unklarheit
über die Bedeutung solcher Bilder 1 . IT, 228: ,erst später knüpfte sich
daran eine Art Aberglauben und Götzendienst 1 .
3 Schräder (bei De Wette 1869) 293 n, 325 g über seine Betheiliguug an
der Redaction des Deuteronomium.
4 VII, 22; Ewald, Propheten II, 54 flgd.
Egyplisclie Einwirkungen auf hebräische Culte.
457
an dem neuen Jahvenamen eine scharfe Kritik übte, 1 ihn
,lästerte und verfluchte', da musste er sein Vergehen mit dem
Tode von der Hand der Gemeinde büssen. Es erging bei
diesem Anlasse das Orakel: ,wer seinem 2 Gott fluchet, der soll
seine Sünde tragen; wer aber Jahve’s Namen lästert, der soll
des Todes sterben; die ganze Gemeinde soll ihn steinigen.
Wie der Fremdling, so soll auch der Einheimische sein: wenn
er den Namen lästert, so soll er sterben.'
Das setzt Culte voraus, welche bis zu jener Volks
versammlung in Sichern unter Josua’s Leitung 3 dem Ermessen
der Einzelnen überlassen wurden, wenn nur der am Sinai ge
schlossenen Eidgenossenschaft gemäss über diesen Einzelciüten
die Anerkennung des neuen GottesbegrifFes gewahrt blieb.
Schwerlich darf man aber an Hausgötter denken, welche ja
bis in die beginnende Königszeit anstandslos und nebensächlich
erwähnt werden, wenn hier die Verfluchung seines Gottes Jedem
auf eigene Gefahr überlassen wird. Man wird vielmehr geneigt
sein, an die ,egyptischen' Missgestalten zu denken, von deren
Erwähnung bei Ezechiel im Eingänge dieser Untersuchung die
Rede war. Die bisherigen Ausführungen dürften aber dar-
gethah haben, dass auch der Cult der ehernen Schlange un
möglich von Ezechiel gemeint sein kann.
5. Skvt und Kivn.
Bei dieser Sachlage wird man dem weitern Vorwurfe
grössere Bedeutung beimessen, welchen Arnos (5, 26) unmittel
bar nach jenem früher erörterten wegen Vernachlässigung des
Jahvecultes in der Wüste erhebt. Der betreffende Satz 1 ist
1 vajjiqqob («covo(j.aaa<; meint die LXX) et haschem (was doch hier keines
wegs Umschreibung des Jahvenamens sein muss) vajeqallel. Levit. 24, 11.
2 Der Nachdruck liegt auf dem Possessivpronomen ,seinem* im Gegensätze
zu anderen Göttern.
3 ,So tliut nun von Euch die fremden Götter, die unter Euch sind*
Jos. 24, 23.
4 Nach raasorethischem Texte ed. van der Hooght 1705 IT. 137 b: unesatem
et sikkut malkekhem veet kijjun zalmekhem kokhab elohekhem ascher
asithem lakhem. Luther übersetzt: Ihr trüget den Sichuth, Euren König,
und Cliiun, Euer Bild, den Stern Eurer Götter, welche Ihr Euch selbst
gemacht hattet.
Sitzb. d. phil. bist. CI. LXXII. Bd. II. Hft. 30
458
teiidinger.
in alter und neuer Zeit von den bei Weitem meisten Erklären!
auf die Vergangenheit und auf zwei sonst unbekannte Götter
namen bezogen worden. 1
Dass diese beiden Namen, buchstäblich Skvt und Kivn,
falls sie egyptische Götter darstellen, sich so einfach wie Ne-
chusetan hieroglyphisch transscribiren lassen, darf man freilich
nicht erwarten. Denn der Schlange ist ununterbrochen und
officiell von Moses bis auf Hiskia Weihrauch dargebracht
worden und ihr correcter Name konnte also nicht in Verges
senheit gerathen. Dagegen kann hier, falls überhaupt von
egyptischen Culten der Vergangenheit die Rede ist, nur an
längst abgetliane gedacht sein, bei deren Namen leichte Laut
veränderungen nicht befremden werden.
Eine ernstere Schwierigkeit bietet in diesem Falle die
zweite Hälfte des Satzes, weil in ihr die Verehrung eines
Gottes als Stern oder eines Steimes als Gottheit erwähnt wird.
Bei den Egyptern erscheint nun wohl, auch bildlich, ,ein Stern,
verbunden mit der Vorstellung des Gebetes', aber in ihren
alten Monumenten findet sich keine Identification eines Gottes
mit einem Planeten; 2 an einen solchen würde man aber bei
einer Sterngottheit der Hebräer zuerst denken müssen, da —
wie noch näher zu erörtern — die Hebräer in Egypten die
angeblichen sieben Planeten bereits aus langer Gewöhnung
kannten.
In der That hat man, von anderen Missdeutungen abge
sehen, bei dem ,bis zu einem gewissen Grade astralen Charakter
1 Von Neueren ist namentlich Ewald’s (Propheten I, 105) Autorität für
Verlegung des Satzinhaltes in die Zukunft und Uebersetzung der beiden
dunklen Worte durch ,Pfahl 1 und .Gestelle 1 . Hitzig (kleine Propheten,
zweite Aufl., 117 flgde) bezieht den Satz zwar auf .vergangene Handlung 1 ,
versteht aber unter jenen Worten .Klotz (von König) 1 und ,Säule“, beginnt
dann mit kokhab einen neuen Satz: .ein Stern war Euer Gott 1 . In der
sonst unverständigen, obwohl schon in der Stefanusrede (Apostelgeseh.
7, 43) als canoniscli reproducirten Uebersetzung der LXX (II, 226, ed.
Tischendorf) — xai dvökdßsxE T7jV Gzvjvijv xou MoXoy xa'i xo astpov xoü Oeoü
üij.(üv 'Paioav tou( xürau? auxüiv ojc sxoLv^craxE lauxoi; — ist die Identifica
tion des Kivn mit dem angeblich (vgl. Winer, bibl. ßealwörterbuch, 2. Auf!.,
II, 416) spätegyptisclien Namen des Planeten Saturn, Keplian, litera
risch erwähnenswerth, wenn auch sachlich wenig bedeutend.
2 Gardner Wilkinson, customs and manners, a new series I, 292.
ägyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
459
der chaldäischen Religion' 1 in Amos’ Worten längst eine Be
ziehung auf dortige Götter für möglich gehalten. Zuerst er
innerte man für Skvt an die freilich sichtlich weibliche Gott
heit Sukot - Benot, 2 welche die aus Chaldäa nach Samarien
Gekommenen verehrten; aber an jener Bibelstelle scheint nur,
da eine Gottheit Sukot-Benot in Chaldäa nicht existirte, durch
ein Missverständnis die Göttin Zir-bäni-ti gemeint zu sein, 3
welche Amos unmöglich als ,Euren König' bezeichnen konnte.
Anderseits ist, wenn auch mit Betonung der Bedenklichkeit
des Unternehmens 4 eine Gleichsetzung von Kivn, in der Le
sung Kivan, mit dem chaldäischen Ninip und dessen Gestal
tung als Saturn und Mannstier versucht worden; aber selbst
wenn das möglich wäre, bliebe die andere mit Kivn zusammen
gehörige und als Herrscher bezeichnete Gottheit unerklärt.
Nach allen diesen Erwägungen wird man den Hohn des
Sehers Amos über den angeblich astralen Charakter des alten
Cultus, falls er egyptisch war, für Uebertreibung halten dürfen,
da hier eine der Göttergestalteu von Sonne und Mond gemeint
scheint, diese Himmelslichter aber durch den sonst feststehen
den Gebrauch des Wortes ,Stern' bei den Hebräern 5 ausge
schlossen wären.
Man wird aber in beiden Namen, wenn überhaupt Gott
heiten, dann nahe verbundene zu erkennen haben, dabei in
Skvt das Königsattribut berücksichtigen müssen.
Savak und Klionso dürften beiden Anforderungen ent
sprechen.
Vereinigt erscheinen Beide in Ombos mit der Athor als
Göttertriade. Aber auch in Theben, c wo Ivhonso mit Amon
und Maut als seinen Eltern die Triade bildet, genoss Savak
so hohe Verehrung, dass er auf einem dortigen Bilde ,Beherr-
1 George Rawlinson, five monareliies (2. ed. 1871) I, 111 flgde.
2 Ewald, Propheten I, 105, erinnert an diesen II. Könige 17, 30 erwähnten
Cult, doch um die Analogie seihst für unhaltbar zu erklären.
3 Sir Henry Rawlinson in seines Bruders George Uebersetzung des Herodot
(2. Aufl. 1862) I, 509. Auch Schräder (Keilinschr. u. d. alte Test. 166,
vgl. 82) neigt zu dieser Identification.
4 Rawlinsou a. a. 0.
5 Winer, bibl. Realwörterb. unter dem Worte ,Sterne 1 .
0 Wilkinson c. a. m., n. s. II, 29 und 36.
460
fe ü d i n g c r.
scher des obern Landes, des Landes von No* genannt wird;
seine Bezeichnung als ,König* ist hienach nicht auffallend. 1
Und da sein Name unter vielen anderen Formen 2 auch die
Schreibung Sekeb hieroglyphisch bietet, so wird die Grleich-
setzung mit Skvt, etwa als Sikuvat —• um der masorethischen
Lesung möglichst nahe zu bleiben — unbedenklich sein. Die
,Missgestalt* dieser krokodilköpfigen Versinnlichung der Sonne
wird aber von uns mit Ezechiel nicht bestritten werden.
Dasselbe Urtheil über die sperberköpfige, mit dem Typus
der Mondgottheit ausgestattete 4 Erscheinung des ,Berathers, des
Feinde abwehrenden, grossen Gottes* Khonso wird ebenfalls
zulässig sein. Unter den Namenformen desselben würde unserm
Kivn das bei den Griechen übliche Chon am ehesten ent
sprechen. ä
Die heilige Lade mit Khonso’s Bild ist noch im zwölften
Jahrhundert v. Chr. aus Theben nach Mesopotamien geliehen
1 Champollion meinte, die Münzen dev diesem Gotte heiligen Stadt Arsinoe
oder Krokodilopolis beweisen seine Identification mit Kronos — Saturnus;
das wäre für die griechisch-römische Epoche möglich und böte eine Hand
habe für den Raiphan — oder Remplian — Saturnus der LXX, obwohl
dieser nach der Wortfolge vielmehr dem Kivn entspricht. Aber Wilkin-
son a. a. 0. II, 37 hält Champollion’s ganze Schlussfolgerung für irrig.
2 Sebauk, Sebak, Sebek, Sok, Sak, Sek, Sekeb (sännntlich bei Brugsch
Wörterbuch IV, 1193flgde, 1320), Sahbak, Shabak (bei Wilkinson II, 36),
SoS'/o; (Strabon XVII, p. 1132 ed. Meineke und Photios, bibl. cod. 242,
p. 557, Letzteres auch bei Brugsch 1195).
3 The crocodil lieaded Deity — — — another deilied form of the Sun.
Wilkinson a. a. 0. II, 36. Eine ,Priesterin des Sebek der Stadt Set 1
(Krokodilopolis) erwähnt inschriftlich Brugsch, egypt. Ztsclift. 1872, 5. 89.
4 Wilkinson a. a. O. II, 19 flgde, Birch bei Bunsen, Aegypten I, 461 ; Rouge
sur une stele egypt. (journ. as. 1856. V) 8, 216 übersetzt: ,Chons agens
consilia in Thebaide deus magnus abigens liostes 1 .
5 Honsoo Khonso Chons Xtov (Wilkinson und Bunsen a. a. 0.). Da aber
der Name stets mit egyptisehem kh (oder entsprechenden) zu beginnen
scheint, so erwartete man im Hebräischen den achten Buchstaben (Cheth),
nicht den elften (Kaph), falls nicht etwa gar der Uebergang von egyp-
tisch kho in hebräisch kiv lautlich nothwendig ist, was ich nicht ver
stehe. Doch darf ich erinnern, dass Gesenius tkesaurus I, 436 Beispiele
der Verwechslung von Cheth mit Kaph, und II, 647 von Kaph mit Cheth
bringt. Er entscheidet sich übrigens II, 670 für die Erklärung von Kivn
durch statua.
Egyptisch^ Einwirkungen auf hebräische Gülte.
461
worden, um eine Prinzessin von alten Leiden zu kuriren. 1 Einen
Transport ähnlicher Art mag' Arnos im Sinne gehabt haben.
Des Sehers Worte, welche den vielfältigen Widersinn
beider Verehrungsformen vorführen sollen, dürften sich hiernach
etwa in dieser Form verdeutlichen lassen: ,Ihr trüget Savak
als Euren König und Euer Ivhonso-Bild. Ein Stern war Euer
Gott, den Ihr Euch gemacht hattet/
Wenn es nun leicht begreiflich ist, wie vor Jahve’s König-
thume, vollends nach dem Volksbeschlusse jener Versammlung
von Sichern, das des Savak in den Theilen des auswandernden
Volkes verschwinden konnte, welche diesem Sonnengotte in
geduldeter Privatverehrung huldigten, so scheint sich für das
Zurücktreten der Verehrung des Khonso ein noch bedeutenderes
Moment zu ergeben.
6. Das Mysterium der Beschneidung.
Klionso wird mit den Abzeichen von Leben, Dauer und
Reinheit dargestellt. 2 Es begreift sich daher, wenn er als Helfer
gegen die Wirksamkeit böser Geister in Gestalt bestimmter
Krankheiten, wie die jener mesopotamischen Fürstentochter
gewesen sein mag 3 , angesehen werden konnte.
In eben dem kleinen Tempel dieses Gottes in Theben,
welchen Ramses II. bei dem Tempel der Maut baute, hat sich
nun ein Basrelief gefunden, 1 welches die Beschneidung zweier
bereits über das Kindesalter gelangter Knaben darstellt. Die
einem höhern Sittlichkeitsgefühle widrig erscheinende Operation
wird noch heute von orientalischen Völkern als ein nothwen-
diger Reinigungsact betrachtet. 5 Bei den Egyptern von den
1 Rouge a. a. O. 201 gibt die Abbildung des Transportes und 12, 225
(1858) die zusammenhängende Uebersetzung der betreifenden Inschrift.
2 Wilkinson a. a. 0. II, 19. Rouge a. a. 0. 8, 207 (1856) : l’agent divin — ;
on l’invoquait contre les (?) maladies toujours attribuees k de malignes
influences.
3 ,malum iuvasit artus ejus“, ,un mal a penetre dans sa substance 1 berichtet
ihres Vaters Gesandter bei Rouge 10, 125 (1857) und 12, 225 (1858);
der egyptisehe Arzt erklärt sie als ,rem habentem cum daemone 1 , ,obsedee
par -uu esprit 1 (10, 145; 12, 225).
4 Nach einem guten Abklatsche abgebildet und erklärt von Chabas, revue
archeologique, nouv. ser. 1861, t. III, p. 298.
5 Gesonius thesaurus II, 1070 gibt hierüber unter dem Worte 'arel erschöpfen
den, namentlich durch arabische Analogie belehrenden Aufschluss.
462
B ü d i n g e r.
ältesten Zeiten her üblich, wie Mumienuntersuchungen und Ab
bildungen beweisen, 1 gehörte die geschehene Operation zu den
Reinheits- oder Anstandsbedingungen derjenigen, welche hei
Hofe erscheinen wollten. Ihr Mangel wird im königlichen
Palaste gleich dem Essen gewisser Fische als besonders ,Ver
abscheutes* (bot), als ein Zeichen der Unreinheit im eminenten
Sinne betrachtet. 2 Unter anderen, moderner Anschauung nicht
eben entsprechenden Gründen des alten Brauches führt ein in
Egypten lebender Autor der beginnenden'römischen Kaiserzeit
die Absicht an, sich durch vollkommene Leibesreinheit mit dem
«ägyptischen Priesterstande in Uebereinstimmung zu setzen. 3 Es
wird nämlich auch sonst 1 versichert, dass die egyptischen
Priester auf die Beschneidung einen besondern Werth legten.
Ohne Einschränkung glaubte Herodot (II, 36 und 104) ihren
Ursprung auf Egypten zurückführen zu müssen.
Doch wird in der Bibel eine andere Ansicht zur Geltung
gebracht. Ausserhalb Egyptens, ohne Moses’ Zuthun, wird von
seinem madianitisclien Weibe die Operation an ihrem Sohne
vollzogen, und zwar keineswegs der Reinlichkeit halber, son
dern in einem Momente der Lebensgefahr ihres Gatten durch
schwere Krankheit, oder nach der zeitgenössischen Aufzeich
nung: um einer Heimsuchung Jahve’s zu begegnen, der ihn
tödten wollte. 5 Dass die sonderbare Kur auf Moses selbst
1 Ebers, Aegypten und die Bücher Mose’s I, 283. Chabas a. a. O. S. 299
erwähnt ein Bild qui nous represente tres vraisemblablement la circon-
cision de deux fils de Ramses II.
2 Brugsch, Wörterbuch I, 190 unter äma (unrein) mit den Erklärungen von
Ebers I, 233.
3 Trjv oi’ oAou xou aiopaxoi; xaöapbxrjxa rpbc xo äppöxxsiv xaljei iepwp.e'vr), jrap’
o xal ^upiovrai xa awu.axa TrpoauTXEpßaAAovxES oi ev Alyu^xro xcov Upbmv. Philo,
von der Beschneidung II, 211 (Mangey). Das egyptische Volk erklärt er
im Eingänge für apraidxaxov xai cpiXoao^toxaxov.
4 oi Upei? OTixr)0£uouai jcEpixopj'/. Horapollon I, 11, p. 30.
5 ,Und als er unterwegs in der Herberge (malon) war, begegnete ihm Jahve
und suchte ihn zu tödten. Da nahm Zipora einen Stein (Zor) und be-
schnitte ihrem Sohne die Vorhaut und rührete seine Füsse an und sprach:
„fürwahr! (kt) Du,bist mir ein Blutbräutigam (ehatan damim)“. Da liess
er von ihm ab. Sie sprach aber Blutbräutigam um der Beschneidung
willen. 1 Exodus 4, 24—26. Die Ideenverbindung dieses hebräischen
ehatan = Bräutigam mit dem arabischen chatana = beschneiden
bemerkt Hitzig (Geschichte Israels I, 86) für die Zeugungsthätigkeit;
Egyptisclie Einwirkungen auf hebräische Culto.
463
einen grossen Eindruck gemacht habe, wird man nicht an
nehmen können, da ausdrücklich bezeugt ist, 1 dass die Be
schneidung nicht geübt ward, so lange er an der Spitze des
Volkes während des Wüstenzuges stand. Aber seiner Umge
bung muss die mysteriöse Heilung durch den Act der beduini-
sclion Gattin des Führers — vollends mit den dunklen Freuden
worten, welche sie nach demselben ausrief und der befremdlichen
Geste, mit der sie diese Worte begleitete — als ein bedeuten
des Ereigniss erschienen sein; denn der auf uns gekommene
Bericht 2 mit seiner Erklärung jener Freudenworte wäre sonst
gegenstandslos und unmöglich gewesen.
Unmittelbar nach Moses’ Tode und noch vor dem Angriffe
auf Jericho liess nun Josua, dem jener häusliche Act- als einem
Vertrauten des Führers nothwendig bekannt sein musste, die
Beschneidung an allen Personen männlichen Geschlechtes im
israelitischen Volke vornehmen. Er glaubte hiemit eine That
vollbracht zu haben, welche den betreffenden Ort selbst hei
ligte: wenn auch nicht Jahve selbst, wie einst seinem Meister
am Dornbusch, so gebot ihm doch, seinem eigenen Bange und
nennt doch auch Philo (II, 212) als letzten und wichtigsten Grund der
selben: afaYza:o”aro'j Tr)v npo; ~oXuyovlav zaragxE'jTjv -/.. t. X. Die in den
beduinisehen Harem gehörige frohe Aeusserung der Mutter nach ge
schehener Operation wird erst in diesem Zusammenhänge verständlich,
was sie trotz der Schlusserklärung nicht gewesen ist. Die Wildheit der
Aeusserung an sich wird übrigens, wie das von mir gewählte Attribut
jbeduiniseli 1 entschuldigen, so den von Moses’ Geschwistern (Numeri 12, 1)
erhobenen Vorwurf erklären, dass Moses eine .Kuschitin 1 geehelicht habe;
denn Kusch hat egyptisch fast immer das Attribut ,schlecht 1 oder ,elend 1
(Ebers I, 57).
1 ,Alles Volk, das in der Wüste geboren war, auf dem Wege, da sie aus
Egypten zogen, das war nicht beschnitten. 1 Josua 5, 5. Dem widerspricht
freilich die in die Frauenordnung eingeschobene Beschneidungsvorschrift
Levit. 12, 3; aber diese Einschiebung vermehrt eben nur die ohnehin
grosse Zahl von Widersprüchen dieses Buches mit echter Geschichte
(Schräder, Einleitung 288); immerhin hat sie den Anlass zu der angeblich
in eine Rede Jesu gehörigen, aber mit dem ganzen Zusammenhänge eben
falls ungesehichtlichen Aeusserung des Joliannesevangelimns (7, 22) ge
geben: jMfocI); SeSwxev upüv xrjv otoitocj.7)V. Vgl. Keim, Leben Jesu (Zürich
1872) III, 63.
2 Die betreffende Aufzeichnung muss zu den frühesten der Auszugsgeschichte
gehören. Ueber die Zugehörigkeit des Bruchstückes vgl. Schräder. (De
Wette’s Einl. 1869) S. 282, Anm. 12.
464
Bü dinge r.
Berufe entsprechender, Jahve’s Heeresfürst, an dieser Stätte,
als einer heilig-en, seine Schuhe auszuziehen 1 — wie etwa einem
ägyptischen Todten die Haut der rechten Fusssohle abgelöst
wurde, damit er im Jenseits auf dem Steingetäfel des Saales der
ewigen Wahrheit correct auftreten könne. 2
Ueber eine Wirkung des lireignisses ist der jüngere Er
zähler noch gut unterrichtet, wenn er mit einer für uns gleich
gültigen Localetymologie die Behauptung einschiebt, durch diese
Beschneidung habe Jahve ,die Beschimpfung Egyptens' 3 von
dem Volke abgewälzt. Hiermit wird man wohl zusammenzu
bringen haben, wenn in der Geschichte Josephs, 4 aber nie
später, von einem ,Abscheu der Egypter', mit den Hebräern zu
essen, gesprochen wird — genau jenem oben (S. 12) erwähnten
Abscheu der Palastbewohner wegen der betreffenden Unreinig
keit entsprechend. Wie sehr aber diese Vorstellung, nachdem
die Beschneidung’ einmal bei ihnen eingeführt war, sich auch
der Hebräer bemächtigte, ersieht man noch aus den Vorwürfen,
welche der Apostel Petrus wegen gemeinsamen Essens mit Hei
den oder Barbaren ,von denen von der Beschneidung fürchtete.' 8
1 Josua 5, 1—8 und 13 —15; über deren Zusammengehörigkeit und die Ein
fügung von Vers 0 vgl. Schräder a. a. O. 304 flgde.
- Die Erklärung der von Czermak in der Bauchhöhle einer weiblichen Mu
mie gefundenen Epidermis der rechten Fusssohle bringt Ebers, egypt.
Ztschft. 1871, 48- 50.
3 'ervat mizraim, LXX: ovEtSiapov AlyiijcTOu. Die übliche Uebersetzung
,Schande Egyptens 1 gibt keinen Sinn.
4 Genesis 43, 32. Der gewöhnlich als Analogie beigezogene Zusatz in der
Schrift des jüngsten Erzählers 46, 34 — ,denn ein Abscheu Egyptens
sind alle Viehhirten 1 — wird nur späte Glosse sein. Näher läge, an
Exodus 1, 12 als Analogie zu denken; aber der dortige ,Ekel‘ der Egypter
,vör den Kindern Israels 1 (vajjakuzu, xal eßBeXuaaovTo) ist in diesem Zu
sammenhänge entweder ungenaue Wiedergabe eines hebräischen Uebcr-
setzers, da der Sinn ein Wort eher der Besorgniss zu verlangen scheint,
oder einfach (vgl. Jesaia 7, 16) als ,sie fürchteten 1 das betreffende Wort
wiederzugeben. Knobel zu Exodus (1857) 7 vergleicht Numeri 22, 3 in
demselben Sinne.
5 <poßou|iEvos roli; ex jtEpiTop.rjs. Galaterbrief 2, 12. Die Anstössigkeit einer
ehelichen Verbindung mit einer Frau aus einem Volke von Unbeschnittenen
kommt zuerst in der Geschichte Simson’s (Richter 14, 6) vor, aber diese
ist eben chronologisch schwer zü fixiren.
Egyptische Einwirkungen auf liebräisclie Culte.
465
Dennoch fühlt Jedermann, dass mit dieser übertragenen
egyptischen Vorstellung von männlichem Anstande oder Cultur-
beweise weder die von Josua geglaubte Heiligkeit des Actes
an sich erklärt werden kann, noch auch die Bereitwilligkeit
des Volkes, sich ausnahmslos und mit Einschluss der Säuglinge
der Operation zu unterziehen. Die Erklärung dürfte in der
Erzählung selbst völlig ausreichend vorliegen.
Nach einer ausdrücklichen Angabe waren unter den aus
Egypten Ausgezogenen bereits ,die Kriegsleute' 1 dem Reinigungs
acte unterzogen gewesen, sei es die mitgezogenen egyptischen,
bei denen, als den herrschenden Gesellschaftsschichten ange
hörig, dieses selbstverständlich wäre, sei es nachahmende he
bräische. Denn man ersieht aus gleichzeitiger egyptischer Auf
zeichnung, dass unter den Hebräern in Egypten einiger Rang
oder Standesunterschied bestanden haben muss, da einer
Herrenklasse derselben gedacht wird. 2 Dass Josua, dessen
auf mindestens sieben Generationen glaubwürdiger Stamm
baum 3 vom Alter seiner Familie Zeugniss gibt, wahrscheinlich
zu diesen Herren und ohne Frage zu den beschnittenen Kriegs
leuten gehörte, wird ohne Widerspruch zugestanden werden.
Nur die Kriegsleute erscheinen thätig bei dem Acte, nicht
die Priester, welche durch alle Zeiten bei den Juden kein
Verhältniss zur Beschneidung hatten, und damals erst nachher
bei der. Einnahme Jericlio’s in wundersamer Thätigkoit er
scheinen. 4 Der Heeresfürst Jahve’s aber tritt auf der durch
die Beschneidung geheiligten Stätte ,mit gezogenem Schwerte
in seiner Hand' auf. Man hat hienach an eine in erster Linie
militärische Handlung zu denken. Ihre Ausdehnung auf alle
1 ansche hamilchamä. Josua 5, 4 und 6. Der Anfang von Yers 5 — ,denn
alles Volk, das auszog, war beschnitten 1 — muss, als mit der Einschrän
kung des Textes auf ,die Kriegsleute 1 in Widerspruch stehend, Glossein
sein, aus der irrigen Vorstellung angeblichen Uralters des allgemeinen
Brauches bei den Hebräern entstanden.
2 Papyrus Anastasy X im Haag; die von Chabas zuerst gebrachte Lesun;
marinas der Hebräer von semitisch mar, moron, wie die Uebersetzung
desselben ,officiers, fils des ehefs 1 billigt Lauth, Moses der Ebräer. S. 10
und fügt die weitere von maitre, seigneur zur Erklärung des Wortes bei.
3 I. Chron. 7, 22—27.
4 Josua 6, -1.
466
B ii d i n g e r.
Personen männlichen Geschlechtes und jeden Alters lässt sich
jedoch damit nicht erklären.
Noch näher tritt man dem Ereignisse durch Erinnerung an
die durch blosse mündliche Verpflichtung — verbonun obligatio
nach römischem Begriffe — geschehene Abschliessung des Bundes
am Sinai. 1 Die Erneuerung dieses Bundes unter dem neuen Führer
und unter leichtem 2 Blutverluste vollends vor dem später zu er
örternden Osterfeste 3 erinnert an eine arabische Sitte, welche den
Hebräern auf ihrem Wüstenzuge kaum unbekannt geblieben sein
kann: hei Uebernahme einer gegenseitigen Treueverpflichtung
schnitten sich dort die Gelobenden unter Anrufung eines Götter
paares mit einem scharfen Steine in die Hand. 1
Sollte aber das Volk wirklich, wie am Sinai versjtrochen
worden, ein ,Priesterkönigreich und ein heiliges Volk'
werden, 5 so war, um einer lastenden ,Beschämung' zu entgehen,
die allgemeine Beschncidung unerlässlich zwar nicht nach
Moses’ Auffassung, wie wir wissen, aber doch nach nothwen-
diger Ueberzeugung Aller, die an egyptische Reinheitsbegriffe
und Standesvorstellungen über das Priesterthum 0 gewöhnt waren.
Die Operation der Knaben schon nach einer ersten pla
netarischen Woche des Lebens, acht Tage nach der Geburt,
bei den übrigen Völkern unerhört, 7 welche dieser Sitte folgen,
1 Exodus 19, 7 und 8. Die von Anderen (vgl. Winer, Reahv. u. <J. W. Bund)
beigezogenen Vergleichungen von Sallust. Catil. 22 u. s. w. illustriren
schwerlich viel.
2 Wie wesentlich Blutverlust nach dem Ritual für den Äct ist, ersieht man
aus Buxtorf, lexicon ehaldaico-talmudicum p. 1174.
3 Josua 5, 10.
4 X(0cp oljet -t'o lau) töv veip<5v. Herodot III, 8. In G. Rawlinson’s ITeber-
setzung der Stelle (II, 335) geben zwei Anmerkungen authentische Kunde
über das entsprechende heutige Verhältniss bei den Arabern. Auch ander
wärts, namentlich bei Abschliessung eines Bruderbundes im alten Island,
nachweisliche ähnliche Sitten darf man nicht herbeiziehen, um sich durch
die Fata Morgana allgemeiner Völkerkunde nicht irre führen zu lassen.
5 maineleket kohanim veg-oj kadosch. Exodus 19, 6.
6 Vgl. oben S. 12, Anm. 1 und 2.
7 Der früheste Termin in Persien und Arabien ist heute, und war wohl
auch in Egypten, das fünfte Lebensjahr, der späteste ist die Zeit der
beginnenden Pubertät. Chardin bei Chabas a. a. O. 299. Der Verfasser
von Genesis 17, 25 nimmt bei den Arabern das vollendete 13. Jahr an,
als in welchem Ismael beschnitten ward.
ägyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
467
empfängt ihre sachliche, wenn auch noch nicht ihre chro
nologische Begründung aus Zipora’s Wunderkur. Nach der
selben sind mysteriöser Weise die Väter gesichert, wenn die
Söhne beschnitten werden, und demnach das ganze Volk in
seiner Existenz, wenn alle seine männlichen Sprossen. Wie
Zipora und wie die Araber bei ihren Treuegelöbnissen hielt aber
Josua den Gebrauch von Steinmessern (charbot zurim) für so
unerlässlich, dass derselbe als von Jahwe selbst ausdrücklich be
fohlen genannt wird (Josua 5, 2). Vor dem grossen unter dem
neuen Volksführer zu beginnenden Eroberungskriege gewann
hiemit unmittelbar jeder in den Kampf ziehende Vater und
gewann das ganze Volk den Zauber der Unbesiegbarkeit, wie
Jahve selbst Moses nichts mehr anhaben konnte, als Zipora den
Act vollzogen hatte.
Hieher wird man sonach auch dem Inhalte nach zu ziehen
haben, was in Form eines göttlichen (Elohim) Befehles an
Abraham in der Genesis (17, 9—14) als ein Grundgesetz des
Volkes erklärt wird: die Beschneidung aller acht Tage alten
Knaben als Bundeszeichen (ot berit). Die Operation selbst
aber- behielt bei den Israeliten, obwohl sie noch im fünften
Jahrhundert v. Chr. 1 den ägyptischen Ursprung der Sitte kann
ten, die technische Bezeichnung: Bund der Beschneidung. 2
Jeder andere Anfang des Brauches, vollends der einer
Huldigung für den Lebens- und Reinheitsgott Klionso, musste
verschwinden vor dem neuen blutigen Zeugnisse der ewigen
Eidgenossenschaft, welche, militärischen zugleich und religiösen
Charakters, das Volk wie den Einzelnen sicherte und die Nation
mit dem egyptischen Bildungsmuster ausglich. 3
Josua’s dankbare Vision, nachdem der blutige Bund ge
schlossen war, lässt sich in diesen Zeiten wohl begreifen und
1 2upot o'i ev Trj IIa).aiaT(vrj x«t auxoi öp.oXoi'EOUOi %ap’ ’AiyujiTÜov (J.E[J.a0r)X6Vai.
Her. II, 104.
2 Berit, milall = foedus, sacramentum circumcisionis. Buxtorf, lexie. 1177.
3 Die entsprechende Analogie, so sonderbar diese Behauptung zuerst er
scheinen wird, bildet die Einführung des Cultus der sibyllinischen Bücher
durch die Römer. Ich erlaube mir, hierüber auf meine im Vorworte be
rührte Arbeit ,von dem Bewusstsein der Culturübertragung 1 (Zürich,
Schabelitz 1864) S. 15 zu verweisen.
468
Büdinger.
nicht minder der gesteigerte Schwung bei den Eroberungen
des auch durch ein so wunderliches Mysterium zusammenge
haltenen Volkes.
7. Pietät gegen Egypten.
Wenn die Fortbildung egyptischer Art und Lehre und
ihre Verbindung mit wesentlich anderen Anschauungen schon
bisher als ein bedeutendes Moment unserer Untersuchung her
vorgetreten ist, so drängt sich an dieser Stelle die Frage auf,
in welchem Lichte denn nach der Meinung der Stifter hebräi
scher Culte Egyptens Volk und Land zu betrachten sei und
wie beide demnach in den ältesten Stücken hebräischer Ueber-
lieferung erscheinen.
Bedenkt man nun den schweren Druck, die harten Frohn-
den, unter welchen die Hebräer nach ihren eigenen wie nach
egyptischen Aufzeichnungen litten, 1 ihre dringende Gefahr beim
Auszuge durch eine in der Bibel ebenfalls erzählte Verfolgung
des Pharao mit dem egyptischen Heere, so fallen andere Be
richte über das Zusammenleben beider Völker nur um so
mehr auf.
Noch im Momente der Auswanderung ,aus dem Hause
der Knechtschaft' 2 findet das Volk bei den Egyptern solche
,Gnade', 3 dass Männer wie Frauen von ihren egyptischen
Nachbaren ,silberne und goldene Gefässe', ja, nach anderer
Fassung, auch ,Kleider' erhalten. Wie peinlich empfunden
ward, dass ihnen in Egypten die Gemeinschaft des Mahles mit
den Eingeborenen versagt war, oder doch gewesen war, wie
sie mit der Beschneidung zugleich ,die Beschimpfung Egyptens'
von sich wälzten, haben wir gesehen.
1 Exodus, Cap. ], 2 und 5. Die egyptischen Nachrichten vollständig und
anmuthig bei Mathey, explorations modernes en Egypte (1869) 225 flgde.
2 Exodus 13, 3; Josua 24, 17.
3 elien, LXX: yaptv, Exodus 3, 21 und 12, 36 vgl. 11, 2 und 3. Die Stelle
Ex. 12, 36 besagt nach gewöhnlicher Auffassung, die Geschenke seien
nur geliehen gewesen (vajjaschilum, LXX: xai eyj37)<jav auro i;); folgerichtig
und unschuldig wird beigefügt: ,und sic entwandten es den Egyptern 1 .
Aber diese Glosse ist unnötliig, da eine correcte Uebersetzung nur gibt:
,und sie liessen sich bitten“.
Egyptisciie Einwirkungen auf hebräische Culte.
469
Wenn nun wiederholt von der Sehnsucht des Volkes, nach
Egypten zurückzukehren, die Rede ist, so wird man den be
treffenden Ausdrücken eine grössere Aufmerksamkeit zu schen
ken haben, als bisher geschehen ist. Nicht nur Aufrührer prei
sen Egypten (Numeri 16, 13) als das ,Land, da Milch und
Honig innen fliesst'; auch Jahve selbst lässt sie sagen (Numeri
11, 18): ,es ging- uns gut in Egypten'. Wiederholt wird des
Verlangens der Ausgezogenen nach den Fleischtöpfen und dem
Brode Egyptens gedacht. 1
Eine Verunreinigung durch den Genuss dort üblicher
Speisen wird nirgends im Hexateuche angenommen. Diese
Anschauung hat noch in den Zeiten der Uebermacht des assy
rischen Reiches bei den Hebräern geherrscht, derart, dass der
Boden nicht der Egypter, wohl aber der Assyrer — welche doch
den Israeliten nach Sprache, Zeiteintheilung und mancher Sitte
so sehr viel näher stehen, als die Egypter, — als ein unreiner,
das Gemessen nicht egyptischer, wohl aber assyrischer Speise
als Versündigung angesehen wird. So scheidet Hosea (9, 3)
ganz bestimmt: ,Nach Egypten kehrt Efraim um, in Assyrien
essen sie Unreines', 2 und Arnos schildert als besonders hart
bei der drohenden Wegführung seiner Landsleute^ dass sie
(7, 17) ,auf Unreinem Boden sterben' müssen. Die grosse
Mehrzahl der Weggeführten hat freilich nach der Versicherung
des Tobias das ,Barbarenbrod' 3 nicht verschmäht. Dass vol
lends in späterer Zeit von Daniel 4 angenommen wird, er habe
selbst des Königs Nebukadnezar Tafel für barbarisch oder un
rein gehalten, ist nicht überraschend. Eher muss man sich
wundern, dass es keinen Anstoss erregte, wenn der jüdische
König Jojachin der tägliche Tischgast 5 bei Nebukadnezar’s
Sohne genannt wird, ja diese Thatsache noch als nationale
1 Exodus 16, 3; Numeri 11, 4 und 5; 21, 5.
2 Ewald, Propheten I, 151.
3 — rJaOiov ex Twv aprwv tmv eOvmv. iyni 61 <j'JVE-njp7]aa tJjv tir/r'v ij.ou uy
rayEiv. Tobias I, 12 ed. Tischendorf (LXX) I, 634.
4 ,D. setzte ihm vor in seinem Herzen, dass er sieh mit des Königs Speise
und mit dem Wein, den er selbst trank, nicht verunreinigen wollte und
bat den obersten Kämmerer, dass er sieh nicht müsste verunreinigen 1 .
Daniel I, 8.
6 Jeremia 52, 33; II. Könige 25, 29.
470
Büdingen.
Auszeichnung berichtet scheint. Wie weit damals, im sechsten
Jahrhundert, nach den Steigerungen des Ceremonialdienstes unter
König Josias, auch das ursprüngliche Musterland für Anstand
und Cultur, auch Egypten, dem Verkehre der Juden einiger-
massen bedenklich erschien, vermag ich nicht zu sagen; immer
hin wird man zu erwägen haben, dass die ursprüngliche Strenge
des dortigen Lebens unter den damaligen Herrschern der 26.
Dynastie, welche so vielen griechischen Barbaren das Land zu
eröffnen wagten, schon erheblich alterirt war.
Wiederholt werden diealten Wohnsitze der Hebräer in Egypten
als mit besonderem Wohlwollen ausgewählte geschildert. Das unter-
egyptische Gosen 1 oder Käsen ist vielleicht niemals der Gesammt-
lieit der Hebräer zugewiesen worden, wie denn mindestens später
von denselben auch in Oberegypten östlich von Koptos 2 Frohn
arb eiten ausgeführt wurden, und die nach Ramses II. genannte
Stadt, zu deren Schatzhause sie Steine schleppen mussten, un
zweifelhaft südlich von Memphis lag. 3 Aber Genesis wie Ex
odus kennen nur einen Aufenthalt im Lande Gosen, oder wie
dasselbe auch einmal heisst: Raamses. 1 Es wird sehr aus
drücklich versichert, dass dasselbe zu den vorzüglichsten Thei-
len des Landes 5 gehört habe, dass die Hebräer in demselben ,sich
sehr mehreten', ja dass sie erst dort ,zu einem grossen Volke*
werden sollten. Das Verhältniss wird ein so zärtliches, dass
einer der Urväter des Volkes Jaqob ,den Pharao segnete', 0
d. h. sich artig mit ihm unterhielt, dass aber anderseits nach
des Greises Ableben in dem Alter von hundert siebenundvierzig
Jahren ,alle Knechte Pharao, die Aeltesten seines Hauses und
alle Aeltesten des Landes Egypten' ja ,Wagen und Reisige,
ein sehr grosses Heer' der nach allen Kunstregeln einbalsamir-
ten Leiche das Ehrengeleite zum Familiengrabe bei Hebron
geben; sie scheuen hiebei den wunderlichen Umweg um das
1 llaigh in der egypt. Ztsclift. 1869, S. 47 beweist seine Identität mit egypt.
Käsen, nachdem Brugscli die Stätte von Heroopolis (Mugfac) gefunden
hatte (cf. Strabo XVI, 1120 ed. Meineke).
2 Mathey 226.
3 Papyrus Leid. I, 349 bei Lauth, Moses der Ebräer, S. 10.
4 Winer, biblisches Realwörterbuch, unter beiden Worten nennt die Stellen.
5 Genesis 47, 6 und 11: bemetab liaarez.
G Genesis 47, 27; 46, 3. 47, 7.
ägyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
471
todte Meer nicht, lim im Osten von Jericho zuvor eine grosse
Trauerfeier abzuhalten, deren Oertlichkeit davon den Namen
behielt. 1 Nun zeigt freilich der letztere Umstand, dass die
noch Hieronymus bekannt gewesene Localität von ,den Kanaa
nitern', also vor dem Einbrüche der Israeliten, Abel Mizraim
d. h. Egypterflur, genannt war, eine Bezeichnung, welche
unsere Quelle mit ,Ebol‘ Trauer Egyptens — nämlich um den
notorisch den Egyptern für unrein geltenden Hebräerscheich —
für identisch erklärt und welche der ganzen widersinnigen
Leichenzuggeschichte ihren Anlass gegeben haben dürfte. Aber
ernster Erwägung werth bleibt doch die Thatsache, dass auch
in diesem dicht bei der Stätte des Abschlusses der blutigen
Eidgenossenschaft unter Josua gelegenen Locale ein Anlass ge
sucht wird, um die Liebesdienste Egyptens gegen die Hebräer
in freundliche Erinnerung zu bringen.
Von diesem Gesichtspunkte aus gewinnt denn auch er
höhtes Interesse, was von den intimen Beziehungen eines
Pharao zu einem andern Urvater der Israeliten, zu Abraham
gemeldet wird. Die betreffende Erzählung 2 ist neuerlich in alle
Einzelheiten untersucht und auf bester Kunde egyptischer Ver
hältnisse beruhend gefunden worden. Für uns fällt in derselben
auf, wie sie einerseits die Geschicke der Hebräer vor dem Aus
zuge vordeutet — denn Misswachs treibt Abram hin (12, 10),
Pharao und sein Haus werden auch hier (12, 17) erst durch
grosse Plagen 3 zur Entlassung Sarah’s bewogen und Abram
zieht (13, 2), wie später sein Volk, ,sekr schwer an Vieh, Silber
und Gold' aus 1 —, anderseits aber der Trug auf hebräischer,
Tugend und Grossmutli auf egyptischer Seite liegen.
1 Genesis 50, 1—11, von Knobel, die Genesis (18G2) 377 flgde. aus anderen
Gründen als jüngerer Zusatz erkannt.
2 Genesis 12, 10 bis 13, 2 mit den Erklärungen von Ebers a. a. O. I, 261
bis 272; S. 262: ,Diese Erzählung (von der Aufnahme Sarah’s in den
Harem) ist echt egyptisch. 1
3 In der Geschichte Abimglechs (Genesis 20), welche der mit dem Pharao
das Muster gegeben zu haben scheint, wird dieser König von Gerar ein
fach mit dem Tode bedroht (v. 3) und hebt er Gott gegenüber seine Unschuld
hervor (v. 5).
4 Damit stimmt der prophetische Erzähler (Genesis XV, 14) trefflich über
ein, indem er Jahve den Auszug aus dem Lande der Knechtschaft ,mit
grossem Gut“ versprechen lässt.
472
B ü d i n g e 1'.
Und wie sehr mindestens eine der ursprünglichen Erzäh
lungsformen der Geschichten Abrahams von egyptischem Stand
punkte aus gedacht ist, zeigt die neuerlich in überzeugender
Weise 1 hervorgehobene Thatsache, dass das von Lot erwählte
Jordangebiet (Genesis 13, 10) ,Egypten nach Zoan zu 1 ver
glichen wird. Diese einst so prächtige Residenz, von deren
acht 2 Namen der gewöhnliche Zan bei den Hebräern beibehal
ten ist, hat aber unserm Verfasser schwerlich blos aus persön
licher Erinnerung nahe gelegen, sondern scheint auf das engste
mit der authentischen Kunde zusammen zu hängen, welche er
von Abrahams Dasein empfing.
Denn es wird räthlich sein, schon an dieser Stelle dem
Kerne jener alten Nachrichten näher zu treten, denen noch in
einem andern Zusammenhänge nachzugehen sein wird.
So ausdrücklich und eingehend wie möglich wird nun
versichert, dass den Hebräern, die aus Egypten auszogen, jede
nähere Kunde von Palästina abging. 3 Die Kundschafter, welche
sie aussenden, sind aber angesehene Männer, Vertreter der
echten zwölf Stämme, in welche das Volk längst getheilt war,
so dass Moses’ späterer Nachfolger im Volksführeramte, damals
schon der gegebene Heerführer, sich unter denselben befand.
Ihre Erkundung richtete sich auf die Umgebung von Hebron, 4
wo sich auch der Bach Eskol (Traube) befindet, an welchem sie die
Traube schnitten. Hieher zu ziehen hatten nämlich die zwölf
Repräsentanten des yolkes einen Rechtsanspruch, da bei He
bron die Grabstätte der ältesten Volkshauptleute lag, deren
1 Ebers I, 272 flgde.
2 Brugsch in der egyptischen Zeitschrift 1872, S. 19.
3 Numeri 13, 17 a und 21: .Das sind die Namen der Männer, die Moses
aussandte, zu erkunden das Land. Und was für Land es sei, ob fett oder
mager, und ob Bäume darinnen oder nicht. 1 Die dazwischen geschobenen
Verse 17b—20 sind jüngere Zuthat; vgl. Schräder (De Wette’s Ein
leitung) 290.
4 Vers 22 der Urschrift abzusprechen, liegt entfernt kein Grund vor; die
Namen der drei Enaqiter Ahiman, Sesai und Thalmai, die chronologische
Notiz über das Verhältnis.? zum Alter von Tanis (vgl. hier Ewald, Gesell.
[2. Auf!.] I, 74), die Unmöglichkeit für eine solche Schaar, an den Eskol-
baeh zu gelangen, ohne Hebron zu berühren und dem Ahnengrabe Ver
ehrung zu beweisen, sprechen für die Echtheit.
Egyptische Einwirkungen auf hebräisclie Culfce.
473
Heiligkeit allseitig anerkannt war, 1 und welche den natürlichen
Anlass zu einem Verkehre mit den dortigen Bewohnern bot;
von diesen werden uns drei unverdächtige Namen, wohl der
Landesherren, genannt, der einzigen Männer von Bedeutung,
deren Namen aus der Relation der Kundschafter einer Auf
zeichnung würdig erschienen. Daneben aber begegnet die vor
aussichtlich ebenfalls aus Gesprächen mit den Herren von He
bron zu erklärende seltsame und schwerlich genaue Nachricht,
dass ihre Stadt noch sieben Jahre älter als jenes gefeierte Zoan
sei, dessen unser Autor bei Lot’s Geschichte gedacht hat.
Wie hätte aber bei diesem Anlasse der beiden wichtigsten
Thatsachen nicht Erwähnung geschehen sollen, welche sich
an Abraham’s Aufenthalt in Hebron knüpfen: des feierlichen
Kaufes der Grabhöhle mit dem anstossenden Felde und der
den dortigen Amoritern geleisteten Heeresfolge gegen die Chal
däer ! Die Urkunde über die erstere lässt an Genauigkeit nichts
zu wünschen übrig, 2 die letztere ist als Stück aus dem der
1 Ich folge dem überaus instructiven Berichte, welchen Rosen in der Zeit
schrift für Erdkunde (1863, Bd. XIV, S. 369—429) über seinen Besuch
der Patriarchengruft im Gefolge des Prinzen von Wales erstattet hat.
2 Genesis 23 von etwa Vers 3 b ,Abraham redete mit den Chetitem 1 bis
zum Schlüsse von Vers 18, da Vers 2 und 19 Aufzeichnung ausserhalb
Hebron’s und selbst Palästina’s voraussetzen, da sonst die Bezeichnung
dort jKirjatli Arba‘, hier ,Mamre‘, beide Male mit dem Zusatze ,das ist
Hebron im Lande Kanaan“, widersinnig wäre. Wäre der Zutritt in den
mit einer 45 Fuss hohen Marmormauer, wohl noch von altjüdischer Kö
nigszeit her (Rosen, S. 394), eingefriedeten Raum nicht so schwer, dass
ihn nach Rosen’s Bericht kaum der englische Thronerbe zu erzwingen ver
mochte, so möchte man den Wunsch aussprechen, dass ein kundiger
Gelehrter eine Untersuchung der inneren Mauerseite vornehmen möchte,
an der vielleicht als an der Grenze von Ephron’s Acker noch eine
,IIand‘ (jad vgl. Ewald I, 59 und 407) mit entsprechender Inschrift sich
finden könnte. An der Wahrscheinlichkeit der Aufzeichnung wird (gegen
Ewald’s Meinung I, G7) gerade wegen des scheinbar rein mündlichen
Verfahrens nach Analogie romanisch-germanischer Vorzeit nicht ge-
zweifelt werden können (vortrefflich hierüber Sickel, acta Carolina I,
356 und Anm. 2). Für die damalige Anwendung der Schrift in Kanaan
spricht aber nächst der bis zur Interpunction bereits eonventioncll aus
gebildeten Siegessäule Mesa’s um 900 v. Ch. die wohl mehr als ein Jahr
tausend ältere Thatsache, dass bereits von dem letzten Hyksoskönige Apepi,
der noch in ganz Egypten anerkannt war, in dem Papyros Sallier I,
Sitzlr. d. pldl.-hist. CI. IA'XII. Bd. II. Hft. 31
474
B ü d i n g e i‘.
Mesasäule vergleichbaren Siegesberichte der drei Amoriterfürsten
Mamre, Eskol und Aner nicht minder gut bezeugt; 1 denn mit
Mamre steht ,Abrain im Bunde' und seine Heeresfolge mit
318 Knechten würde an sich die gute Aufzeichnung verbürgen.
Aber wir diaben jetzt auch genaue Kunde von Königen Elams,
welche seit etwa dem Anfänge des dreiundzwanzigsten Jahr
hunderts vor Clir. als Kriegsherren in Chaldäa auftraten und
deren erster, chronologisch gesicherter Name Kudur Nankundi
mit dem Erbauer in Mugheir: Kudur Mabuk, dem Beherrscher
,des Westlandes', den von Abraham im Gefolge der Amoriter
bekämpften Kudur Lagamer hinlänglich verdeutlicht. 2 Die all
gemeine Geltung des clialdäischen Mass- und Gewichtssystems
in Palästina lange vor dem Auszüge der Israeliten aus Egypten
wie sie sich bei den Feldzügen Thutmosis III. glänzend nacli-
' weisen lässt, 3 macht die Einführung dieser Form der Tribut
zahlung während der zwölfjährigen (Gen. 14, 4) Dienstbarkeit
der Bevölkerung von Palästina unter Kudur Lagamer’s Gebot
wahrscheinlich und ist ihrerseits ein Zeugniss chaldäischer
Einwirkung.
Diese beiden Urkunden aber des erkauften Erbbegräb
nisses und der Waffenhilfe für die bedrückten Landesbewohner
sind mit wenigen minder leicht greifbaren anderen Ueberliefe-
rungen die Beweisstücke aus alter Zeit gewesen, mit welchen
die Hebräer ihren Einbruch in Kanaan vor den Bevölkerungen
einigermassen zu rechtfertigen vermochten. Namentlich der
freie Zutritt zu den Ahnengräbern in der Doppelhöhlo bei He
bron, deren Umgebung inzwischen in die Hände eines anderen
Seite 27. 2 (Ebers I, 205) berichtet wird, er habe den Rath ,seines Schrei
bers* befolgt. Von den auf Schrift weisenden alten Ortsbezeichnungen
Palästina’s haben Andere gesprochen.
1 Den Werth des Stückes erkannte vor den ehaldäisch-assyrischen Ent
deckungen zuerst Ewald, Gesell. I, 73 und 402. Die leichte Uebersetz-
barkeit der drei Fürstennamen darf an ihrer Echtheit nicht irre machen.
2 G. Rawlinson, five monarchies (ed. 1871) I, 160—167 und Schräder, die
Keilinschriften u. d. alte Test. S. 48. Die Grenze, vor welche Kudur
Lagamer’s beide Züge fallen müssen, ist das J. 1821 v. Ch., in welchem
der Sohn eines semitischen Gesammtkönigs von Chaldaea bereits nord
wärts colonisirte, Rawlinson a. a. O I, 164.
3 J. Brandis, Münz-, Mass- und Gewichtssystem (Berlin 1866) S. 91 llgde.
Egyptische Einwirkungen auf hebräische Culte.
475
Volkes, aus chetitiseh-amoritischem in euaqitischen Besitz, ge
kommen war — namentlich dieser Grabanspruch war ein religiös
allseitig zulässiges Argument. Es lässt sich derselbe einiger-
massen mit den Forderungen der Kreuzfahrer und ihrem
Einbrüche in Palästina wegen Christi Grabes vergleichen; denn
in beiden Fällen haben die sonstigen religiösen Argumente
der Eroberer schwerlich grossen Eindruck auf das Gewissen
der Eingeborenen gemacht.
Um so bedeutender erscheint nun in den an Abrahams
Namen geknüpften Urgeschichten des Volkes Israel die liebe
volle Behandlung des Stammvaters in Egypten. Um so un-
nöthiger ist freilich auch die Warnung, welche ein jüngerer
Erzähler (Genesis 26, 2) von Jahve selbst ergehen lässt, dass
Ahrahams typischer Sohn Ishaq nicht nach Egypten ziehen solle.
Jaqob aber, unter dessen Leitung durch starken Zuzug
aus dem Osten — dess zum Zeugniss lässt ihn ja die Sage 1
,den Grenzberg Gilead 1 als Malzeichen der Scheidung von den
östlichen Stammverwandten aufwerfen — die Hebräer erst zu
einem Volke von zwölf Stämmen geworden sind, wird von der
Erzählung (Genesis 45) anders bedacht. Er wird nach Egyp
ten geführt, obwohl die Erzählung Mühe hat, wie wir oben
sahen, seine Gebeine mit grossem Apparate wieder nach He
bron zu schaffen, wo sie nach allgemeiner Ueberzeugung ruhten
und vielleicht noch heute ruhen, da bei der einzigen wissen
schaftlichen Untersuchung der Doppelhöhle im J. 1862 gerade
der entscheidende untere Raum nicht betreten worden ist.
Eingeführt wird der Patriarch aber in Egypten mit solch
verschwenderischer Grossmuth, 2 dass man für Ernst nehmen
könnte, was dort von Joseph gesagt wird: ,Die Güter des gan
zen Landes Egypten sollen Euer sein', ,Ihr sollt essen das
Mark im Lande' (Genesis 45, 20 und 18).
1 Genesis 31, 46—53 der prächtige Mythus, mit dessen Erkennung der
Name Ewald’s (Gesch. Isr. 1, 447) immer verbunden bleiben wird, wie
ich ihm denn auch für die entscheidende Zuwanderung aus dem Osten
gänzlich folge (I, 442 flgde).
2 Am schönsten unter den Geschenkberichten ist Vers 23: ,Und seinem
Vater sandte er dabei zehn Esel mit Gut aus Egypten beladen und zehn
Eselinnen mit Getraide. 1
31"
476
Büdinger.
Hiemit stimmen jedoch andere Thatsachen nicht, Nach
richten, welche ein vollkommenes Stammesleben und Versuche
kriegerischer Ausbreitung schon vor der Uebersiedelung nach
Egypten anzunehmen nöthigen.
Von den sonst (besonders Genesis 29 und 30) verkündig
ten Herkunftstheorien der Stämme unabhängig erscheinen sie
— Kuben an der Spitze, Gad am Ende, ohne die Fictivnamen
Joseph 1 und Levi — in dem erwähnten Verzeichnisse der
Kundschafter (Numeri 13), einer Urkunde von um so grösserer
Wichtigkeit, als dieselbe die Organisation des Volkes darstellt, wie
sie zum Zwecke des Erbantritts der heiligen Stätte von Hebron
(s. o.) geltend gemacht wurde. Dass diese Organisation der
zwölf Stämme sich jenseit. aller Bedrängnisse des Wüstenzuges
erhalten hatte, unabhängig von den hier nicht zu besprechenden
Bevorzugungen der Führer, ist an sich bemerkenswerth; aber
einleuchtend ist auch, dass sie der Einwanderung in Egypten
vorangegangen sein muss, wo sie unmöglich entstehen konnte:
in der. That gesteht das trotz aller durchsichtigen Zahlvermin
derung und Anordnung nach Haupt- und Nebenweibern, d. h.
Haupt- und Nebenansprüchen, die Erzählung Genesis c. 46
unbefangen zu.
Die in Josua’s Geschlechtstafel erhaltene Vorgeschichte
des Stammes Efraim 2 beweist anderseits, dass dieser Stamm
noch vor der Einwanderung in Egypten auf kananitischem
Boden in Fehde ,mit den Männern von Gath' lag; in der Ver
tretung der Kundschafter folgt keineswegs der angebliche an
dere Josephszweig Manasse auf Efraim, sondern er ist durch
Benjamin und Sebulon von demselben getrennt.
1 Es bedarf wohl kaum der Erwähnung, dass die beiden Worte, welche
Numeri 13, 11 einleiten: ,fiir den Stamm Josef 1 Glosse sein müssen, da
unmittelbar wie in den übrigen Fällen ,für den Stamm Manasseh“ auf sie
folgt und sie bei Efraim natürlich fehlen. Ganz harmlos erscheint, viel
mehr vor dem Stamme Efraim der echte Name ,Josef als der des Vaters
des Botschafters von Isaschar (Vers 7).
2 I. Clrron. 7, 20—28. Ewald, der (Gesch. Isr. 2 I, 490) hier wohl zuerst
,eine höchst alterthiimliche Nachricht der voregyptischen Zeit' vermuthete,
hält auch an anderen Orten 494 ,den Namen Efrat für Bäthlehem' für
,uralt und unstreitig vormosaisch 1 , unverkennbar mit dem Stammesnamen.
Efraim zusammenhängend.
Egypfcische Einwirkungen auf hebräische Culte.
477
Bedarf es an dieser Stelle noch ausdrücklichen Beweises,
dass der angebliche Stammvater von Efraim und Manasse, dass
der von Egypten trotz seiner Schönheit, Keuschheit und Klug
heit so über alles Verdienst emporgehobene und gehätschelte
Josef, 1 dem als ihrem tückischen Freiheitsberauber und Aus-
sauger 2 alle Egypter ausser 3 der weisen Priesterschaft (Genesis
47, 22 und 2G) höchlich gram sein müssen — bedarf es noch
einer Darlegung im Einzelnen, dass diese Gestalt Josefs nur
in greifbarer Form und in gesteigerter Weise darstellen soll,
was wir bisher nur in Andeutungen und mit Zurückhaltung-
betont sahen: das hohe Verdienst des grossmüthigen Muster-
und Culturvolkes von Egypten um die barbarischen hebräischen
Hirten ?
Und dass man sich durch die erbaulichen Geschichten
von Josefs Leiche nur nicht täuschen lasse! Bis zum heutigen
Tage gewähren ihrem Kenotaphe die Temimiten, welche die
heiligen Gräber von Hebron zu bewachen haben, nur in einem
Anbau aus ,später muhamedanischer Zeit' gesonderte und ge
ringe Verehrung, während die echten Patriarchen mit ihrem
,Harem' in dem obern Höhlenraume ihre regelrechten Keno-
taphien vereinigt gefunden haben. 1
Denn eine leicht erklärliche und verfolgbare Reihe von
Erfindungen hat endlich dahin geführt, dass in der Stefanus-
rede der Apostelgeschichte (7, 16) Abraham seine Grabstätte
vielmehr in Sichern kauft und dort Jaqob mit sämmtlichen
1 Hitzig, Gesell. Israels I, 57 bemerkt bereits von Josefs Geschichte, ,dass
nur ein kleiner liest für die Geschichte zu retten sein dürfte 1 und hebt
mit Recht die Ausführung der jungem von den beiden erhaltenen Fas
sungen in dem nordisraelitischen Reiche hervor.
2 Schon unter der vierten Dynastie, viele Jahrhunderte früher, ist übrigens
Ptahases ,Aufseher über alle Mundvorräthe 1 . Rouge, mem. sur los . . . six
premieres dynasties, 1866, p. 69.
3 Herodot II, 37 und 168, und Diodor I, 73 nehmen etwas richtiger auch
die Krieger von der Besteuerung aus und lassen (Her. II, 109; Diod. I,
54) einen Sesostris oder Sesoosis eine radicale Wasser- und Landordnung
und Vertheilung vornehmen. In der That bestand diese aber schon einige
tausend Jahre vor dem angeblichen Josef, wie vor dem angeblichen Se
sostris. Denn bereits unter den ersten Dynastien war die Ausbeutung
der Unterworfenen durch die herrschenden Priester = Krieger an Land
und Menschenkraft bereits auf das möglichste Mass gekommen.
1 Rosen a. a. 0. S. 398, 404.
478
Bü einiger.
Söhnen — statt Efraim’s und Manasse’s natürlich Josef und
Levi mitgezählt — beigesetzt worden sei. Der betreffende
Kauf Jacobs wird in einem in das 33. Capitel der Genesis
(Vers 19) eingeschobenen Zusatze behauptet und zwar als ge
schehen ,von den Kindern TJemors, des Vaters Sichems, um
hundert Qesita'; 1 die Angabe ist aber wohl zuerst von dersel
ben Hand auch dem Buche Josua (24, 32) angehängt. Sie er
gibt sich unmittelbar als Nachahmung von Abrahams echtem
Kauf in Hebron, da die Summe vermuthlich genau den 400
Sekel der echten Urkunde (Genesis 23, 16) entspricht, und
wird bei der Aufrichtung eines den beiden Stämmen Efraim
und Manasse gemeinsamen Heiligthums in der Levitenstadt
Sichern zu Ehren Josefs des Fictivvaters in jener Stelle des
Buches Josua erwähnt. Da nun gleichzeitig der Ausstattung
des Hohenpriesters Pinehas mit Grundbesitz in dem Gebiete
der Efraemiten und der Bestattung seines Vaters auf diesem
Gute gedacht wird (Josua 24, 33), so darf man wohl sagen,
dass Pinehas, der seinen egyptischen, den Neger bedeutenden
Namen 2 nie abgelegt hat, mit der Einrichtung des Cultes in
naher Beziehung stehen und wenn nicht überhaupt der Ueber-
setzer oder erste Verfasser einer der Grundschriften des Hexa-
teuchs, so doch einer der Fortbildnor des Josefmythus sein
dürfte. Denn an der Ordnung und Befriedigung des Volkes
nach geschehener Landeseroberung erscheint Pinehas im Buche
Josua (Cap. 22) in ganz hervorragender Weise betheiligt.
1 Sonst nur Hiob 42, 11, wo die LXX (II, 36 ed. Tiscliendorf) auvaiia |j!av
haben, während sie an unseren beiden Stellen btairbv ä(j.V(Sv, djj.v«3cov
sxaro'J haben (I, 40 und I, 281), was seinerseits wieder erklärt sein will,
da an ,Lämmer 1 — Werth doch nicht zu denken. Ich folge übrigens Gesenius
s. v. Qesita (thes. IV).
2 Pe-nehasi ,der Neger 1 nach Lautli, Moses S. 70. Als Königsnamen glaubt
ihn Lauth in der 13. oder 14. Dynastie nachweisen zu können. Ver
gleichen lässt sich, dass der russische Grosskönig und Bekehrer Wladimir
seinen schwedischen Namen Walldimar kaum geändert hat, während von
seinem Vater Swiatoslaw nur der slavische Name, gleichwie von Pinehas’
Vater Eleazar nur der hebräische, nicht der egyptisclie bekannt ist, da
gegen der Grossvater Ingvar (Igor) ■ nur einen normännischen, wie Elea-
zar’s Vater Aaron höchst wahrscheinlich nur einen egyptischen Namen
hatte (vgl. meine ,Normannen und ihre Staatengründungen (in v. Sybel's
hist. Ztschft. IV 341 und 3öl).
Egyptisclie Einwirkungen auf hebräische Culte.
47Ö
Erst von hier aus aber begreift sich, wie dem Buche Ge
nesis (50, 25) die Verpflichtung-, Josefs Leiche mitzuführen
angehängt und dieses Heiligtlmmes doch nur noch in einer
Glosse (Exodus 13, 19) gedacht werden konnte.
So soll denn auch der um die Zeit des Auszuges, als
noch schwerlich Mangel an Namenfindung war, nur im Stamme
Isaschar (Numeri 13, 7) nachweisliche Name Josef 1 die That-
sache des den Hebräern unter dem Schutze Egyptens zu Theil
gewordenen Segens ihres Wachsthumes in Erinnerung bringen.
Die Typen, mit welchen er ausser dem Pharao in Verbindung
gebracht wird, sind nur in zwei oder drei Fällen genannt: ein
Hofbeamter, der den hebräischen Sklaven ,iiber sein Haus
setzt' (Genesis 39, 4), genau wie später der Pharao (41, 40)
über das seinige, und ein Priester zu IJeliopolis, dessen ge
nannte Tochter ihm vermählt wird (41, 45). 2 Aber beide Her
ren haben denselben oder eigentlich gar keinen Namen, da
Potiphar nur religiös einen Egypter, d. h. einen Verehrer der
Sonnengottheit bezeichnet, 3 deren Hauptcultstätte eben in Plelio-
polis war. —
Die vollkommen correcte Kunde egyptischer Staats-,
Cult- und Privatverhältnisse, welche in den Geschichten Josefs
hervortritt, hat noch den neuesten Forscher, 4 und sichtlich je
weiter er kam umsomehr, überrascht. In dem Märchen des
Literaten Anana aus Ramses II. Zeit hat sich überdies ein
schriftliches Denkmal gefunden, welches Motive enthält, die
auch in den Beziehungen Josefs zur Frau des Obersten Poti
phar wiederkehren. Falls aber in der Genesis eine Benutzung
von Anana’s zum Theil widriger Darstellung vorliegen sollte, 5
1 ,quem Deus augeat“ übersetzt Gesenius (tlies. I, 604) den Namen, Genesis
30, 24 richtig umdeutend. — Vgl. oben S. 26, Anm. 1.
2 Die Erklärung des von dem Pharao dem Josef beigelegten Ehrennamens
(Weltheil?) und des Namens seiner Gattin in diesem Verse muss ich der
egyptisclicn Philologie überlassen.
3 Peti-pa-ra = hingegeben dem Sonnengotte. Ebers I, 296.
4 Ebers I, 353 bezeichnet daher seinen letzten Abschnitt mitEecht: ,Traum
und Deutung sind in allen Stücken cgyp tiscli.“
5 Ebers I, 315 lässt das mit Recht durchaus zweifelhaft. Wörtlich erinnert
doch nur Genesis 38, 9b an die Worte: ,Was ist das für eine grosse
Sünde, die Du zu mir gesprochen hast?“ Der Schluss des Märchens
bei Brugsch, aus dem Orient II, 15 flgde, ist roh und ausschweifend.
480
Büdinger. Egyptisclio Einwirkungen auf hebräische Culte.
so muss man sagen, dass sie in einem keuschen Sinne voll
zogen worden ist, der beinahe an eine weibliche Hand erinnert.
Wie die Tellsage 1 in der ihr durch Tschudi gegebenen
Gestalt nicht nur eine heilige Erinnerung der schweizerischen
Eidgenossenschaft geworden ist, srfhdern unter anderen Ele
menten auch unzweifelhaft echte Kämpfe der Waldstätte gegen
das Haus Habsburg im 13. Jahrhundert versinnlicht, so ist der
Josefmythus für die Geschichte der Hebräer bedeutend gewor
den. Zwei ihrer alten Stämme, darunter der geistig und krie
gerisch bis zur Königszeit vielleicht bedeutendste, der von
Efraim, haben in Josef an einen gemeinsamen nähern Ahnherrn
geglaubt und mit dessen Gattin an eine halbegyptische Ab
stammung. In der Geschichte des Volkes Israel aber bezeich
net Josef für den grossen Zusammenhang der menschheitlichen
Entwickelung die Vermählung des hebräischen Geistes mit dem
egyptischen,2 wie die Ausbildung der Aeneassagen im Anschlüsse
an den troischen Mythenkreis eine verständliche Einfügung der
Römer in die Ueberzeugungen der Griechen enthält.
1 W. Vischer, die Sage von der Befreiung der Waldstätte (Leipzig 1867)
S. 12 flgde.
2 Es bedarf wohl keiner besonderen Ausführung, dass die Versuchung durch
die Frau des Obersten Potiphar und die Vermählung mit der Tochter des
Priesters Potiphar genau dasselbe: die liebevolle Einschmelzung der
Hebräer in egyptisches Wesen bezeichnen.
Schulte. Beitrag zur Geschichte des cauonischen Hechtes.
4SI
Beitrag zur Geschichte des cauonischen Rechtes
von Gratian bis auf Bernhard von Pavia.
Vom
c. M. Joh. Friedrich R. von Schulte.
§• 1.
All grill einer Gang der Entwicklung bis auf die selbst
ständigen Sammlungen. 1
Grratian hatte nicht alles brauchbare Material in sein
1 leeret aufgenommen. Hierin lag ein Grund, das übergangene
einzufugen. Bald nach dem Erscheinen des Decrets, insbeson
dere unter Alexander III., wurden zahlreiche neue Decretalen
erlassen, welche nach dem Vorhilde der früheren Sammlungen
zum Gebrauche zusammen gestellt werden mussten. Wollte
man sich an die älteren Vorbilder halten, so schrieb man das
übersehene und das neue Material am bequemsten im Decrete
selbst zu am Rande der Handschrift und zwar dort, wo es
nach der Zeit oder dem Systeme hinpasste, oder am Ende
einer Distinctio oder Causa, oder auch nach dem letzten Ca-
pitel des Decrets.
Die ’ älteste und primitivste Form weisen die Paleae 2
auf, von denen jene, welche Paucapalea beigesetzt hat, wohl
1 Ich nehme im Folgenden nur auf die von mir selbst untersuchten Samm-
hingen Rücksicht, gehe daher auf die von Th einer, Disquisitiones
p. 117 sq., nach der Pariser Handschr. Nr. 1566 erwähnte und andere
nicht ein. Es handelt sich recht eigentlich um die Feststellung des Ver
hältnisses der Sammlungen zum Breviarium Extravagantium Bernhards
von Pavia.
2 Ueber diese vorläufig: De Paleis, quac in Gratiani decreto inveniuntur,
disquisitio liistorico-critica auctore Bickellio. Marburgi 1S27. 4. (Fest
programm zur oOjälir. Feier der Professur von Alb. Jac. Arnold von
Bickell und Hupfeid), Fr. Maassen, Paucapalea. Wien 1859 (Sitz.-Ber.
der phil.-histor. CI. XXXI. 419 ff.), S. 36 ff. — Ich werde dieselben in
einer eigenen Abhandlung näher erörtern.
482
Schulte.
ohne Zweifel anfänglich am Rande seines Exemplars zuge-
schrieben, oder, was auf Eins hinausläuft, notirt wurden. Schon
die stehende Bemerkung der ältesten Decretisten zu solchen
Stellen: ,hic, hoc loco Paucapalea apposuit' und ähnliche deuten
darauf hin.
In einzelnen Handschriften 1 kommen am Ende eines
Theiles Quellenanhänge vor. Sind die Capitol derselben gleich-
1 Hierher sind auch jene Handschriften zu rechnen, welche an Stelle der
herkömmlichen Paleae andere Capitel haben, wie Codex Trevirensis
906 zu c. 46. C. XI. q. 1. Vergl. meine Glosse zum Decret Gratians,
Wien 1872, S. 22 (Denkschr, d. phil.-hist. CI. XXI. Bd.), ferner ein
G. Häncl in Leipzig zugehöriger Codex saec. XIII. In diesem ist hinter
C. I. q. 1. zugesehrieben: ,Notandum quoque est, sieut in dig. libro
XLVIII. in titulo De abolitionibus criminum. Aceusatorum tomeritas tri-
bus modis detegitur: aut enim calumpniantur, aut enim tergiversantur
[darüber: aut praevaricant]. Calumpniari est falsa crimina intendere, nt
in di. ad S. C. Turpilianum 1. 1 [als Rubrik: Tergiversari est falsa cri
mina intendere], Tergiversari in Universum . . . [folgt 1. 1. princ. u. §. 1.
з. 4. S. Dig. ad S. C. Turpil. XLYIII. 16], Supra libro XLVI. titulo De
praevaricationibus. Praevaricator est.. . [folgt 1. 1. 2. 5. 7. Dig. XLVII.
15 (nicht XLA r I.)] ... Et infra 1. XLVIII. t. De abolitionibus criminum.
Praevaricatorem esse [folgt §. 6—9 1. 1. D. XLVIII. Hi], Et infra t. codem
ut in D. ad S. C. Turpil. 1. 1 Destitisse [folgt 1. 13] . . . Abolitio autem
poenam remittit, infamiam non tollit. linde imperatores Valer. Valenti.
et Gratianus YIIII. libro Cod. t. Do generali abolitione dixisse legimur.
Sequitur secunda quaestio. 1 Eine spätere Hand hat den Zusatz
durchgestrichen und zugeschrieben ,vacat usque ad seejuitur 1 . Das Ein
schiebsel zeigt, dass man trachtete, ganz in Gratians Manier zu ergänzen.
Auf C. XI. folgt ohne jede Rubrik c. 23. 30. D. I. de poen., c. 2—8.
D. V. de poeu. Vor das letztere setzte der Rubricator, offenbar am un-
rechten Orte, ,hic terminatur causa 1 . Hierauf von der Hand, die den
alten Text schrieb:
1. ,Ex conc. Maticensi cap. XVI. Praesenti decreto . . .‘ Ist die
Palea in c. 18. D. LTV., bei Burch. IV. 88, Ivonis Decr. I. 282.
2. ,Aug. Omnes causae. 1 Burch. XVI. 23. Ans. III. 80.
3. ,Eugenius p. p. III. magistro Omnibono. Litteras dil. v.‘ Das
(auch im Innsbrucker und Prager Codex der folg. Anm. enthaltene) schon
von Job. Fa v ent in us (Schulte, Rechtsliandschr. der österr. Stiftsbibi.
S. 589) und Simon (Schulte, Beiträge zur Lit. über das Decret I. S. 29)
и. A. angeführte c. 2. X. de iuram. calumn. II. 7.
4. ,Ex conc. Tribur. c. X. Nobilis horno. 1 Die Palea in c. 15. C. II.
q. 5, Burch. XVI. 19.
Von neuerer Hand noch 5 andere von Urban II., Alexander III.
U. s. w. Auch dieser Anhang ist später durchgestrichen worden.
Beitrag zur Geschichte des canonlschen Rechtes.
483
falls in den späteren anerkannten Sammlungen enthalten, so
darf man zuversichtlich annehmen, dass sie aus älteren Hand
schriften des Decrets abgeschrieben wurden, weil man nach
Abfassung der Compilatio prima und der folgenden vernünftiger
weise nicht auf die Idee kommen konnte, einzelne Stellen her-
auszureissen und im Decrete beizufügen. Für die nicht in den
späteren Sammlungen enthaltenen ergibt sicli diese Annahme
von selbst. Alle solche Nachträge sind klein, der beschränkte
Raum verbot bereits ihre Ausdehnung. Mit der Vermehrung
des Materials musste man zur Abfassung von eigentlichen
Appendices ad Decretum schreiten. Die Handschriften, 1
welche diese förmlichen Anhänge enthalten, sind selten, was
wohl darin seinen Grund findet, dass man nach Abfassung der
Compilatio prima keine Ursache sie zu bewahren hatte. Die
Appendices selbst weisen eine allmälige Vervollständigung auf,
bis sie eine Gestalt erreichten, welche sie der folgenden Kate
gorie näher bringt. Sie sind gemacht worden zu dem offen
baren Zwecke, 2 das Decret zu ergänzen. Anfänglich mögen
sie nur jene Capitol enthalten haben, welche die ältesten Glossa-
toren aus Burchard oder aus einer anderen Quelle citiren, 3
wovon die meisten als Paleae bereits von Paucapalea beigefügt
waren. Dazu gesellten sich 1 von Gratian übergangene und
neuere 5 Decrctalen. Allmälig müssen diese Appendices einen
bedeutenden Umfang erlangt haben. Dies zeigt sich daraus,
dass sie unstreitig von den Glossatoren in einem grossen
1 lieber eine Prager s. meine Glosse zum Decret S. 23; ihr Anhang ist
leider nicht ganz erhalten. Uebcr eine Innsbrucker vgl. Maassen,
Beitr. zur Gesell, der jurist. Liter, des Mittelalters (Sitz.-Ber. XXIV. 4),
Wien 1857, S. 04 ff.
2 Das hat Maassen, Beitr. S. 66, bewiesen.
3 Bei Rufin, Stephan, in der Summa Parisiensis u. s. w. werden
ziemlich alle Stellen angeführt, die im Innsbrucker Anhang stehen.
1 Paucapalea hat nur eine nicht anderweitig bekannte Deeretale, Justi-
t-iae ratio, zu D. LXIII. Der Wiener Codex 2220 hat auch ,tertius‘,
was wohl das Richtige sein dürfte. Rufin hat princ. C. XIII. die
Decretalen von Leo ,Nos instituta majorum 1 und .Relatum est auribus
nostris“, welche nach ihm Joli. Fav. citirt.
5 Ausser den bereits angeführten Beispielen hebe ich hervor, dass der
Innsbrucker Codex ausser dem c. 2. Conc. Turon. a. 1163 noch fünf
von Alexander III., verschiedene von Eugen 111. u. s. w. hat.
484
Schulte.
Umfange benutzt wurden. Den Hauptstock der Decretalen
bildeten die Alexanders III. 1
Mit den wichtigen Beschlüssen des 3. Concils vom La
teran (1179) tritt ein Wendepunkt ein.
Die bisherigen Sammlungen enthielten je nach dem Zu
falle viele oder wenige Decretalen Alexanders III., die Inns
brucker nur fünf, 2 die von Simon de Bisiniano benutzte eine
grosse Menge. Die meisten derselben waren für einzelne Län
der (Diöcesen) erlassen, die grösste Anzahl für England, was
in den damaligen kirchlichen Vorgängen seine Erklärung findet,
sodann für Frankreich. 3 Um den Rechtsbau zu krönen, berief
Alexander III. das 3. Concil vom Lateran von 1179. Seine
Schlüsse wurden natürlich sofort allgemein bekannt und in die
Sammlungen aufgenommen. So sind sie der Innsbrucker
angehängt, wobei aber c. 13 und 17 ausgelassen sind. Mit
diesem Zusatze ist die Thätigkeit bezüglich dieser Sammlung
geschlossen; sie hat keinen mehr erhalten.
Alle ferneren mir bekannt gewordenen unterscheiden sich
wesentlich von ihr dadurch, dass sie systematische sind,
das heisst sie bringen die Quellenstellcn nicht mehr in blos
historischer Ordnung oder wie sie der Zufall dem Sammler
zuführte, sondern unter bestimmten Titeln oder Rubriken.
Mit diesen begnügt sich die nächste hier zii besprechende
1 Simon de Bisiniano, dessen Summa mein 1. Beitr. S. 25 f. als vor
dem März 1179 vollendet nachweist, führt je eine von Innocenz II. und
Cölestin II., drei von Eugen III., zwei von Hadrian IV., zweiundsechzig
von Alexander III. an, welche sämmtlich in keiner einzelnen bekannten
Sammlung stehen. Er hat sie, wie ich a. a. 0. S. 33 gezeigt habe, einer
Sammlung entnommen.
2 Haussen, Beitr. S. G5, gibt sie an; einige bilden mehrere Capitel.
3 Die Zerwürfnisse IC. Heinrichs 11. mit Thomas Becket von Canterbury
führten zu königlichen Massregeln, welche sich auf eine Menge innerer
kirchlicher Punkte bezogen: Wähl der Bischöfe, Rechtssachen der Geist-,
liehen, Appellation, Excommunicationen u. s. w. Hierin liegt der Grund,
weshalb Alexander III., wie kein früherer Papst, eine solche Menge von
Decretalen erlassen hat und in der That als Gesetzgeber in grösstem
Massstabe erscheint, weshalb zugleich die wichtigsten an Bischöfe in Eng
land (Normandie) gehen. Der Streit mit den deutschen Kaisern bot zu
solcher Gesetzgebung keine Veranlassung, weil er sich um politische
Fragen drehte.
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
485
Gattung. Bevor icli zu deren Beschreibung schreite, ist noch
eine Bemerkung voraus zu schicken. Die systematische Ord
nung des Materials setzt dessen Sammlung nothwendig voraus.
Wie vor Gratian, so ist auch, das geht aus dem Mitgetheilten
hervor, nach ihm die Sammlung in historischer oder zufälliger
Ordnung oder Unordnung das ältere. Je systematischer daher
die Ordnung wird, je mehr Rubriken man macht, je mehr in
derselben Rubrik eine bestimmte Ordnung befolgt wird, desto
jünger darf, wofern nicht besondere Gründe für das Gegentheil
sprechen, eine Sammlung im Verhältniss zu anderen gehalten
werden. Der Verfasser einer systematischen Sammlung schöpft
entweder aus den Regesten der Päpste oder aus anderen
Quellen. Jenes ist für ' die in Rede stehende Zeit gewiss die
Ausnahme gewesen, weil kaum nachweisbar ist, dass die Samm
lungen zu Rom gemacht worden sind, weil gerade für die Curie
ein Bediirfniss solcher Sammlungen wegen der zur Hand stehen
den Regesten nicht vorlag und weil das canonische Recht selbst
sich in "dieser Zeit zu Rom gar keiner wissenschaftlichen Pflege
erfreute. Näher lag es, dass zu Bologna, wo Männer aus den
verschiedensten Gegenden als Scholaren und Lehrer sich auf
hielten, welche meistens in kirchlichen Stellungen waren, Samm
lungen angelegt wurden, welche einmal die allgemein bekannt
gewordenen Decretalen und daneben jene enthielten, die dem
einzelnen Sammler aus seiner Heimath, für die sie ursprüng
lich erlassen waren, bekannt sein konnten; die Ergänzung
durch solche war von selbst gegeben. So begreift man, dass
die Sammlungen einen gewissen provinciellen Charakter bis zu
dem Momente an sich tragen, wo die allgemeine Bekanntschaft
mit ihnen die Anfertigung vollständiger gestattete.
Zwischen das Lateranensische Concil von 1179 und die
Compilatio Bernhards von Pavia fallen die folgenden systema
tischen Sammlungen.
486
Schulte.
§• 2.
Appendix Concilii Lateranensis. 1
Sie hat 50 Partes, denen ausser hei der 49. und 50. eine
dem Inhalte der Capitel entsprechende Rubrik (Titel) voraus
geht, 2 mit einer ungleichen 3 Zahl von Capiteln, deren im
Ganzen 537 sind. 4 Regelmässig 5 steht vor dem einzelnen Ca
pitel eine Inscription, enthaltend den Namen des Papstes
und des Adressaten, einzeln blos jenen oder die sonstige Quelle.
P. I. enthält die Schlüsse des 3. Lateran-Concils von 1179 in
der Reihenfolge des Originals. An diese sind gehängt die
übrigen, woraus sich der Name erklärt.
1 Drucke in den Conciliensammlungen von (Snrius) Colon. 1507 fol. III.
p. 610, Text 626—733; Binius Colon. Agripp. 1606 fol. III. p. 1353,
1363—1440; Collectio regia maxima. Paris 1644. fol. XXVII. p. 476,
505—761; Hardouin, Par. 1714, f. VI. P. II. col. 1693, 1720—1876;
Coleti, Venet. 1730, f. XIII. col. 446, 470—638; Mansi XXII. col. 249,
274—454. (Ich benutze den letzteren Abdruck.) In allen steht ein kurzer
Prolog und Epilog von ,Bartboi. Laurens cognomento vnlgari Poiu:‘
Andere Conciliensammlungen sind mir nicht zur Hand, weshalb ich die
Angabe, sie sei zuerst gedruckt in der Sammlung von Crabbe Colon.
1551, nicht zu bestätigen vermag.
Literatur (ausser den cit. Samml.) Aug. Theiuer, Commentatio
de Rom. Pont, epistolarum decretalium antiquis collectionibus et de Gre-
gorii IX. P. M. decretalium codice in Disquisiti-ones critieae in
praecipuas canonum et decretalium collectiones etc. Rom. 1836. 4. (zuerst
Lips. 1829. 4.) pag. 4 sqq. Richter in der anzufiihrenden Abhandlung,
Laurin in v. Moy’s Archiv XII. 4 ff. (ohne neue Forschungen).
2 In allen citirten Drucken steht zuerst das Verzeichniss der Titel und der
Rubriken der Capitel, weshalb oben erst die Seitenzahl, womit dieses,
sodann jene angegeben ist, worauf der Text beginnt.
3 Zwei haben P. 9, 11, 32; drei P. 21, 34, 42, 48; vier P. 4, 20, 35,
37; fünf P. 3, 24, 25, 33, 36, 40, 43, 46; sechs P. 23, 39; sieben
P v 17, 27, 31; acht P. 12, 38, 45; neun P. 22, 29, 30, 41; zehn P. 5
16, 19, 43, 47; P. 14 mit 13, P. 18 u. 28 mit 15, P. 13 mit 16, P. 2
mit 18, P. 49 mit 20, P. 7 mit 22, 8 mit 23, 15 u. 26 mit 26, 10 mit
32, 50 mit 67.
4 Zu den 510 der vorhergehenden Anmerkung kommen die 27 Canones von
P. I. Woher Theiner 1. c. 571 bekommt, ist mir unerfindlich. Diese
Zahl kommt auch dann nicht heraus, wenn man nicht numerirte Theile
anderer mitzählt.
5 Ohne jede sind VI. 19, VII. 4, XIV. 10, XVIII. 11. 12, XX. 1, XXVI. 4,
XXXVIII. 7, XXXIX. 4, XLIV. 5, XLIX. 17. 18. 19, L. 49.
Beitrag zur Geschichte des canonischen Hechtes.
487
Gemäss den Inscriptionen vertheilt sich der Stoff folgen-
dermassen:
1. Aus früheren Concilien vor Alexander III. sind ge
nommen 7 Capitel. 1
2. Päpsten vor Alexander III. gehören an 26 Capitel. 2
3. Alexander III. kommen zu 442 Capitel.
4. Dem unter Vorsitz Alexanders III. gehaltenen Concil
von Tours von 1163 gehören an 9 Capitel. 3
5. Von Päpsten nach Alexander III. rühren her 26 Capitel. 1
Von den Capiteln aus Decretalen Alexanders, denen gegen
über die anderen kaum in Betracht kommen, sind fast zwei
Dritthcile aus Decretalen genommen, die an Bischöfe, Prälaten
u. s. w. Englands gerichtet waren; nur ganz wenige (V. 6. 7.
XLV. 7) gingen an deutsche, spanische (VIII. 4. X. 14), un
garische (V. 6. 7. L. 39) Bischöfe, eine grosse Zahl an fran
zösische und italienische.
Die einzelnen Decretalen sind bald vollinhaltlich als ein
Capitel aufgenommen, bald mit Auslassung dessen, was nicht
unter den Titel passte oder überflüssig schien, bald werden sie
ganz - oder stückweise in mehreren Capiteln wiederholt. Eine
stückweise Aufnahme ist regelmässig durch die Worte ,Et
1 Ex Conc. Mogunt. XLIII. 5, L. 44, Tribur. XLV. 8, apud Compen-
diurn L. 45, Matisc. L. 56, apud Wenneriam (so liest Mansi) L. 4G,
Afric. VI. 5.
2 Und zwar nach den Inscriptionen Gregor (ohne Zusatz) XIII. 9. 14,
XVII. 7 (ist von Gregor VII.), XXXVIII. 7. XLIII. 4 (steht nicht in
dessen Kegesten), XLIV. 1, XLVIII. 2; Eugenius I. P. XXVI. 15. 16.
17; Leo III. P. XLIII. c. .2. Gregor VII. c. 6. P. VI. (siehe vorher);
Pasclialis II. P. XIII. IG, XLIII. 1; Honorius II. XXIII. 1; Inno-
centilis II. P. L. c. 57; Eugeilius III. in VIII. 17, XII. 8, XXIII. 2,
XXXIV. 1; Hadrianus IV. in XIII. 10, XLV. 7. Dann werden noch
boigclegt Gelasius in XXXI. 6, Hormisdas XLIX. 10, Benedictus
VI. 27, Joannes XIII. 15.
3 Nämlich II. 2. 5. 10, XVI. 9, XXVI. 8 (nicht angegeben), XXVII. 2,'
XXX. 4, XXXI. 6, XXXIV. 2.
* Nämlich Lucius III. in VII. 22, VIII. 21, X. 18, XV. 8, XXIII. 5. G,
XXVI. 22, XXVIII. 13. 15, XXXVII. 4, XL. 4, XLI. 8, XLV. 6, XLIX.
6. 7. 14, L. 24. 38. 50; Urban III,: VI. 20 (gehört ihm an, obwohl blos
der Name steht), XXXVIII. 8, XLVIII. 3, L. 61; Gregor VIII. in
XLIX. 1. 2; Clemens III. in XV. 26, L. 67.
488
Schulte.
infra' 1 oder etc. 2 nacli dem Anfänge oder dadurch angedeutet,
dass auf ,Pars capituli' 3 der Anfang der Originaldecretale
folgt. Dies Zerreissen der Decretalen und Auslassen
von Stücken und Abkürzen wurde fortan die allgemein
befolgte Regel.
Falsche Inscriptionen und sonstige Fehler 1 finden sich
zahlreich vor. Sie kommen, wie schon Theiner hervorhebt,
vielfach auf Rechnung der beim ersten Drucke benutzten
schlechten Handschrift; dafür sprechen insbesondere die vielen
besseren Lesarten des Codex Bambergensis.
Die Sammlung in ihrer jetzigen Gestalt hat eine dop
pelte Recension erfahren und ist ausserdem noch durch Zu
sätze vermehrt worden. In der ersten Gestalt umfasste sie
nur die ersten 44 Partes. Einzelne Capitel sind in diese hinein
geschoben worden, 5 darauf ist unter Clemens III. Pars 45
1 Z. B. in n. 9, XIX, 7, XXV. 3, XLIX. 7. 9. 14. 15.
2 Z. B. XLIX. 7, L. 39.
3 Mit dem Zusatze pars capituli werden z. B. angeführt als Theile der
Decretale Licet praeter YIII. 8, XXVI. 4, In litteris IX. 2, XXII. 5
Signifieasti X. 17, Cum sit Romana X. 15, Consuluit XII. 6,
Sicut dignum XIV. 7, Continebatur XVIII. 4, Super eo qund
quaesitum est XVIII. 5, Ex insinuatione XIX. 3, Inconsultum
XV. 20, Nos in eminenti XXVIII. 10, Tua fraternitas XVI. 2,
Ad aures XXIX. 2, Qua fronte XLIII. 3, Cum saerosancta Eo
mana L. 21, Sane de L. 43. \
Von diesen führt die 8 ersten und 2 letzten schon Simon de
Bisiniano an (mein 1. Beitr. S. 29 ff.); die anderen von ihm citirten
stehen alle in der Appendix. Wie das dort S. 31 Nr. 49 und S. 33 Ge-
' sagte beweist, war die Methode des Zerreissens in mehrere Ca
pitel schon vor 1179 im Gebrauch.
Eine Decretale bildet z. B zwei_ Capitel in VI. 3. 4, VI. 22. 23,
VII. 11. 12, Vin. 8. 9, VIII. 9. 10, X. 11. 12, XXXI. 2. 3, XXXII. 1. 2,
L. 28. 29, drei in VII. 8. 9. 10, XIV. 7. 8. 9, XXVI. 15. 16. 17, XLIX.
7. 9. 14, vier in XXVI. 4. 5. 6. 7,
Doppelt kommt dasselbe Capitel vor in VI. 4. 23, dreifach in
V. 5, VI. 9, XXI. 5.
Verstümmelungen, Aenderungen, Abkürzungen z. B. in II. 4, XVII. 7,
XXVII. 6.
4 Siehe Theiner 1. c. p. 6, der einzelne nachweist. Ich könnte aus Cod.
Bamberg, viele anführen, würde aber meine Arbeit mit zu grossem Ma
teriale überladen.
6 Nämlich die in Anmerkung 4 S. 7 aus den ersten 44 Partes angeführten
Decretalen von Urban III. und Clemens III. Der Beweis liegt darin,
Beitrag zur Geschichte dos canonischen Rechtes.
489
bis 50 liinzugefüg’t worden, wie sich aus folgenden Gründen
ergibt.
1. P. XLV. hat die Ueberschrift ,de sponsalibus se-
cundo', P. XLVI. ,de potestate iudicum secun do XLVIII.
,de pactionibus secundob Diese Materien sind unter dieser
Rubrik schon in VI., VII., XXVIII. hehandelt. P. XLVII.
hat wiederum die Ueberschrift ,de iurcpatronatus", die schon
XV. hat. Es wäre aber absurd, anzunehmen, derselbe Ver
fasser habe zur selben Zeit zweimal denselben Titel gesetzt,
wenn ihm anfänglich das Material vorlag. 1 Da nun zwischen
der Zeit Lucius’ III. und Clemens’ III. mindestens sechs Jahre
liegen, so ist die Verbreitung anzunehmen vor der Ergänzung.
2. Während alle früheren Tlieile Rubriken haben, ist
P. 49 und 50 ohne eine solche, ein unerklärbares Verfahren,
wenn die Abfassung eine einheitliche war.
3. Auf den ersten Blick zeigt sich, dass in P. 49 und 50
alles mögliche Material bunt zusammengestellt ist, welches
unter eine Anzahl von Rubriken fällt.
4. Der Ergänzen hat eine Sammlung so mechanisch be
nutzt, dass er aus ihr eine Decretale citirt, als stände sie in
der seinigeu. Es heisst nämlich P. XLIX. c. 12: ,Idem Ebora-
censi archiepiscopo. Pars capituli: In eminenti, De appella-
tionibus.' Nun kommt aber in diesem Titel keine Decretale
mit diesem Anfänge vor, wohl aber in der Collectio Lipsiensis 2
a) dass die auf die Appendix in der ersten Gestalt sich stützenden
Sammlungen sie nicht haben. Dies Argument hat schon Richter in der
unten anzufiihrenden Abhandlung, b) Dass — und dieser Grund ist noch
durchschlagender — es geradezu unbegreiflich wäre, wenn der Ergänzer der
P. 45—50 die eine Decretale dorthin in die frühere Sammlung eingereiht
hätte, wohin sie dem Inhalte nach gehörte, die anderen hingegen in das
Sammelsurium der P. 50, beziehentlich in die evident zugefügten P. 48
und 49. Mit Recht zählt Richter auch zu den Interpolationen XXII. 3
(aus einem Concil von Toledo) und VIII. 3 (aus c. 6. Novella 134).
1 Diesen Grund hebt soweit Richter und zwar zuerst hervor; desgleichen
den 2., 3. und 5.
Wie sofort ein derartiger Vorgang wirkte, beweist die ganz analoge
Ergänzung der Sammlungen von Gilbert und Alauus. Meine Abli.
Die Compilationen Gilberts und Alanus, Wien 1870 (Sitz.-Ber. LXV. 59511).
2 Soweit hat dies zuerst Richter geltend gemacht. Er hat aber dadurch,
dass er das Folgende nicht hat, das Argument nur halb gegeben.
Sitzb. d. pliil.-Mst. CI. LXXII. Bd. II. Hft. 32
490
Schulte.
(P. XLVII. 40). Die Methode aber, sicli aut' den früheren Titel
zu beziehen, ist aus dem ersten Theile beibehalten worden. 1
5. Die evidentermassen aus der Appendix schöpfende
Collectio Lipsiensis, welche vervollständigt, hat die nach Lu
cius III. fallenden Decretalen nicht.
6. Die Quellen für P. II. bis 44 sind auch dadurch von
denen der späteren verschieden, dass entweder für die letzteren
eine bisher nicht genau bekannte Sammlung oder die Regesten
benutzt wurden. 2
Die Abfassung der Appendix fällt unzweifelhaft unter
Lucius III. 3 (1181 -1185), die Ergänzung fällt wohl in den
Anfang der Regierung Clemens’ III. 4
1 So heisst os ■/.. B. in X. 17: ,Idem Exonicnsi episcopo. Pars capituli:
Signifieasti: supra de potestate iudicum.“ In dem citirten Titel
P. VII. steht die Decretale Signifieasti als cap. 11. Die Rubrik
XII. 0. lautet: ,Idem Bnrdegalensi episcopo. Pars capituli: Consuluit,
supra de sponsalibus. 4 Diese Decretale ist c. 30. P. VI de spon-
salibns. Das c. 13. P. XLIX. App. enthält den Anfang der Decretale
In emiuenti. — Vergl. noch XXVII. 5.
2 In P. 50 werden die Regesten ausdrücklich citirt in den Cap. 2, 3. 5—12,
11—16, 19—24, 26—31, 50. Ob vielleicht der von Richter pag. 17.
N. 26 erwähnte Pariser Codex eine solche enthält, vermag ich nicht zu
sagen.
5 Die organische Einreihung einzelner Decretalen desselben in den älteren
Theil und deren Wiedergabe in den auf der Appendix in der alten Ge
stalt basirenden Collectiones Lipsiensis und Bambergensis beweist dies.
Da alle von Lu eins III. aufgenommenen Decretalen der P. 45—50 sich
nicht näher der Zeit nach bestimmen lassen (Jaffe hjt wenigstens für
keine eine bestimmte Angabe), so ist die Zeit der Abfassung nicht ge
nauer festzus tollen.
4 Die iu L. 67 stehende Decretale ist vom 23. März 1188 (Jaffe, Regesta
Pont. num. 1005S), die in XV. 26 bestimmt Jaffe nnm. 10227 als zwischen
1187 und 1191 fallend. Es wäre aber sonderbar, wenn der Ergänzcr
von den zahlreichen für das Recht wichtigen Decretalen Clemens’ III.
nur diese zwei aufgenommon hätte, falls die Ergänzung nicht in der
ersten Zeit der Regierung Clemens' III. stattgefunden hat.
491
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
Collectio Lipsiensis. 1
Sie umfasst in der nicht ganz vollständigen 2 Leipziger
Handschrift, nach der sic Richter benannt hat, 632 Capitel
in 65 Titel zerlegt. 3 Voran stehen 28 Canones des 3. Latera-
nensischen Concils, auf sie folgt die Sammlung, welche enthält
D'ecretalen von Päpsten vor Alexander III., 4 von Lucius III. 5
1 Nur handschriftlich in Codex 975 der Leipziger Universitätsbibliothek
auf fol. 116 a—153 b von einer Hand des XIII. Jahrh., den ich selbst
durch längere Zeit in meiner Wohnung benutzt habe; einzelne andere
Stücke desselben habe ich in meiner Lit.-Gesch. d. Comp. ant. Seite 3
angeführt.
Die erste und bisher auf die eigene Einsicht der Handschrift ge
stützte einzige Beschreibung in Richter, De inedita deeretalium col-
lectione Lipsiensi (Habilitationsschr. als Extraord.), Lips. 1836.
2 Richter 1. c p. 3, 11 N. 14 hebt hervor, dass nach einem Vermerke
am Rande nebst dem letzten Theile von T. 21 ausfielen die T. XXXII.
und XXXIII. der Coli. Cassellana, also c. 4. 5. T. XXXI. und die zwei
Capitel von T. 32, elf von T. 33 der Coli. Cass., also zusammen 15 Cap.
Weiter hebt Richter hervor p. 12, dass die in Coli. Cassell. T. XXXIX.
c. 2. und XXXVI. stehenden Rubriken nach einer Randbemerkung aus
gefallen sind. Die Ergänzung der Lücken ist aber unterblieben.
3 Da aber Richter die 10 Canones Conc. Pictav. a. 1073 nur als ein Ca
pitel (p. 4, num. 9), ferner die ausgebliebenen Titel und Capitel nicht
mitzählt, so würde dieselbe — vorausgesetzt, dass die Rand
bemerkung, von der die vorhergehende Anmerkung spricht, sich nicht
anstatt auf eine andere Handschrift auf die Coli. Cassellana oder
Bamberg^nsis stützt, — eigentlich 656 oder gar 666 Capitel mit 67 Ti
teln haben Ich halte mich aber an die bei Richter 1. c. angenommenen
Zahlen.
4 Diese hat schon Richter angegeben p. 4; ich habe leider die einzelnen,
den betr. Päpsten angehörigen nicht notirt.
3 Dieser ist der einzige Papst nach Alexander III., von dem sie nach den
Inscriptionen Decretalen enthält. Ihm gehört auch an LVTII 11. (Bamb.
L1V. 5, Cass. LXIV. 4) Consultationi tuae qua nos consnluisti (c. 4. X.
de frig. IV. 15; Richter hat dazu in seiner Ausgabe des Corp. iur. die
Coli. Lips. u. Cass. nicht cifcirt, was auch sonst öfter unterblieben ist),
was auch in c. 2. de frig. IV. 9. Compil. II. richtig Lucius boigelegt
wird und bei Baluze, Miscell. III. 376, steht. Das Capitel LVIIII. 44
wird in ihr und ebenso in der Coli. Bamb. XLIX. 28, Cass. LIX. 29
Innocenz III., von Bernhard in c. 10. IV. I. Comp. I. richtig Iuno-
cenz II. beigelegt, wie schon Richter p. IV. bemerkt. Da aber auch
die App. V. 31 nicht Innoc. HI., sondern blos Iunoc. hat, da die blosse
32*
492
Schulte.
ausserdem eine Anzahl von Stullen aus allerlei Concilien, zu
sammen 106. 1 An 500 Capitol kommen Alexander III. zu.
Die einzelnen Titel haben eine Rubrik, welche bei man
chen denen der Appendix nicht entspricht, vielfach ausführ
licher und augenscheinlich aus der einen oder anderen jener
Rubriken ergänzt ist, welche die Appendix in dem vorauf
gehenden Inhaltsverzeichnisse hat. 2 Die meisten Capitol stim
men mit denen der Appendix; gleich dieser hat sie verschie
dene Decretalen in mehrere Theile zerrissen, und zeigt dies
auf gleiche Weise wie die Appendix an. Einzelne Capitel
sind in ihr verkürzt, welche in der Appendix vollständig
stehen, 3 umgekehrt hat sie mehrere ganz, welche in der
Appendix abgekürzt sind. 4 Einzelne Decretalen citirt sie nach
den Regesten; 5 fünfundzwanzig Decretalen verschiedener
Aufnahme ins Breviar. Extravag. beweist, dass es nicht von Innocenz III.
herrühren kann, so ist die Sache ausser Zweifel. Einzelne Capitel, welche
nicht in der Comp. I. stehen, tragen in der Comp. II. den Namen Ur
bans III., Gregors VIEL, und Clemens’ III. Richter hebt schon hervor
Lips. VII. 14 (c. 11. Y. 18. Comp. II.; c. 22. X. V. 39, dort ist’s Cö
lestin III., hier Clemens III. beigelegt), XXXI. 3 (c. un. I. 19. Comp. I.,
c. 3. X. I. 40 Clemens III. zugeschrieben). Diese beiden fehlen in
. der Coli. Bamb. und Cassel. Das in der Comp. II. (c. 1. IV. 8)
Urban III. zugeschriebene wird in App., Lips., Cass., Bamb. gleiclimässig
Alex. III. zugeschrieben. Da aber Bernhard (c. 4. IV. 19) den ersten
Theil davon bereits hat, erledigt sich die Sache von selbst. Das c. 1.
T. LV. Coli. Lips., welches in c. 3. IV. 2. Comp. n. Clemens III. bei
gelegt wird, schreiben die Qoll. Bamb. XLV. 1. und Cass. LIV. 1. eben
falls Alexander III. zu, da sie Idem lesen, der Name Alex. III. aber
im vorhergehenden steht.
1 Die einzelnen Synoden zählt auf Richter p. 6. N. 13.
2 Weil die Coli. Cassellana fast genau dieselben Titelrubriken wie die
Lipsiensis hat, und die Capitelrubriken, welche in der Appendix in einem
Verzeichnisse voraufgehen, den einzelnen Capiteln vorsetzt, hierdurch
jedem die Vergleichung ermöglicht ist, gehe ich darauf nicht näher ein.
2 Angeführt von Richter p. 20. N. 32. Dazu kommt noch L. XLV. 2,
App. VIH. 7, Bamb. XXXV. 7, Cass. XLV. 8, L. XXXV. 23, C. XLII.
24, B. XXXn. 23, A. XLVI. 4.
4 Angegeben von Richter N. 33. Dazu kommt App. X. 2, welche die in
Lips. XLVII. 26, Bamb. XLI. 23, Cassel. LI. 25 ganz stehende ab
gekürzt hat.
5 Richter p 17 führt sie an: I. 12, XXXI. 16, LIX. 11. Diese drei
fehlen in Bamb.
Beitrag zur Geschickte des canonisehen Rechtes.
493
Päpste 1 stehen weder in der Casselana, noch in der Appendix.
Die übrigen Capitel können aus der Coli. Anselmo dedicata,
Burchard und Gratian genommen sein. 2
Als wesentlich stellt sich bei dieser Sammlung die grössere
Zahl der Titel heraus, welche zu einer besseren Sichtung des
Materiales geführt hat; in den einzelnen Titeln ist hingegen
eine grössere Ordnung - nicht zu bemerken.
§• 4.
Collectio Casselana. 3
Benannt ist sie gleich der Lipsiensis nach dem Fundorte
der Handschrift, welche selbst nur die Ueberschrift hat: ,De-
eretales Alexandri III. in concilio Lateranensi III. generali
anno MCLXXIX. celebrato editae‘, mithin von dem ersten
Stücke den Titel hernimmt. Sie zerfällt in 65 Titel, deren
12 erste in 40 Capiteln die Schlüsse des genannten Concils
enthalten, somit, soweit bekannt, zuerst diese nach dem Inhalte
ordnen. Die 53 übrigen enthalten 439 Capitel, welche mit
Ausnahme von 23 sämmtlich in der Coli. Lipsiensis enthalten
1 Genau mit der Inscription und dem Anfänge angegeben bei Richter
p. 17. N. 27. Von diesen steht die von Lucius III. Dil. in Christo filiae
XI. 22. Lips. auch in Bamb. LIV. 5, die übrigfen fehlen in ihr. Bei
keinem dieser Capitel werden die Regesten citirt, so dass die Vermuthung
Richters, sie könnten daraus entnommen sein, keine Basis hat. Wie
viele Decretalen Alexanders III. schon früh verbreitet waren, ist aus
Simon de Bisiniano ersichtlich.
2 Das von Richter N. 28 aus der Ans. dedicata, das das. N. 29 ange
führte aus Burchard (XVI. 15), aus XXXI. 12 (c. 5. D. LXVI.) in N. 30
angeführte Capitel fehlt in Bamb.
3 Handschriftlich im Codex der Casseler Landesbibliothek Ms. jur. in
folio Nr. 15, mbr. saec. XIII. (auf sie folgen 2 Blätter Vitae pontificum,
der Lib. VI. saec. XIV. u. Clem. V. Const. s. XIV., was ich in dem
Cataloge ergänzt habe).
Abdruck daraus in J. H. Böhmer, Corpus iuris canonici, T. II.
col. 185—340.
Ueber sie handeln J. II. Böhmer 1. c. pag. XXIII. sqq., Th ein er
1. c, pag. 6 sqq., Richter 1. c. pag. 19 sqq. Böhmers Ansichten sind
bereits in manchen Punkten von diesen beiden corrigirt worden. Eine
äussere Vergleichung mit der Appendix gibt Theiner.
494
Schulte.
sind. 1 Von diesen gehören sechs Urban III., zwei Lucius III.,
die übrigen Alexander III. an. 2 Was die Titel betrifft, so
fehlen von denen der Coli. Lipsiensis Nr. 9, 10, 20, 27, 28,
29, 30, 33, 34, 38, 42, 44, 48, 49, 50, 53, 54, wogegen sie
von den vier in jener ausgelassenen drei hat und den letzten
,de matrimonio servorum' allein. 3 Hinsichtlich der Folge der
Titel und Capitel stimmt sie mit ihr, abgesehen von der Aus
lassung vieler Capitel. 1 Was von dem Zen - eissen der Decretalen,
ihrem Citiren u. s. w. gesagt ist, kommt natürlich gleichfalls in
Betracht.
§• 5.
Collectio Bambergensis. 5
Sie hat gleich den drei vorhergehenden zwei verschiedene
Theile: die Lateranensischen Schlüsse und verschiedenes anderes
1 Zwar zählt Richter N. 34 fünfundzwanzig auf, nämlich auch XLV. 8,
LI. 2, aber das erstere steht in Lips. XLV. 2., das zweite ist ein Stück
aus der Decretale, welche Lips. XLVII. 26, Bamb. XLI. 23, C. LI. 25
ganz steht; die App. X. 2 hat nur dies Stück, das also doppelt in Cass.
vorkommt. Das Citat daselbst C. XLVII. 4 muss lauten LVII. 4. Alle
diese 24 fehlen auch in der Bambergensis.
2 Von denen Lucius’ III. hat die App. vier im P. XLVI1I. u. L. Eins von
Lucius steht ebenfalls darin, von den Alexander angehörigen stehen 12
in App. L. Sechs stehen also in keiner dieser drei Sammlungen.
3 Sie hat auch nicht den T. de voto redimendo. Wie die Handschriften
vorliegen, hat sie also vier, welche der Lips. abgehen, zwölf weniger,
nimmt man mit Richter auf Grund der Randnotiz des Leipziger Codex
an, die Lips. hätte die drei ersten und den de voto red. gehabt, so würde
die Lips. 69, die Cassellana — da 1 —12 nicht in Betracht kommen —
53 haben, also 16 weniger.
4 Hält man sich an die Handschriften, so hat sie (die Lips. hat 632, die
Cass. 539, von denen aber 23 nicht in jener stehen) 116 Capitel der Lips.
nicht. Nimmt man aber die andere Berechnung in Note 3 auf S. 491 des
vorhergehenden Paragraphen an, so hätte sie von den 666 der Lips. nicht
149. Die Zahl der Appendix übersteigt sie um zwei Nummern.
5 Von dieser habe ich zuerst eine.ausführlichere Notiz gegeben in meinem
2. Beitr. S. 46 ff. Sie ist enthalten fol. 1—47 a, erste Spalte, 12. Zeile
sehr schön geschrieben von einer Hand des beginnenden XIII. Jahrhun
derts im Cod. P. I. 11. der Bamberger Bibliothek, weshalb ich ihr
nacli dem Vorgänge bezüglich der beiden vorhergehenden den obigen Na
men gebe, Ihre bisherige absolute Unbekanntheit nebst anderem recht
fertigt ein genaues Eingehen.
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
495
Material, unterscheidet sicli aber zunächst durch die äussere
Ordnung wesentlich von ihnen. Denn während jene die Latera-
nensischen Schlüsse im Anfänge haben, folgen diese in ihr unter
der Aufschrift ,Conciliiun Lateranense' nach der Sammlung,
welche zuerst zu beschreiben ist.
Sie hat 54 Titel, deren Rubriken zum grössten Theile
mit denen der Coli. Lips. und Cassel. Zusammentreffen; einige
davon hat keine jener beiden. 1 Diese 54 Titel haben ausser
1 Im Einzelnen verhält es sich also. Die Titel der Bambergensis ent
sprechen denen der Lips. u. Cass. in folgender Weise, wobei in Klam
mern alle Abweichungen angegeben werden.
B. 1. L. 1. C. 13 [Text abweichend]; B. 2. L. 2 [ea offenbar falsch
gelesen für ecclesia] C. 14; B. 3 [ne cl .... neve clerici vel laici. .]
L. 4. C. 16 [abweichend]; B. 4. L. 5. C. 17; B. 5. L. 6. C. 18 [etwas
abweichend]; B. 6. L. 7. C. 19 [B. u. C. propter absolutionem, L. pro
abs.]; B. 7 [Raptoribus et violatoribus ecclesiarum quandoque etiam post
poenitentiam negandam sepulturam ecclesiasticam nisi satis dent de dampno
sarciendo.] L. 8 [corrupt] C. 20; B. 8. L. 9; B. 9 [de penitentia . .] L. 10;
B. 10. L. 11. C. 21; B. 11. L. 12. C. 22 [lässt et arch. c. s. e. aus];
B* 12 [hospitalariorum, die beiden anderen falsch hospitalium] L. 13.
C. 23; B. 13 [neve m. s. 1. a. promoveatur 1 richtig] L. 14. C. 24 wie
B.; B. 14 [de ord. et specialitate quorundam regularium] L. 15. C. 25
[d. o. et spiritualitate quor. r.]; B. 15 [et in prob, positis] L. 16. C. 26
[in prob. rec. vol.]; B. 17. 18. 19. L. 17. 18. 19. C. 28. 29. 30; B. 20.
23. 24. 27. L. 21. 22. 23. 24. C. 31. 34. 35. 37; B. 28 [d. v. q. festi-
vatione toll.] L. 25 [superstitione] C. 38 wie B.; B. 29 [Contra
quorundam haeresim] L. 26 [de errore quodam tollendo] C. 39 wie
B. ; B. 30. 31. 32. 33. L. 31. 32. 35. 36. C. 40-43; B. 34. L. 37. C. 44
[L. u. C. setzen zu ,et iureiurando purgationis 4 ]; B. 35. 36 [partium] 37.38.
39. 40. 41. 42. L. 39. 40. 41. 43. 45. 46. 47. 51. C. 45—52; B. 43. L. 52.
C. 53 [die beiden letzteren setzen zu ,et ecclesiis clericis concessis a lai-
cis‘]; B. 44 [,rubrica depositi 4 ] L. 53; B. 45 [bis fiant] L. 55. C. [blos
de iudeis]; B. 46 [blos ,de preeminentia 4 ] L. 56. C. 55; B. 47 [de dis-
cordia Turon. ecclesiae cum Toi.] L. 57. C. 56 [de cont. T. eccl. c.
D. ]; B. 48 [de matrimonio et de sponsis etc.] L. 58. C. 57; B. 49. 50.
L. 59. 60. C. 58. 59; B. 51 [,Rubr. de eoniugatis leprosis 4 ] L. 61. C. 60;
B. 52. 53 [aliis f. habentibus] 54. L. 62. 64 65. C, 61. 63. 64.
Es fehlt also in B. Tit. 3. 20. 27 -30. 33. 34. 38. 42. 44. 48—50.
54. 63 der Coli. Lips. Auch hat B. mit Ausschluss von c. 4—7 aus
Lips. LXI1I. kein Capitel, welches unter diese Titel fiele. In Lips. fehlen
die Rubriken der Titel 16. 21. 22. 25. 26 der Bamb. Alle Capitel des
Tit. 16 fehlen ebenfalls in Lips. Tit. 21 u. 22. 25. 26. sind die nach
einem Vermerk in Lips. ausgebliebenen. Da aber von diesen 25 de voto
496
Scli ulte.
den Canones Lateranenses 420, 1 die meistens auch in der
Appendix oder den beiden anderen Sammlungen oder einer
von beiden Vorkommen. 2 Obwohl einzelne grobe Verstösse
auch in ihr Vorkommen, 3 ist sie im Ganzen hinsichtlich der
Inscriptionen sehr genau und gibt insbesondere mit Genauig
keit an, wenn eine Decretale ein Stück einer grösseren ist.
Die Lateranensischen 25 Canones haben eine total andere
Ordnung wie in der App., Lips. und Cass. 1
redimento auch in Cass. fehlt, kann leicht der Vermerk aus Hamb, ergänzt
sein. Vor dem vorletzten Capitel ist in U. ein leerer Raum für eine Ru
brik, die nach dem Inhalte ,de impotentia 1 lauten könnte.
Im Verhältniss zur Bamb. fehlen in Cass. die Rubriken der Bamb.
8. 9. 25. 44. In Bamb. fehlen die Rubriken der Cass. 15. 62. 65.
Bamb. und Cass. liahen gemeinsam die in Lips. fehlenden Rubriken
B. 21. 22. 26. C. 32. 33. 36; leider fehlen gemeinsam die Rubriken der
Lips. 20. 27—30. 33. 34. 38. 42. 44. 48—50. 54.
1 Von dem 421. steht nur die Uebersclirift ,Ignatius [Iginus] papa‘, welche
Lips. LXV. 4. mit dem Texte hat.
2 In der App. stehen nicht 31, welche L. und C. haben: 5 stehen blos
in L. (nämlich L. XIX. 10. XVI. 6, LXIII. 4, XI. 22, LXV. 4); 2 stehen
blos in C. (C. XVII. 5, XXIII. 11); eine (,Idem [i. e. Alex. III., was
vorhergeht] in registro regi Francoruin. Pervenit ad nos quod cum
iam pridem 1 ) steht in keiner jener drei Sammlungen; eine steht in A. u.
L., nicht in C. (A. V. 27); in A. u. C., nicht in L. stehen T. XX. 3. 4. 5,
I- XVI. 1—6, T. XXI. 1. 2, T. XXII. 1—10. Somit fehlen von den
421 Cap. in der Appendix: 39, in Lips.: 24, in Cass.: 7.
Von den 421 Capiteln gehören an: Päpsten vor Alexander III.:
Gelasius 1, das L. u. C. haben, Iginus 1 [in L., in B. nur Name], Leo
(in L. u. C.) 1, Leo III. 1 in A. L. C., Greg. VII. 2 (1 in A. L. C., 1 in
L. C.), Greg. I. 3 in allen 3, Joh. 1 in allen 3, Bened. 2 in allen 3,
Deusdedit 2 in L. u. C., Paschal II. 2 in A. L. C., 1 in L. u. C., Honor. II.
1 in A. L. C., Eugen III. 7 in A. L. C., Innocenz II. 1 in A. L. C.,
1 in L. u. C., Hadrian IV. 2 in A. L. C., 1 in L. C.; Concilien:
Magunt. 1 in A. L. C., Guarmer. 1 in allen drei, Tribur. 1 in L. u. C.,
Turon. 1163 3 in A. L. C., 1 mit Citat von Burchard in L. u. C., 1 aus
August, in A. L. C., 1 aus Isidor in L. u. C., der Rest Alexander III.
3 So hat sie auch gleich A. L. u. C. im c. 2. T. XL. ,A1. epc. Clemens
gloriosus martir in libro stemat. 1 (Richter p. 14), hat auch
Innocentius III. gleich der L. u. C. in XLIX. 28 anstatt II, legt die
Decretale ,Continebatur . . . De bis qui in sanitate 1 Alex. HI. anstatt
Lucius in. bei.
4 Siehe die synoptische Tabelle in meinem 2. Beitr. S. 48. Die can. quia
nonnulli und sicut ait b. Leo fehlen; als c. 26 steht ein cap. ,Ani-
malia quae a lupis 1 (Burch. XIX. 85).
Beitrag zur Geschichte des canonisclien Rechts.
497
§• 6*
Verhältnis« (1er Collectiones (Appendix, Lipsiensis, Casse-
lana, Bambergensis) zu einander.
Das Verhältniss dieser vier Sammlungen zu einander ist
nicht leicht zu bestimmen. Böhmer, welcher nur die Appen
dix und Casselana kennt, hält die Casselana für die ältere,
lässt sie nach 1187 gemacht sein, weil sie Decretalen von
Urban III. enthält, und nimmt als deren Verfasser Gilbertus
an. Theiner, der gleichfalls nur die Appendix und Casselana
kannte, nimmt an, letztere ,habe jene als Quelle benutzt und
in eine bessere Form gebracht; wolle man also nicht annehmen,
die Casselana sei jünger, so müsste man behaupten, der Ver
fasser der Appendix habe eine ziemlich gut geordnete Samm
lung auf erbärmliche und frevelhafte Art zerrissen, verstümmelt
und in Verwirrung gebracht, was unwahrscheinlich sei; die
Decretalen Gregors VIII. und Clemens’ III. könnten durch
Interpolation in die Appendix gekommen sein/ Er weist dann
die gänzlich unbegründete Meinung von Antonius Augusti
nus, J wonach die Appendix Alanus oder Gilbert angehört,
und die eben angeführte Böhmers über Gilberts Autorschaft
bezüglich der Casselana zurück und kommt zu der Annahme:
der Verfasser der Appendix sei ein bei der römischen Curie
beschäftigter Engländer gewesen; ebenso meint er, der Verfasser
der Casselana dürfte Engländer oder Normanne sein. 2 Richter
hält aus gleichem Grunde wie Theiner die Appendix für älter
äls die Lipsiensis, nimmt für diese die erste Redaction der
Appendix, daneben die Regesten Alexanders III. oder eine
1 Dieser sagt in den Notae ad Lib. I. Tit. II. c. 1. de rescr. der Comp. I.:
Sennonensi Arch. Epo. unus Tarr. non recte. Confirmantur edita tum
Gregorianis libris, tum ea collectione, rpiae posita est post Concilium
Lateranense Alexandri III., quam Alani vel Gileberti esse suspica-
mur, nam parte 10. cap. 11. hoc idem ibi invenies.’
2 Seine Gründe sind 1. c. p. 11 hinsichtlich der Appendix: die meisten
Decretalen sind an englische Bischöfe gerichtet, der Titel P. 44 ,De prae-
eminentia londoniensis et eboracensis ecclesiae*; hinsichtlich der Cass.:
die Aufnahme dieser Rubrik und einer neuen ,de controversia turonensis
eccl. cum dolensi* [aber diese beiden Kirchen gehörten nicht zur Nor
mandie], die meisten beziehen sich auf England. Damals seien viele
Engländer in Italien und speciell in Rom gewesen.
498
Schulte.
andere Sammlung als Quelle an und liebt hervor, dass die
Coli. Anselmo dedicata, Burchard und Gratian benutzt seien.
Der Verfasser scheine ein Franzose gewesen zu sein; 1 die Ab
fassung selbst setzt er in die Regierungszeit Lucius’ III.- Die
Coli. Casselana hält er für einen Auszug aus der Lipsiensis
(,epitomen Lipsiensis esse recte dixeris'), 3 welcher, da die in
der Lipsiensis nicht enthaltenen Zusätze fast sämmtlich aus
dem zweiten Theile der Appendix und besonders der letzten
Pars geflossen seien, 1 erst unter Gregor VIII. gemacht sein
könne.
Zunächst ist nun der Umstand, ob P. 45—50 der Appen
dix benutzt sind, soweit Deeretalen Alexanders III. oder frühere
Stücke und Deeretalen Lucius’ III. in Betracht kommen, ab
solut unfähig, einen Beweisgrund abzugeben, weil auch die
Lipsiensis dieselben benutzt hat. 5 Man kann aber schwerlich
1 Gründe p. 13: Die grosse Zahl gallischer canones, der Titel ,de contro-
versia Turonensis cum Dollensi 4 , die Veränderung in c. 12. T. VII., das
in A. an den englischen Clerus gerichtet ist, hier aber an den .per Gal-
liam' inscribirt wird.
2 Gründe: der Mangel von Deeretalen nach Lucius III., die Beifügung von
Parallelstellen am Rande, in denen wohl Gratian, aber nicht Bernhard
citirt werde. Dies Argument spräche höchstens dafür, dass der Leipziger
Codex, was aber nicht .zutrifft, in die neunziger Jahre des Xll Jahrli.
falle, bezw. derselbe die Abschrift eines solchen enthalte. Es beweist
aber überhaupt nicht, weil sich ganz gut annehmen lässt, dass ein Be
sitzer, der die Noten schrieb, wohl das Decret, aber nicht Bernhards
Sammlung besass.
Wie das Original der Lips. beschaffen war, wissen wir nicht; wir
sind berechtigt, aus dem was vorliegt zu argumentiren.
3 Weil die Cass. sich an die Lips. halte, fast nichts verändere.
1 Als Hauptbeweis wird p. 21. N. 38 angeführt, dass c. 10. T. XXI. (XXVII.
-ist Druckfehler) habe ,Idem in eodem‘ (ex ist Druckfehler), was wohl in
A. L. 27 passe, weil das vorhergehende Capitel, das die Cass. nicht habe,
das registrum citire.
5 Nicht weniger als sechs zehn Capitel, welche in der Lips., Cass. und
Bamb. stehen, finden sich in den fünf letzten Partes der Appendix, näm
lich: von Lucius III. 1) de his qui in sanitate L. XXIII. 24, C. XXXVI. 1,
B. XXVI. 1 in App. XLIX. 6. 2) Requis. a nobis tua frat. L. LIX. 48,
C. LVIII. 32, B. XLIX. 31 in App. XLV. 0. Von Alexander IIT.:
1) Cum Christus sit perfectus Deus L. XXVI. 1, C. XXIX. 1, 15. XXIX. 1
in App. XLIX. 20. Diese steht schon im Codex Innsbr. ,dat.
Veste XII. Kal. Mar. 1 [vom 18. Febr. 1177. Jaffe num. 84(37]. 2) Quon.
Beitrag zur Geschichte des canouischen Rechtes.
499
behaupten, die Appendix habe diese Decretalen aus der Lip-
siensis entnommen, erstens weil sie in dieser keineswegs alle
genau so vorfand, 1 zweitens weil es unbegreiflich wäre, wenn
sie gerade diese wenigen Stücke in der Lipsiensis und nicht
dort gesucht hätte, wo sie die Masse vorfand, drittens weil sie
dann wohl auch die in der Lipsiensis allein stehenden herüber
genommen haben würde. Was die drei anderen Stücke betrifft,
so wird wohl Jeder zugeben, dass sie dafür näher liegende
Quellen hatte. Ausser Zweifel steht ferner, dass die Lips.,
Cass. und Bamb. in der engsten Verbindung mit einander
stehen, da im Grossen die Uebereinstimmung eine vollständige
ist und ohne gegenseitige Benutzung gar nicht erklärt werden
kann. Um dies Verhältniss zu erkennen, muss man den von
Allen hervorgehobenen Umstand beachten, dass, je grösser die
systematische und sonstige Ordnung ist, desto jünger die Samm
lung ist, indem sich gar nicht annehmen lässt, Jemand habe
eine geordnete Sammlung zerrissen und dadurch das Aufiinden
erleichtern wollen; es ist gleichfalls eine durch die Geschichte
aller vorhergehenden und nachfolgenden Sammlungen bestätigte
Thatsache, dass jeder Sammler vorzugsweise das seiner Zeit
nächstliegende Material berücksichtigt und, wofern er nicht zu
ganz concreten Zwecken sammelt, auf Ergänzung der Lücken
seiner Vorgänger bedacht ist. Endlich finden wir, dass, je
abbas L. XXXV. ‘23, C. XL1I. 24, B. XXXII. 23 in A. XLVI. 4. 3) Con-
suluit nos v. (1. L. XLVII. 25, C. LI. 23, 15. XLI. 22 in A. L. 54.
4) Praet. qui ad ap. sed. L. XLVII. 32, C. LI. 30, B. XLI. 30 in A.
L. 53. 5) In eminenti specula L. XLVII. 40, C. LI. 37, B. XLI. 35 in
A. XLIX. 12. 6) Magnif. tuae L. LII. 29, C. LIII. 22, B. XLIII. 22 in
A. L. 32. 7) Gravis illa et odibilis L. LIII. 1, C. LIII. 25, B. XL1V. 1
in A. L. 35. 8) Cons. nos t. f. an sit L. LV. 5, C. LIV. 5, B. XLV. 5
in A. L. 30. 9) A memoria non exeedit L. LVI. 3, C. LV. 3, B. XLVI. 3
in A. L. 37. 10) Cons. n. t. d. q. f. s. in L. L1X. 50, C. LV1II. 34,
B. XLIX. 33 in A. XLV. 4, 11) Tua trat. n. c. in L. LIX. 52, C. LVI1I.
37, B. XLIX. 35 in A. L. 41. 12) In arcli. tno dicitur L. LX. 10, C.
LIX. 9, B. L. 9 in A. L. 48. Die Stelle Si sac. sciat (August.) in L.
XXXII. 8, C. XLI. 6, B. XXXI. 0 steht in A. L. 55; die ex cone. apud
Guarmeriam in L. LXV. 3, C. LXIV. 3, B. LIV. 3 stellt in A. L. 40.
1 App. XIX. 0 hat richtig Lucius III., die anderen Alexander III. (vorher
gehende Note), c. 4. App. XLVI. 4 ist in Lips., Cass. und Bamb. ver
stümmelt.
500
Schulte.
älter eine Sammlung ist, desto genauer die Anführung der
Quelle ist. Halten wir uns diese Gründe gegenwärtig, so ist
das Resultat nicht schwierig.
Yon den vier Sammlungen ist die älteste und die
Quelle der anderen die Appendix in ihrer ersten nicht mit
Interpolationen und ohne P. 45—50 versehenen Gestalt. 1 Diese
enthielt ursprünglich nur Decretalen bis auf Alexander III., ohne
die Canon es Lateranenses. 2 Aus dieser ersten Form ist, sicher
zur Zeit Lucius’ HI. (1181—1185), die Bambergensis ge
macht worden, 3 deren Neues darin besteht, dass sie die Capitel
nach Titeln besser sonderte, die Titel vermehrte, einige De
cretalen Alexanders III. aus anderweitigen Quellen beifügte,
neuere Decretalen und zwar sechs von Lucius III., einzelne
Stücke anderer Art aufnahm. 1 Die Bambergensis ist bald von
1 Gründe: die primitive Gestalt derselben, welelie sieb in der geringsten
Zahl von Titeln, in dem dem Decrete angepassten Verfahren zeigt, zu
dem einzelnen Capitel auch eine Inhaltsangabe zu machen; das Setzen
von Capiteln unter denselben Titel, welche nicht dahin passen; die gänz
lich planlose Anordnung der Titel.
2 Der Grund liegt in dem §. 2 Gesagten; sollte dies nicht richtig sein, so
fällt natürlich die Behauptung.
3 Keineswegs ist aber die Aufnahme eine rein mechanische gewesen, viel
mehr ist gewiss einzelne Malen auf andere Sammlungen zuriiekgegangen
und überhaupt selbstständig verfahren worden, wie folgende Beispiele
zeigen. A. hat in c. 5. T. II. die Ueberschrift ,Item in coneilio Turo-
nensi de eadem re‘, anfangend: ,Cum autem collectas denariorum b. Petri. 1
B. hat richtig: ,Idem Alex. Ea quae de eadem re‘ und den ganzen
Brief, aus dem A. blos ein Stück ist; aus B. hat es C. (Böhmer notirt
fälschlich, die App. habe das Stück nicht) u. L. — [A. XIII. 8. inscri-
birt Idem (vorher geht Alex.) Ad aud. n. noveris etc., B. XXIV. 9.
Adrianus, C. u. L. haben wieder wie A.] — B. XLIII. c. ult. hat
(während A. c. 33. P. L. per Galliam hat) ,per Angliam 1 ; C. c. 23.
T. LIII. hat wieder ,per Galliam 1 . Wie richtig die Bamb. ist, zeigen
die Inscriptionen. B. III. 4 (A. II. 11) liest Conventrensi, B. XXIII. 4
(A. IV. 1) Consano (C. hat auch eine corrupte Lesart Constantio)
XXIII. 3 (A. IV. 4) Idem Exon. Wigö. episcopis. Andere sich aus
der Tabelle ergebende richtige Inscriptionen hat B. in den Capiteln,
welche App. hat als VI. 24, VIII. 1, XII. 8, XIII. 2—4, XIX. 6. 8. 10,
XXI. 13, XXVI. 1. 14. 21, XXXIX. 1.
4 Gründe: a) Dass die Bamb. aus der Appendix (— es bleibe zunächst da
hingestellt, ob unmittelbar oder mittelbar —) geschöpft hat, lehrt der
Augenschein, die Wiedergabe einzelner sonst unerklärbarer, in ihr und
Beitrag zur Geschichte des cauonisclien Rechtes.
501
einem Unbekannten erweitert worden zu derjenigen Sammlung,
welche die Lipsiensis genannt wird. Das Neue derselben
bestellt in der grösseren Zahl von Rubriken, in der Aufnahme
Lips. gleichmässig vorkommenden Irrthümer (oben Seite 491. N. 5). b) Die
übereinstimmende Capitelzahl. Die Ap]). hat ohne die Canones Lateran.
511 Capitel. P. 45—50 enthalten 113; zählt man diese nnd die 12 von
Lucius UL, 2 von Urban IH., 1 von Clem. III. aus P. II.—44, zusammen
128 ab von 510, so bleiben 392. Die Bamb. hat 521 Cap., von denen
39 in der App. fehlen; sie konnte also 382 aus ihr entnehmen, c) Die
Bamb. hat von den 12 Decretalen Lucius’ III., welche die App. in II.— L.
hat, nur 4, nämlich A. XXIII. 5. 6 [die erste ist vom 11. Dec. 1181.
Jaffe nr. 9427], XXVI. 22 [fällt zwischen 1181 u. 1184. Jaffe nr. 9576],
XL. 4. [30. Dee. 1181. Jaffe nr. 9431]. Es wäre sonderbar, wenn sie
die Appendix vor sich hatte, und wenn diese schon damals die Decretalen
Lucius’ III. umfasste, dass sie gerade vom letzten Papste nur diese vier
aufgenommen hätte, um so merkwürdiger, als sie eine von Lucius III.
hat (B. LIV. 4. Dil. liliae n. priorissa et conventus de Colonantia), welche
in der App. gar nicht steht, d) Das Fehlen der Decretalen von Päpsten
nach Lucius III., was sich anders gar nicht erklären Hesse, e) Ich kann
den Beweis liefern, dass um 1185 eine Sammlung existirte, w'elche
der Bamb. ähnlich war. In dem von mir edh'ten ,Ordo jud. des Cod.
Bamb. 1 Wien 1872, dessen Entstehung nicht nach 1185 fällt, werden
Extravaganten citirt, von denen die erste (das. p. 6) in keiner der vier
Sammlungen steht, wenigstens nicht mit dem Anfänge dilection. (ich
muss deshalb die N. 4 dort berichtigen), daher beigesetzt ist ,extr. Alex. 1 ,
die 2. pag. 9 ,extr. sicut Eomana* in Bamb. als XLI. 10 mit diesem
Anfänge, ebenso in A. L. C. steht. Eine 3. pag. 10 wird citirt: ,extrav.
de matrimonio contrahendo vel iam contracto Exoniensi epis-
copo pervenit.“ Da diese Decretale in App. VIII. 23 nicht unter diesem
Titel, sondern unter dem de testibus cogendis, wohl aber in B. XLIX.
c. ult., in L. LIX. 57, C. LVIli. 39 unter diesem Titel steht, so kann
sie nur aus einer von diesen oder einer anderen mit ähnlicher Eintheilung
citirt sein. Die ohne den Namen des Papstes das. p. 13, 14, 16, 26, 27,
28, 38, 41 citirten Decretalen sind in Bamb. nach der Folge, wie sie der
Ordo citirt: XLII. 2, XXXVIII. 14, XXXII. 11, XXXVIII. 3. 5. 6. 1.
8. 7, XLIX. 17, XXXII. 3 (auch in den 3 anderen). Die mit dem Namen
des Papstes p. 19 u. 21 cit. stehen in Bamb. ebenfalls; die Decretale
Lucius’ UI. Strigon. Arch. c. Ad apost sedis steht in keiner der vier
Sammlungen, die Citate aus dem Conc. Later, setzen voraus, dass dessen
Canones in keine Sammlung eingereiht waren. Bewiesen ist durch diesen
Ordo: 1) dass es 1185 Sammlungen gab, in denen unseren vier geläufige
Titel Vorkommen, 2) dass dieselben einzelne Capitel an verschiedenen
Orten hatten, 3) dass neben ihnen noch andere Decretalen früherer und
späterer Päpste benutzt wurden. [Ich berichtige die Note auf p. 15, wo
502
Schulte.
von bisher übergangenen Decretalen Alexanders III. und Lu-
' eins’ III., sowie in der Zufügung von anderen Stücken. 1 Ihre
Entstehung fällt entweder in die letzte Zeit Lucius’ III. oder
durch einen lapsus calami gesagt ist: ,alle vier Sammlungen reihten die
Lateran. Scldiisse an 1 ; das thut nur die Bamhergensis; es sollte gesagt
werden: in allen vier Sammlungen bildeten die Canones eine besondere
Reihe. Das passt ja auch für die Cass., obwohl sie dieselben in 12 Titel
zerlegt.]. Andere Gründe: die Abkürzung von Decretalen, welche die
App. ganz bat u. dgl. m. sind bereits vorgekommen.
1 Ich stelle die Gründe für die Priorität der Bamhergensis gegenüber der
Lipsiensis nochmals kurz zusammen, a) Es ist unwahrscheinlich, dass
Jemand aus einer Sammlung von G32 Gapiteln (oder eigentlich 6G6) und
67 Titeln ein Exeerpt von 421 C. mit 54 T. gemacht und dabei gerade,
Decretalen Alexanders III. in Masse und Lucius’ III. ausgelassen, da
gegen alle die Decretalen älterer Päpste und Concilien aufgenommen
haben sollte, während es sehr wahrscheinlich ist, dass Jemand den ganzen
Stoff herübemahm und ergänzte, hj Die in der Lips. fehlenden 24 Ca
pitol kann die Bamb. aus dieser nicht genommen haben. So gut aber
nach dem Vermerke der Lips. 4 Rubriken ausgefallen sind, ebenso gut
können bei diesem Charakter der Handschrift — wir kennen keine andere,
halten uns also an diese — die Rubrik und Capitel von B. XVI. aus
gefallen sein. Dadurch reducirten sich die in L. fehlenden Capitel der
B. auf 3. Ob diese (in C. XVII. 5, XXXIII. 7, die eine, welche nur in
B. steht [oben S. 495. N. 1.]) zufällig oder absichtlich ausgelassen sind, be
darf keiner Untersuchung, c Die in L. stehenden, in li. fehlenden ge
hören mit Ausschluss eines Capitols, wie bereits gesagt wurde, unter
Rubriken, welche die B. gar nicht hat. d) Die verschiedene Stellung der
Capitel erklärt sich vollkommen daraus, dass L. mehr Rubriken hat und
deshalb die Capitel besser ordnet. So ist B. V. 7 (C. XVIII. 7) unter
den Titel Clericum sine auct. etc. gestellt, in L. aber als VII. 7 unter
die Excommunication, wohin es in der That besser passt. B. XIII. 6
steht in L. als XIX. 10 unter dem Titel ,Quibus et quando et intra quam
aetatem ecclesiae sint committendae 1 etc., wohin es besser passt, als unter
den Titel ,ne clericus vel monachus saecularibus negotiis se immisceat 1 .
B. XXXV. 7 (C. XLV. 8) de rep. spol. et novatione ist in L. XLV. 2 de testi-
bus cogendis mit Recht besser gesetzt worden, da es sich darum handelt, wo
der Laie zu belangen sei. Der Titel de foro competente fehlt nämlich in
allen. B. XLI. 30 de appellat. ist in L. VI. G (und C. XVIII. 6) unter
einen total anderen Titel gesetzt worden. Die Placirung der B. ist die
denkbar naivste. Es sei, sagt der Papst, der Abusus, dass, wenn er ein
Commissorium gegeben habe, der Betreffende, um sich ihm zu entziehen,
dolos einen Anderen in den Besitz des streitigen Beneficiums setze und
dann appellire. So gehört in der That das Capitel unter die Rubrik:
,clericum . . . non posse . . ecclesiam . . . in alium trän sf er re ad
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
503
seines Nachfolgers. Später, frühestens unter Urban III. oder
unter Gregor VIII., beziehungsweise Clemens III., ist die Bam-
berger Sammlung mit Zusätzen versehen worden, 1 welche nur
in Decretalcn Lucius’ III., Urbans III., Alexanders III. be
stehen, und sich zum Theil in P. 45—50 der Appendix befin
den, jedoch aus dem Grunde nicht aus dieser entnommen sind,
weil dann die Nichtaufnahme anderer unerklärlich bliebe.
Diese Sammlung liegt in der Casselana vor.
Das Verhältniss der Compilatio prima Bernhards von
Pavia zu der Appendix und Casselana ist schon von Theiner,
evitandam controversiam“, worunter L. u. C. sie haben. B. LIV. 4
ist offenbar nur angehängt, es handelt über simonist. Wahl, ist deshalb
richtig in L. c. 5. T. I. {ebenso in C. c. 5. T. XIII.). Sieht man von
diesen Capitcln ah, so lehrt der Augenschein, dass L. sich ganz an li.
hält, regelmässig seine neuen Capitel an die aus der B. aufgenom
menen anhängt. Da dieses durch fast alle Titel durchgeht, wäre bei An
nahme der Entstehung von B. aus L. unerklärlich, wie B. dazu gekom
men wäre, gerade die fehlenden Capitel fortzulassen So aber erklärt
sich Alles vollkommen.
1 Gründe: a) Cass. trifft mit B. im Allgemeinen so zusammen, dass die
eine nur aus der anderen entstanden sein kann, oder beide aus einer
dritten. Das über das Verhältniss von B, u. I.. Gesägte wird aber durch
die Besonderheiten von C. bestärkt. Dass nun B. und L. nicht aus C.
geschöpft haben, ergibt sich aus dem Vorkommen neuerer Decretalen in
C. h) 0. ist aus li, und nicht aus L : 1. weil C. hinsichtlich der Titel
gegenüber B., nicht aber gegenüber L. einen Fortschritt enthält; 2. zwei
der in L. fehlenden Capitel von B. stehen in C. (vorhergehende Note);
;i. C. hat die in 11. fehlenden Rubriken von L. fast sämmtlich auch nicht,
aber andererseits neue; 4) die nicht gute Stellung der Capitel von B.
(vorherg. Note) hat C. mit zwei Ausnahmen, die cs selbst machen konnte,
weil der Wortlaut der Rubrik in B. dies schon forderte; 5) C. gibt selbst
ständig dem c. 30. T. XLI. de appell. von B., welches L. XLVII. 33
unter demselben Titel de appell. hat, als c. 7. T. XVIII. die richtige
Stellung. Darin liegt auch der Beweis, dass es die andere Veränderung
nicht aus L. herzuholen brauchte, c) Die auffallende Uebereinstimmung
der Capitel. Die Cass. hat 439. Davon steht eins doppelt (oben §. 0,
Note 1 S. 14), bleibt 438. Zählt man dazu die 7 aus der Bamb. nicht
aufgenommenen ab, macht 435, und zieht die 23 neuen ab, so kommen
422, d. h. genau die Capitelzahl der Bambergensis heraus. — Manche
unbedeutendere Gründe sind früher vorgekommen.
Von den fehlenden Capiteln ist B. XLIX. 24. Lex diviuae die Palea
c. 2. C. XXVII. cj. 2.
504
Schulte.
Disquis. crit., pag. 81 sqq., durch eine von Druckfehlern ent
stellte synoptische Tabelle dargestellt worden. Die folgende
Tabelle zeigt das Verhältniss der Compilatio prima zu allen
vier. Indem ich die Bambergensis zuerst stelle, treten alle
früher geschilderten Momente in das richtige Licht.
Vergleichende Tabelle
der
Collectio
Bambergensis
Titel
Zahl
Appendix |
Conc. Lat. ■
Pars cap. j
Lipsiensis
Titel I Cap.
Casselana
Titel | Cap.
Breviarium
Bernhardt Pap.
Bucli | Tlt. Cap.
II.
III.
IV.
V.
II.
n.
XXVIII.
ii.
XXVIII.
4
13
14
15 |
5 j
10
II.
III.
IV.
V.
VI.
VII.
xin.
XIV.
xv.
XVI.
XVII.
XVIII.
XVII.
XVIII.
v.
iii.
i.
iii.
V.
II.
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
505
Collectio
Bambergensis
Titel
Zah
Appendix
Conc. Lat.
Pars cap
Lipsiensis
Titel Cap.
Casselana
Titel Cap.
Breviarium
Bernhardi Pap.
Buch I Tit. Cap.
VI. 1
I 8
! 4
5
6
7
8
9
10
11
1
VII.
VIII.
IX.
X.
3
1
o
3
4
5
6
7
an.
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
XIV.
XXXIV.
XVI.
XXV.
XXVI.
1
12
2
4
5
6
7
8
9
11
1.3
1
2
3
1
3
5
8
9
10
2
1
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
14
15
16
17
21
18
20
vin.
ix.
x.
XI.
XIX.
xx.
LXIV.
XXI.
1
3
6
7
9
10
11
12
13
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
5
1 ||
4 I!
5
8
9
10
11
13
14
15
16
17
18
22
23
24
25
26
28
V. i34 5
! 7
8
10
12
13
2
3
4
14
16
V. 14 5
15
II.
V.
Sitzl». d. pbü.-hist. CI- LXXII. Bd. II. Hft.
III.
V.
III.
IV.
I.
33
s
506
Schulte.
Collectio
Bambei'gensis
Titel I Zahl
XI.
XII.
XIII.
XIV.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
Appendix
Cone. Lat.
Para ’cap.
XXIV.
XLIV.
XXVII.
XXVI.
XXVII.
XXI.
XXIX.
XVI.
XVII.
IX.
XVII.
XXVI.
Lipsiensis II Casselana
jl
Titel Cap.‘ Titel j Cap.
1 !
8
4
XII.
XIII.
XIV.
XIX.
XV.
XVI.
XVII.
XVIII.
1
Breviariiun
Bernhardt Pap.
Puch j Tit. Cap
XXII.
XXIII.
XXIV,
XXV.
XXVI.
XXVII.
I XXVIII
o l|
“ I
3
4 I
5
6
7
8
9
1 XXIX.
2
3
1
III.
V.
III.
I.
III.
IV.
III.
II.
ir.
6
4
2
1
2
8
. 9
6 6
27 | 5
17 3
20 | 3
11 | 7
22 I 0
i 7
28
37
G
35 j
27 I
17
fei
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
507
Collectio
Bainbergensis
Titel [Zahl |
Appendix
Oonc. Lat.
Lipsiensis
Titel I Cap.
Cassela
■Titel I Cap.
Breviarium
Bernliardi Pap.
Buch | Tit.jCap.
XIX.
XX.
XXL
XXII.
XXIII.
XXIV.
3
4
5
6
7
8
9
10
1
2
3
4
1
XXV.
XXV.
XXIX.
XXX.
XXIX.
XXIX.
IV.
XIII.
19
1
I 2
4
2
1
2
3
4
5
2
2
1
2
3
4
. 5
| G
; 8
9
10
| _
2
3
4
1
| 1
2
IG
3
4
5
6
7
8
9
XIX.
XXI.
XXII.
XXIII.
XXXIII.
XXX.
XXXI.
XXXII.
XXXIII.
XXXIV.
XXXV.
III.
20
III.
26
26
33*
508
Schulte.
Collectio
Bambergensis
Titel (Zahl
Appendix
Conc. Lat.
Para
Lipsiensis
G'asselana
Breviarium
j Bernhard! Pap.
Titel jCap I Titel j Cap. Buch [Tit. j Cap.
XXV.
XXVI.
XXVII.
XXVIII.
XXIX.
XXX.
XXXI.
XXXII.
XXXIX.
XLIX.
XLIII.
XLIX.
XL.
XL.
XL IV.
XXXI.
XV.
L.
XLIII.
XXXI
VIT.
XXIV.
XXV.
XXVI.
XXXI.
XXXII.
XXXV.
11
1 12
| 13
U
15
| 16
17
18
2
1
2
3
4
XXXVII. J an.
XXXVIII. M .
XXXIX.
XL.
XXXIX.
XXXVI.
XLl.
XLII.
V.
I
III.
I.
III.
15
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
509
Collectio
Bambergensis
Titel
Zahl
Appendix
Clone. Lat.
Lire cap
Lipsiensis
Titel Cap.
Casselana
Titel j Cap.
Breviarinm
Bernhardt Pap
Huch j Tit. j Cap,
XXXIII.
XXXIV.
XXXV.
XXXVI,
XXXVII
XXXVIII.
8
9
10
11
12
13
14
15
16 |
17
18
19
20 ’i
21 :
22 |
23
1
o
1
2
3
4
5
6
1
2
3
4
5
6
7
1
2
3
1
2
1
2
3
4
XLII.
XLVI.
XXXVI
XXIII.
XXII.
VIII.
IIT.
XLI.
III.
VIII.
XXXVI.
XXXVII.
XXXIX.
XLV.
XL.
XLI.
XLIII.
XLIII.
XLIV.
XLV.
XLVI.
XLVII.
XLV) II.
I.
II.
I.
II.
II.
10
11
13
510
Schulte.
Colleetio
Bambergeusis
Appendix
Cone. Lat.
cap.
Lipsiensis
Titel ' Cap.
Casselana
Titel | Cap.
Breviarium
Be rnhardi Pap.
Buch | Tit, Cap
XII.
XXXIX.
XL.
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
1
2
3
4
1
2
3
4
5 |i
II
6 h
1 |
2
3 !
4
5 !
ej:
7
8
9
10
11
12
13
14
15 f
16
VU.
VIII.
XXXVIII.
X.
XLIX.
X.
8
9
10
12
13
14
15
i 17
! 18
19
22
1
7
20
16
1
5
7
6
3
XLV.
XLVI.
XL VII.
VI.
XLVII.
XLIX.
L.
LI.
XVIII.
LI.
II.
II.
I.
II.
I.
II.
14
18
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
511
Colleetio
Bambergeiisis
Titel Izahl
Appendix
Conc. Lat.
Clip.
Lipsieusis
j Cap.
Titel
Casselana
Titel ! Cap.
Hriiviarium
Bei nhardi Pap
Buch Tit.j Cap
XLII.
xliii.
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
1
2
3
4
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11 ij
12 j
13 j
14
L.
X.
vir.
x.
L
X.
XXV.
XLIX.
XVII.
XXXI.
XLIII.
XLI.
XLIV.
XLI.
XV.
19 i
20 |
21 j
23
24251
54
2
27
28
29
20
30
53
31
32
4
12
7
2.3
3
5
10
1
1
4
5
6
7
3
9
10
11
12
13
14
15
16
LI.
LII
17
20
21
22
23
25
2G
27
28
j 29
! 30
! 31
32
! 33
34
35
36
40
37
38
39
42
1
2
3
4
1
3
4
5
6
13
14
15
16
17
18
19
20
21
XXVIII.
LI.
XVIII.
LI.
LII.
LIII.
I.
III.
29
28
20
! 20
21
Beitrag zur Geschichte des canonischen Hechtes.
513
Colleetio
Barabergensis
Titel (Zahl
Appendix
Conc. Lat.
Pars
cap.i|
Lipsiensis
Titel .Cap.
LI.
LII.
XLV.
L.
VIII.
XII.
L.
XXXVII.
XXXII.
XXXIII.
13
14
15
16
18
20
17
22
1.23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
6
LX
LXI.
XXII.
LXIII.
Casselana
Titel [Cap.
LIX.
LX.
LXI.
LXII.
Breviarium
Bernliardi Pap.
Buch Tit. Cap
IV.
V.
IV.
4
1
4
1
16
1
2
17
2
19
1
2
1
17
6
1
4
1
19
20
-
514
Schulte.
Collectio | Appendix
Banibergensis j Cone. Lat.
Titel IZalil
un.
Canones
Lateranensis
LIV.
1'ars
cap.
XVIII.
IX.
L.
XL.
Canones
Lateranensis
1
3
8
5
7
6
19
11
‘21
15
9
10
Lipsiensis
Titel [ Cap.
LXIV.
LXV.
I.
XI.
LVIII.
LXV.
Canones
Lateranensis
1
Casselana
Titel I Cap.
Breviarium
Bernhardi Pap.
Buch jTit.JCap.
LXIIL
LXIV.
XIII.
LXIV.
XIII.
XII.
vii r.
in.
XL
IV.
VI.
XII.
3
III.
IV.
III.
IV.
V.
1.
III.
III.
V.
II.
III.
I.
III.
V.
III.
21
12
Beitrag zur Geschichte des canonischen Rechtes.
515
ColleCtio
Bambergensis
Titel Zahl
Appendix
Conc. Lat
Pars
Lipsiensis
Titel | Cap.
Casselana
Titel Cap.
Breviarium
Bernhardi Pap.
Buch Tit. Cap.
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
I 25
Animalia quae
(Burch.
XIX. 85).
IX.
XII.
IV.
XII.
X.
XII.
II.
XII.
VII.
I.
V.
III.
V.
I.
V.
III.
V.
III.
I.
III.
516
XXV. SITZUNG VOM 13. NOVEMBER 1872.
Der Secretär legt vor
eine von dem Herrn Dr. Georg Kaufmann in Strassburg
eingesendete Untersuchung ,über die Fasti der späteren Kaiser
zeit“, deren Aufnahme in die Sitzungsberichte jedoch durch
die Normen der k: Akademie ausgeschlossen ist.
Herr Dr. Clemens Borovy, Professor des Kirchenrechtes
in Prag, sendet zwei Bände der von ihm herausgegebenen
Sammlung katholischer und utraquistischer Quellen aus dem
XVI. Jahrhunderte, gleichzeitig ersucht derselbe um Aufnahme
seiner im Manuseript vorgelegten ,historisch-kritischen Biographie
von Anton Brus von Müglitz, Erzbischof in Prag (1561—1580)‘
in das Archiv für österreichische Geschichtsforschung.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Akademie der Wissenschaften, Königl. Preuss., zu Berlin: Corpus inscrip-
tionum lalinarum. Vol. V. Pars prior. Berolini, 1872; in folio.
— der Wissenschaften und Künste, Siidslavische: Rad, Knjiga XX. U Zagrebu,
1872; 8°.
Borovy, Clemens, Jednani a dopisy konsistofe katolicke i utrakvistickd
Dü I. & II. V Praze, 1868 & 1869; 8°.
Elek, Jakab, Kolozsvar törtenete. I. kötet. Budan, 1870; 4".
Genootschap, Batafiaasch, van Künsten en Wetenscliappen: Tijdschrift
voor indische taal-, land- en volkenkunde. Deel XVIII (Zesde Serie.
Deel I.), Aflev. 3—4; Deel XX. (Zevende Serie. Deel I.) Aflev. 3.
Batavia &’s Hage, 1871 & 1872; 8°. — Notulen. Deel IX. 1871. Batavia,
1872; 8°. — Herste Vervolg Catalogus der Bibliotheek en Catalogus der
Maleische, Javaansche en Kawi Handschriften. Batavia &’ s Hage,
1872; 8°.
Gesellschaft, geographische, in Wien: Mittheilungen. Band XV. (neuer
Folge V.), Nr. 10. Wien, 1872; 8°.
Gesellschaft, antiquarische, in Zürich: Mittheilungen. Band XVII. Heft
6—7. Zürich, 1872; 4».
Hamburg, Stadtbibliothek: Gelegenheitsschriften aus den Jahren 1871 u.
1872. 4°.
Kasan, Universität: Denkschriften. Histor.-pliilolog. und polit.-juristisclie
Abtheilung. 1864. I.—II. Physikal.-mathein. und medicin. Abtheilung.
1864. I—II; 1865, Bd. I. — Sitzungsberichte 1865. Bd. I. — Sitzungs
berichte und Denkschriften. 1866. I—VI; 1868. I—VI; 1869. I—III.
Kasan, 8°. — A. Popov, Theorie der Wellen. Kasan, 1868; 4°. (Sämmtlich
in russischer Sprache.)
Küsten-Karten des Adriatischen Meeres. Nr. 1—15. Folio.
Lesehalle, akademische, in Wien: II. Jahresbericht. Wien, 1872; 8°.
Malortie, Ernst von, Historische Nachrichten der Familie von Malortie
von 1132—1872. Hannover, 1872; 8°.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 18. Baud, 1872.
Heft X. Gotha; 4°.
,Revue politique et littdraire“ et ,La Revue scientifique de la France et
de l’etranger. 1 11° An nee, 2 e Serie, Nr. 19. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Rostock, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus den Jahren
1871 u. 1872. 40 u. 8°.
Socidte d’Histoire et d’Arclieologie de Gen5ve: Memoires et Documents.
Tome XVIII e . Geneve & Paris, 1872; 8°.
Society, The Asiatic, of Bengal: Journal. Part I, No. 3 (1871); Part II,
No. 4 (1871); Parti, No. 1 (1872); Part II, No. 1 (1872). Calentta; 8». —
Proceedings. Nr. XI. 1870; Nrs. I, XII & XIII, 1871; Nrs. I—V, 1872.
Calcutta; 8°.
Verein, histor., für das wirtembergische Franken: Zeitschrift. XVIII. Bandes
3. Heft (1870); XIX Bandes I. Heft (1871). Weinsberg; 8».
518
XXVI. SITZUNG VOM 20. NOVEMBER 1872.
Der Secretiir logt vor
1) eine Untersuchung des Herrn Professor Dr. Krones
in Graz ,über die österreichische Chronik des Jakob Unrest',
um deren Aufnahme in das Archiv für österreichische Geschichte
der Verfasser ersucht;
2) die von Herrn Dr. Goldziher in Pest eingesendete
Fortsetzung seiner ,Beiträge zur Geschichte der Sprachgeiehr-
samkeit bei den Arabern. II. Die Gauhari-Literatur', um deren
Aufnahme in die Sitzungsberichte der Verfasser ersucht.
Das correspondirende Mitglied Herr Professor Dr. Maa s s e n
in Wien legt vor eine Untersuchung über ,eine Rede des Papstes
Hadrian II. vom Jahre 869/
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Abetti, Antonio, Cenni storici sul succesivo sviluppo della meteorologia
e su alcune sue importanti applicazioni. Padova, 1872; 8°.
American Journal of Science and Arts. Third Series. Vol. III, Nrs. 10—18.
New Haven, 1872; 8 9 .
Athen, Universität: Akademisclie Gelegenheitsschriften aus d. J. 1870—
1872. 8° u. 4
Bibliographie Daciei. Indice de scrieri attingetore, directu seu indirectu,
de vechii locuit.ori ai Daciei. Buccuresci, 1872; kl. 8°.
Br an dl, Vincentius, Libri citci ticfriuni et sententiarum. Tomvs I. Brunae,
1872; 8°.
Breslau, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1871—
1872. 4« u. 8°.
Frind, Anton, Die Kirchengeschichte Böhmens im Allgemeinen und in
ihrer besonderen Beziehung auf die jetzige Leitmeritzer Diöcese. III.
Band, I. Abthlg. Prag, 1872; 8 n .
Gesellschaft, allgemeine geschichtforschende, der Schweiz: Archiv für
Schweizer-Geschichte. XVII. Band. Zürich, 1871; 8°. — Anzeiger. N.
F. I. Jahrgang, No. 1—4. kl. 4°. — Die Berner Chronik von Conrad
Justinger. Herausgegeben von G. Studer. Bern, 1870; 8°.
519
Gesellschaft Deutsche morgenländische; Zeitschrift. XXVI Band, 1. u.
2. Heft. Leipzig, 1872; 8°. *
— historische zu Basel: Beiträge zur vaterländischen Geschichte. II. u. VIII.
Band. Basel, 1843 u. 1866; 8°-
— für vaterländische Alterthiimer in Basel : Mittheilungen. I, II. III, VI,
VIII, IX und X. 1843-1868. 4" u. Folio.
Glatter, E., Zu Dr. E. Glatter’s Oesterreich in Ziffern. Eine Entgegnung
der k. k. Direction der administrativen Statistik. Wien, 1872; kl. 4 n .
Goeje, J. de, Fragmenta historicorum arabicorum. Tomus 11. Lvgduni Bcdci-
vomm, 1871; 4°.
Gottlieb, Heinrich, Schulbetrachtungen. I. Auch eine Todesstrafe. Wien,
1872; 8°. 0
Harz-Verein für Geschichte und Alterthumskunde: Zeitschrift. V. Jahrgang
1872. 1. u. 2. Heft. Wernigerode; 8°.
Kurschat, Friedrich, Wörterbuch der littauischen Sprache. I. Theil,
4. Lieferung. Halle, 1872; kl. 4°.
Leyden, Universität: Annales academici. 1866—18G7 u. 1867—1868. Lug-
duni-Batavovum, 1871; 4°.
Löschardt, Ferd., Die neuen Colonien in den banater Grenz-Rieden
(Autographie.) 4°.
Men za, Giuscppi di, Le condizioni sociali dei notri tempi. Palermo, 1872; 8°.
Palacky, Franz, Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges
vom Jahre 1419 an. I. Band, 1. Heft. Prag, 1872; 8°. — Archiv cesky.
Dil sesty. Svazek 26—27. W Praze, 1872; 4°.
Programme und Jahresberichte der Gymnasien zu Brixen, Brünn,
Capodist.ria, Eger, Essek, Fiume, Graz, Hermannstadt, Iglau, Kaschau,
Kremsmünster, Kronstadt, Leoben, Marburg, Meran, Naszod, Pilsen,
Presburg, Ragusa, Rudolfswert, Schässburg, Tabor, Teschen, Trient,
Vinkovci, des akadem. Gymnasiums, des Gymnasiums der k. k. There-
sianischen Akademie und zu den Schotten in Wien, des Gymnasiums
zu Zara; dann der Obc-rrealschulen zu Triest und Wiener-Neustadt
und der k. k. technischen Hochschule in Wien. 1870—1873. 4° u. 8°.
Reden, gehalten bei der feierlichen Inauguration des für das Schuljahr
1872 — 73 gewählten Rectors der k. k. technischen Hochschule Dr. Heinrich
Hlasiwetz, am 8. Oc.tober 1872. Wien; 8 n .
,Revue politiqne et litteraire* et ,La Revue scientifique de la France et de
l’4tranger*. II C Annee, 2 e Serie. No. 20. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Robert, Charles, Insc.ription tumulaire d’un civis mediomatricus tronve ä
Milan. Paris, 1870; 8°. — Extrait d’un memoire sur les armlos romaines
et leur emplacement,. Paris, 1871 ; 4°. — Monnaie de Gorze sous Charles
de Remoncourt et c.irconstances politiques dans Jesquelles eile a ete
frappee. Paris, 1S70; 4°.
520
Societä Italiana di antropologia e di etnologia: Archivio. II 0 Vol., fase. 3°.
Firenze, 1872; gr. 8°.
Sonklar, Edler von Innstädten, Karl, Allgemeine Orographie. Die Lehre
von den Relief-Formen der Erdoberfläche. Wien, 1873; 8°.
Szaraniew icz, Isidor, Die Hypatios-Chronik als Quelleubeitrag zur
österreichischen Geschichte. Lemberg, 1872; 8°.
Verein, historischer, der fünf Orte Lucern, Uri, Schwyz, Unterwalden und
Zug: Der Geschichtsfreund. Einsiedeln, New-York u, Cincinnati, 1872; 8°.
Maaesen. Rede des Papstes Hadrian U. v. J. 869.
521
Eine Rede des Papstes Hadrian II. vom
Jahre 869.
Die erste umfassende Benutzung der falschen Deeretalen zur Begründung der
Machtfülle des römischen Stuhles.
Von
Friedrich Maassen,
eorresp. Mitglied der k. Akademie der Wissenschaften.
Mmratori hat in seiner grossen Sammlung- Kerum Itali-
carum scriptores T. II. P. II. col. 13(3 sq. ein Fragment einer
anonymen Rede mitgetheilt, die sich, soweit sie liier gedruckt
vorliegt, mit dem Ehestreit Lothar’s II. und der Thietberga
einerseits und den Angelegenheiten Günther’s von Köln und
des Zacharias von Anagni, die von römischen Synoden ihres
Bischofsamtes entsetzt waren, andrerseits beschäftigt. Er
selbst glaubt, dass die Rede auf einem römischen Concil des
Jahres 864 von irgend einem Bischof gehalten sei. Schon
Mansi 1 hat gezeigt, dass die Zeitbestimmung nicht richtig sei,
dass die Rede vielmehr in das Jahr 869 zu setzen und höchst
wahrscheinlich auf der Zusammenkunft Hadrian’s 11. mit
Lothar am 1. Juli des genannten Jahres von einem der dort
anwesenden Bischöfe gehalten sei. Jaffe 2 stimmt, was Zeit
und Ort betrifft, Mansi bei, spricht aber die Ansicht aus, dass
Papst Hadrian selbst die Rede gehalten habe. Dümmler 3 ist
Jaffe beigetreten. Weder Jaffe noch Dümmler konnten es als
im Plane ihrer Werke liegend betrachten auf eine ausführ-
1 Concil. ampl. coli. T. XY. col. 890.
2 Regesta pont. Rom. p. 257.
3 Geschichte des ostfränkischen Reichs Bd. 1 S. 678 Not. 51.
Sitz. d. pkil.-liist. CI. LXXII. Bd. II. Hft. 34
522
Maass e n.
liebere Darlegung der Gründe sich einzulassen. Der Zweck
der vorliegenden kleinen Publication macht es nothwendig die
Frage der Autorschaft ex professo zu erörtern. Ich hoffe, dass
es mir gelingen wird die Richtigkeit der zuerst von Jaffe aus
gesprochenen Meinung ausser allen Zweifel zu setzen.
Zuvor muss aber noch Folgendes bemerkt werden.
Muratori hat die Rede nicht vollständig, sondern nur die
erste, kleinere Hälfte derselben mitgetheilt. Er fand sie in dem
aus Bobbio stammenden Manuscript D 76 der Ambrosiana,
welches gegenwärtig die Signatur G 58 sup. führt, demselben
Codex, aus dem er auch das römische Concil Vom Frühjahr
862, welches den Johannes von Ravenna excommunicirte, ver
öffentlicht hat. 1 Nach den Schlüssen dieses Concils, denen in
der Handschrift das römische Concil vom Jahre 863 vor
hergeht, dasselbe, welches die Deposition Günther’s von Köln
und Thietgaud’s von Trier aussprach, 2 steht die Clausel Ex
pli eil concilium beatissimi Nicolai papae und es folgt jetzt ohne
Ueberschrift die gedachte Rede. Warum nun Muratori sich
veranlasst gesehen hat die Rede nur unvollständig mitzutheilen,
ist im Grunde ziemlich gleichgültig. Vermuthlich schien ihm
der zweite Theil kein unmittelbares historisches Interesse zu
haben. Indess ist auch dieses bisher unbekannt gebliebene
Stück bedeutend genug um nicht der Vergessenheit überliefert
zu werden. Dasselbe enthält eine Begründung der Machtfülle
des römischen Primats mit umfangreichen Belegen aus den
pseudo - isidorischen Decretalen. Das Hauptinteresse dieses
Stückes ist aber darin zu suchen, dass ein Papst, dessen Re
gierungszeit der Entstehung und ersten Verbreitung der falschen
Decretalen so nahe liegt, Hadrian, der Nachfolger Nicolaus’ I.,
der Autor ist.
Es bedarf daher kaum einer Rechtfertigung, wenn auch
dieser Theil der Rede jetzt veröffentlicht wird. Um des Zu
sammenhanges willen hat es mir zweckmässig geschienen auf
Grund einer nochmaligen Vergleichung auch das durch Mura-
tori’s Mittheilung bereits bekannt gewordene Fragment zu
reproduciren, so dass also im Folgenden die Rede vollständig
1 1. c. col. 127, Mansi 1. c. col. 658. Vergl. Jaffe p. 239.
2 Mansi 1. c. col. 651. Vergl. Jaffe p. 243.
Rede dea Papstes Hadrian II. v. J. 869.
523
vorliegt. Ich erwähne nur noch, dass die Handschrift dem
10. Jahrhundert angehört. 1
Zuerst will ich zeigen, dass die Rede bei der Zusammen
kunft von Montecassino am 1. Juli 869 gehalten ist, und hierauf
den Nachweis führen, dass der Redner kein andrer als Hadrian II.
selbst gewesen sein kann.
Thietberga war schon längere Zeit vorher in Rom ge
wesen; denn es heisst in der Rede von ihr: olirn ad hanc sedem
apostolicam veniens .... dicebat. Her römische Aufenthalt
dieser unglücklichen Gemahlin Lothar’s fällt aber gegen das
Ende des Jahres 867. 2 Die Rede muss ferner vor Lothar’s
Tode, also vor dem 8. August 869, 3 gehalten sein; denn sie
nimmt auf die Ehestreitigkeit Lothar’s und der Thietberga als
eine noch schwebende Angelegenheit Bezug. Lothar war im
Juni 869 nach Italien gereist um durch die Vermittelung seines
Bruders, des Kaisers Ludwig II., vom Papst eine günstige
Entscheidung in seinem Ehestreit zu erwirken. Mit Hülfe seiner
Schwägerin, der Kaiserin Engelberga, setzte er hei seinem
Bruder durch, dass dieser den Papst bewog sich zu einer Zu
sammenkunft mit ihm (Lothar) und der Kaiserin in Monte
cassino einzuiinden. 1 Hinkmar von Rheims 5 berichtet über diese
Zusammenkunft, die, wie bereits erwähnt, am 1. Juli Statt fand,
Folgendes. Der Kaiser habe den Papst bestimmt, dass er vor
Lothar eine Messe singe und diesem die h. Communion reiche.
Auch die Begleiter Lothar’s, unter ihnen Günther von Köln,
hätten bei dieser Gelegenheit die Communion empfangen. Dem
Letzteren sei aber nur die Laiencommunion zugestanden worden,
nachdem er vorher eine professio abgelegt, die von Hinkmar
mitgetheilt wird. Diese professio fand Statt vor dem Papst,
den ,ihm untergebenen' Bischöfen und der übrigen Versammlung.
1 Teil habe nach dieser Handschrift in dem Aprilheft 1864 dieser Sitzungs
berichte über eine kleine Sammlung des römischen Hechts fiir den kirch
lichen Gebrauch, die ich als ,bobienser Excerpte 1 bezeichnet habe, Nach
richt gegeben und bei dieser Gelegenheit auch das Manuscript näher
beschrieben. Die Rede Hadrian’s ist das letzte Stück (f. 06 med. —73).
2 S. Dümmler a. a. O. S. 666.
3 S. ebendas. S. 683.
4 S. ebendas. S. 677.
5 Pertz Monumenta T. I. p. 481.
34*
524
Es waren also ausser Hadrian noch andre Bischöfe zugegen.
In ihr wird von Günther die Zusicherung ertheilt, dass er die
von Nicolaus in canonischer Weise über ihn verhängte Depo-
sition niemals anfechten, sondern dieselbe in Demuth tragen
werde. 1
Alles spricht nun dafür, dass die Rede damals in Monte-
cassino, und zwar vor den eben erwähnten Ereignissen,
gehalten wurde.
Es ist eine Versammlung von Bischöfen, an welche die
Rede gerichtet ist. Dies ergiebt gleich der Anfang. Und zwar
befinden sich unter den Angeredeten weder orientalische
Bischöfe noch solche aus dem Frankenreich. Der Redner
protestirt nämlich dagegen, dass Urtheilssprüche des aposto
lischen Stuhles umgestossen werden könnten. Wenn aber doch
einmal vorliegend dies geschehen solle mit den Urtheilen in
dem Ehestreit Lothar’s und in den Sachen Günther’s von Köln
und Zacharias’ von Anagni, so sei doch hiezu mindestens eine
Versammlung nöthig non solum nostrorum, sed etiam istorum
regnorum episcoporuni nec non et, si fieri potest, Orientalium,
utcumque antistitum, ubi scelera, quorum idtio falso injusta
dicitur, proli dolor, sunt admissa. Die Verbrechen, von denen
hier die Rede ist, gehören aber theils dem Frankenreiche, theils,
so viel Zacharias angeht, 2 dem Orient an. Unter den nostri
episcopi sind also weder fränkische noch orientalische, son
dern — da an andre gar nicht gedacht werden kann —
italische Bischöfe zu verstehen.
Dieser Versammlung italischer Bischöfe ist das Ansinnen
gestellt sowohl das in der Scheidungssache Lothar’s gesprochene
Urtheil des apostolischen Stuhles als auch die von diesem über
Günther und Zacharias verhängte Deposition zurückzunehmen.
Diesem Begehren ist der Kaiser nicht fremd. 3 Der Redner
beruft sich auf einen alten antiochenischen Canon, welcher
1 Profiteor ego Guntharius coram Deo et sanctis ejus vobis, domno meo
Adriano suvnmo pontifici et univei'sali papae ac venerandis tibi subditis
episcopis reliquoque conventu[i], quoniam judicium depositionis in me a
domno Nicolao canonice latum non veprehendo, sed humiliter povto. Etc.
2 S. über diesen Dümmler a. a. O. S. 501.
3 Das Interesse, welches der Kaiser an Zacharias genommen, ist unklar.
S. auch Dümmler S. 678.
Rede deB Papstes Hadrian II. v. J. 869.
525
einen durch die Synode verurtheilten Bischof für höchst straf
würdig erklärt, wenn er sich mit seiner Beschwerde an den
Kaiser wende. Aus diesem Citat wird ersichtlich, dass Kaiser
Ludwig um seinen Beistand angegangen war. Der Redner
apostrophirt nun den abwesenden Kaiser, indem er ihn be
schwört nicht zuzulassen, dass die römische Kirche erniedrigt
werde; er möge wohl erwägen, wer sein und seines Reiches
wahres Beste wolle u. s. w. Offenbar hatte man sich für jenes
Ansinnen auf des Kaisers Willen berufen; sonst hätte diese
Apostrophe keinen Sinn.
Unmittelbar nach der Anführung des antiochenischen
Canon heisst es dann weiter : Postremo jam, quia compellimur
et a sedis apostolicae majori auctoritate atque judicio ad mino-
rem, quod non debet fieri, proclamatur, habemus alias auctori-
tates, quae nos sine omninm episcoporum, tarn Orientalium scilicet
quam Occidentalium, quos diximus, praesentia de bis aliquid exa-
minare non statuunt. Es war also an die Versammlung appellirt
worden. Der Redner bestreitet ihre Competenz und will sich
höchstens dazu herbeilassen (quia jam compellimur) die Compe
tenz eines allgemeinen Concils anzuerkennen.
Es lässt sich nun schlechterdings keine andre Combina-
tion von Umständen denken, unter denen diese Rede gehalten
sein könnte, als wir sie bei der Zusammenkunft von Monte-
cassino finden.
Wäre die Rede später gehalten, also in der Zeit vom
1. Juli bis zum 8. August, dem Todestage Lothar’s, so würde
alles, was über Günther gesagt ist, nicht passen. Günther hatte
ja in seiner in Montecassino abgelegten professio versprochen,
dass er das Urtheil des apostolischen Stuhles über ihn nicht
mehr anfechten wolle. Man müsste daher schon annehmen,
dass er unmittelbar darauf wortbrüchig geworden sei und unter
dem Schutz des Kaisers an eine Versammlung von Bischöfen
appellirt habe. In diesem Falle würde es aber ganz undenkbar
sein, dass der die Retractation des Urtheils bekämpfende Redner
es unterlassen haben sollte sich der eignen professio Günther’s
als eines höchst willkommenen Argumentes zu bedienen. Wie?
Günther hat selbst öffentlich bekannt, dass seine Entsetzung
canonisch verhängt sei, er hat versprochen sie niemals anzu
fechten, sondern demüthig dem über ihn gesprochenen Urtheil
4
526
M a a s 8 e u.
sich zu unterwerfen. Und einige Wochen später hat er alles
dies vergessen : er appellirt an eine Versammlung von Bi
schöfen gegen das ungerechte Urtheil. 1 Ein Redner bringt
einen ganzen Apparat von Gründen um die Unzulässigkeit der
Appellation nachzuweisen. Und ein so schlagendes, ein so un
mittelbar einleuchtendes Argument, wie das ist, dass der
Appellant noch kurz vorher auf jede Appellation feierlich ver
zichtet habe, sollte er unerwähnt gelassen haben ? Man braucht
die Frage nur zu stellen um einzusehen, wie absurd es wäre
dies für möglich zu halten.
Ebensowenig kann aber die Rede vor dem Tage von
Montecassino gehalten sein; denn der Kaiser war, wie wir
gesehen haben, zur Zeit der Rede schon um seine Unterstützung
angegangen. Nun aber war unmittelbar vor jener Entrevue die
Vermittelung des Kaisers erwirkt. Lothar begab sich direct
vom Kaiser in Begleitung der Kaiserin zu jenem berühmten
Kloster des h. Benedict. Wir haben daher nicht die kleinste
Spanne einer Zwischenzeit, in der die Rede gehalten sein könnte.
Dass also die Rede am 1. Juli 869 in Montecassino ge
halten wurde, ist gewiss. Wer aber hat sie gehalten?
Gleich die Eingangsworte passen nur im Munde des
Papstes. Er dankt Gott, dass die Bischöfe zu der gegenwär
tigen Versammlung erschienen seien. So kann nur der sprechen,
der in einer Versammlung den Vorsitz führt oder doch die
Hauptperson ist. Darauf nennt er sich den Geringsten unter
allen. 2 Eine Phrase der Höflichkeit, die kaum ein andrer
passend gebrauchen kann, als wer die Angeredeten an äusserer
Würde überragt. Er fügt hinzu, dass er den Beschlüssen der
Versammlung Folge leisten werde; aber nicht ohne den aus
drücklichen Vorbehalt zu machen: ,soweit sie den göttlichen
Vorschriften und den Anordnungen der Väter gemäss sein
werden/ Es ist nicht eben wahrscheinlich, dass einer der
übrigen italischen Bischöfe so gesprochen hat. Die Rede ist
an eine Versammlung gerichtet, deren Mitglied der Papst ist.
Offenbar ist es kein Uebermass von Reverenz, wenn man
1 scelera, quorum ult,io falso injusta dicitur.
2 Dieselbe Phrase findet sich später noch einmal: Nos vero inutiles et om-
nium vestrum minimi considerationem vestram sequi parati sumus etc.
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 869.
527
einer Versammlung von vorneherein erklärt: man werde ihre
Beschlüsse nur insoweit respectiren, als sie nicht rechtswidrig
seien. Wichtiger noch ist folgende Erwägung. Der Redner
erklärt: er werde den Beschlüssen der Versammlung Folge
leisten. Von jedem andern der anwesenden Bischöfe wäre
eine solche Erklärung eine grosse Naivetät gewesen. Ein
andrer als der Papst konnte ja gar nicht in den Fall kommen
zu bethätigen, dass er die Beschlüsse als massgebend aner
kenne. Es handelt sich ja um Urtheile des apostolischen Stuhles.
Diese aufzuheben ist die Versammlung aufgefordert. Die einzige
Frage konnte daher nur sein: ob der Papst die Beschlüsse der
Versammlung als bindend betrachten werde. Jeder andre, der
eine solche Erklärung gab, spielte damit eine komische Figur.
Ich habe schon oben erwähnt, dass der Redner den Kaiser
apostrophire. Der ganze Passus, der auf den Kaiser Bezug hat,
kann nur vom Papst gesprochen sein. Den Gesinnungen, von
denen die Anhänger Lothar’s gegen den Kaiser beseelt sind,
vergleicht der Redner — nicht die der ganzen Versammlung.
Dies kann er gar nicht; denn er lässt es in seinem ganzen
Vortrage ostensibel durchaus in Zweifel, wie die Versammlung
entscheiden werde. Nein, seine eignen Gesinnungen sind es,
die er den Gefühlen Lothar’s, Günthers u. s. w. gegenüberstellt.
Der Kaiser soll prüfen, wer sein und seines Reiches Bestes
wolle: die andern, deren Streben nur auf das Zeitliche ge
richtet sei, oder er, der vor allem sein Augenmerk auf des
Kaisers ewiges Heil gewandt habe. Von jedem andern Bischof
wäre eine derartige Hervorhebung seiner Person unter den ge
gebenen Umständen als eine tactlose Anmassung erschienen.
Warum Hadrian nicht erkennbarer seine Eigenschaft als
Papst hervortreten liess? Auch dafür scheint mir die Erklä
rung nicht fern zu liegen. Wie die Versammlung beschliessen
werde, konnte ihm natürlich nicht verborgen sein. Er wusste
von vorneherein mit voller Bestimmtheit, dass sie sich zur
Aufhebung von Urtheilen des Papstes nicht competent halten
werde. Seine päpstliche Autorität in den Vordergrund zu stellen
hatte daher aus dieser Rücksicht gar kein reelles Interesse.
In einer andern Richtung, wie wir gleich sehen werden, war es
aber umgekehrt von Wichtigkeit sie möglichst zurücktreten zu
lassen. Er selbst war, wie die übrigen Bischöfe, in Monte-
528
Maassen.
cassino auf Veranlassung des Kaisers erschienen. Die Ver
sammlung- wurde gehalten, weil Ludwig es wollte. Offenbar
hätte jede Pression, die Hadrian auf die versammelten Bischöfe
auszuüben schien, jede demonstrative Betonung seiner Autorität
den Kaiser nur verletzt. Um so besser für ihn, dass er dies
gar nicht nöthig hatte; denn nun kam die Versammlung lediglich
ihm zu Statten. Nun kam er in die vortheilhafte Lage sich
auf einen freien Beschluss des vom Kaiser selbst angeordneten
Conventes berufen zu können, einen Beschluss des Inhalts,
dass höchstens ein allgemeines Concil die Urtheilssprüche des
apostolischen Stuhles umzustossen befugt sei. Gab ihm das
dem Kaiser gegenüber nicht eine ganz unanfechtbare Position?
Es darf uns daher nicht überraschen, wenn Hadrian nicht von
vorneherein die Competenz der Versammlung categorisch zu
rückweist, wenn er in der Form weniger befiehlt, als vielmehr
zu überzeugen sucht. Die Argumente des Redners sind mehr
auf den Kaiser und die Kaiserin, vielleicht auch auf Lothar,
berechnet als auf die Bischöfe. Dass es der Papst ist, der zu
den ,ihin untergebenen' Bischöfen redet, merkt man kaum.
Er vertheidigt die Autorität des apostolischen Stuhles. Dass
er zufällig selbst der persönliche Träger dieser Autorität ist,
kommt dabei gar nicht in Betracht. Nicht um ihn handle es
sich ja, sondern um die in ihrem Ansehen gefährdete höchste
Instanz, deren einmal gefällte Urtheile jeder zu respectiren
verpflichtet sei, er selbst nicht minder als ein andrer! Hadrian’s
Art des Auftretens ist daher wohl berechnet.
Nur einmal ist es ilun, vielleicht unabsichtlich, begegnet,
dass er auf sich als den gegenwärtigen Inhaber der päpstlichen
Würde hinweist. Er ruft den Anwesenden in’s Gedächtniss,
dass die Königin Thietberga vor längerer Zeit bei ihm ge
wesen sei, und braucht hier die Worte: ad hanc sedern apostoli-
cam veniens. Diese Stelle dient, wie mir scheint, zugleich
dazu den letzten Rest eines Zweifels über die Autorschaft zu
beseitigen.
Ich komme nunmehr zu dem zweiten, hier zuerst ver
öffentlichten Theil der Rede, der mir eigentlich die Veran
lassung zu dieser kleinen Untersuchung geboten hat.
Der Papst hat nämlich diese Gelegenheit zu einer cano-
nistischen Erörterung zu benutzen für passendj gehalten, die
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 869.
529
allerdings in einem unverkennbaren innern Zusammenhang mit
dem ersten Theil seiner Rede steht, die aber in vorderster
Linie nicht die Bestimmung hat seine früher ausgesprochenen
Ansichten zu begründen, sondern wesentlich einen allgemeinen,
mehr theoretischen Charakter an sich trägt. Der Papst stellt
sich die Aufgabe die von verschiedenen Seiten angegriffene
Machtfülle des Primats durch Autoritäten quellenmässig zu
begründen. Er bringt deshalb eine ganze Reihe von Citaten,
welche sämmtlich den pseudo-isidorischen Decretalen entlehnt
sind. Vor allen sind es die beiden mit der älteren, auf den
ächten Quellen beruhenden Disciplin durchaus in Widerspruch
stehenden Sätze, dass kein Bischof ohne die Autorität des
apostolischen Stuhles gerichtet und keine Synode ohne seine
Autorität gehalten werden könne, welche in dieser pseudo-
isidorischen Studie Hadrian’s hervortreten.
Es ist gewiss; dass vor dem Ende des Jahres 864 keine
Spuren einer Bekanntschaft mit den Machwerken der gross
artigsten Fälschung von Rechtsquellen, die in der Geschichte
vorkommt, in päpstlichen Kundgebungen sich nachweisen lassen.
In einer am Christabend des Jahres 864 in der Sache Ro-
thad’s von Soissons gehaltenen Rede 1 nimmt Nicolaus I. auf die
falschen Decretalen allgemein Bezug. 2 Auf eben diese Decre
talen priscorum pontificum Romanorum, welche die römische
Kirche ,in ihren Archiven' aufbewahre, beruft er sich in dem
bekannten, kaum einen Monat später an die Erzbischöfe und
Bischöfe des westfränkischen Reichs gerichteten Schreiben über
dieselbe Sache 3 und vindicirt ihre Geltung gegenüber dem
Einwand, dass sie in der dionysisch-hadrianischen Sammlung,
dem codex canonum, den Karl der Grosse selbst im Jahre 774
in’s Frankenreich gebracht hatte, 4 nicht enthalten seien. 5 Doch
1 Mansi 1. c. col. 686.
2 S. auch Diimmler a. a. O. 8. 537, Hinschius Decretales Pseudo-Isidorianae
p. CCVI.
3 Mansi 1. c. col. 693.
4 S. meine Geschichte der Quellen und der Literatur des can. Rechts
Bd. 1 §.588.
5 S. Wasserschieben Beiträge zur Gesch. der falschen Decretalen S. 6,
Diimmler a. a. 0. 8. 537, Hinschius 1. c. p. CCV., meine Geschichte der
Quellen u. s. w. Bd. 1 §. 607.
530
Maapsen.
bringt er keine Citate aus ihnen und nennt auch keinen der
alten Päpste, dem der Betrüger die von ihm fabricirten
Schreiben beilegt, mit Namen. In späteren Decretalen dieses
Papstes findet sich kein einziger zweifelloser Fall einer Be
rufung auf Briefe aus der Fabrik des falschen Isidorus. Mit
Einem Worte, der Gebrauch, den Nicolaus von den falschen De
cretalen macht, ist nur noch ein gelegentlicher und vorsichtiger.
Es ist also diese Bede Hadrian’s II. das erste Document
eines Papstes, in dem in umfassender Weise und nicht bloss
gelegentlich, sondern ex professo die falschen Decretalen be
nutzt und ausgebeutet sind. Geraume Zeit bevor die Grund
sätze dieser Decretalen Aufnahme in die Systeme des Kirchen
rechts 1 und dadurch Eingang in das Leben fanden, hatte ein
Papst schon eine Blumenlese daraus veranstaltet um tantae
sedis primatum zu begründen und die Gegner einer zu weit
getriebenen kirchlichen Centralisation principiell aus dem Felde
zu schlagen.
Weiter die Betrachtungen zu verfolgen, die sich hieran
knüpfen Hessen, ist gegenwärtig nicht mein Zweck. Ich
schliesse vielmehr diesen Aufsatz mit zwei Bemerkungen, die
lediglich ein literarhistorisches Interesse haben.
Die ausgezeichneten Untersuchungen des jüngsten Heraus
gebers der falschen Decretalen Hinschius haben über die ver
schiedenen Formen, in denen die pseudo-isidorische Sammlung
in den Handschriften vorkommt, zuerst ein befriedigendes
Licht verbreitet. Unter diesen Formen ist eine, welche, ab
gesehen von andern, mehr untergeordneten Merkmalen, nament
lich dadurch chal'akterisirt wird, dass sie die Concilien auslässt
und auch die Decretalen nur bis Damasus bringt. Sie wird
von Hinschius als die Classe A 2 bezeichnet. Diese Form ist
es, in der die falschen Decretalen hauptsächlich nach Italien
gelangten. Hinschius weist fünf Handschriften italischen Ur
sprungs nach. 2 Ich habe ausser den von ihm genannten noch
in Brescia, Monza und Vercelli alte Handschriften dieser Form
1 Ich meine hier die systematischen Sammlungen des Kirchenrechts. Die
erste systematische Sammlung von allgemeinem Charakter, welche pseudo-
isidorisches Material bringt, ist die Collectio Anselmo dedicata, die in das
Ende des 9. Jahrhunderts fällt.
2 p. LVII.
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 8G9.
531
gefunden. Die sogenannte Coilectio Anselmo dedicata, eine
Sammlung aus dem Ende des 9. Jahrhunderts, welche Ober
italion angehört, hat die falschen Decretalen aus einem Exem
plar dieser Form geschöpft. Und schon Papst Nicolaus I. hatte,
wie dies durch Hinschius wahrscheinlich gemacht ist, 1 ein
Exemplar dieser Classe.
Dieselbe Form hat nun auch Hadrian II. benutzt. Seine
im wesentlichen die Ordnung des Pseudo-Isidorus befolgenden
Citate hören grade in dem letzten in dieser Form enthaltenen
Schreiben auf. Zudem stimmen die Lesarten der Citate bei
Abweichungen unter den verschiedenen Formen regelmässig mit
denen der Classe A2 überein.
Nicht ohne critische Consequenzen ist es ferner, dass, wie
wir aus dem Schlusscitat sehen, dem Papst auch die Vorrede des
falschen Isidorus Vorgelegen hat. Sie war also in der von ihm
benutzten Form enthalten. Dass er die Stelle aus ihr zuletzt
bringt, dürfen wir wohl auf Rechnung des Umstandes setzen,
dass sie nicht einmal scheinbar eine eigentliche Autorität ist.
Hinschius hält nun die kürzere Form der Classe A 2
für jünger als die vollständigere Form, welche in den von ihm
als Classe A 1 bezeichneten Handschriften sich findet. Ich
will hier nur allgemein bemerken, dass ich derselben Ansicht
bin. Dagegen hat Wasserschlebcn es für wahrscheinlicher er
klärt, dass die kürzere Form die ältere sei 2 . Mit dieser An
nahme scheint sich nun folgender Umstand nicht zu reimen.
Es ist in der Vorrede eine allgemeine Beschreibung der Samm
lung enthalten. Diese Beschreibung passt vollkommen auf die
Classe A 1 , aber gar nicht auf die Classe A 2. Es bleibt
daher Wasserschieben nichts andres übrig als die Vorrede,
wie die Form der Classe A 1 selbst, zu der sie ja geschrieben
wurde, für jüngeren Datums zu halten denn die Sammlung in
ihrer ursprünglichen Gestalt. Nun aber findet sich die Vor
rede auch in Exemplaren der kürzeren Form. Für uns, die
wir die Priorität der vollständigeren Form annchmen und die
andre nur für eine Abkürzung halten, erklärt sich dies höchst
1 1. e.
2 Die pseudo-isidorische Frage (Dove’s Zeitschrift für Kirchenrecht Jahr-
gang- IV.).
532
M a a 8 s e n.
einfach damit, dass der Urheber dieser abgekürzten Form die
Vorrede eben mit abschrieb. Wasserschieben aber muss diese
Verbindung der Vorrede mit der von ihm für älter gehaltenen
Form natürlich als das Ergebniss einer späteren Uebertragung
betrachten. Nicht ohne Bedeutung ist es nun hier, dass er-
wiesenermassen schon in dem Exemplar Hadrian’s II., einem
solchen der kürzeren Form, die Vorrede des Isidorus mercator
sich fand. Allerdings ist dieser Umstand nicht schlechthin
gegen die Annahme Wasserschleben’s beweisend. Die Ueber
tragung der Vorrede aus der jüngeren in Exemplare der
älteren Form könnte ja eben sehr früh geschehen sein. In
dessen lässt sich nicht läugnen, dass die Wahrscheinlichkeit
einer solchen Uebertragung durch die vorliegende Entdeckung
vermindert wird. Schon an und für sich ist es wahrscheinlicher,
dass für ein in modificirter Gestalt erscheinendes Werk die ur
sprüngliche Vorrede beibehalten wird, auch wenn sie jetzt
nicht mehr ganz passt, als dass für die ursprüngliche Form
aus einer späteren die nur für diese passende Vorrede entlehnt
werde. Die Unwahrscheinlichkeit des zweiten Falles nimmt
aber in um so höherem Masse zu, je näher wir genöthigt sind
die supponirte Uebertragung der Entstehungszeit der jüngeren
von beiden Formen zu rücken.
Die Sache steht also gegenwärtig so. Um für die An
sicht Wasserschleben’s über das relative Alter der beiden
Formen uns zu entscheiden müssten wir annehmen, dass schon
vor dem 1. Juli des Jahres 869 in einem in Hadrian’s Besitz
gelangten Exemplar die für eine ganz andre, jüngere Form
geschriebene Vorrede nachgetragen war. Wie gesagt, unmög
lich ist das nicht. Indessen müssten die Argumente für die
Priorität der kürzeren Form überzeugender sein, als sie dies
in der That sind, um auch über diese eben hervorgehobene,
vermehrte Unwahrscheinlichkeit hinweg zu helfen.
Ich lasse jetzt die Rede Hadrian’s II. selbst folgen'.
Quod vestra Deo digna paternitas ac in Christo diligenda
fraternitas in nimm hodie convenit 2 , inmensas omnipotenti Deo
1 Ich werde die Abweichungen der Edition Muratori’s, soweit dieselbe reicht,
in den Noten anführen.
2 Add. in Cod.
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 869.
533
grates referimus, quia in tanto venerandorum patrum discipu-
lorumque Christi collegio nihil aliud ex milibus 1 tenendum
forte 2 exietimamus, nisi quod et divinae majestati placeat et
ad sanctae Dei ecclesiae statum et exaltationem prorsus atti-
neat. Praecipue cum veritas dicat: Ubi duo vel tres congregati
fuerint in nomine meo, ibi sum in medio eorum. Et psalmo-
graphus: Ecce quam bonum, inquit, et quam jocundum habitare
fratres in unum. Quod cum ita sit, humili prece deposcimus,
ut nos, qui minimi sumus omnium vestrum, si ea forte scriptis
aut verbis protulerimus, quae repreliensione digna sunt, fra-
terno corripiatis et instruatis affectu; quoniam in his, quae di-
vinis apta probantur mandatis et misticas sanctorum patrum
non Violant sanctiones, vos sequi parati sumus et in nullo a
vestris salubribus disciplinis ac monitis dissentire.
Tarnen quid nos de quibuslibet clericis, qui a sancta et
prima sede apostolica damnantur, sentiamus, breviter ad vestram
divinitus inspiratam reducimus memoriam. Scitis enim melius
ipsi, quia prae omnibus Christi ecclesiis per potestatem beatis-
sirni Petri apostoli sancta Eomana ecclesia optinet principatum,
ita ut illa suo cuncta judicio comprebendat et de ejus nemini
judicare judicio liceat; si quidem (ut arbitramur nunc, interius 3
tarnen testificamur) nullus ab ea depositus est restauratus et,
si forsitan est, non utique indiscrete; quia Christus futurorum
praescius optime quidem praescivit minime in sede Petri apo
stoli sui fore sessurum pontificem, qui injuste judicaret aut
deponeret quemquam, quem oporteret 4 juste postmodum re-
staurare. Ad quod pertinere potest bujus ecclesiae vox, quam
per apostolum cognovistis: Si liaec quae destruxi iterum reaedi-
fico, praevaricatorem me constituo. Beatus autem papa Gelasius
in epistola ad episcopos per Dardaniam constitutos 5 inquit:
Sed nec illa praeterimus, quod apostolica sedes c frequenter, ut
1 enixius Mur.
2 Corr. fore.
3 arbitramur non interim Cod. et Mur.
4 oportet Mur.
5 Jaffö 395, Thiel Epistolae Rom. pont. T. I. p. 414 sq. Es ist die kürzere
Form des Schreibens. S. meine Geschichte der Quellen u. s. w. Bd. 1
S. 282i
6 apostolicae scdi Cod.
534
M a a 8 8 e n.
clictum est, more majorum etiani sine ulla sinodo präecedente ex-
solvendi, quos sinodus iniqua damnaverat, et damnandi nulla
existente synodo, quos oportuit, habuerit facidtatem. Sanctae me-
moriae quippe Athanasium 1 sinodus Orientalis addixerat, quem
tarnen exceptum sedes apostolica, quia damnationi Graecorum non
cönsensit, absolvit. Sanctae memoriae nihilominus Joliannem Con-
stantinopolitanum synodus 2 etiam caiholicorum praesulum certe
damnaverat, quem 3 simili modo sedes apostolica etiam sola, quia
non cönsensit, absolvit. Ecce, non quos ipsa sedes, sed quos
iniqua vel aequa sinodus damnaverat, resolvisse refertur. Item
illic: Nec plane tacemus, quod cuncta per mundum novit eccle
sia, quoniam quorumlibet, sententiis ligata pontificum sedes beati
Petri apostoli jus habeat resolvendi, ntpote quae de omni ecclesia
fas habeat judicandi, neque cuiquam de ejus liceat judicare
judicio. Si.quidem de qualibet ad illam mundi parte canones
appellare voluerunt, ab illa autem nemo sit appellare 1 permissus.
Et infra: Ut ergo, inquiens, sola jus liabuit absolvendi eos, quos
synodica decreta perculerant, sic etiam /sinej synodo in liac
eadem causa plurimos etiam metropolitanos darnnasse cognosdtur.
Item ipse sanctus papaGelasius in commonitorio, quod Fausto
magistro fungenti legationis officio Constantinopoli dedit 5 , ita
scribit: Ipsi sunt canones, qui appellationes totius ecclesi.ae ad
liujus 0 sedis examen voluere deferri, ab ipsa vero numquam
prorsus appellari debere sanxerunt; ac per hoc illam de tot'a
ecclesia judicare, ipsam ad nullius commeare judicium nec de
ejus umquam praeceperunt judicio judicari sententiamque illius
constituerunt [non] oportere dissolvi, cujus potius sequenda de
creta mandarunt.
Hi enim si talia in sacerdotio positi commiserunt, qualia,
si ante saeerdotium vel clericatum eommitterent, ad clericatus
vel sacerdotii 7 officium llon promoveri debuerant, quomodo
nunc restaurari post lapsum debeant, non advertimus. Quibus
1 Anatliasium Cod.
2 synodis Cod.
3 vel Cod.
4 appellari Cod.
5 Jaffe 381, Thiel p. 341.
6 Add. sanctae Mur.
7 Om. vel sacerdotii Mur.
Rede des Päpsten Hadrian II. v. J. 869.
535
secuudum apostöli Petri voceni melius erat non cognoscere viam
justitiae, quam post agnitionem retrorsum converti ah eo, quod
Uli 1 traditum est, sancto mandato. Possunt enim per hoc
exemplum homicidae et adulteri vel ceteri nec ipsa fortasse
communionis gratia digni, quantum ad nofas pertinet 2 , restaurari.
Unde non solum generalis ecclesiae et Petri specialiter privi-
legii yilescit auctoritas, verum etiam multifariae occasionis
dilatatur iniquitas.
Igitur apostolica sedes juxta illud, quod in epistola sancti
papae Leonis ad Pulcheriam Augustam 3 legitur, severius agit
cum obduratis et veniam cupit praestare correctis. Quia et om-
nipotens Deus, ut alia nunc omittainus, Petrum lacrimantem
suscepit et peccantibus angelis non pepercit. Cujus exemplo
discipuli ejus et ovium suarum pastores edocti eos, qui sol-
vendi fuerant, absolverunt et ligandos vel condemnandos, ut
praetulimus, perenniter non solum praesentialiter, sed et absen-
tialiter ligaverunt ac damnaverunt. Denique, qui istos damna-
vit, veteris constituti fuit executor, non novae constitutionis
extitit auctor. Et nescimus, quam veniam aut misericordiam
postulent, qui numquam nisi misericorditer judicati sunt, ut
opinamur, et numquam facinora, quae perpetraverant, quibus-
libet evidentibus gemitibus deplorarunt. Praefatus enim papa
Gelasius in eodem commonitorio inter cetera et ad locum
ait: Legatar, ex quo est religio Cliristiana, vel detur exemplum
in ecclesia Dei/a] quibuslihet pontißcibus, ab ipsis apostolis, ab
ipso denique Salvatore veniam, nisi se corrigentibus, fiiisse con-
cessam. Auditum autem sub isto caelo nec legitur omnino nec
dicitu.r, quod eorum voce depromitur: Date nobis veniam, ut
tarnen nos in errore duremus. Id quoque parum est. Osten-
dant, qui nobis canones nituntur opponere, quibus hoc canonibus,
quibus regulis, qua lectione, quove documento, sive a majoribus
nostris, sive ab ipsis apostolis, quos potiores merito fuisse non
dubium est, seu cd) ipso Domino Salvatore, qui judicaturus cre-
ditur vivos et mortuos, si, vel factum est umquam vel faciendum
esse mauclatur. Mortuos suscitasse legimus Christum; in errore
1 illi.i Mur.
2 attinet Mur.
3 Jaffe 204.
536
Ma aa sen.
mortuos absolvisse non legimus. Et qui hoc certe faciendi solus
habuit potestatem, beato Petro principaliter mandat apostolo:
Quae ligaveris super terram, ligata erunt et in caelo;
et quae super terram solveris, soluta erunt et in caelo.
Super terram, inquit; nam in hac ligatione defunctum nus-
quam 1 dixit absolvi. Quod ergo numquam factum est, vel mente
concipere formidamus scientes in divino judicio non posse penitus
excusari. Item illic: lllud quoque ridere me libuit, quod ait :
si necesse fuerit veniam postulare; existimcms nimirum
tune se peccat[or]um veniam necessario- postulare, si ei conce-
damus, ne pieccare desistat; immo etiam, quod absit., cum eodem
consentiamus nos quoque pieccare. Nescio, inter quae mundi pro-
digia haec vox possit cidmitti, et reliqua 3 . Concordat huic sen-
tentiae beatus papa Gregorius, qui sic misericordiam impendi
proximis jubet, ut, qui impendit, sui prius valeat misereri. Nam
in libris Moralium 1 ita scribit: Ille quippe bene agit, quae pia
sunt, qui seit prius servare, quae justa, ut collatus in proximos
rivus 5 misericordiae de justitiae fönte ducatur. Nam multi pro
ximis quasi opera misericordiae impendunt, sed injustitiae facta
non deserunt. Qui si veraci.ter proximis misericordiam facere
student, sibi ipsis prius 6 debuerant juste vivendo misereri. Unde
scriptum est: Miserere animae tuae placens Deo. Qui enim
misereri vult proximo, a se traliat necesse est originern miserendi.
Scriptum namque est: Diliges proximum tuum sicut te
ipsum. Quomodo ergo alteri miserendo pius est, qui adhuc in-
juste vivendo fit impius sibimet ipsi ? Unde per quendam sapien-
tem dicitur: Qui sibi nequam est, cui bonus erit? Ad ex-
hibendam quippe misericordiam, ut indigentibus plene exterius
valeat impendi, duo sibi necessaria congruunt, id est: 7 homo,
qui prciebeat, et res, quae praebeatur. Sed longe incomparabi-
liter melior est liomo quam res. Qui itaque indigenti proximo
exteriorem substantiam prciebet, sed vitam suam a nequitia non
1 numquam Mur.
2 Om. necensario Mur.
3 Om. et reliqua Mur.
4 XIX. 38.
6 collatis in proximis rivis Cod.
G Om. prius Mur.
7 idem Mur.
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 860.
537
custodit, rem suam Deo tribuit et se pieccato. Hoc quod. minus
est. optulit auctori et hoc quod majus servavit iniquitati. C y-
prianus autem Cartliaginensis episcopus in quadam sua ait
epistola 1 : Properandum non puto, non incaute aliquid et festi-
nanter gerendum, ne, dum temere pax usurpatur, divinae indig-
nationis ojfensa gravius provocetur. Et alias: Sufßciat, inquiens,
lapsis ruina una, ne volentes surgere sua circumventione praeci-
pitentur.
His igitur succincte prolatis absit a nobis, ut veniam vel
misericordiam assevercinus denegandam esse correctis. Sed ut
ad istos stilum reflectamus, si de misericordia suae restitutionis
aut de misericordia alicujus alii(sic) 2 beneficii quaestio agitatur,
quare palam non dicitur, sed astute misericordia imploratur et,
de qua misericordia dicatur vel unde misericordia quaeratur,
silentio tegitur ? Quodsi de misericordia beneficii alicujus dici
tur, etsi jam 3 Labent beneficia, nos praesumentes suggerimus,
ut habeant ampliora. Si autem de misericordia suae restitu
tionis illorum conscientia tenet, an non, ignoramus. Si quidem
conscientiae omnium Deus est cognitor et scrutator. Nos tarnen
nullius conscientiam judicare valemus. Contra quos sapientis-
simus Salomon ait: 1 Qui celat dclicta, non dirigetur; qui
autem confessus fuerit et reliquerit ea, misericordiam consequetur.
Verumtamen, sicut jam fassi sumus, si adulteri et criminosi
possunt ad sacerdotium promoveri, restituantur isti in suis
honoribus, qui dudurn in sacerdotio constituti non sunt veriti
criminosi vocari. Ceterum perpendite, quaesumus, qualiter isti
correcti sunt, qui non solum correctionenr suam nequaquam
ostendunt et delicta sua, quae etiam terras, ut fertur, occupant,
non confiteutur, verum etiam, sicut multorum relatio et scripta
testantur, vetitum sibi officium quidam liorum usurpasso refer-
tur, quidam autem ante audientiam contra canones communi-
cassc, sicut se murmur ecclesiae habet, proh dolor, criminatur.
De talibus enim praedictus Cyprianus episcopus dicit: 5 Si
quis autem poenitentiam agere et Deo satisfacere detrectans Feli-
1 Ep. XI. ad plebem.
2 alius alicujus Mur.
3 etiamsi Mur.
4 Proverb. XXVIII. 13. Die Vulgata bat: Qui abscondit scelera sua etc.
5 Epist XL. ad plebem de quinque presbyteris etc.
Sitzb. der phil.-lust. CI. LXXII. Bd. II. Hft. 35
538
Maas s 0 n.
cissimi 1 et satellitum ejus partes gesserit et [se]haereticae factioni
conjunxerit, sciat se postea acl ecclesiam redire et cum episcopis
et plebe Christi commnnicare non posse. Item ipse sanctus in
epistola acl plebem 2 , ut neu facile aliquis communicet, nisi
prius poenitentiam eg'erit, refert: Audio tarnen quosdam de
presbyteris nec evangelii memores nec, quid ad nos martyres
scripserint, cogitantes nec episcopo honorem sacerdotii sui et ca-
thedrae reservant.es jam cum lapsis commnnicare coepisse et offerre
Ulis et eucharistiam dare, quando oporteat ad haec per ordinem
pervenire. Nam cum in minoribus delictis, quae non in Deum
committuntur, poenitentia agatur justo tempore et exomologesis
-fiat inspecta vita ejus, qui agit poenitentiam; nec ad communi-
cationem venire quis possit, nisi prius illi ab episcopo et clero
manus fuerit imposita: quanto magis in Ms gravissimis et ex
tremis delictis caute omnia et moderate secundum disciplinam
populi observari oportet. Et p&ulo post: Vel vos itaque singidos
regite consilio ac moderatione vestra et secundum divina prae-
cepta lapsorum animos temperate, ut nemo importuno adliuc tem
pore acerua poma decerpat, nemo navem suam quassatam et per-
foratam fluctibus, priusquam diligenter refecerit, in altum denuo
committat, nemo tunicam scissam accipere et induere properet,
nisi eam ab artifice perito sartam viderit et a fullone curatam
receperit, et reliqua.
Sed liis paulisper ad sanctam vestram memoriam, patres
et reverendi Dei ministri, reductis nobis videtur, ut primum
causa Theoberg’ae reg'inae 3 , quae primum laesa est et olim
ad lianc sedem apostolicam veniens, sicut scitis, inter alia cum
juräinento dicebat: quod ante inter paganos aufugeret quam
faciem Lotharii g-loriosi reg-is videret. Certe, nisi, ut aesti-
mamus, timorem mortis illa pavesceret, hoc nullatenus ex ore
suo -proferret. Vos autem/ quos Dei gratia medicos animarum
fecit, juxta qualitatem morborum medicamina languentibus ad-
hibete. Nos vero inutiles et omnium vestrum minimi conside-
rationem vestram sequi parati sumus; sed de judicio sedis apo-
stolicae ipsius beati papae Gelasii iniiibiti sententia retractare
1 ivfelicissimi Cod., infelidssime Mur.
2 Ep. XL. laud.
3 Hic desunt verba tractanda sit vel similia.
Rede dos Papstes Hadrian II. v. J. 869.
539
non audemus. Jam vero, si ita placet, ea, quae ipsa sedes
judicavit, quod vix sine discrimine fieri potest, retractet;
potestas enim illi a subditis non adimitur. Videat tarnen, quae
faciat, ne in divino judicio coram summo Deo, qui omnium
potestatum jura gubernat et cunctis saeculis dominatur, distric-
tam rationem ponat. Porro si quis nos 1 cogere conans ad
sedis apostolicae retractandum judicium unanimitatem nostram
commoverit, praevideat, unde causa praevaricationis sttmat
exordium et quo finis conclusio dirigat cursum. Nos enim pe-
timus et humiliter suggerendo precamur ac per omnes Dei
virtutes, quantum possumus, adjuramus, ut, si placet de sedis
apostolicae judicio retractari et, quod inbibitum est, judicari,
boc agatur consilio et tractatu non solum nostrorum, sed etiam
istorum regnorum , episcoporum nec non et, si fieri potest,
Orientalium, utcumque antistitum, ubi scelera, quorum ultio
falso injusta dicitur, proh dolor, sunt admissa. Rursum petimus
et humiliter obsecramus, ut suggeratur piissimo nostro impera-
tori Deique cultori et ecclesiae Christi tutori, ut, sicut pro-
genitores ejus cbristianissimi et orthodoxi imperatores fecerunt 2
et ipsp illorum vestigium sequens Christi ecclesiae, Deo gra-
tias, honorem ampliavit et decus, ita Romanam ecclesiam, caput
omnium, cujus est defensor et advocator, defendat, exaltet et
protegat et in aliquod praecipitium nos nusquam 3 mergi per-
mittat; quatenus sempiterna laus et gloria simulque copiosis-
sima merces illi divinitus augmentetnr. Suggeratur etiam illi
et ab ejus majestate flexo poplite postuletur, ut sollicite per-
scrutari jubeat 4 , qui sint illi, qui lucra corporum, an qui poeni-
tus, qui lucra animarum requirunt. Quod si nos invenerit
utrumque, hoc est, et lucra animarum quaerere et sui corporis
incolumitatem veile, potius 5 nos audiat salubria suggerentes
quam alios unum horum tantummodo suadentes. Praecipue cum
nos non nostra, sed ea, quae sunt Jesu Christi, quaeramus et
pro salute, statu et exaltatione totius sui imperii sempiternum
1 non Cod.
2 fitere Cod.
3 numquwni Mur.
4 debeat Mur.
5 Apud Mur. pro an qui poenitus -
animarum quaerant et sui corporis
- potius legitur: an qui penilus lucra
incolumitatem velint. Potius etc.
35*
540
M a a s s e n.
ac immensum imperatorem momentaneis precibus imploremus.
Auctoritatem autem Antiocheni concilii, quae inter cetera
nostrae suffrag'atur suggestioni, ecce subjecimus. Nam ejusdem
concilii capitulo duodecimo diffinituin cst: Si qnis a proprio
episcopo presbyter aut di/ajconus aut a synodo fuerit episcopus
forte damnatus et imperatoris auribus molestus extiterit, oportet
ad majus episcoporum converti concilium et, quae putaverint
habere justa *, plurimis episcopis suggerant eornmque discussiones
ac judicia praestolentur. Si vero liaec panipendentes molesti
fuerint imperatori, hos nulla venia dignos esse nee locum satis-
factionis habere nee spem futurae restitiltionis poenitus opperiri 2 .
Postremo jam, quia compellimur et a sedis apostolicae
majori auctoritate atque judicio ad minorcm, quod non debet
lieri, proclamatur, babemus alias auctoritates, quae nos sine
omnium episcoporum, tarn Orientalium scilicet quam Occiden-
talium, quos diximus, praesentia de his aliquid examinare non
statuunt. Denique jam fatus sanctus Cyprianus Cartha-
ginensis episcopus in epistola ad plebem de quinque presby-
teris ait : 3 Placuit tarn nobis quam confessoribus et clericis urbicis,
item universis episcopis nunc in nostra provincia vel frans mare
constitutis, ut nihil innovetur circa lapsorum causam, nisi omnes
in unum conveniremus. Et iterum in alia epistola: 4 Audiant,
inquiens, quaeso, patienter consilium nostrum, expectent regres-
sionem nostram, ut, cum ad vos per Del misericordiam venerimus,
convoccitis coepiscopis pluribus secundum Domini disciplinam et
confessorum praesentiam veätram quoque sententiam beatorum
martyrum litteras et desideria examinare possimus.
Haec igitur propter inprobitatem quorundam sub brevitate
transcurrimus, ne nostrum auditum misericordiae tantum januis
clauderfe veile dicamur; cum nemo [nejsciat sanum sapiens nec
etiam Guntharium et Zachariam latent, quod ad illicita
compellimur ct ad ecclesiae laesionem probibita contingere co-
gimur. Judicatum est enim juste de illis et per sedem aposto-
licam, ubi totius judicii summa potestas est et auctoritas, de
1 jvxt.a Mur.
Vers. Dion.
: Ei«st. XL. laud.
4 Epist. XI. laud.
Kode des Papstes Hadrian II. v. J. 860,
541
bis extat deliberatum; a qua 1 nemo est appellare 2 permissus,
de cujus judicio retractari non licet, cujus sententia debet
fine tenus insolubilis permanere, si Christianitatis vigorem et
opus quis non coeperit conculcare. Porro, si in mundanis quis-
libet suspectum habet judicem, praesentiam ducis requirit; si
ducem suspectum habet, praesidem adit 3 ; si et ipsum suspectum
habet, ad imperatorem, a quo jam non est appellandum, recurrit,
quanto magis in ecclesiasticis id observandum est, ut, si aliquis
judicatur ab inferioribus, debe[a]t ad sublimioris sedis, hoc est
apostolicae, judicium proclamare! Ab illa autem judicatus qua-
liter ad inferiores debeat proclamare, nullis exemplis, nullis
indiciis 1 , nullis legibus nullisque traditionibus omnino rep-
perimus. 5
Quidam nulla fulti auctoritate, sed sola temeritate inflati
asserunt Romanae sedis pontificem non majori quam singulos
quosque metropolitanos sive archiepiscopos uti debere privi-
legio nee potioris dignitatis fungi primatu nec sua posse aucto
ritate convocare generale concilium. Ignorantes enim apostoli-
cas traditiones sanctorumque patrum instituta atque beati Petri
successorum decreta sola praesumtione animi propriae volun-
tatis libitus sequentes nulla haec inania proferunt ratione. Hi
nimirum, dum beato Petro ejusque successoribus derogare atque
ipsorum decreta sancto spiritu edita invidiose contemnere non
metuunt, proculdubio in spiritum sanctum blasphemare videntur.
Unde papa Damasus scribens ad Aurelium Cartaginiensem
archiepiscopum 11 dicit inter alia: Quoniam blasphemare in spi
ritum sanctum non congrue videntur, qui contra eosdem sanctos
canones non necessitate compulsi, sed libenter aliquid aut prö-
terve agunt aut loqui praesumunt aut facere volentibus sponte
consentiunt. Talis enim praesumtio manifeste unum genus est
blasphemantium spiritum sanctum, quoniam contra eum agit,
cujus nisu, et gratia [ijidem' sancti editi sunt canones. Liquet
ergo, quia similiter blasphemat, qui adversus apostolica decreta
1 quo Mur.
2 apjpellari Cod.
3 adiit Cod.
4 judiciis Mur.
5 Hier endet die Ausgabe Muratori s.
6 Hinschius p. 21.
542
M a a 8 s e n.
incedere non formidat, quoniam re vera sancti Spiritus gratia
edita fore eonstat.
Talibus igitur praesumtoribus ex apostolicis traditionibus
pari modo sanctorumque patrum institutis atque beati principis
apostolorum Petri, cui a Domino conlata est ligandi atque sol-
vendi potestas, successorum (videlicet omnium, qui de liac re
scribere studuerunt) non inconvenienter duxi respondere de-
cretis atque ipsorum temeritatem exemplis reyincere congruis
pariterque tantae sedis primatum, quo merito cunctis per or-
bem diifusis praecellit 1 ecclesiis, domino favente liquide mon-
strare sermone. Attamen prius oportet unumquemque sciro
fidelem, quia, si Romana ecelesia mater est omnium ecclesia-
rum, quae sunt per Universum orbem diffusae, inmo, quia est,
sicut plurimis approbatur exemplis, quisquis audet tantae de-
rogare matri vel improbo ausu ejus deminuere conatur hono
rem, constat nimirum se immanis esse infamiae, quoniam tantae
matris generositatem amisit ac per hoc non se filium, sed potius
demonstrat esse inimicum. Verum haec tantae vesaniae moli-
mina destruet ille, qui eam sui sanguinis pretio redemit et
ipsi ligandi atque solvendi tribuit potestatem.
Conemur ergo jam nunc et de proposito negotio, quae-
quae repperimus convenientia, inserere studeamus exempla.
Clemens igitur in epistola Jacobo fratri Domini Hiero-
solimorum episcopo directa 2 in conventu fratrum positum bea-
tum Petrum apprehensa manu sua in auribus totius ecclesiae
haec refert inter cetera verba dixissc: Clementem hunc epi-
scopum vobis ordino, cui soll meae praedicationis et doctrinae ca-
thedram trado. Et infra: Propter quod ipsi trado a Domino
mihi traditcmi potestatem ligandi et solvendi, ut de omnibus qui-
buscumque decreverit in terris, lioc decretum sit et in caelis.
Ligabit enim, quod oportet' ligari, et solvet, quod expedit solvi,
tamquam qui ad liqiddum ecclesiae regulam noverit. Ipsum ergo
audite scientes, quia quiciimque contristaverit doctorem veritatis,
peccat in Christum et patrem omnium exacerbat Deum, propter
quod et vita carebit. Ubi evidenter ostenditur, quantum illi
primatum contulit beatus Petrus apostolus. Et idem in eadem:
1 praecellet Cod.
2 H. p. 30.
Rede des Papstes Hadrian II. v. J. 869.
543
Episcopos autem, inquit, per singulas civitates, quibus ille non
miserat, perdoctos et prudentes ut serpentes simplicesque sicut
columbas juxta Domini praeceptionem nobis mittere praecepit.
Et item: In illis vevo civitatibus, in quibus blim aput ethnicos
primi flamines eorurn atqne primi legis doctores erant, episcopo-
rum primates poni vel patnarchas, qui reliquorum episcoporum
judicia et majora, quotiens necesse foret, negotia in ßde agita-
rent et secundum Domini voluntatem, sicut sancti constituerunt
apostoli, ita ut ne quis injuste periclitaretur, diffinirent. ln illis
autem civitatibus, in quibus dudum apud praedictos erant ethni
cos eorurn archiflamines (principes videlicet sacerdotum Jovis *),
quos tarnen minores tenebant quam memoratos primates, archi-
episcopos institui praecepit, qui non tarnen primatum, sed archi-
episcoporum fruerentur nomine. Episcoporum quoque judicia, ut
supenus memoratum est, et majora ecclesiarum negotia, si ipsi
reclamaverint aut aliquem timorein aut istos vel alios suspectos
habuerint, ad jam dictos primates vel patriarchas, ne aliquis in-
nocenter periret, transferre docuit (Petrus scilicet apostolus), in
singulis vero reliquis civitatibus singulos et non binos vel ternos
aut plures episcopos constitui praecepit, qui non tarnen primatum
aut archiepiscoporum aut metropolitanorum nomine, quia matres
civitatum non tenent, sed episcoporum tantum vocabido potirentur,
quoniam nec inter ipsos apostolos par institutio fuit, sed unus
omnibus praefuit. Quibus verbis Clemens evidenter ostendit,
quemadmodum beatus Petrus apostolus episcoporum ordinem
quadripertitum esse praecepit. Item in epistola, quam rursus
beato Jacobo apostolo misit 2 : Clemens, inquit. Eomanae ecclesiae
praesul Jacobo carissimo Hierosolimorum episcopo. Quoniam sicut
a beato Petro apostolo accepimns omnium apostolorum patre, qui
claves regni coelestis accepit, aequaliter teuere debemus. Ubi
animadvertendum, quia, si Petrus apostolus pater est omnium
apostolorum, nulli prorsus dubium, quia et Romana ecclesia
mater est omnium ecclesiarum.
Anacletus item papa in epistola omnibus destinata epi-
scopis 3 sic inter alia dicit: Quodsi difficiliores ortae fuerint
1 Verba haec desunt in orig, apud Psoudo-Isid.
2 p. 46.
3 p. 74.
544
Maassen.
quaestiones aut episcoporum vel majorum judicia aut majores
causae fuerint, ad sedem apostolicam, si appellatum fuerit, re-
ferantur, quoniam hoc apostoli statuerunt jussione salvatoris, ut
majores et difficiliores quaestiones semper ad sedem defferantur
apostolicam, super quam Christus universam cönstruxit ecclesiam,
dicente ipso ad beatum principem apostolorum Petrum: Tu es,
inquit, Petrus, et super hanc petram aedificabo eccle
siam meam, et reliqua. Item Anacletus in epistola, quam
universis in Italia constitutis direxit episcopis *, sic inter cetera
de Romanae sedis loquitur dignitate. Cum enim ostendisset in
veteri testamento Aaron primum jubente Deo sacerdotale nomen
accepisse, post paululum addidit: In novo autem, inquiens,
testamento post Christum Dominum nostrum a Petro sacerdotalis
cepit ordo, quia ipsi primo pontificatus in ecclesia Christi datus
est dicente Domino ad eum: Tu es, inquit, Petrus et super
hanc petram aedificabo ecclesiam meam et portae in-
feri non praevalebunt adversus eam; et tibi dabo claves
regni caelorum. Hie ergo ligandi solvendique potestatem pri-
mus accepit a Domino primusque ad fidem popxdum gratia Dei
virtute suae praedicationis adduxit. Ceteri vero apostoli cum
eodem pari consortio honorem et potestatem acceperunt ipsumque
principem eorum esse voluerunt. Et item in eadem: Provintiae
autem, inquit, multo ante Christi adventum tempore divisae sunt
maxima ex parte et postea ab apostolis et beato Clemente prae-
decessore nostro ipsa divisio est renovata et in capite provinciarum,
ubi dudum primates legis erant saepuli ac prima judiciaria po-
testas, ad quos qui per reliquas 2 civitates commorabantur, quando
eis necesse erat, qui ad aulam imperatorum vel regum confugere
non poterant vel quibus permissum non erat, confugiebant pro
oppressionibus vel injustitiis suis ipsosque appellabant, quotiens
opus erat, sicut in lege eorum praeceptum erat, ipsis quoque in
civitatibus vel locis nostri[s] patriarchas vel primates, qui unam
formam tenent, licet diversa sint nomina, leges divinae ecclesia-
sticae poni et esse jusserunt, ad quos episcopi, si necesse fuerit,
confugerent eosque appellarent et ipsi nomine primatum frue-
rentur. Eeliquae vero metropolitanae civitates, quae minores ju-
1 p. 75.
2 rdiquiH Cod.
Rede den Papstes Hadrian II. v. J. 869.
545
dices habebant, licet majores comitibus essent, liaberent mctropoli-
tanos suos, qui praedictis juste oböedirent primatibus, sicut et in
legibus saeculi olim ordinatum erat, qui non primatum, sed aut
metropolitanorum aut ■ archiepiscoporum nomine fruerentur; et
licet singulae metropoles civitates suas provincias habeant et suos
metropolitanos habere debeant episcopos, sicut prius metropoli-
tanos judices habebant saeculares, primates tarnen, ut praefixum
est, et tune et nunc habere jussae sunt, ad quos post sed&ni apo-
stolicam summa negotia conveniant, ut ibidem, quibus necesse
fuerit, releventur et juste restituantur et hi, qui injuste oppri-
muntur, juste reformentur adque fulciantur episcoporumque cau-
sae et summorum negotiorum judicia salva apostolicae sedis aucto-
ritate justissime terminentur. Haec ab antiquis, haec ab apostolis,
haec a sanctis patribus accepimus. Item in alia epistola, quam
Omnibus episcopis et reliquis Christi sacerdotibus direxit 1 : De
primatibus, karissimi, super quibus me quidam vestrum consu-
luerunt, aut si esse deberent an non, quantum hactenus de his
a beato Petro apostolo et reliquis apostolis et a beato Clemente,
nostro sancto praedecessore et martyre, novimus statutum, dene-
gare yobis minime possumus. Et item in eadem: Episcopovum
vero ordo unus est, licet sint primates illi, qui primas civitates
tenent, qui et in quibusdam locis patriarchae a nonnullis vo-
cantur. Eli autem, qui metropoli a beato Petro ordinante Do
mino et a praedecessore nostro praedicto sancto Clemente seu a
nobis constituti sunt, non omnes primates vel patriarchae esse
possunt, sed illae urbes, quae praefatis et priscis temporibus pri-
niatem tenuere, episcopi eorum (sic) patriarcharum aut primatum
nomine fruantur, reliquae vero metropoles archiepiscoporum aut
metropolitanorum et non patriarcharum aut primatum utantur
nominibus, quia haec eadem et leges saeculi in suis continent
principibus, alias autem primae civitates, quas vobis conscriptas
in quodam thomo mittimus, a sanctis apostolis et a beato Cle
mente sive a nobis primates praedicatores acceperunt. Haec vero
sacra, sancta Romana et apostolica ecclesia non ab apostolis, sed
ab ipso Domino salvatore nostro primatum obtinuit, sicut ipse
beato Petro apostolo dixit: Tu es Petrus et super lianc pe-
tram aedificabo ecclesiam meam et portae inferi non
p. 61.
546
Maassen.
praevalebunt adversus eam; et tibi dabo claves regni,
caelorum et, quaecumque ligaveris supet terram, erunt
ligata et in caelis, et, quaecumque solveris super terram,
erunt soluta et in caelo. Adhibita est etiam societas in eadem
Romana urbe beatissimi Pauli apostoli vasis eleccionis, qui uno
die, uno tempore gloriosa morte cum Petro sub principe Nerone
agonizans coronatus est et ambo sanctam Romanam ecclesiam
consecrarunt aliisque Omnibus urbibus in universo mundo eam sua
praesentia atque venerando triumpho praetiderunt. Et licet pro
omnibus assidua apud Deum omnium sanctorum fundatur oratio,
his tarnen verbis Paulus beatissimus apostolus Romanis proprio
cirographo pollicetur dicens: Testis est mihi Dens, cui ego
servio in spiritu meo in evangelio filii ejus, quod sine
intermissione memoriam vestri facio semper in oracio-
nibus meis. Prima ergo sedes est caelesti beneficio Romanae
ecclesiae, quam, ut memoratum est, beatissimi Petrus et Paulus
suo martyrio consecrarunt. Secunda autem sedes apud Alexan-
driam beati Petri nomine a Marco ejus discipulo atque evan-
gelista consecrata est, quia ipse et in Aegyptum (sic) primum
verbnm veritatis directus a Petro praedicavit et gloriosuni suscepit
-martyrium, cui venerabilis successit Abillius. Tertia vero sedes
apud Antiochiam, id est beati Petri apostoli, habetur honorabilis,
quia illic, priusquam Romani veniret, habitavit et Ignatium epi-
scopum constituit. et illic nomen primum Christianorum novellae
gentis exortum est.
Hinc quoque Alexander papa in epistola, quam ad uni-
versos orthodoxos direxit *, sic ait inter cetera: Relatum insuper
est ad hujus sanctae apostolicae sedis apicem, cui summarum
dispensationes causarum et omnium neqotia ecclesiarum ab ipso
Domino tradita sunt, quasi ad caput, ipsoque dicente principi
aposiolorum Petro: 'Tu es Petrus et super lianc petram
aedificabo ecclesiam meam, quod quidam aemuli Christi
ejusque sanctae ecclesiae insidiatores, sacerdotes Dei ad judices
publicos accusare praesumant, cum magis apostolus Christianorum
causas ad ecclesias deferri et ibidem terminari praecipiat.
1 p. 94.
Hede des Papstes Hadrian II. v. J. 869.
547
Praeterea Sixtus in secunda, quam universis misit eccle-
siis 1 , sic inter alia dicit: Si quis vero vestrum pulsatus fuerit
in aliqua adversitate, licenter lianc sanctam et apostolicam ap-
pellet sedem et ad eam quasi ad caput suffugium habeat, ne in-
nocens damnetur aut ecclesia sua detrimentum patiatur.
Hinc l'ursus Anitius papa in epistola, quam ad universos
Galliae direxit episcopos 2 : Si autem aliquis, inquit, metropoli-
tanorum inflatus fuerit et sine omnium comprovincialium prae-
sentia vel consilio episcoporum aut eorum [aut] alias causas,
nisi eas tanium, quae ad proprium suam pertinent parroclviam,
aut eos gravare voluerit, ab Omnibus districte corrigatur, ne talia
deinceps praesumere audeat. Si vero incorrigibilis eisque in-
oboediens apparuerit, ad lianc apostolicam sedem, cui omnia epi
scoporum judicia terminare praecepta sunt, ejus contumacia re-
feratur, ut vindicta de eo fiat, ut ceteri timorem habeant.
Zepherinus etiam praefatae sedis archiepiscopus in epi-
stola Omnibus per Siciliam constitutis direeta 3 sic praecipit
dicens: Patriarchae vero vel primates accusatum discutientes
episcopum non ante sententiam proferant finitivam quam apo-
stolica fulti auctoritate, aut reum se ipse confiteatur aut per
innocentes aut regulärster examinatos convincatur festes, qui mi-
nori non sint numero, quam illi discipuli fuerunt, quos Dominus
ad cidjumentum apostolorum eligere praecepit, id est Septuaginta
duo. Et item in eadem: Finis vero ejus causae (episcopi vide-
licet) ad sedem apostolicam deferatur, ut ibidem terminetur.
Nec antea finiatur, sicut ab apostolis vel successoribus eorum
olim statutum est, quam ejus auctoritate fulciatur.
Calistus interea praedictae sedis apostolicus in epistola
de jejunio quattuor temporum 1 sic inter alia refert: Quicquid
ergo inreprehensibile est, catholica defendit ecclesia. Nulli irn-
peratori vel cuiquarn pietatem custodienti licet aliquit contra
mandata divina praesumere. Injustum ergo judicium et definicio
injusta regio metu aut jussu cujuscumque episcopi aut potentis
a juclicibus ordinata vel acta non valeat. Et paulo post: Quo-
' 1 p. 108.
2 p. 120.
3 p. 131.
* p. 135.
548
M nass ou.
niam res omues aliter tutae esse non possunt, quae cid divini
numeris (sic) famulatum pertinent, nisi eas sacerdotalis defendat
auctoritas.
Fabianus quoque papa in tertia epistola 1 sic ait inter
alia: Placuit etiam, ut, si episcopms ciccusatus appellaverit apo
stolicam sedem, id statuendum, quocl ejusdem sedis pontifex
cqnsuerit.
Stephanus itidem memoratae sedis pontifex in epistola 2
omnibus per diversas provincias constitutis directa episcopis 3
inter cetera sic ait: Nulli enim metropolitani aut alii episcopi
appellantur primates, nisi hi, qui primas sedes tenent et quorum
civitates antiqui primates esse censuerunt. Reliqui vero, qui
ceteras metropolitanas civitates adepti sunt, non primates, secl
aut archiepiscopi aut metropolitani vocentur. Urbes enim et loca,
quibus primates praesidere dehent, non modernis, sed etiam multis
ante adventum Christi sunt statutae temporibus, quarum primates
etiam gentiles pro majoribus negotiis appellabant. In ipsis vero
urbibus post Christi adventum apostoli et successores eorum pa-
triarchas vel primates posuerunt. Ad quos episcoporum negocia,
salva in omnibus apostolica auctoritate, et majores causae post
apostolicam sedem sunt referendae.
Similiter et Sixtus ejusdem ecclesiae praesul in epistola,
quam Grato direxit episcopo J , de appellanda sede apostolica
sic inter cetera meminit dicens: In hac sancta sede dudum a
multis episcopis constitutum erat et modo ad nostrum et ceterorum
fratrum auxilium est denuo roboratum, ut omnes episcopi, qui
in quibusdam gravioribus pulsantur vel criminantur cciusis, quo-
tiens necesse fuerit, libere apostolicam appellent sedem atque ad
ecim quasi acl matrem confugiant, ut ab ea, sicut semper fuit, pie
fulciantur, defendantur et liberentur. Cujus dispositioni omues
majores ecclesiasticas causds et episcoporum judicia antiqua
apostolorum eorumque successorum atque canonum auctoritas
reservcivit.
1 p. 167.
2 ecclesia Cod.
3 p. 183.
4 p. 189.
Rede des Papstes Hadrian II. v. .T. 869.
549
Unde et Dionisitis apostolicüs Severo episcopo epi-
stolam 1 dirigens ait: Olim et ab initio tantam percepimus a
heato Petro apöstolorum principe ßduciam, ut habefimns auctori-
tatem universali ecclesiae auxiiiante Domino subvenire et, quie-
quid nocivum est, auctoritate apostolica corrigere et emendare.
Qui ergo habet auctoritatem subvenire universali ecclesiae
et, quicquid nocivum est, sua corrigere et emendare auctoritate,
patet profecto, quia cunctos, non episcopos tantum aut me-
tropolitanos, sed ipsos quoque praecellit 2 primates.
Unde ct Marcellus papa in epistola, quam universis per
Antiochiam constitutis direxit cpiscopis :l , sic ait inter cetera:
Si vestra vero Antiochena, quae olim prima erat, Romanae ces-
sit sedi, nulla, ent, qnae ejus non sit subjecta ditioni, ad quam
omnes quasi ad caput juxta apostolorum eorumque successorum
sanctiones episcopi, qui voluerint vel quibus necesse fuerit, sujfra-
gari eamque appellare debent, ut inde accipiant tuitionem et
liberationem, unde acceperunt informationein atque consecrationem.
Qiiod omnibus minime convenit denegare episcopis, sed absque
ulla custodia aut excommunicatione vel damnatione aut expolia-
tione libere ire concedatur. Simulque idem inspirante Domino
constituerunt, ut nulla fieret sinodus praeter cjusdem sedis aucto
ritatem. Marcellus 1 vero papa in epistola, quam Orientalibus
direxit episcopis *, sic inter reliqua dicit: Omne enim quod in-
reprehensibile est, catholica defendit ecclesia. Non licet ergo im-
peratori vel cuiquam pietatem custodienti aliquit contra mandata
divinitatis praesumere nec quicquam, quod evangelicis propheti-
cisque seu apostolicis regulis obviatur, apere. Injustam enim
judicium et difjinitio injusta regio nietu vel jussu a judicibus
ordinata non valeat; nec quicquam, quod contra evangelicain,
propheticam aut apostolicam doctrinam constitutionemque eoruni
sive sanctorum patrum actum f uerit, stahlt. Et quod ab infide-
libus aut haereticis factum fuerit, omnino cassabitur. Hinc
1 p. 195.
2 praecellet Cod.
3 p. 223.
4 Pseudo-Isidor hat dieses Schreiben dem Marcellinus beigelegt. Der Cod.
Sangall. (der abgekürzten Form) hat aber Marcellus.
5 p. 220.
550
Maas Bon.
rursus Marcellus in epistola directa Maxentio: 1 Sinoditm ergo
episcoporum absque jussu sanctae sedis (videlicet apostolicae) et
auctoritate, quamquam quosdam episcopos po[s]sitis congregare,
non potestis regulärem facere neque ullurn episcopum, qui lianc
appellaveiit apostolicam sedem, damnare, antequam hinc finitiva
sententia procedat.
Hinc item Melchiades apostolicus in epistola Hispania-
rum directa episcopis: 2 Nolite, inquit, judicare, nolite condem-
nare absque sedis liiijus auctoritate. Quod si feceritis, irrita
erunt vestra judicia et vos condemnabimini. Hoc enim privi-
legium lmic sanctae sedi a temporibus apostolorum statutum est
servare, quod illaesum manet usque in hodiernum diem. Epi
scopos ergo, quos sibi Dominus oculos elegit et colunmas ecclesiae
esse voluit, quibus etiam ligandi et solvendi potestatem. dedit,
suo judicio reservavit. Atque hoc privilegium beato clavigero
Petro sua vice solummodo commisit. Quod ejus juste praeroga-
tivum successit sedi, fnturis hereditandimi atque tenendum tem
poribus, quoniam et inter beatissimos apostolos fuit quaedam
discretio potesiatis et, licet cunctorum par electio foret, beato
tarnen Petro concessum est, ut aliis praemineret eorumque, quae ad
quaerelam venirent, causas et interrogationes prudenter disponeret.
Ecce, quam late patet, quanto privilegio Romana ecclesia
cunctis per orbem diffusis praeminet ecclesiis!
Attamen Julius ejusdem sedis pontifex prae ceteris
ipsius privilegium atque primatum copiosius describens 3 haec
inter alia refert: Praevidentes, inquiens, sancti patres insidias
et inlicitas altercationes unanimiter in praedicta Nicaena sta-
tuerunt synodo, ut nidlus episcopus nisi in legitima sinodo et
suo tempore apostolica auctoritate convocata super quibusdam
criminationibus pulsatus audiatur vel damnetur. Sin aliter
praesumtum a quibusdam füerit, in vanum ducatur, quod egerint,
nee inter ecclesiastica ullo modo reputabuntur. Ipsi vero primae
sedis ecclesiae convocandarum generaiium sinodorum jura et ju
dicia episcoporum singulari privilegio evangelicis et apostolicis
atque canonicis concessa sunt institutis, quia semper majores
1 p. 226.
2 p. 242.
3 p. 456.
ftode des Papstes Hadrian II. v. .1. 809.
551
cctitsae ad sedern apostolicam multis auctoritatibus referre prae-
ceptae sunt nee ullo modo potest major a minore judicari. Ipsa
namque Omnibus major et praelata est ecclesiis, quae non solum-
niodo canonum et sanctorum patrum decretis, sed Domini salva-
toris nostri voce singulärem obtinuit principatum: Tu es, in-
quiens, Petrus, et super lianc petram aedificabo ecclesiam
mearn, et reliqua. Et quo dcumque ligaveris et solveris,
ernnt inligata et soluta in caelo et in terra, et cet. Porro
dudum a sanctis apostolis successoribusque eorum in praefatis
antiquis decretum fuerat statutis, quae actenus sancta et univer-
salis apostolica tenet ecclesia, non oportere praeter sententiam
Romani pontificis concilia celebrari nec episcopum damnari, quo-
niam Romanam sanctam ecclesiam primatum omnium ecclesiarum
esse voluerunt. Sicut beatus Petrus apostolus primus fuit om
nium apostolorum, ita et haec ecclesia suo nomine consecrata
Domino instituente primatum et caput sit ceterarum et ad eam
quasi ad matrem atque apicem omnes majores ecclesiae, causae
et judicia episcoporum recurrant ejusque juxta terminum sumant
sententiam nec extra Romanum quiequam ex bis decerni debere
pontijicem. Et item in eadem: Si quis ab hodierna die et clein-
ceps episcopum praeter hujus sanctae sedis sententiam damnare
aut propria pellere sede praesumpserit, sciat se inrecuperabiliter
esse damnatum et proprio carere perpetim lionore eosque, qui
absque hujus sedis sententia sunt ejecti vel damnati, hujus sanctae
sedis auctoritate scitote pnstinam recipere communionem et in
propriis restitui sedibus; quoniam et prius a tempore scilicet
apostolorum haec sanctae huic sedi concessa sunt et postea in
memorata Nicaena synodo propter pravorum hominum infestina-
tiones atque haereticorum persecutiones et insidiantium molimina
fratrum sunt concorditer ab omnibus roborata. Et item in epi-
stola, quam Eusebio, Theog'nio ceterisque Orientalibus direxit
episcopis 1 : Cur nobis inconsultis episcopos in eam__ convocastis
(videlicet Antiocbiam), ad quam nec Maximus Hierosolimitanus
venit nec nostra interfuit legatio; canonibus quippe in Nicaena
sinodo jubentibus non debere praeter sententiam Romani ponti
ficis ullo modo concilia celebrari nec episcopos damnari? Et item:
Quoniam nec ab ortodoxis, inquit, episcopis hoc concilium actum
1 p. 464.
552
M a a s b e n.
est nec Romanae ecclesiae legatio interfuit canonibus praecipientibus
sine ejus cmctoritate concilia fieri non debere nec ullum. ratum
est aut erit umquam conciliwn, quod ejus non fuerit fultum aucto-
ritate. Et item: Quoniam ideo huic sanctae sedi praefata pri-
vilegia specialiter sunt concessa tarn de congregandis conciliis et
judiciis ac restitutionibus episcoporum quam et de summis eccle-
siarum negotiis, nt ab ea omnes obpressi auxilium et injuste
damnati restitutionem sumant et talia ab improbis nec praesu-
mantur absque ultione nec exerceantur absque sua damnatione.
Athanasius praeterea Alexandrinae urbis episcopus in
epistola, quam cum ceteris ortliodoxis Aegyptiorum episcopis
Felici papae direxit 1 , sic intcr cetera dicit: Ideo, pater beatis-
sime, quia semper antecessores nostri et nos a vestra apostolica
sancta sede auxilium auximus ei nostri vos curam liabere agno-
nimus, praefatam apostolicum et summam expetimus juxta cano-
num decreta sedem, ut inde auxilium capiamus, unde praedeces-
sores nostri ordinationes et dogmata atque sublevationes cepenmt.
Ad eam quoque quasi ad matrem recurrimus, ut ejus uberibus
nutriamur, quoniam non potest mater oblivisci infantem suum, sic
et nos nolite oblivisci nos vobis commissos, quoniam non levibus
nos inhnici nostri implicuerunt et cotidic moliuntur afflictionibus
et apprehendere ac ferro nos constringi minantur, nisi eoruni
consentiamus erroribus, quod nequaquam vobis inconsultis agere
praesumimus, canonibus quippe jubentibus absque Romano nos
de majoribus causis nihil debere decernere pontißce; ideoque ad
propositum currentes et ad brabium properantes vestrae apostolicae
sedis imploramus auxilium, quia, ut credimus, non dispexit Deus
preces cum lacrimis sibi oblatas servorum suorum, sed ob id vos
praedecessoresque vestros apostolicos videlicet praesules in sammi-
tatis arce constituit omniumque ecclesiarum eis curam habere
praecepit, ut nobis succurfatis nösque tuentes, cid omne episco
porum judicium est commissum, liberare ab hostibus nostris non
neglegatis; nam scimus in Nicaena magna. synodo ab omnibus
concorditer esse corroboratum non debere absque Romani ponti-
ficis sententia concilia celebrari nec episcopos damnari. Et rursus
in eadem: Ipsa enim, inquit, (Romana videlicet sedes) firma-
mentum a. Deo fixum et immobile percepit, quoniam ipsam for-
i p. 478.
ltede des Papstes Hadrian II. v. J. 8G9.
553
mam universonm titidorum lucidissimam Dominus Jesus Christus
vestram apostolicam constituit sedem; ipsa est enim sacer vertex,
iw qua omnes vertuntur, sustentantur, relevantur et, sicut in
Christo Cliristiani et in petra id est Christo Petrus renovantur
ecclesiae. Secuntur et quam plurima liis similia de eadem re
in praefata epistola.
Unde et Felix Romanae urbis praesul Athanasii cetero-
rumque Aegyptiorum quaerimoniis respondens episcoporum 1 sic
ait inter cetera: Primates Uli et non alii sunt, qui in praedicta
Nicaena synodo constituti sunt, reliqui vero, qui metropolitanas
tenent sedes, arcliiepiscopi vocantur et non pnmates, salva in
omnibus apostolicae sedis dignitate, quae ei ab ipso Domino est
concessa et postea a sanctis patribus roborata. Et item in eadem:
His enim et aliis quamplnrimis documentis manifestum est nul-
lum damnari aut suis expoliari rebus debere episcopum, qui hanc
sanetam sedem interpellaverit aut sibi defensatricem asciverit,
donec Judicium de eo nostrae apostolicae auctoritatis, hoc est
principis apostolorum Petri, agnoscat, quia solummodo Christus
Jesus huic sanctae sedi, id est apostolicae, hoc facere commisit.
Ilinc quoque Damasus papa in epistola, quam Stephano
archiepiscopo concilii Mauritaniae et universis Affricanae pro-
vinciae direxit episcopis 2 , sie inter alia dicit: Discutere vero
episcopos et summas ecclesiasticorum causas. negotiorum metro-
politanos una cum omnibus suis comprovincialibus, ita ut nemo
ex eis desit et omnes in singulorum concordent negotiis licet,
sed definire eorum atque ecclesiasticarum summas querelas cau-
sarum vel damnare episcopos absque hujus sanctae sedis aucto-
ritate minime licet; quam omnes appellare, si necesse fuerit, et
ejus fulciri auxilio oportet. Nam, ut nostis, synodum sine ejus
auctoritate fieri non est canonicum nec episcopos nisi in legitima
synodo et suo tempore apostolica vocatione congregata definite
damnare potest neque ulla umquam concilia rata leguntur, quae
non sunt fulta apostolica auctoritate. Et item in eadem: Nam
si quid fortasse in eis aut contra eos emerserat, nostrum fuerat
expectandum examen, ut semper huic sedi fuit concessum pnvi-
legium, ut aut nostra condemnarentur auctoritate aut fulcirentur
0
‘ p. 484.
2 p. 502.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXX1I. Bd. II. Hft.
36
5ö4
Maassen. Rede des Papstes Hadrian II. y. J. 869.
auxilio. Et item in praefata epistola: Monet ergo, inquit, apo-
stolus non amplins nos invicem temere judicare. Temere enim
judicat, si quis episcopum absque sedis apostolicae auctoritäte
Qondemnat, cum ei, ut paulo superius praelibatum est, hoc spe-
cialiter privilegium servatum sit.
Praeterea Isidorus mercator de apostolicae dignitatis '
privilegio atque Romanae sedis primatu liaec inter alia evi-
denti sermone describit: 1 Synodorum vero congregandarum auc-
toritas apostolicae sedi privata commissa est potestate nec ullam
synodum ratam esse legimus, quae ejus non fuerit auctoritate
congregata vel fulta. Haec canonica testatur auctoritas, haec
historia ecclesiastica roborat, haec sancti patres confirmant.
1 p. 19.
S1TZUN GSBER1CHTE
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
LXXII. BAND. III. HEFT.
JAHRGANG 1872. — DECEMBER.
36*
557
XXVII. SITZUNG VOM 4. DECEMBER 1872.
Der Secretär legt vor:
1. ein Dankschreiben des neu gewählten correspondirenden
Mitgliedes, Herrn Prof. Graziadio Ascoli in Mailand;
2. eine Mittheilung des Herrn Hugo Knoblauch in
Berlin über ein in dem Besitz desselben befindliches Manuscript
aus dem J. 1642, Geschichte und Geographie Tirols betreffend;
3: einen durch das k. und k. Ministerium des Aeussern
übermittelten Bericht des General-Consulates in Palermo über
Ausgrabungen in Selinunt und Syracus nebst dem V. Heft des
Bulletino della Commissione di antichitä e belle arti
di Sicilia.
Herr Dr. E. von Bergmann, Gustos am k. k. Münz- und
Antiken-Cabinete in Wien, ersucht um Aufnahme seiner im
Manuscripte vorgelegten ,Beiträge zur muhammedanischen
Münzkunde' in die Sitzungsberichte.
Herr Dr. Ernst Edler von Hartmann-Franzenshuld,
Amanuensis im k. k. Münz- und Antiken-Cabinete in Wien,
ersucht um Aufnahme einer Untersuchung über ,Deutsche
Personen-Medaillen des XVI. Jahrhunderts' in die Schriften
der historischen Commission.
Herr Dr. Franz Kürschner in Wien legt einen Bei
trag zur speciellen Diplomatik, ausgeführt an den Urkunden
Herzog Rudolfs IV. von Oesterreich, vor, um dessen Auf
nahme in die Schriften der historischen Commission der Ver
fasser ersucht.
558
Herrn Ab. Simeone Ljubic, Director des National-
Museums in Agram, wird ein Kostenbeitrag bewilligt zur Her
stellung seines Werkes über die Münzen Bulgariens, Bosniens
und Serbiens.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Accademia, Reale, dei Lincei: Atti. Tomo XXV. — Anno XXV, Sess.
4»—6*. Roma, 1872; 4».
Akademie der Wissenschaften, Königl. Preuss., zu Berlin: Monatsbericht.
Juli 1872. Berlin; 8°.
Alterthumsverein in Lüneburg: Mittheilungen. Lieferung- 6. Lüneburg,
1871; 4°.
Freiburg i. Br., Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J.
1871/72; 4« u. 8».
Gesellschaft, Schlesische, für vaterländische Cultur: 49. Jahres-Bericht.
Breslau, 1872; 8°. — Abhandlungen der phil.-hist. Abtheilung. 1871;
Abhandlungen der Abtheilung für Naturwissenschaften und Medicin.
1869/72. Breslau, 1872; 80.
— historische, in Basel: Basler Chroniken. I. Band. Leipzig, 1872; 8 Q .
— Schlesw. Holst. Lauenb., für die Sammlung und Erhaltung vaterländischer
Alterthümer: 18., 19., 25.—30. Bericht. Kiel, 1860—1869; 8°. —
F. v. Warnstedt, Ueber Alterthumsgegenstände. Eine Ansprache an
das Publicum. Kiel, 1835; 8°.
Institut National Genevois: Bulletin. No. 36. Vol. VII, pages 1 h 216.
Geneve, 1872; 8°.
Institute, The Anthropological, of Great Britain and Ireland: Journal.
Vol. I., Nrs. 2—3; Vol. II. Nr. 1. London, 1871 — 1872; 8°.
Institution, The Royal, of Great Britain: Proceedings. Vol. VI, Parts 3—4.
London, 1871; 8°.
Institutum archaeologicum Romanum: Ephemeris epigraphica corporis
inscriptionum latinarum supplementum. MDCCCLXXII, fase. III. Romae; 8°.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 18. Band, 1872,
Heft XI. Gotha; 4".
Protokoll über die Verhandlungen der XLVIII. General-Versammlung der i
Actionäre der a. pr. Kaiser Ferdinands-Nordbahn. Wien, 1872 ; 4°.
,Revue politique et litteraire* et ,La Revue scientifique de la France et de
l’itranger. H Annee, 2« Serie, Nrs. 21—22. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
H
m
559
Society, The Rbyal Dublin: Journal. Nr. XL. Vol. VI, Nr. 1. Dublin,
1872; 8°.
Teylers Godgeleerd Genootschap: Vcrhandelingen. N. S. I. Deel, 1. & 2.
Stuk. Te Haarlem, 1868 & 1869; 8°.
Verein für Geschichte und Alterthum Schlesiens: Zeitschrift. XI. Band,
1. lieft. Breslau, 1871; 8°. — Regesten zur Schlesischen Geschichte,
von C. Grünhagen. Vom J. 1251 — 1258. Breslau, 1872; 4°. — Acta
publica. Jahrgang 1620. Breslau, 1872; 4°. — Scriptores rerum Silesia-
carum VII. Band. Breslau, 1872; 4°. — Schlesiens Grab-Denkmale und
Grab-Inschriften. Register. Breslau, 1872; 4°.
Reibnitz und Rathen, Fedor v., Worte eines Psychologen etc. I.—III. Theil.
Leipzig 1872; gr. 8°.
XXVIII. SITZUNG VOM 11. DECEMBER 1872.
Der Secretär legt vor:
1. zwei Beiträge zur Geschichte Polens im XVI. Jahrh.,
welche Herr Dr. Vinc. Groehlert, Bibliothecar des Reichs-
rathes, mit der Bitte um Aufnahme derselben in die Schriften
der kaiserlichen Akademie eingesendet hat.
2. ein Ansuchen des Herrn Dr. Heinrich Schuster
in Wien um eine Subvention zur Herausgabe seines im
Manuscript vorgelegten Werkes: ,Das Wiener Stadtrechts- oder
Weichbildbuch/
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Akademie der Wissenschaften, k. k., zu Krakau: Rocznik. Tom XX & XXI.
Krakdw, 1872; 8°. — Scriptores rerum Poloniacarum. Tomus I. 8°. —
Statut Akademii umiejetnosci w Krakowie. Krak6w, 1872; 8°. — Monu-
menta antiquae artis Cracoviensia. Fase. 1. IS72; 4°.
— — KÖnigl. Preuss., zu Berlin: Monatsbericht. August 1872. Berlin; 8°.
Alpenverein, Deutscher und Oesterreichischer:-Zeitschrift. Heft 1 u. 2.
München, 1872; 8°.
560
Gesellschaft, Geographische, in Wien: Mittheilungen. Band XV (neuer
Folge V), No. 11. Wien, 1872; 8».
— kais. russ. geographisclie, zu St. Petersburg: Bericht für das Jahr 1871.
St. Petersburg, 1872; 8°. — Sdances du 5 Mai 1871, 12 janvier,
9 Fdvrier, 8 Mars, 8 Avril et 3 Mai 1872. 4°.
Kiel, Universität: Akademische Schriften aus dem Jahre 1871. Band XVIII.
Kiel, 1872; 4°.
Malortie, C. E. v., Beiträge zur Geschichte des Braunschweig-Liineburgischen
Hauses und Hofes. 6. Heft. Hannover, 1872; 8°.
Programm des k. Ober-Gymnasiums zu Zengg am Schlüsse des Schuljahres
1871/72. Agram; 4°.
,Kevue politique et litteraire 1 et ,La Revue scientifique de la France et de
l’dtranger.“ II e Annee, 2 e Sdrie, Nr. 23. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Verein für deutsche Nordpolfahrt zu Bremen: 17.—20., 24.—27. Versamm
lung. 1871—1872; 8°.
— siebenbiirgischer, für romanische Literatur und Cultur des romanischen
Volkes: Transilvania. Annlu V, No. 20—23. Kronstadt, 1872; 4».
XXIX. SITZUNG VOM 18. DECEMBER 1872.
Der Secretär verliest ein Schreiben des akademischen
Senates der königlichen Universität zu München, worin der
selbe, unter gleichzeitiger Uebersendung eines Exemplars der
diesjährigen Universitätschronik, welche eine Beschreibung des
400-jährigen Stiftungsfestes enthält, der k. Akademie für die
Betheiligung derselben an dem Feste seinen Dank ausspricht.
Der Secretär legt sodann eine von dem w. M. Herrn Dr.
Aug. Pfizmaier eingesendete, für die Denkschriften bestimmte
Abhandlung ,über japanische Archaismen' vor.
Der Referent der Weisthümer-Commision, Herr Prof.
H. Siegel, überreicht den Bericht des Herrn Dr. Hans Lambel,
über die im August und September dieses Jahres in Ober-
Oesterreich angestellten Weisthümer-Forschungen.
1
561
Das corr. Mitglied Herr Prof. Dr. Büdinger hält einen
Vortrag über ,IIerodots Egyptiscbe Forschung'.
Der Secretär legt vor den Codex diplomaticus Inticensis,
welchen Herr Dr. Arnold Luschin in Graz mit dem Gesuch
um Aufnahme desselben in die Fontes rerum Austriacai'um
eingesendet hat.
Die Classe beschliesst, dem Herrn Dr. Heinr. Schuster
eine Subvention zur Herausgabe des-Wiener Stadtrechts- oder
Weichbildbuchs zu bewilligen.
Die Aufnahme der Abhandlung des Herrn Dr. Ignaz
Goldziher in Pest ,Beitx-äge zur Geschichte der Sprach-
gelehrsamkeit bei den Arabern. II. Zur Gauhari-Literatur' in
die Sitzungsberichte wird genehmigt.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Archivio Veneto. Tomo III, Parte 1. (Enthaltend die Biographie Peter
Kandler’s von Tomaso Luciani.) Venezia, 1872; 8°.
Bern, Universität: Akademiselie Gelegenheitsschriften aus d. J. 1870/71.
fol., 4° u. 8».
Bonn, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1871. 4° u. 8°.
Chronik der Ludwig-Maximilians-Universität München für das Jahr 1871/72.
München, 1872; 4°.
Darstellung der auf den österr. Eisenbahnen im Betriebsjahre 1871 vor
gekommenen Bahn-Unfälle. Zusammengestellt und herausgegeben vom
statistischen Departement im k. k. Handels-Ministerium. Wien, 1872; 4°.
Geschichte der Wissenschafton in Deutschland. Neuere Zeit. XIII. Band.
Geschichte der deutschen Philosophie, von Eduard Zeller. München,
1873; 8».
Gesellschaft, archäologische, zu Berlin: Athena und Marsyas. XXXII.
Programm zum Winckelmannsfest, von G. Hirschfeld. Berlin, 1872; 4°.
Jabornegg-Altenfels, F. M. v., Uebersicht der in der Monnmenten-Halle
dos Landhauses zu Klagenfurt aufgestellten, in Kärnten gefundenen und
im Besitz des kärtn. Geschieht-Velins befindlichen Römersteine. Klagen
furt; 8».
562
,Revue politique ct litteraire 1 et ,La Revue scientifique de la France et de
l’ätranger 1 II e Armee, 2“ Serio. Nr. 24. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
Strassburg, Universität: Zur Geschichte derselben. Festschrift zur Eröff
nung der Universität Strassburg am 1. Mai 1872, von August Schricker.
Strassburg, 1872; kl. 4°. — Die Einweihung der Strassburger Universität
am 1. Mai 1872. Officieller Festbericht. Strassburg, 1872; kl. 4°.
Verein, histor., der Pfalz: Mittheilungen. III. Speier, 1872; 8°.
Büdinger. Zur egyptisclien Forschung Herodot’s.
563
Zur egyptischen Forschung Herodot’s.
Eine kritische Untersuchung,
von
Max Büdinger,
correspondirendem Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
§. 1. Gesanimtanlage des Werkes.
Die Redaction des uns vorliegenden herodoteischen Ge-
schichtswerkes bestimmt Kirchhoff, 1 indem er von der Voraus
setzung ausgeht, dass die Arbeit auch in der uns vorliegenden
Reihenfolge ihrer Stücke geführt sein müsse und die so häu
figen Anspielungen auf gleichzeitige Ereignisse als entscheidende
Beweise für die Entstehung der einzelnen Theile anzusehen
seien. Wenn gegen die letztere Annahme schon bemerkt wor
den ist, 2 dass eine frühere Abfassung spätere Hinzufügungen
nicht schlechthin ausschliesse, so ist vollends nicht leicht ab
zusehen, wie der Beginn des siebenten Buches sich anders als
aus dem Umstande erklären, lasse, dass derselbe den Anfang
einer selbständigen Darstellung bilde.
Es ist schon von anderer Seite erörtert worden, dass hier
(III, 1—10) eine ganze Reihe von Personen, die der Leser aus
1 Ueber die Abfassnngszeit des herodoteischen Geschichtswerkes. Abli.
der Berliner Akademie 1868 und .nachträgliche Bemerkungen 1 hiezu,
ebendas. 1871.
2 G. Rawlinson, history of Herodotus 2 nd ed. London 1862, I. 21, hebt
einige derartige .parenthetische 1 Stellen mit Rücksicht auf die nun abge-
thane angebliche Gesammtabfassung in Tliurii hervor.
564
Biidi nger.
den jetzt vorhergehenden Theilen längst kennt — Darius und
sein Bruder Artabanus, Mardonius, der Spartanerkönig Doma-
ratos — noch einmal wie Unbekannte mit den Namen ihrer
Väter genannt sind; dazu wird ein so ausführlich (V, 101) ge
schildertes Ereigniss, wie die Verbrennung von Sardes noch
einmal als nicht zu vergessende Beleidigung der Perser er
wähnt.
Wenn Kirchhoff in überzeugender Weise die Glaubwür
digkeit der Nachrichten betont, 1 welche beides, die Vorlesung
von herodoteisclien Büchern und des Autors Belohnung mit der
hohen Summe von zehn Talenten aus dem atheniensischen
Staatsschätze zwischen Mitte 446 und 444 versichern, so dürfte
doch schwer zu begreifen sein, wie die uns jetzt vorliegenden
dritthalb ersten Bücher 2 diese gewiss richtige Angabe erklären
sollen. Denn von dem zweiten Buche wird man kaum anneh
men können, dass es für öffentlichen Vortrag vor einem an
kunstgemässe Ordnung gewöhnten Publicum besonders geeignet,
noch in seinem losen Gefüge darauf angelegt sei, durch span
nende Darstellung zu fesseln. Und wenn auch der Antragsteller
Anytos, wie Kirchhoff 3 annimmt, auf Perikies’ Veranlassung
zu Gunsten des Geschichtschreibers aufgetreten ist, so wird
doch Niemand sagen können, wie die Honorirung eines Autors
mit einer Summe, welche genau der für Bestechung der Spar
taner zur Abwendung dringendster Staatsgefahr aufgewendeten 4
> Abfassungszeit, S. 11.
2 Bis III, 88. Kirchhoff, Abfassungszeit 6. Bemerkungen S. 56 setzt er ,die
Abfassungszeit der drei ersten Bücher in die Zeit von etwa 445 bis An
fang 443‘.
3 Abfassungszeit 11.
4 tou IhpucXkouc'lv tw xrj? atpaTrj-fia; iToXo'|'CT!j-c7) S&a TaXdvrtov avaXoju.x ypä-
iav-oc civr]Xwtjiviov eis to ofov d. h. für Kleandridas’ Bestechung ö 6r)|ro;
ä-sSf&ZTo p) raXujtpayp.ovrjua; pjS’ iXs'ycac to a"ipprjTOV. Nach Anderen
habe er jährlich die gleiche Summe für Bestechungen in Sparta anfge-
wendet. Plut. Pericles 22. Das dürfte der Scholiast zu Aristophanes’
Wolken V. 859 (ed. Didot p. 118) auf eigene Hand aus Ephoros — der
für Plutarcli wie für ihn die Quelle ist (vgl. Sauppe, die Quellen Plu-
tarchs für das Leben des Pericles. Göttingen 1868. S. 35) — zusammen
gezogen haben, wenn er von zwanzig e?s to Seov verreclineten Talenten
spricht und fortfährt: <prj<ji Sk "E^cpos ou psra raura jraöövxEp o! AaxsSai-
povtoi KXsavSpiSrjV p.kv soypuaav •/.. t. X.
Zur egyptisclien Forschung Herodors.
565
entspricht, mit den dritthalb ersten, Athen kaum (I, 59—65;
II, 7, 177, allenfalls I, 29 — 34, 86; II, 156) berührenden Büchern
allein begründet werden konnte. Dazu stelle man sich vor,
dass beide Posten in demselben Jahre', oder doch in zwei auf
einander folgenden verausgabt und in der Volksversammlung
erwogen worden sein müssen.
Wenn dagegen Herodot die drei letzten Bücher des uns
vorliegenden Werkes — abgesehen von den Hinzufügungen
seiner späteren Jahre und damals schon redigirten und publi-
cirten früheren Abschnitten — bald nach dem Abschlüsse des
dreissigjährigen Friedens mit Sparta (Anfang d. J. 445) in
Athen öffentlich vorlas, so begreift man beides, die Begeiste
rung der Hörer und die ungewöhnliche Belohnung des Autors.
Denn hier zuerst lag eine künstlerisch geordnete und zu
mündlichem Vortrage vorzüglich geeignete Erzählung der Tha-
ten vor, welche die Athener im Bunde eben mit den Spartanern
gegen den grossen Xationalfeind vollbracht hatten. Mit der
siegreichen Heimkehr nach Griechenland 2 von der dem Tro
janerkriege vergleichbaren Fahrt nach dem Osten und speciell
der Athener nach der von ihnen allein vollendeten Eroberung
von Sestos war ein würdiger Abschluss 3 der Geschichte wie
der alten Allianz, so des Befreiungskampfes gegeben.
Mit ihren eigenen Thaten war aber der Vorleser in der
Lage, den Athenern auch authentische Kunde von den Vor
gängen im Lager des Xerxes durch genaue Mittheilungen zu
1 Der betreffende Einfall der Spartaner unter Pleistoauax und Kleandridas
fällt in das Jahr 446; vgl. Schäfer, de rerum post bellum Persicum —
gestarmn temporibus Japs. 1865) p. 7.
- T»3xa Sk -orrjax/Ts; MiäiXwov (o 5 . ’AOrjvaToi) 1; tt,v 'EXXowa ~x ~z aXXa /pr r
p.axa ayovtsi zai Stj xai xa o-'/.x rtüv yEcpepstov 4; ivaör) tovtc; i; ~.x tpx.
IX, 121. Das folgende, letzte Capitel aus der Ahneugesehichte des nach
der Einnahme von Sestos geopferten Satrapen ist ein Nachtrag zu der
Cap. 116 erzählten eigenen Vorgeschichte dieses Beamten, dem Autor
erst bei einer spätem Redaction bekannt geworden und in unserin Text
an den Unrechten Ort gerathen.
3 Mit dieser Beschränkung auf die drei letzten Bücher wird man die Mei
nung G. Rawlinson’s (Herod. IV, 389 n.) billigen können, dass, das Werk
historisch und künstlerisch, wenn nicht gänzlich zu Ende gebracht, doch
abgeschlossen (concluded) sei: the tail of the snake is curved round into
his mouth, meint der Vfr. mit seltsamer Emphase.
566
Bü dinger.
geben., welche er kleinasiatischen fürstlichen Geschlechtern,
dem seiner Vaterstadt und namentlich der in Mysien lebenden
Familie des vertriebenen Spartanerkönigs Demaratos, wenn
nicht Aufzeichnungen dieses einsichtigen Verbannten selbst zu
danken hatte. 1 Es sind das Nachrichten, welche sich nach
ihrem Quellenwerthe den von Thukydides später, benutzten
des Themistokles vergleichen lassen, für die Athener aber die
erwünschteste Ergänzung für die Hergänge ihrer ruhmvollen
Befreiungskämpfe bildeten.
§. 2. Charakter des zweiten Buches.
Wenn es nach allen diesen Erwägungen unwahrschein
lich ist, dass Herodot’s Werk in der uns vorliegenden Ordnung
seine erste Redaction erhalten habe, und zuerst zur Veröffent
lichung gelangt sei, so dürfte doch eine Reihe der von Kirch-
hoff angestellten Beobachtungen für die Schlussredaction der
Arbeit als bleibender Gewinn der Forschung anzusehen sein. 2
1 Die Phrase von erfundenen Reden trifft nicht für die Unterredungen Demarats
mit Xerxes (III, 101 —105, 209, 234—239), dessen Lachen (103, 105)
lind Berührung (238) so sorgfältig notirt sind. (Man vergleiche dazu
die Wunder und Reden VI, 01, 08, 69) Die Anecdote III, 239 ist aber ein
Nachtrag aus anderer und schwerlich guter Quelle. — Eine Analogie
bieten die den gewöhnlichen Vorstellungen so ganz widersprechenden
und doch sonst belegbaren Nachrichten über Darius und auch über sein
Verhältniss zu Atossa (III, 134), die nur auf Demolcedes zurückgehen
können, wie auch Kirchhoff, Abfassungszeit S. 14, anzunehmen scheint,
indem erden ganzen auf Demolcedes bezüglichen Abschnitt III, 129 — 138
auf ,Localtradition von Kroton und Tarent' zurückführt; aber ,an sich
unbedeutend* ist dieser Abschnitt gewiss nicht, da er zahlreiche Auf
schlüsse von hoher Wichtigkeit für den skythischen wie den griechischen
Krieg enthält.
2 Auch für unsere Zwecke wichtig sind namentlich die Beweise, dass III,
118 flgde, als in einer für echt zu haltenden Stelle der Antigone v. 905
benutzt, vor deren Vollendung Spätherbst 442 publicirt gewesen sein
müsse (Abfassungszeit 9 flg.), und dass I, 51 nach Sommer 447 zu setzen
ist (Bemerkungen 50—56). Die persischen Geschichten würden hiernach
mit Ausschluss des zweiten Buches, sowie der Episode von Demolcedes
und der von Zopyros (III, 150—160), welche letztere mündlicher Mit
theilung des um d. J. 438 (Kirchhoff, Entstehungszeit 16) nach Athen
geflüchteten Enkels desselben entstammen dürfte — als ein vielleicht nur
Zur egyptischen Forschung Herodot’s.
567
Unseres Autors ethnographisch-historische Darstellung Egyptens
— die A'.Y’jTiTiot Xöyot, wie er die Arbeit gleich seinen assyri
schen, 1 seinen libyschen (II, 161, IV, 159—200) Darstellungen
und anderen Elementen seiner Sammlung genannt haben dürfte
— d. h. vom zweiten Capitel des zweiten Buches bis zum
Ende desselben bildet aber durchaus ein geschlossenes Ganzes,
für dessen Einfügung in die uns jetzt vorliegende Gesammt-
gestaltung- des Werkes chronologische Anhaltspunkte äusserer
Art schlechterdings nicht vorliegen.
Denn unmittelbar schliesst sich an das Ende des ersten
Capitels des zweiten Buches der Anfang des dritten Buches
an: Kambyses, heisst es dort, unternahm den Feldzug gegen
Egypten aXXoog ts xapaXaßoiv twv vjp/e zai Sr] y.ai 'EXXvjvwv twv
exsxpäTee; hier aber wird fortgefahren Umvac ze •/.«! AtoXsa? St’
atxt’/]v -otrjvoE, so dass der Leser in ungestörtem Zusammenhänge
bleiben würde, wenn auch das Stück über Egypten fehlte.
Der auf uns gekommene Text aber zeigt eine doppelte Bedac
hts zur Uebergabe von Samos an Syloson (III, 149 §. 1), vielleicht bis
zu einem andern nachweislichen Schlusspunkte schon damals, zwischen
447 und 442, geführtes Ganzes zu betrachten sein.
1 Wenn Kirchlioff annimmt, dass für' die I, 106 und I, 184 in Aussicht
gestellten 'Auauptoi Aöyot die Geschichte des babylonischen Aufstandes
gegen Darius (III, 150—-160) ,die nächste und passendste, ja einzige
Gelegenheit 1 (Abfassungszeit 4) geboten habe, so ist einerseits zu be
merken, dass die Geschichte dieses Aufstandes selbst einen rein episodi
schen Charakter trägt, dessen Quelle naheliegt (vergl. die vorige Aum.),
anderseits aber hervorzuheben, dass II. wie die libyschen, so die skythischeu
und die (I, 95) zur Einleitung der persischen Reichsbildung verwendeten
lydischen Geschichten, ja die seiner eigenen kleinasiatischen Landsleute
(I. 142—150), nie bei Gelegenheit eines Aufstandes, sondern jedesmal
vor dem entscheidenden Eroberungszuge der Perser einreiht. Wenn er
sich nun bei Gelegenheit der Eroberung von Babylon, nach seiner An
schauung eines Theiles von Assyrien (I, 106, 192; III, 92), mit einigen
speciell babylonischen Geschichten und Schilderungen begnügt, die Ge-
sammtheit der assyrischen aber noch zurücklegt, so dürfte er für diese
aus seinem Materiale eine ähnliche Darstellungsform wie für die egyp
tischen beabsichtigt haben, die ja auch erst nachträglich eingefügt und
vermuthlich ausgearbeitet worden sind. Immerhin glaubte Herodot den
Nachrichten über Egypten den grössten Umfang geben zu müssen, weil
sich hier (II, 35) ,das meiste- Bewunderungswürdige und die grössten
Werke 1 finden.
568
B ü d i u g e r.
tionsänderung. Im dritten Buche findet sich zunächst die noth-
wendige Wiederanknüpfung nach dem eingeschobenen Stücke:
gegen den eben geschilderten Amasis zog Kambyses äywv y.ai
äXXouc tiov f ( py_£ y.at ‘EXX^vtov ’'Itov«s ze y.at AioXsac Si’ atürjv xsrqvos.
Es ist nun aber auch der vor der Einschiebung stehende Satz
umgeformt worden. Kambyses, heisst es jetzt II, 1, betrachtete
die Jonier und Aeoler als ob sie Sclaven aus seinem väter
lichen Erbe wären: ’Lomc [j.sv y.ai AioXsac w? SouXou; liaxponott:
iov-a? ivcij.'ls, und unternahm einen Feldzug gegen Egypten, bei
welchem er unter anderen Unterthanen in der That auch Hel
lenen seiner Herrschaft mitnahm: ezi de Aiyumov eizoteezo zzpa-
xv]XacjtY]v 47,Aon? ze TtapaXaßwv xüv vjpyy y.at Btj y.at ‘EXXvp/wv twv
er.ey.pdzee. Der Unwille über die Heeresfolge seiner Landsleute
gegen Egypten, an sich schon eine seltsame Einleitung für die
Geschichte des Feldzuges — wie denn diese Heeresfolge im
ersten Capitel des dritten Buches ganz unbefangen erzählt
wird — ist vollends unverständlich in einem Satze, der den
Uebergang zur Darstellung Egyptens bilden soll: die Egypter,
erzählt unser Autor zunächst, hielten sich vor Psaimnetich für
die älteste Nation. Ob nun aber die wenig glückliche Verände
rung des ursprünglichen Satzes überhaupt nicht von späterer
Hand herrühre 1 oder Herodot zuzutrauen sei, das zu entschei
den muss ich der Prüfung besserer Kenner seines Sprachge
brauches überlassen.
Bleibt es nach diesen Erwägungen und bei dem Mangel
eigener chronologischer Anhaltspunkte des zweiten Buches un
entscheidbar, wann die egyptischen Geschichten in die höchst
wahrscheinlich vor dem Spätherbst 442 bis zur Eroberung von
Samos (HI, 149) abgeschlossenen früheren persischen Ge
schichten eingereiht worden seien, so ist ein Zweifel über das
Local der Iiedaction dieses eingereihten Abschnittes schwerlich
zulässig. Mit Recht hat Kirchhoff 2 hervorgehoben, dass nur
Athen hiefür denkbar sei. Denn wenn auch der Schlusssatz
1 Nur einer solchen wird man doch auch die ganz umnotivirte und im
Munde eines Griechen des fünften Jahrh. v. dir. seltsame Insulte zu
schreiben können, die sieh jetzt in der griechischen Version von Psam-
metich’s Verfahren, um zur Ursprache der Menschheit zu gelangen, findet
II, 3 ("EXArjve? 8k Xsyouaiv) aXXa ~i u.axaia izoAAa xai (d>s x. x. X.),
2 Abfassungszeit, 13.
Zur egyptischen Forschung Herodot’s.
569
von Capitel 177, nach welchem ein in Athen noch gütiges
Solonisches Gesetz aus Egypten herübergenommen sei, später
hinzugefügt sein könnte, so gehört doch (II, 7) die Verdeut
lichung der Entfernung von Heliopolis zum Meere nach einem
von einem stadtathenischen Locale aus gerechneten Punkte so
ganz wesentlich zum Zusammenhänge, dass sie ein anderes Local
der Ausarbeitung als Athen unwahrscheinlich macht. Am wich
tigsten aber scheint mir, dasselbe zu erweisen, die Beziehung auf
Aeschylos’ Dichtungen (II, 156). Vielleicht lässt sich Kirchlioffs
Anschauung bestreiten, dass er dieselben ,nirgends anderswo
als eben in Athen' kennen gelernt haben könne; denn in
Sicilien waren sie von des Dichters Aufenthalte in Syrakus
her 1 doch wohl auch bekannt genug und den Colonisten von
Thurii sowohl von dort, wie von der Heimath zugänglich. Aber
die lebhafte, fast leidenschaftliche Form, 2 in welcher Herodot
gegen andere Meinungen die Behauptung aufstellt, Aeschylus
habe die Erfindung, dass Artemis der Demeter Tochter sei,
den Egyptern entlehnt — diese erregten Worte bleiben unver
ständlich, wenn man nicht annimmt, dass eine andere Meinung
verbreitet war, oder von bedeutender Seite vertreten wurde;
eine so eingehende Beschäftigung mit dem Dichter wird jedoch
ausserhalb Athens kaum angenommen werden können.
Näher als sonst ersichtlich hat sich der Geschichtschrei
ber in diesem Abschnitte an die Methode seiner Erforschung
auch bei der Ausarbeitung gehalten. Sein Schema ist freilich
ein sehr einfaches. Bis hieher 3 sagt er uns, (II, 99) reiche
seine eigene Beobachtung; von nun an wolle er die Mitthei
lungen der Egypter, wie er sie vernommen habe, vortragen,
doch werde sich dabei auch etwas von seiner eigenen Beob
achtung finden. Sieht man nun näher zu, so hat er wohl auch
früher eine Anzahl derartiger Mittheilungen, darunter die ihm
sehr wichtige der thebanischen Priesterschaft (II, 54 flgde) über
das Verhältniss des Amon zum Zeus von Dodona, über das
1 Bernhardy, Grundriss der griechischen Literatur. 3. Aufl. 1872. II, 242.
2 ’Ex toutou ob Xoyou xat oü8svo<; aXAou XhyJ)\o<; 6 Eu^op(o)vo< 7jp7iaa£ to syto
epp aato.
3 Mfypi pbv toutou te Ep) xat yvtop] xat laToph) tocutoc X£fOuaa ECTTt, TO
8b ctTuo toü8e Aiyujn:(ou<; bp^opai Xoyou<; eg&ov, xaTa /jxouov 7:pocj&JTai te
auTota( ti xat Tfj? ipjs oJhgs.
Sitzb. d. pbil.-liist. CI. LXX1I. Bd. III. Hft.
37
570
B ü d i n g e r.
Alter des Moeris-Sees (II, 13) und im Grunde auch die auf den
Ursprung des Nil bezüglichen (II, 31). Im Ganzen aber zeigt
die Darstellung noch ganz genau die beiden Hauptrichtungen
seiner Forschung und die planmässige Sonderung seiner an
Ort und Stelle gemachten Aufzeichnungen.
§. 3. Zeit (1er egyptisehen Reise.
Bei der Aufführung der von Darius eingerichteten Sa-
trapien führt Herodot (III, 91) ganz unbefangen auch die
egyptische mit ihrem Ertrage auf. Man darf sonach annehmen,
dass das Land bei der Redaction dieses Theiles der Arbeit,
also der älteren persischen Geschichten, sich nicht im Auf
stande gegen den König befunden habe. Dem entspricht, dass
nach KirchhofFs Beweisen ' das erste und dritte Buch — das
letztere, wie wir sagen müssen, 2 bis zur Geschichte des baby
lonischen Aufstandes — zwischen dem Sommer 447 und dem
Spätherbste 442, da Sophokles das dritte in der Antigone be
nutzte, ihre jetzige Redaction erhalten haben. Hiemit stimmt,
wenn in demselben Zusammenhänge (III, 15) von unserem Ge
schichtschreiber erwähnt wird, dass der Sohn des Rebellen Amyr-
taios, — den er freilich selbst, wie später Manetho, zu den legitimen
Landeskönigen zählt 3 — von den Persern in die Würde seines
Vaters hergestellt worden sei; das ist aber erst nach dem Som
mer 449 geschehen. 4 Da nun unmittelbar vorher erzählt wird
(HI, 12), dass Herodot das Schlachtfeld von Pap remis besucht
habe, auf dem Amyrtaios mächtigerer Verbündeter, der Libyer
könig Inaros, die Perser im Jahre 460 5 besiegte, so ist an
sich gewiss, dass des Autors egyptische Reise nach dem Jahre
460 und vor Spätherbst 442, höchst wahrscheinlich, dass sie
auch vor seine Auszeichnung in Athen zwischen dem Sommer
446 und 444 gehört. In der Beschreibung Egyptens (II, 63)
erwähnt er überdies Stadt und Culte von Papremis aus eigener
Anschauung.
1 Vgl. oben S. 566, Anm. 2.
2 Vgl. oben S. 567, Anm. 1.
3 — oi 7rpoTepoi y£Vop.£Voi ßaaiXE£<; ’Ap.upxodou. II, 140.
4 Thnkydides I, 112.
5 Schäfer 1. 1. 18, 22.
Zur egyptisclien Forschung Herodot’s.
571
Nun hat Herodot das Land bis nach Elefantine im Süden
und das ganze Deltaland im Norden bereisen, das Letztere,
wenn auch ungenau genug, 1 vermessen können und überall
freundliche Information, namentlich von der Priesterschaft er
halten. Egypten erscheint bei ihm durchaus ungetrennt und in
einem Zustande des Friedens.
Zwischen den eben gewonnenen Zeitgrenzen liegen aber
zwei Epochen einheitlicher und friedlicher Regierung des Lan
des. Die eine nach der Schlacht von Salamis im Sommer 449. 2
Die Frage, ob in diesem oder einem der nächstfolgenden Jahre
ein Vertrag zwischen Athen und dem Perserkönig verabredet
worden sei, der ohnehin, wenn abgeschlossen, eine ,praktische
Bedeutung* nie erlangt hat, 3 darf hier unerörtert bleiben. Sicher
trat aber ein factischer Zustand der Ruhe ein, welcher einem
griechischen Reisenden vielleicht den Besuch Egyptens, Sy
riens 4 und Babylons in einem der nächsten Jahre ermöglichte.
Ob einem solchen Reisenden freilich bei der noch frischen Er
innerung an die Gefährdung der Landesherrschaft durch Athen
Landvermessungen und so vielfache Erkundigungen von den
Persern in Egypten gestattet worden wären, lässt sich viel
leicht bezweifeln.
Die andere Friedensepoche ist die von Inaros’, oder wenn
man nach Thukydides’ Worten 5 will, ,der Athener Herrschaft*.
Diese dauerte bis zum Siege des Megabazos über Beide vier
und halbes Jahr bis 456 oder 455 v. Chr. Nach diesem Siege
war bis 449 an ein Bereisen des im Süden und der Mitte von
den Persern, im Delta von Amyrtaios beherrschten Landes in
Herodot’s Weise nicht zu denken. Zwischen 460 und 456 ist
1 Gardner Wilkimon in Rawlinson’s Herodotus II, 6.
2 Wie Stein zu Herodot (1S72) S. XV behaupten kann: ,folglich bleibt für
,H’s egyptische Reise nur die Zeit zwischen 454 und 449 übrig 1 , ist mir
unverständlich.
3 Köhler, Urkunden und Untersuchungen zur Geschichte 1 des attisch-delisclien
Bundes (Abhandlungen der Berliner Akademie 1869) S. 121.
4 Tyrus mindestens scheint er nach II, 44 von Egypten aus besucht zu
haben. Stein (1872), S. XIV lässt ihn wegen des Xöytn in II, 150 von
der egyptisclien Reise nach Assyrien und gar nach dem eigentlichen
Persien kommen, das er schwerlich je betreten hat.
6 Tb pH 7tpärtov expoaouv 1% AiyÜTCTOu ’AOrjvaTin I, 109.
37*
572
B ü <1 i n g e r.
unseres Autors Reise aber um dieser Erwägung willen wirklich
mit etwas mehr Wahrscheinlichkeit als nach 449 anzusetzen. 1
Denn die Landmessungen hatten damals für die Athener ein
practisches militärisches Interesse und die Eingeborenen wohl
Grund und Neigung, die Erforschung des Landes einem be
währten Freunde des ihnen zu Hilfe gezogenen Volkes zu er
leichtern.
Anderseits ist es vollkommen gut bezeugt, 2 dass Herodot
an der Vertreibung des Tyrannen Lygdamis von Halikarnassos
hervorragenden Antheil nahm und aus den Tributlisten der
attischen Symmachie erhellt, dass die Stadt bereits im Jahre
454/3 zu derselben als Republik gehörte. Wegen des nachweis
lich jugendlichen Alters des um 480 geborenen Tyrannen kann
aber die Vertreibung desselben nicht lange vorher stattgefun
den haben. 3 Da Herodot die Heimath bald nach der gelunge
nen Befreiung wieder verliess, so würde die egyptische Reise
um 456 4 angesetzt werden dürfen, wenn sie nicht überhaupt
erst um 448—446 statt hatte.
§. 4. Die Liste (1er Könige.
Was für uns die ausschliessliche Grundlage altegyptischer
Geschichte bildet, die Reihenfolge der Königsnamen mit Bei
setzung der Regierungszeiten, muss bei dem neuerlich erwie
senen 5 gänzlichen Mangel an anderen chronologischen Anhalts
punkten auch für die Forscher unter den Egyptern selbst den
1 G. Rawlinson’s Behauptung (I, 10), sie müsse bald nach Inaros’ Sieg
gehören — or he would scarcely have been received with so much cor-
diality and allowed such free access to the Egyptians temples and records
—- bleibt deshalb nicht minder unbegründet. Hat doch Hekataios minde
stens in Theben die gleiche Freundlichkeit erfahren, wie ja Herodot
selbst n, 143 erzählt.
2 Kirchhoff, Studien zur Gesch. des griechischen Alphabets. 2. Aufl. 1867. S. 8.
3 Köhler a. a. O. 108, 183, Kirchhoff, Alphabet S. 9 bringt den schlagen
den Beweis für Lygdamis’ Alter.
4 Zwischen 460 und 456 angesetzt würde die Vertreibung des Lygdamis
chronologische Schwierigkeiten nicht bieten.
5 Th. H. Martin, sur la date historique d’un renouvellement, de la pdriode
sothiaque (Memoires presentes par divers savants ä l’acad. des inscriptions
et b. 1. t. VIII. Paris 1869) 225—293.
Zur egyp tischen Forschung Herodot’s.
573
gleichen Werth gehabt haben. Wenn, wie doch am wahrschein
lichsten, die Fragmente des Turiner Verzeichnisses den Zeiten
der neunzehnten Dynastie angehören, so hätte man nächst
demselben in dem Herodot um die Mitte des fünften Jahrhun
derts vor Christo vorgetragenen das älteste uns bekannte und
eine Recension der ähnlichen Vorlagen zu erkennen, an deren
Hand Manetho sowohl im Texte als im Registeranhange seines
Werkes arbeitete.
Denn so unschätzbar für die Forschung bei dem jetzigen
Stande des Materiales die Auswahlen anzubetender Könige sind,
welche die Wandschilderungen Tuthmosis III. und Sethos I.
und das Grab des Priesters Tunari bieten, so würden sie doch
kaum anders als antiquarisch in Betracht kommen, wenn uns
der Turiner Papyrus unverletzt oder die jüngere, Herodot vor
gelesene Liste erhalten wäre.
Aber unser Geschichtschreiber war weit entfernt, dem
ihm vorgetragenen Stücke eine so hohe Bedeutung beizumessen.
Denn seine religiösen Ueberzeugungen standen in unverein
barem Widerspruche mit der gelehrten Ueberlieferung der
freundlichen Priesterschaft von Theben.
Sie las ihm 341 Namen menschlicher Könige, die vor
Psammitich I., 1 d. h. mehr als zweihundert Jahre vor Herodot’s
egyptischer Reise, regiert hätten. Die thebanische Geistlichkeit
gedachte ihn durch ihr an sich unverwerfliches Zeugniss der
Königsliste und durch die lange Reihe von 345 Holzstatuen
ihrer erblichen Oberpriester zu belehren, dass die griechischen
Dogmen von dem Leben der Götter auf Erden chronologischen
Bedenken unterliegen. Wie aber der edle milesische Forscher,
der viel früher den gleichen Vorstellungen widerstanden hatte, wie
Hekataios seinen eigenen Ahnherrn im sechzehnten Gliede, der
notorisch ein Gott war, als unbestreitbares Exempel gegen die
egyptische Weisheit anführen konnte, so macht Herodot nicht
minder überzeugt chronologische Daten aus griechischer Special
geschichte geltend. 2 Das wichtigste Argument ist ihm, dass
1 Genauer bis zur Regierung von Sanherib’s egyptiscliem Zeitgenossen, den
Herodot Sethos nennt: £; xoü 'Htpaiaxou xov Ipfa xouxov xov xeLuxouov
(II, 142). Auf diesen folgt ihm aber unmittelbar (II, 147) die Dodekarchie
mit Psammitich.
2 II. 142—145, 100, 101.
574
Büdinger.
Osiris, der Vater des letzten Götterkönigs nach egyptischer
Lehre, identisch mit Dionysos sei, dessen Geburt ,vor etwa
1600 Jahren', d. h. um 2050 v. Chr. feststehe. Wie mochte er
sich daher entschliessen, die 341 Könige zu acceptiren, die
ihm, nach Generationen berechnet, die unglaubliche Summe von
11340 Jahren rein menschlicher Regierungen ergaben!
Er schenkte also der Vorlesung jener Namen um so
weniger Aufmerksamkeit, als die Priester von der bei Weitem
überwiegenden Mehrzahl begreiflicher Weise nichts Erhebliches
zu sagen wussten und sich eben auf die Vorlesung ihrer lüste
beschränkten. 1 Den 330. Namen nach dem Reichsgründer Mena
aber bezeichneten sie ihm als den eben des Königs Moeris,
welcher unter Anderem den Ueberschwemmungssee 2 bei dem
Labyrinth habe graben lassen und von dem auch die Pyrami
den in diesem Wasserwerke herrühren. Nun hatte man ihm
freilich, wie im ersten Theile seiner Aufzeichnungen zu lesen
ist, dort gesagt (II, 13), dass Moeris ,vor noch nicht 900 Jah
ren', d. h. um 1350 gelebt habe —- wie man etwa dem Diodor
das Zeitalter dieses Königs sehr nett auf zwölf Generationen nach
dem Erbauer von Memphis bestimmte. Nach Moeris aber wurden
Herodot nur noch zehn oder elf Königsnamen bis auf Psammi-
tich verlesen, so dass jede Regierung seit Moeris etwa sechzig
Jahre gedauert haben müsste. Es ist nur eine sonderbare Aus
kunft und keineswegs, wie Perizonius und Niebuhr 3 meinten,
eine falsch gelesene Ziffer, wenn er einen dieser Nachfolger,
den Zeitgenossen des Aethiopen Sabakos (um 730 bis nach 710)
siebenhundert Jahre vor Amyrtaios, d. h. vor seine eigene Zeit
(um 1150) setzt.
1 twv o'e aXkio'i ßaoiWuw ou y'ap Eyov ouoEptav l'pyoiv ootoSe?iv xat’ ouoev
eIvou Xa[j.5ipÖT7)T0; II. 101.
2 ,Phiöm en mere‘ nach Lepsius Chronologie I, 265 der Anlass zu den
Moerisgescliiehten, von Brugsch (hist. d’Egypte I, 67) speciell durch Meri
,See‘ erklärt. Bei dem Reichthum an Königsnamen wäre aber ein der
artiges Missverständniss über den König, dem die Tradition noch zu
Diodor’s (I, 50 flg.) Zeit, d. h. im J. 57 v. Chr. (Lepsius a. a. O. 257),
wie zu der Herodot’s unter einer Reihe bestimmter Werke auch dieses
zusehrieb, kaum verständlich.
3 Vorlesungen über alte Geschichte 1, 82. Herodot hat bei der Ausarbei
tung - der Erzählung schwerlich auch nur einmal Ziffern gebraucht.
Zur egyptischou Forschung Herodot’s.
575
Nur dieser Gleichgiltigkeit gegen die egyptische Tradition
ist man denn auch zunächst geneigt es zuzuschreiben, wenn er
unmittelbar auf diesen Moeris seinen Sesostris folgen lässt. Es
ist vermuthet worden, dass er den nachweislichen Vollender
des Ueberschwemmungssees, Amenemhe III., für Moeris gehal
ten habe; ferner habe er in den demselben vorangehenden drei
Osortasen der zwölften Dynastie (deren mindestens zwei eben
falls nachweislich tüchtige Kriegsfürsten waren, und deren
zweiter auch bei Manetho Sesostris heisst), Elemente seines
Sesostris gefunden; diese Elemente seien aber aus den Ge
schichten der neunzehnten manethonischen Dynastie mit dem
ähnlich lautenden Königsnamen Sethos I. oder Set Merenphtah
und seinem Sohne Ramses Meriamun vermehrt worden. Nun
ist unbestreitbar 1 richtig, dass einem so grossen Gelehrten wie
Eratosthenes etwa dritthalb hundert Jahre nach Herodot aus
ähnlichen mindestens halb religiösen Gründen —• indem er
einen König der neunzehnten Dynastie mit Hermes Hephäst’s
Sohne gleich setzte — ein solcher Sprung aus der zwölften in
die neunzehnte Dynastie nothwendig schien. Herodot hatte aber
gar keinen Anlass zu einem so gelehrten Wagnisse. Denn in
die Geschichten seines Sesostris hat er (II, 102—111), wie er
wiederholt versichert, einfach nach den Angaben der von ihm
befragten Priester, sämmtliche bedeutende Eroberungsgeschich
ten des egyptischen Reiches, namentlich auch die Züge Thut-
mosis’ III. zu Lande und zur See, neben einer Reihe von Phan
tasiegebilden seiner Gewährsmänner zusammenziehen müssen.
Das Sonderbarste ist vielleicht, dass sie ihm sagten (II, 110),
dieser König allein habe auch Aethiopien beherrscht, während
wir aus Una’s Inschrift 2 mit aller Sicherheit wissen, dass Aethio
pien dem kriegerischsten Könige der sechsten Dynastie Merira-
Pepi und wohl diesem zuerst gehorchte, zahlreiche andere In
schriften aber darthun, dass es unter der zwölften Dynastie in
1 v. Gutsclnnid, Beiträge zur Geschichte des alten Orients (Leipzig- 1857),
S. 3 flgde.
2 Vic tc de Rouge, recherches sur les monuments qu'on peut attribuer aux
six premieres dynasties de Manethon, Paris 1866, p. 123, 143. Zwischen
Ausarbeitung und Druck dieser Abhandlung fällt die erschütternde Kunde
von dem Hinscheiden dieses herrlichen Forschers am 31. December 1872.
576
Bü dinger.
vollem Gehorsame erhalten wurde, unter der achtzehnten nur
ein Vorland weiterer egyptischer Eroberungen in Afrika, und
unter der neunzehnten so sehr ein Stück des Reiches war, dass
Ramses Meriamun’s Sohn Merenphthah sich nach Manetho
vor Kriegsgefahren dahin zurückziehen konnte.
Man sieht wohl, dass die thebanische Priesterschaft, da
sie unsern Autor von der Echtheit ihrer Listen nicht zu über
zeugen vermochte, mindestens, wenn auch zum Theil mit
kecken Erlindungen, seine Wissbegierde über Sesostris befrie
digte und in gleicher Weise bei seinen Fragen nach einigen
mit Egypten in Beziehung gebrachten Gestalten des homerischen
Liederkreises (II, 118—121) verfuhr.
Wird man nun auch ferner geneigt sein, den angeblich
um 1350 lebenden 1 Moeris, der nur durch zehn Generationen
von seinem i. J. 610 wirklich gestorbenen Nachfolger Psam-
mitich I. getrennt ist, in irgend einer Zeit zu suchen? Den
neugierigen griechischen Barbaren artig abzufertigen, boten ja
hinlängliche Gelegenheit, so viele mit Meri oder Meren d. h.
,geliebt von‘ — beginnende und doch auch an Meri ,See‘ an
klingende Königsnamen, deren einige wir eben berührt haben.
§. 5. Die äthiopische Dynastie.
Aus den 341 Königsnamen der priesterlichen Vorlesung
bemei’kte sich Herodot eine äthiopische Dynastie: oy.xwzatäeza
|V:v AiOi'oxes tjaav lesen wir (II, 100), nachdem er von den 330
Königsnamen nach Menes gesprochen hat. Er konnte diese
achtzehn aber unter den zehn oder elf nach seinem Moeris
genannten nicht mehr unterbring'en. Die Reihe von achtzehn
äthiopischen Königen Herodot’s ist in verschiedenen Jahrtausen-
1 Gardner Wilkinson bei Kawlinson II, 14 t weiss, dass Merenphtah ge-
gemeint ist, da unter ihm das grosse Ereigniss des Anfanges einer neuen
Sothisperiode ,13. C. 1322' stattfand. Auf diese Bunsenscke Erfin
dung antwortet aber Th. Martin a. a. O. 232, 276 flgde mit Kecht:
wenn die in einer sonst fehlerhaften Glosse bei Theons’ Commentar zu
Ptolemäus Handtafeln genannte Aera ,von Menophres 1 wirklich einen
Menschen bezeichne, so noch keineswegs gewiss einen König, wenn
einen König, so schwerlich Menephtah —Bunsen conjicirte (-) für P—, wenn
endlich wirklich Menephtah, so beweise das noch gar nichts für dessen
wirkliche Lebenszeit.
Zur egyptischen Forschung Herodot’ß.
577
den der egyptischen Geschichte gesucht worden. Wilkinson 1
entschied im Jahre 1862, dass sie zur dreizehnten Dynastie
gehören müssten, ohne freilich ahnen zu können, dass im näch
sten Jahre 1863 allein Statuen von sieben Königen dieser
Dynastie ausgegraben sein würden, die sich gut egyptisch ,der
Krokodilgott ist Heiterkeit' d. h. Sebekhotep nannten, und mit einer
noch unbestimmten Reihe von Nofrehotep den Bestand dieser
Dynastie sichern sollten. 2
Uebrigens kennen wir doch aus egyptischen und ausser-
egyptischen Quellen die Könige der äthiopischen Dynastie gut
genug. Es sind deren aber in allen officiellen Listen nur drei; 3
denn der vierte König Rudamon, obwohl er seinen Anspruch
durch eine ganz correcte Stele mit Hieroglypheninschrift 4 über
seine zeitweilige Herrschaft in Oberegypten und selbst in
Memphis geltend macht, hat unter den canonischen Königen,®
wenn überhaupt, so erst der folgenden 26. Dynastie einen
zweifelhaften Platz gefunden, wie denn auch sein Nachfolger
Psammitich I. Rudamon’s Regierung durchaus ignorirt.
Herodot’s Irrthum dürfte sich einfach dadurch erklären,
dass er in seiner thebanischen Aufzeichnung die Zahl der
Aethiopen durch Striche markirte und diese drei Striche bei
der Ausarbeitung für 1 H d. h. 18 las; denn nach der ver
kehrten Aufführung von Moeris kann man nicht zweifeln, dass
das Missverständniss von ihm selbst stammt. Das Missverständ-
niss war aber um so leichter möglich, als das zur Zeit von
Herodot’s egyptischer Reise in Halikarnassos übliche, und also
1 Rawlinson, Herodotus II, 141.
2 Brugsch in der Zeitschrift für Erdkunde 1803, XIV.
3 Manetho’s 25. Dynastie bei Afrieanus und Eusebius (Geo. Syncellus ed.
Bonn. I, 138 — 140, Eusebi chron. can. t. II. ed. Schöne [1866] p. 82—85),
vgl. unten Anm. 5.
4 Haigh in der egyptischen Zeitschrift 1869, S. 3 flgde und S. 45.
5 Vielleicht ist er doch unter dem ersten der irrigen drei Vorgänger von
Psammitichs Vater Neeho, dem Vasallen Assyriens in der 26. Dynastie,
bei Eusebius (84 sqq. ed. Schöne) gemeint, wo er ’A|j.|jipic AlOfoij/, Ameres
Aetln'ops, Merres Aethiops heisst. Derartiges vermuthet schon Bunsen,
Egypten III, 138. Der Auszug des Afrieanus (Syncellus 141) lässt auch
diese Namen aus.
578
B ü d i n g e r.
wohl auch von ihm gebrauchte Alphabet, wie eine erhaltene Ur
kunde beweist, für Eta bereits das später üblich gebliebene
dem unsrigen gleiche Zeichen, für Iota aber zwar ebenfalls
das jüngere den Verticalstrich hat, aber durch die Aehnlich-
keit der älteren noch beibehaltenen Form für Zeta (I) den
Schreiber nöthigte, sich bei dem Iota vor jedem Horizontal
striche oben und unten zu hüten. 1
Noch ganz anders aber sollte sich Herodot’s Ungläubig
keit der egyptischen Priesterliste gegenüber rächen. Denn in
aller Unschuld erzählt er ganz ausführlich von dem dritten
jener Aethiopenkönige, dessen Eroberungszug nach Westen bis
nach Europa freilich auch von einem so gut unterrichteten
Forscher, wie Megasthenes, mit dem des Sesostris besprochen
werden konnte, 2 und der für die egyptischen Priester ihrem uner
müdlichen Frager gegenüber in der Sesostrisfigur ohnehin hin
länglich verwerthet erscheinen mochte.
Von Kyrenäern hörte er, dass sie —• nach dem Wort
laute 3 muss man meinen, die Erzähler selbst — bei einem
Besuche der Orakelstätte des Ammon mit dem Könige der
Ammonier (’Ap.p.wvtwv H, 32) oder dem Ammonischen (xoü
’Agjj.wvtou II, 33) über den obern Lauf des Nil gesprochen haben.
Dieser König führt den kyrenäischem Munde geläufigen Namen
des angeblichen Ahnherrn ihres Königshauses, 4 eines Königs
auf Kreta: Etearchos. Für die stets zu Egypten gehörig gewe
sene und in der Zeit des alten Reiches wahrscheinlich von dem
Hauptlande noch nicht durch einen so weiten Wüstenstrich
getrennte 5 Oase des Amon wäre nün ein besonderer König
schon wunderlich genug, ein griechischer aber ein wahres
Mirakel, das nur durch das grössere als Vermuthung aufge-
1 Kirchhoff Alfabet 1. Tafel n. t.
2 Es'aoxjTpiv [aev xov At^ujirov xai Tedpxti>va xbv AiOicuta ?to; Eupcöjnjs 7ipot).0£tv.
Strabon 15, 686 (957 ed. Meineke).
3 xctos p.kv rj'zouaa dvopwv k'jprjvaltov oapivwv AOeTv xe eAto "Aiaiamvo; yp7]ax>)piov.
II, 32.
4 An der ihm in Kyrene erzählten Geschichte (II, 154 sq.) hatte Herodot
mindestens über den Ursprung des Namens Hattos begründete Zweifel.
5 Ueber diese Frage Näheres bei Cliabas, les papyrus hidratiques de Berlin
1863, p. 35 figde.
Zur egyptischen Forschung Herodot’s.
579
stellte erklärt werden könnte, die Kyrenäer hätten einmal die
Oase erobert. 1
Herodot nennt jedoch selbst noch ein anderes Orakel des
Amon oder Zeus: das in Meroe (II, 29). Nach den Sprüchen des
selben, sagt er, und in der von dem Gotte bezeichneten Rich
tung gehen die Aethiopen in den Krieg. Dass es hier in Na-
pata Könige genug gegeben hat, steht ausser Frage. Von dem
kyrenäischem Munde geläufigen Worte Etearchos braucht man
aber nur den Anfangslaut zu streichen, um den Namen des
Königs zu erhalten, von dem in Napata und in Theben In
schriften und bildliche Darstellungen erhalten sind, den Namen
des dritten Königs der äthiopischen Dynastie, der hieroglyphisch
Thrk, d. h. Tehark, in den assyrischen Keilschriften Tearko,
von Manetho Tarkos oder Tarakos, von Megasthenes Tearkon, von
Eusebius Tarakos, von Hieronymus Tarachus, und in der Bibel un
genau hebräisch Thirhaka, griechisch Tharaka geschrieben wird. 2
Erwägt man nun, dass Megasthenes diesen äthiopischen
König von Egypten, wie oben bemerkt, gleich Sesostris, d. h.
diesmal gleich der Zeit Thutmosis III. und seiner nächsten
Nachfolger, Nordafrika erobern lässt, so ist selbstverständlich,
dass Tehark auch über Kyrene gebot. Wenn aber dortige Be
wohner zu dem Orakel zogen, welches die Kriegszüge dieses
Königs anordnete, so werden wir das nicht eben auffallend
finden.
Wenn sonach unzweifelhaft ist, dass an den beiden er
wähnten Stellen statt ’Afj.p,ü>v(ü)v und 'Ap-iroiviku vielmehr AiOtömov
und AiÖiotoc zu lesen ist, so muss ich doch wie oben S. 568
Anderen zu entscheiden überlassen, ob das Missverständnis
Herodot oder einem Abschreiber zur Last fällt; doch neige ich
zu der ersten Annahme, da Herodot die Begebenheit für eine
durchaus zeitgenössische gehalten zu haben scheint.
Immerhin kann man sich darüber wundern, dass Herodot
(II, 41) sich den zweiten Aethiopenkönig — in den Listen Se-
bichos, in der That der zweite Saba oder Seve — als Sethos
1 Probably from tliis Oasis liaving been conquered by tlie Cyrenaeans. Wil-
Itinson 1. 1. II, 43 n.
2 Oppert, rapports de l’Egypte et de l’Assyrie (1869 mem. de l’acad. VIII a )
563 bringt die Literatur des Namens erschöpfend.
580
Büdinger.
und einen Priester des Phtliali vorführen Hess. Denn Set’s oder
Sutech’s Namen hätte ihn an Typhon erinnern sollen und ward
von Königen Egyptens nur der neunzehnten Dynastie geführt,
aber seit der zwanzigsten Dynastie, 1 da er nur noch als ein
semitischer Gottes- und daher als Feindesname erschien, ge
flissentlich gemieden. Bemerkenswerth ist aber, dass Herodot
sich einen solchen Namen als den letzten vor der Dodekarchie
aufbinden lies.
§. 6. Die Pyramidenkönige.
Am übelsten haben vielleicht unserem trotz alledem gleich
bewunderungswürdigen Autor Irrthum und Erfindung seiner
Berichterstatter in den Geschichten der Pyramidenkönige mit
gespielt.
Wir sind nun doch über diese Epoche egyptischer Ge
schichte aus durchaus gleichzeitigen schriftlichen Quellen und
aus den erhaltenen Denkmalen und Statuen so gut unterrichtet,
dass spätere Berichte, wie der Herodot’s, uns nur vereinzelte
Ergänzungen bieten können. Aber eben der besonnene neueste
Forscher, dessen erschöpfender Arbeit über die Geschichte der
sechs ersten Dynastien wir zu so grossem Danke verpflichtet
sind, eben der Vicomte de Rouge hat doch gleich allen Vor
gängern der handgreiflichsten unter den Täuschungen der
Pyramidenmärchen, der von dem Baue des ,ChuP (der grossen
Pyramide), warmen Glauben geschenkt. -
Um die Unmöglichkeiten gleich hier zu beginnen, so wird
doch heutzutage schwerlich ein Kenner des egyptischen Alter-
thumes glauben können, dass auf irgend einer Pyramide der
Preis der Arbeitslöhne ihrer Erbauung gestanden habe. Und
vollends die Auszahlung derselben! Lange nach der Erbauung
des Chut unter dem sechzehnten Nachfolger des in ihm begra
benen Chufu, unter Merira-Pepi commandirte Una die aus Egyp-
1 Ramses III. aus der 20. hat Set zuletzt im Wappen. Bunsen, Egypten
IV, 243. — Englische Forscher (Rawlinson five mon. II 167) haben
übrigens für H’s Sethos auch an den Z^x der 23. Dynastie errinnert.
2 P. 42: Les historiens grecs entendaient encore l'eelio des maledictions
que les travaux n^cessaires pour la construction d’un si prodigieux tom-
beau avaient du amasser sur la tete de Chufu et dont le Souvenir ne put
jamais s’effacer.
Zur egyptiKchen Forschung Herodot’s.
581
tern und Negern gegen die Herusha gebildete Armee und
erzählt, dass er an seine Truppen ,Lebensmittel und Schuhe' ver
theilt habe. 1 Aber die Gattung der Lebensmittel — ,Rettige
und Zwiebeln und Knoblauch', wie uns Herodot’s (II, 125) Dol
metscher die Nahrung der Frohnarbeiter an dem grossen Grab
mal schildert — erfahren wir natürlich nicht. Bei einer Armee
war es wichtig, ihren Bestand zu kennen; Una weiss nur, dass
er tebu asu ,viele Myriaden' commandirt hat (Rouge 127),
während Herodot’s Dolmetscher an der Umkleidung des Chut
abliest oder doch erzählt (II, 124), dass je 100,000 Menschen
sich alle drei Monate für den Bau der Chaussee und des Mo
numentes dreissig Jahre lang abgelöst haben. Das Schönste
ist aber doch eben der Preis ihrer Unterhaltung: Herodot hält
selbst für nöthig, ausdrücklich zu versichern, dass er sich der
Worte seines Interpreten wohl erinnere (wc sp-s eu [/.epdjüOai xa
o epjj.Y)vaj? [j.oi £iriXeYCf/,svo<; xa ypa;xgaxa epn)), ehe er berichtet, dass
1600 Talente Silber für diese ziemlich einfache Kost veraus
gabt worden seien. Er gibt dem Leser redlich zu bedenken, wie
viel erst noch die Instrumente, Kleidung und Ernährung für
die Handwerker (IpYa^opivotat) und die vorbereitenden Arbei
ten für den Bau gekostet haben mögen.
Sechzehnhundert Talente Silber! Wann haben egyptische
Könige des alten Reiches Lebensmittel für ihre Bauleute kaufen
müssen und bei wem? War nicht die ganze Masse der Be
herrschten im Zustande von Sclaven (hon) gegenüber den
Priester-Kriegern, ,den Hellfarbigen (ami)'? 2 Bereits unter dem
vierten Könige nach Chufu unter Aseslcaf wird das Amt eines
,Aufsehers über alle Mundvorräthe' als eines der wichtigsten
genannt (Rouge 68), da einer der höchsten Beamten, ein Eidam
des Königs, zu demselben berufen ist. Auch Chufu kann über
die Früchte des Landes nur frei verfügt haben.
Wir haben es aber mit einer Rechnung nach Talenten
und damit mit ihrem Sossostheile, der Mine, eines bei den Egyptern
des alten Reiches so seltenen Edelmetalles, wie des Silbers zu
thun. Denn wie das Electrum wird Silber,hat' durch das hienach
viel ältere Zeichen für Gold ,nub' determinirt, so dass mit
1 Rouge 125.
2 Ebers, Egypten und die Biiclrer Moses’ (Leipzig, 1868) S. 52.
582
Bü dinge i\
seinem Namen ,ursprünglich wol „das weisse Gold“ gemeint
gewesen ist', und dass sein Werth von dem des Goldes lange
wenig verschieden war. 1 Eine Berechnung beider Edelmetalle
nach Talenten ist aber erst lange Jahrhunderte nach dem Er
bauer des Chut, vielleicht durch die Hyksos, gewiss jedoch erst
bei den Zügen der achtzehnten Dynastie nach Syrien und Me
sopotamien, wo dieses chaldäisclie Gewichtssystem bereits einge
führt war, den Egyptern bekannt geworden. Das beweisen die
schwerfälligen Umrechnungen der dortigen Tribute Thotmess III.
im egyptische Pfunde und Lothe hinlänglich. 2 Dass zur Zeit
der Pyramidenerbauung die Edelmetalle überhaupt einen be
stimmten Werth gehabt haben, ist mehr als zweifelhaft, gewiss
aber, dass officiell nie nach einem solchen gerechnet wurde.
Und so häufig und genau die Würdenträger in ihren Gräbern
von Ehren und Gütern und Frauen sprechen, die ihnen der
Könige Gnade verliehen habe, von Beträgen in Gold und gar
in Silber ist schwerlich auch nur einmal vor der zwölften Dy
nastie, 3 und von Geld in imserm und Herodot’s Sinne natürlich
niemals die Rede.
Vollkommen wird der Widersinn der ganzen erlogenen
Inschriftübersetzung 4 aber erst, wenn man sich vorstellt, dass
ein Gegenstand so profanen, ja gemeinen Inhaltes dem Be
schauer der Aussenseite eines solchen Werkes hätte entgegen
1 Lepsius, die Metalle in den egyptischen Inschriften (Abhandlungen der
Berliner Akademie 1871) 49, 116, 51. Dass übrigens auch Silber aus
Nubien, und wohl von dort zuerst, nach Egypten kam, zeigt Diimichen
(Egyptische Zeitschrift 1872) 44—46.
- Joh. Brandis, Münz-, Mass- und Gewichtssystem Vorderasien’s bis auf
Alexander den Grossen. (Berlin 1866), S. 93 flgde.
3 Brugsch, hier. dem. Wörterbuch III, 748 hat als ältestes Citat die Er
wähnung von Goldgegenständen im Grabe Ameuis zu Benihassan unter
Osortasen II. Lepsius a. a. 0. 31 bemerkt, wie hier noch das Gold
durch Abbildung der Goldwäsche versinnlicht ward, deren Zeichen später
nicht verstanden zu sein scheint; er hält übrigens den Gewinn von Gold
im Thale von Hamamat (S. 37) schon unter Chufu für denkbar. RougÄ
freilich führt von dort keine Inschriften aus der Zeit dieses Königs an.
4 Diodor I, 64 wurde wenigstens nicht mit einer solchen behelligt, und
erfuhr nur im Allgemeinen, dass 360,000 Menschen kaum in 20 Jahren
das Werk beendet hätten und gesteht im Uebrigen (I, 65), dass über
den Pyramidenbau in keinem Punkte oÜte 7t«pa rot? iy-/_wploi$ oöte Kap«
rot; auYYpacpeuai Uebereinstimmung herrsche.
z
Zur egyptisclien Forschung Herodot’s. 583
treten sollen. Denn im eminenten Sinne religiösen Ideen diente
die Pyramide, da sie mit dem Leibe eines der gottgleichen
Könige des Landes die Existenz dieses immerlebenden Horus
sichern sollte, eines Königs dazu, der noch nach einer langen
Reihe von Jahrhunderten seinen eigenen Cult und Propheten
hatte. 1
Nach Herodot freilich ging Cheops’ Bosheit (y,ay.ovr l q J H,
124, 126, 128) 2 so weit, dass er alle Religionsübung verbot
und darin habe ihm sein angeblicher Bruder und Nachfolger
Chephren nachgeahmt — in der That sind freilich Chufu’s und
Schafra’s lange Regierungen durch die Ratutf’s getrennt.
Genau das Gegentheil berichten über diese religiöse Frage
die Denkmale: ,Seiner Mutter Isis und der Hathor errichtete
(Chufu) eine Säule mit Inschrift und gab ihr ein Landgebiet
von Neuem. Er baute ihren Tempel aus Stein und setzte
die Götter an ihren Platz' (Rouge 47). Man kann nicht zwei
feln, dass das Alles wörtlich genau angegeben ist, auch in der
Beziehung, dass man Chufu wie seine nächsten Nachfolger
durchaus als Architecten-Könige zu betrachten und demgemäss
die Titel ihrer Söhne und vornehmsten Hofbeamten ,Director
der Arbeiten' oder, wie bei Chufu’s Sohn Hata, ,des Geheim
nisses aller Arbeiten' oder ,aller Arbeiten, welche es dem
Könige zu verfertigen beliebte' für getreuen Ausdruck ihrer
Beschäftigungen zu halten hat.
Dem entspricht eine andere hieher gehörige Inschrift
(Rouge 46): ,Chufu . . erfand den Tempel der Isis, der Re
gentin der Pyramide, neben dem Tempel der Sphinx'. Er war
ausserdem ein Verehrer des später gering geschätzten Anubis.
Nach Allem kann man es nicht befremdlich finden, wenn eine
Dame dieser Zeit (Rouge. 52) den Namen ,Chufu geliebt von
den Göttern' (Chufu-mernuteru) führt.
Aehnliches lässt sich von Schafra sagen: seine von Ma-
riette entdeckten Statuen weiht er dem Gotte Harmachu im
Sphinxtempel, seinen ältesten Sohn Raenkau ernennt er zum
1 Rouge, six prem. dyn. 53, .48.
2 Irrig vergleicht Stein (1872, I b , 142) die xaxÖTr]? in III, 82, wo sie
schlechte politische, und in VII, 168, wo sie schlechte patriotische Ge
sinnung bezeichnet.
)
584
Büdinger.
,Chef der Geheimnisse des Anbetungshauses', seine Hauptge
mahlin Merisanch zur Priesterin des Gottes Thoth.
Auf so ganz freier Erfindung aber, wie man an diesem
Punkte unserer Untersuchung annehmen sollte, beruhen keines
wegs alle die Geschichten von der Bedrückung des Volkes und
der ,Bosheit' gewisser, wenn auch entfernt nicht der Pyramiden-
Könige. Plerodot gibt uns selbst den Schlüssel und zwar in
doppelter Gestalt.
Am Ende seines Berichtes sagt er nämlich ganz uner
wartet: Die Egypter sprechen aus Hass nicht gern von diesen
Königen ,und nennen auch die Pyramiden nach dem Hirten
Philitis, der um diese Zeit in diesen Gegenden sein Vieh wei
dete'. Wir haben es mit anderen Worten mit einem der ,Hir
tenkönige', wie Manetho 1 das Wort Hyksos übersetzt, zu thun.
Von dem ersten Gesammtkönige derselben Salatis berichtet
er aber, dieser habe in Memphis residirt, von Ober-, wie Un
teregypten Tribut eingezogen, 2 im Sommer aber seinem Heere
von der Grenzfeste Avaris d. h. Pelusium 3 aus ,Getraide zu-
getheilt und den Sold gewährt'. 4 Beides, der Druck des Vol
kes und die Lohnzahlung, von denen Herodot erzählt hatte,
wird hier gut genug bezeugt, wenn auch in sehr fremdem Zu
sammenhänge. An der Identität von Philitis mit diesem in der
authentischeren armenischen Uebersetzung des Josephus Silitis 5
genannten Hyksoskönige wird man aber um so weniger zweifeln
dürfen, als die Erinnerung an ,Set Saläti' ,den guten Gott,
den Stern beider Welten, den Sohn der Sonne' durch Statuen
und Inschriften, deren je eine auch auf uns gekommen ist, 0 den
Egyptern lebendig erhalten wurde. In der That hat derselbe
nach Herodot’s Worten in der Landschaft — -/.ata ta /wp(a —
der Pyramiden, nämlich in Memphis, gelebt.
1 Die beste Edition dieses einzigen echten Stückes von Manetho’s Text
(aus Josephus c. Apion I, 14 — 27) bringt Bunsen, Egyptens Stellung III.
Urkundenb. 42.
2 Oüxos Iv Tfj Mfp.0181 xaTtyiveTO T7jV ts avw xal xatto yc&pav SaapoXoywv.
3 Brugsch in der egyptischen Zeitschrift 1872, S. 19.
4 — uiTOfiETpwv xai pua0ooop(av r.zpzyßus'/oc.
6 Bunsen a. a. O. S. 42, Anm. 6.
6 Vgl. Ebers 202.
Zur egyptisclien Forschung Herodot's.
585
Inzwischen ist noch ein anderes, derselben Hyksosepoche
angehöriges Element unserem Geschichtschreiber in seine Erzäh
lung von den Pyramidenkönigen eingefügt worden. Cheops,
sagt er (II, 124), ,schloss die Tempel zunächst, um alle Egypter
an den Opfern zu hindern, dann um sie für sich arbeiten zu
lassen'. Während Cheops’ und seines Bruders ganzer Regie
rung hundert und sechs Jahre lang, sagt er später (II, 128)
habe diese ,Bosheit' gedauert und seien ,die Tempel geschlossen
und nicht geöffnet worden'.
In der That berichtet dem Entsprechendes ein so unver
werfliches Actenstück, wie Papyrus Sallier n. I., von dem
letzten in Egypten anerkannten Hyksoskönige Apepi oder
Apophis, von eben dem Könige also, gegen welchen die Egyp
ter unter Raskenen sich zuerst mit Glück erhoben, wie Haupt
mann Ahmes in seiner Autobiographie so anschaulich erzählt.
,König Apepi', meldet der Papyrus, ,erwählte sich Gott Set zum
Herrn und diente keinem andern Gott, welcher in Egypten
war'. Da sein Gesandter die ausschliessliche Anerkennung Set’s
auch von Raskenen in Oberegypten gefordert zu haben scheint, —
denn ganz sicher ist der Inhalt der Botschaft noch nicht fest-
gestellt — befragte dieser eine Notabienversammlung. ,Siehe'
,man rief mit einem Munde: grosse Bosheit ist das'. 1
Die Verdrängung der egyptischen Culte und die ,Bosheit'
des Königs sind sonach auch klar genug.
Um aber jeden Zweifel zu heben, gibt Herodot (II, 128)
als Gesammtzahl dieser bösen Regierungen ,nach egyptischer
Rechnung 106 Jahre' — selbstverständlich, da er Cheops fünf
zig und dessen Bruder sechsundfünfzig Jahre zutheilt. Die Be
tonung der Summe erklärt sich aber, wenn man in Eusebius’
Auszuge aus Manetho 2 liest, dass die siebzehnte, aus den ein-
1 Uebersetzung von Ebers I, 205 flgde.
2 Bei Hieronymus (ed. Schöne 16) 103 (Var. 104) Jahre; bei dem Syn-
kellos (I, 114 sq. ed. Bonn) auch 103, eine Variante Goar’s aus eod. A,
bei Bunsen 26, gibt aber dem zweiten Könige 43 statt 40, damit Allen
gerade 106 Jahre. Wenn übrigens der Synkellos den hier ganz unbrauch
baren Aufstellungen des Africanus, um den Josefmythus (vgl. Sitzungsber.
November 1872, S. 27) chronologisch unterzubringen, den Vorzug gibt
und Eusebius wacker schilt, so ist das heiter genug. Dass ihm aber
8caliger’s Genius (Syncel. II, 388), neuerlich Bunsen (Egypten IV, 15)
und Andere nachschreiben konnten, ist beklagenswerth.
Sitzt), ct. phil.-Mst, CI. LXXII. TSU. III. Hft.
38
586
Büdinger. Zur egyptischen Forschung Herodot’s.
zig'en 1 in Egypten canonisch anerkannten vier Königen der
Hirtenfürsten bestehende Dynastie eben hundert und drei, vier
oder sechs Jahre regiert habe; die Namen dieser vier Könige
muss freilich Herodot bei der vergeblichen Priestervorlesung auch
gehört haben. Gegenseitig bestätigen sich hiemit aber nicht nur
Herodot und Eusebius, sondern Beide beweisen aufs Neue die
Genauigkeit Manetho’s in jenem einzigen, authentisch auf uns
gekommenen Texte. 2 Denn wie verderbt auch sonst die Zahlen
überliefert sind, die 106 Jahre enden auf alle Fälle innerhalb
der Regierung des Apophis. 3
Hat sich nun gezeigt, dass die hasserfüllte Erinnerung an
die semitischen Herrscher sich an den unverständlich gewor
denen Wunderbauten der Vorzeit bei den Egyptern des fünften
Jahrhunderts fixirt hatte, so macht auch die verwunderliche
Geschichte von Cheops’ Tochter (II, 126), die für ihren geld
bedürftigen Vater schmählich erworben habe, keine Schwierig
keit mehr. Denn in dem schmählichen Dienste der Bilit, 1 oder
in griechischer Umformung Mylitta, waren die Frauen, wie
unser Autor selbst aus Babylon (I, 199) berichtet, in der That
religiös verpflichtet, ein Geldstück zu nehmen. Herodot’s Be
richt von Cheops’ Tochter dürfte aber ein Zeichen sein, dass
auch dieser Dienst unter den Ilyksos in Egypten üblich war.
1 Deshalb betont Manetho a. a. 0.: uEpsc [j.ev ßaatkfa Eva ec kutwv E7to!r]aav
und oütoi (j.ev Sj ev aütoE; EyEVjj07)aav jcpSiTcii U'/OVTEC. Aber nur die vier
ersten sind canonisch anerkannt; die beiden letzten geboren in die Kampf
epoche.
2 Das nächstfolgende Excerpt erweist sich daher schon durch den wider
sinnigen Zusatz zu der Erwähnung der sechs Hirtenkönige xai xou; f?
a&xwv -fEVopJvous als verdächtig.
3 Die beiden ersten Könige haben (Bunsen IH, Urk. 43) nach der arme
nischen Uebersetzung lö-)-43=58, nach unserem griechischen Text 19-f-
44=63 Jahre, der dritte in beiden 36 J. und 7 Monate = 94 oder 99 J.
und 7 Mon. Der vierte König ist eben Apophis mit 61 Gesammtjahren;
dass er seit dem Beginne des Krieges durch Raskenen nicht mehr als
legitimer König gezählt ward, scheint selbstverständlich.
4 Schräder, die Keilinschriften und das alte Testament (Giessen, 1872), S. 82.
Goldzilior. Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkoit bei den Arabern. 587
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit
bei den Arabern.
Von
%
Dr. Ignaz G o 1 cl z i h e r.
II. i
Zur Gauhari-Literatur.
I. Unter den vorhandenen Wörterbüchern der arabischen
Sprache ist das Sahäh des ö-auhari dasjenige, welches zu
allererst eine methodische Anordnung und Sichtung des
gesummten Sprachmaterials des klassischen Arabisch unternahm,
und diese Anordnung mit einer Fülle von Beweisstellen aus
den alten Dichtern begleitete. Al-Gauhari ist als derjenige
zu betrachten, welcher die Tradition über die klassische
Sprache zum Abschlüsse brachte und der Epoche der Vor
arbeiten auf diesem Gebiete ein Ende machte. Sein Wörter
buch war daher als lexicographisches Grundwerk sowohl von
den arabischen Gelehrten selbst hochgeschätzt, als auch von
den Begründern einer arabischen Philologie in Europa mit Recht
gleichsam als Orakel in allen Dingen, wo auf das arabische
Lexicon selbst zurückgegangen werden musste, angesehen 2 ;
besonders Reiske war es, der in seiner Begeisterung für
al-Gauhari soweit ging, dass er behauptete: ,helles und reines
,Licht sei nur von dort zu holen, und al-Gauhari allein sei
,für das Verständniss des alten Testamentes nützlicher als die
,ganze Synagoge' 3 .
1 S. Nr. I. in diesen Sitzungsberichten Bd. LXVII p. 207—251.
2 Z. B. Schultens Origines hebraeae. (Lugd. Batav. 176t) p. 10. §. XVIII.
3 Reiske in seiner Antrittsrede als ausserordentlicher Professor an der
Leipziger Universität (Lips. 1779) p. 224. ,Ultro largimur, claram et
purarn lucem inde unico peti et unum Gauharium sacro Codici V. T.
plus quam totam Synagogam prodesse“.
38*
588
G-oldziher.
Doch trotz aller Ehrerbietung für dieses grosse Werk
hatten die arabischen Gelehrten von aller Anfang an Vieles
daran zu tadeln, und nie konnte al-Gauhari’s Werk in der
arabischen Lexicologie den Rang einnehinen, den z. B.
al-Buchäri’s Sahih in der Traditionskunde, Sibaweihi’s
Kit ab in der Grammatik einnahm und noch einnimmt. —
Daran hat zum Theil ein Umstand tragikomischer Art, welcher
der ungestörten Entstehung dieses Werkes hindernd in den
Weg trat, die Schuld. Obwohl eine auf die scholastischen
Spitzfindigkeiten der arabischen Syntax gemünzte Satyre den
Grammatikern das traurige Privilegium einräumt stumpf
sinnig zu werden ', ereilte dieses Schicksal dennoch den
Lexicologen al-Gauhari, und war Ursache seines traurigen
Endes. Sein Lexicon wartete damals noch der endgültigen
Redaction, und diese Arbeit blieb auf den getreuen Famulus
des grossen Gelehrten, Ibrahim b. Sälih al-Warräk, welcher
die ganze Partie von Buchstaben an, redigirt haben soll.
Da nun dieser Fortsetzer, keine dem ursprünglichen Verfasser
ebenbürtige Capacität war, so musste die Autorität des ganzen
Werkes durch diese ungleichmässige Begabung und Gelehr
samkeit der beiden Redacteure leiden. Wie leicht konnte
auch die Meinung Platz greifen, des Schülers Hand habe auch
in der vom Lehrer redigirten Partie gewaltet! Dann kommt
der Umstand hinzu, dass bei der grossen Verbreitung, welche
das Sahäh fand, und bei dem grossen Bedürfnisse nach
vielen Exemplaren desselben, ein grosser Theil der unter
die Leute gelangten Abschriften nicht frei von Fehlern war,
1 Ibn-'abd i-Rabbihi’s: al-'Ikd-al-farid. (Hschr. der k. k. Hofbibliothek,
o -T>? « - , ,,
Cod Mixt. N°. 318) Bl. 70 recto: Xä+s. ^-sUl yiS I ! kJ Lij
Dieses traurige Schicksal ereilte auch in der That einen gelehrten
andalusischen Grammatiker Namens 'All b. Muhammed, welcher einen
Commentar zu STbaweihi verfasste, der ihm als Honorar tausend
Denare einbrachte; er hielt auch an vielen Orten Vorlesungen über
arabische Grammatik, bis ihn in Aleppo der gesunde Menschenverstand
verliess. o
9 I ^0Lj S. al-Kutubi s Fawät*äl _ Wäfä]fit)
ed. Büläk II. p. 100.
I
5
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsarakeit hei den Arabern.
589
und namentlich in der diakritischen Punctation mannigfache
Mängel und Abweichungen aufwies. Und in der That bezieht
sich auch der beträchtlichste Theil der späteren Ausstellungen
an Angaben in al-Gauharis Werke, auf und der
Wörter. " " V
So sehen wir denn auch wie von den älteren Zeiten bis
auf die modernen herab gegen al-Gauhar! in grösserem oder
kleinerem Zusammenhänge gelegentlich und systematisch pole-
misirt wird. Gleich al-Harawi, al-Gauhari’s Zeitgenosse,
der treffliche Lexicograph der Traditionen, nimmt Gelegenheit
das Sahäh zu bekämpfen 1 und an-Nawawi 2 ebenso wie der
berühmte Verfasser des
aaaJU! , Ibn-Hisäm, 3 wider
sprechen seinen Angaben häufig; und at-Tebrizi, welcher
namentlich die grosse Anzahl von irrigen Schreibweisen rügt,
erklärt ausdrücklich, dass nach seiner Ansicht jene vom Ver
fasser selbst und nicht vom Abschreiber herrühren. 1 Unter
denjenigen, die dem Sahäh gelegentlich widersprechen, finden
wir auch von minder hervorragenden Gelehrten: Az-Zengäni 5 ,
den Zein al-'Arab, einen Commentator des ^-:Ia2-o«, und
1 as-Sujüti’s Muzkir IX p. (‘Jy
2 Bl. 50 recto. [Wo ich in dieser Abhandlung die Blattseite citire ohne
eine Handschrift zu bezeichnen, beziehe ich mich auf den Cod. Nr. 70
der Leipziger Universitätsbibliothek, auf den ich unten näher zu sprechen
komme]. Jjü Lo yfjjÄJ! j*Lo!^l Jls«
3 Bl. 49 recto gegen G. s. r. a^J, wo er angiebt LyJ JUs ^a" J «.*
J J
jüJül £ OjA-S ^aaaI: St ebenso BL 55 verso gegen die
Bemerkung G.’s über das Ausrufungswort LjI
■> Hägi Chalfa IV p. 92.
5 Bl. 38 verso: »-ff, pIjÜIj Sj.5^3 yk)* pUo^-s
oLäJU Uit,
6 Bl. 33 verso: JLaJ löl sil Hjkb Lo,
t,_ ö, !1, ^ £a2J £a2~J! LfiJ
590
(t ol d z ili er
einen 'Ali al-Küsagi 1 u. a. m. Eine stattliche Reihe von irrigen
Schreibweisen, die in al-Gauhari’s Werk zu finden sind, hat
der fleissige Sammler as-Sujüti zusammengetragen 2 .
Der erste Gelehrte, welcher in grösserem Zusammenhänge
Ausstellungen gegen das Sahah vorbrachte, scheint der aegyp-
tische Grammatiker Abu-Muhammed ‘Abd-alläh ibn Berri
zu sein. Dieser wurde im Jahre 499 d. H. in Jerusalem
geboren, machte sprachliche Studien in Andalusien, bürgerte
sich aber in Aegypten ein, wo er ein berühmter Gelehrter
der säfi'itischen Schule wurde; sein Hauptfach war die Sprach-
gelehrsamkeit, besonders die Grammatik, in welcher er sich
dermassen auszeichnete, dass er den Ehrentitel ,König der
Grammatiker' erhielt 3 ; er starb im Jahre 582 d. H. 4 oder
nach anderen schon im Jahre 5fi5°, und hinterliess neben anderen
Arbeiten sprachgelelirten Inhalts auch Bemerkungen über das
Sahah 0 , in welchen er sich die Aufgabe stellt, die Irrthümer
in al-Gauharfs Lexicon zusammenzustellen und die falschen
Angaben desselben zu berichtigen. Dawüdzäde, auf den ich
im weiteren Verlaufe dieser Beiträge noch ausführlich zurück
komme, benützte die öliLylxj' des Ibn Berri fleissig, und
seinen Citaten verdanke ich eine Uebersicht über diejenigen
Lexiconartikel des (rauhan, an welche Ibn Bern seine Bemer
kungen anknüpfte. Die beziehen sich zum grössten Theile auf
XaA.w r, 1 y^y (j, U
xlol/oj üobolj aJÜl Sij aJiy
1 Bl. 28 verso, s. v. Bl. 36 verso, s. v.
2 Muzhir II p. (<|‘)
3 S. diese Sitzungsberichte LVXII p. 249.
* Häg! Chalfa III p. 205.
5 Cod. Ref.Vijj ä Nr. 232. Bl. 60 verso. Diese Hdschr. enthält eine chrono
logische Zusammenstellung der Sterbejahre berühmter Gelehrter und
betitelt sich: ^gJyi ^ verfasst von Hamas
b. Ahmed b. 'Alt al-Huseini, welcher im IX. Jhd. lebte, seine
Studien in Damaskus machte und neben mehreren Werken juridischen
Inhaltes auch isLsÄJI^ ^..o otJJI yyUüio verfasste.
« H. Ch. IV p. 93.
Beiträge znr Geschichte der Sprachgelehrsaraheit hei den Arabern.
591
oLa^SÖ’s in Apsjlativis 1 ebenso wie in Eigennamen 2 , auf
falsche Wurzelangaben 3 , sie erstreckte sieb ferner auf die
Berichtigung von Fehlern in der Erklärung oder Lesung von
Dichterversen 4 , auf Grammatisches 5 seltener auf geographische
Angaben 6 ; auch bei al-Gauhari fehlende Wurzeln werden
ergänzt 7 . Seine Bemerkungen hat der neueste Lexicograph
der arabischen Sprache, E. W. Lane fleissig benützt und mit
seinem bekannten philologischen Tacte verarbeitet. Ich bemerke,
dass auch Däwüdzäde, die bereits von äl-Büsti, dem Fort
setzer der Ibn Berri’schen hawäsi herrührenden Bemerkungen
zu al-Gauhari’s Artikeln vom Endbuchstaben u* und weiter,
immer im Namen Ibn Bern’s citirt, wie dies Lane auch von
Anderen berichtet, welche diese hawäsi citiren s . Darüber, ob
er das Werk Ibn Berri’s selbst benützen konnte, oder ob
er dasselbe nur aus Glossen und Citaten bei anderen Lexico-
graphen kennen lernte, spricht sich Lane nicht aus. Ibn
Mukarrim, der Verfasser des Lexicons ,Lisän al-'Arab !
scheint der erste Lexicograph zu sein, welcher diese hawäsi
benützte und in seinem Werke verarbeitete 9 .
1 Bl. 5 recto, über aus-yo; Bl. 6 verso über äLcyo; Bl. 36 verso über
u. a. m.
2 Bl. 20» ola; Bl. 27 recto Bl. 21 verso. JuLo gegen JoLo;
Bl. 29 recto 29 verso yjß; Bl. 44 verso Juü
3 Bl. 4 verso. I fo I.: Bl. 8 r. 23 r. tXJJI > 36 r. ; 41 r.
Bl. 29 recto
5 Bl. 21 recto wird gegen G’s Aussprache des Jkjj als Nomen geredet; —
o-r . - o®
Bl. 22 verso, Plural von Bl. 46 recto, Plural von jiLaiM; Bl. 24
verso über Deminutivbildung; Bl. 52 verso, Construction der Phrase
6 z. Bl' s. v. ; u. a. m.
u. a. m.
7 Bl. 4 recto Lj'l. r
8 Lane’s Preface zu seinem Lexicon p. XIV.
8 H. Ch. V p. 311. — Lane 1. c.. p. XIX.
1
592
Goldziher.
II. Ibn Bern regte die Literatur der is^LcI an.
Er zeigte den Nachfolgern wenigstens diejenigen Stellen im
Sahäh, an welchen philologische Akribie Stoff zur Uebung
finden könnte, und that dies selbst mit dem Aufwande einer
grossen Belesenheit und Gelehrsamkeit '. Ein Mann wie
Saläh-ad-din Abu-s-Safä Chalil b. Aibak as-Safadi
konnte dieses Gebiet nicht unbebaut lassen, da es ihn ver
möge der ganzen Richtung seiner literarischen Thätigkeit zur
Betheiligung einlud; er betheiligte sich auch daran in seinem
Werke vJtOy&j. ■— Wir haben
über die lexicologische Neigung as-Safadi’s 2 schon in dem
ersten Stücke dieser ,Beiträge' gehandelt 3 , wo wir ihn als
hervorragenden Repraesentanten der sogenannten ^grossen
Etymologie' einführten, und die Vernnithung aufstellten und
zu begründen suchten, dass ein anonymes biographisches
Werk über ,berühmte Einäugige', in dessen Einleitung die
eben genannte Methode der Etymologie zur Anwendung gebracht
wird, ihn zum Verfasser habe. Ich muss hier, weil wieder
von einer lexicographischen Arbeit as-Safadfs handelnd, zu
meiner früheren Beweisführung ergänzend nachtragen, dass
1 Ibn Challikän IV p. a | (Nr. 360) ^,l_£S3j| sJj
O w
&xmj äj|t> 0- jj) Lg-ci xd-c
xciUs! jviocj aö3Lo
2 Es ist mir unbegreiflich, wie er bei as-S achawT (s. Hamaker Specimen
Catalogi Codd. Orientalium pag 180) als Schüler des viel jüngeren al-Firü-
zäbädi erscheinen kann: (seil. ^ 0 b t) JU.C jb»t
^ ^ fj"£- ^ ^
XaLc sLLül' ^ Offenbar liegt hier
ein Schreib- oder Editionsfehler vor. Vielleicht wäre eher al-Firü-
zäbädi als Schüler as-Safadi’s denkbar (jener wurde 729 geboren, dieser
starb 754), so dass man lesen müsste:
3 diese Sitzungsberichte LXVII p. 236 ff.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgolehrsamlceit hei den Arabern.
593
seit dem ich dieselbe versuchte, meine Vermuthung in positiver
Weise genügende Bestätigung fand. Herr Dr. Pertsch machte
mich nämlich (in einem Briefe vom Juni 1871) darauf auf
merksam ,dass sich im asiatischen Museum zu St. Peters
burg laut einer Mittheilung bei Dorn (Geschichte jenes
Museums, p. 285 Nr. 11) ein Buch von as-Safadi befindet,
welches Lebensbeschreibungen berühmter Blinden enthält.' Diese
Notiz veranlasste mich die Güte meines verehrten Freundes,
des Herrn Baron Dr. von Rosen zu St. Petersburg in Anspruch
zu nehmen, und über genannte Handschrift genauere Auskunft
zu erbitten. Diese ergab nicht nur, dass in dem fraglichen
Biographienwerke, as-Safadi’s Buch: oA5 ^ oJo
vorliegt, welches H. Chalfa nicht kennt, und worauf
unser Anonymus als auf sein eigenes Werk Bezug nimmt,
sondern auch — und dieser Punkt ist für die Geschichte der
arabischen Lexicographie von Bedeutung — dass as-Safadi seine
etymologische Methode nicht bloss auf die Consonantengruppe
anwendete, sondern derselben allgemeine Geltung zu-
muthete. In der Petersburger Handschrift wird nämlich, bevor
der Verfasser zum eigentlichen Gegenstand seiner biographischen
Arbeit übergeht, eine ganz nach dem Plane der IGuXLo zu dem
von uns besprochenen gearbeitete Ein
leitung vorausgeschickt, in deren erstem Capitel as-Safadi an
der Gruppe ganz in derselben Weise herumspeculirt, wie
er in den ,Einäugigen' an der Gruppe g demonstrirt
>ool vi xxJjxJ! k*jj| 5L.il Ai' ^li
v-iliJI (5, l*ij Lc jva+.H.
^oaJI Wir sehen jedoch, dass in dieser Unter
suchung der dritte Wurzelconsouant gleichgültig ist, dass also
hier eine Methode vorliegt, wie sie im Kleinen auch von
al-Beidäwi geübt wurde und welche wie ich später nachweisen
will 1 von den Sprachgelehrten als besondere Methode des
1 S. unten Nachträgliches 1 1.
594
G o 1 d z i h e r.
betrachtet wird. Wir ersehen weiters äus den Worten
kjÜJI 5yi oouyo Jo ^li, dass as-Safadi diese
Untersuchung auf das ganze Wurzelmaterial der arabischen
Sprache ausdehnte. Aus den Ergebnissen dieser etymologischen
Untersuchungen hat er uns aber ausser den gelegentlichen
Abhandlungen über \,p und noch eine Probe über die
Gruppe geliefert, und zwar gleichfalls gelegentlich einer
Einleitung, die er seinem Werke über die Paranomasie
U^LoU vorausschickte '. Er kommt dort zu dem Resultat
t LAU A-oiH y® ^,1 *A.ci
(j ojüj jö3Lo ^
v_a-A^.äJI oIAä-A jj, (jAxj ^£. Lg.A.*j (vjAäj
A—j •• —aT Lg-Äjo i\... 4 A AJ jj ^.Lwol &Xmj
IseL** ojJo.^ Lo jA+jiÄ^At jAg^o Lg-»-«
v 5^-iio^ XaJI JO äÜALio Lo jt
JO*
Das ,grosse istikak' war zwar ein in die arabische
Sprachgelehrsamkeit seit IbnGinni 2 systematisch eingeführtes
Verfahren in der höheren Wortforschung; ich glaube aber nicht,
dass irgend Jemand dasselbe in grösserem Massstabe, mit
grösserer Consequenz und namentlich mit grösserem Ernst und
Eifer ausbeutete als eben unser Safadi. Dies mag wol mit
einer Eigenthümlichkeit dieses Gelehrten als Literator Zusammen
hängen, welche die Kritiker an ihm bemerken wollen. Ahm e d
al-Chafägi macht nämlich in einem philologischen Sammel-
1 Hschr. des asiat. Museums in St. Petersburg 1 , Nr. 450. Diese Mittheilung
verdanke ich auch der Güte des Herrn Baron Dr. von Rosen.
2 Die Benennung zweier Werke des Abu-l-Hasan 'Ali ar-Ramäni
(st. 296) ^aaXJI oLcf und jjJueJI OjIäV
(Fihrist I p. 4^) bezieht sich wohl auf den Umfang der Werke, nicht
auf die Natur des istikäk.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
595
werke, Namens: ^pJLsx+JI vl Je 1 die Bemerkung, dass es die
Gewohnheit as-Safadfs ist, ,immer Dinge vorzubringen, mit
,denen er in stolzem Hochgefühle prunkt, und glaubt, dass
,seine Vorgänger davon nichts wussten, obwohl dies nur eine
,selbstgefällige und grundlose Einbildung ist, ganz abgesehen
,davon, dass as-Safadi in solchen Dingen verräth, die Grund
lagen der Wissenschaften nicht inne zu haben.' — Wenn nun
auch diese strenge und absprechende Kritik in vollem Masse
nicht auf die hier in Betracht kommenden Versuche as-Safadfs
anzuwenden ist, so kann man doch nicht läugnen, dass sich
eine Art von Selbstgefälligkeit und gelehrter Eitelkeit, sowie
auch die Sucht mit geistreichen Einfällen zu glänzen, sich in
seinen pedantisch gegliederten Einleitungen und namentlich den
an der Hand des grossen istikäk gelieferten Worterklärimgen
abspiegelt. Denselben Eindruck macht auch seine weitschweifige
• • O wi, 03 9
Erzählung, 2 wie er seine Erklärung des Ausdruckes *Jv-M
einer grossen Anzahl von ausgezeichneten Gelehrten' vorlegte,
nachdem er früher von ihnen vergebens eine treffende Erklärung
verlangte, und wie seine Auseinandersetzung von Keinem der
Anwesenden begriffen wurde mit Ausnahme seines Lehrers, des
Hschr. der Wiener Hofbibliothek, Cod. Mixt. Nr. 34 Bl. 85 verso:
jj £. J Jw j -C- ^ ^"9 9 . ) Ö j
yjt LgJ J xjIo IÄJ&j oJj
ü j «•* " ü ^ Ö 9 __ — " C5
^ y oi-LUl
w w ^9 9
CJO-IäJI |%J »ly>
Es handelt sich hier um ein Werk, in welchem
as-Safadi" die theoretische Figur IjaXiä (S. M ehre n, Rhetorik der
Araber, pag. 145) auf den Koran anwendete, jedoch den Fehler beging,
bei dieser Gelegenheit nur das als yylA.w Lwo, (nämlich die Erklärung
und Nachweisung des rhetorischen Fortganges der kubanischen Reden
und des logischen Zusammenhanges zwischen den einzelnen Versen)
Bekannte, worüber schon von ihm Melireres geschrieben wurde (vgl.
as-Sujüti’s, Tabakät al-Mufassirin ed. Meursinge p. 131), anzuführen
und diese Nachweisungen mit der Figur (_vei 1 <5111 zu verwechseln.
2 S. weiter unten das Citat zu «j. in diesem Capitel, wo der Text dieser
Stelle mitgetheilt wird. ^
■
596
G o 1 d z i h e r.
Kadi al Kudat Taki-ad-din as-Subki, und von diesem auch
erst nachdem er früher eine Weile über diese übrigens höchst
simple Erörterung nachdachte; den übrigen Gelehrten musste der
Oberkadi die Bemerkung des Safadi erst weitläufig auseinander
setzen, ehe sie in den Sinn derselben eindringen konnten.
Auch er wählte al-Gauhan’s Sahfth zum Vorwurf einer
lexicalisch-kritischen Arbeit. Ich habe leider keine Gelegen
heit eine Hschr. des Werkes benützen zu können, und es muss
sich daher unsere Kenntniss von as-Safadi’s Kritik gegen
al-Gauhari auf die Citate gründen, die ich dem Codex Nr. 70
der Refa'ijja-Sammlung der Leipziger Universitätsbibliothek
entnehme. Die dort angeführten Bemerkungen beziehen sich
9 p. 9 f "
auf die Artikel: sUcj 2
3 1 O
8
5 8 7
'' 1 ))}' 12 13
" 1 1 £J) 15
1 Bl. 6 recto.
2 Bl- 7 recto yc Jlü ^Lj jüoSL*JI x-yLc
(3-xXäJ I
3 BI. 7 verso.
4 Bl. 9 recto.
5 Bl. 11 recto: IjjC
6 BI. 20 recto yfcLic JAAc. ItXsl
I Bl. 21 recto.
6 Bl. 22 r.
9 Bl. 27 verso ^ J-öLsbM cjlLAj ^AjLoJ! JU>A
’X,\ ^LCJI
• 10 Bl. 25 recto. , L.
II Bl. 26 recto.
12 Bl. 29 verso.
13 Bl. 30 verso.
14 Bl. 31 recto.
15 Bl. 34 recto: oJLw (XßJj iüoiLstJl Jli*
l <s4> vs^ ^ yi ISl siLAi
o/JaJ! L&y JLäj'^1 L^.ä=> 3,
j! lAs»l As*i pAi xJÜlaVo ^llll Jyü
H
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelelirsaraheit hei den Arabern.
597
£-U" 1 Uw 2 , was allerdings den ganzen Inhalt des Werkes
p-g-w-!| nicht erschöpfen dürfte. Wir ersehen jedoch aus
obigen Citaten, dass unser Verfasser, gleich seinem Nachfolger,
den Gauhari nicht immer in höflicher Weise angriff, und dass
er in seinen kritischen Bemerkungen nicht immer selbstständig
verfährt, ja zuweilen eignet er sich auch ohne Weiteres Ein
wendungen seines Vorgängers auf diesem Gebiete an, was ihm
dann auch von dem Apologeten des Sahäh übel vermerkt wird; 3
er citirt auch ihm vorliegende .2. eines Gelehrten 4 , den
er nicht namhaft macht, der aber möglicherweise auch der
oberwähnte Ibn Bern sein könnte. As-Safadi benützte eine
Abschrift des berühmten Abschreibers des Sahah: Jäküt
ar-Rümi 5 ; er nimmt aber auch auf ein Autograph Bezug, wo
es allerdings zweifelhaft bleibt, ob er selbst dies Autograph
benützte. fi Auch in seinem historischen Werke nimmt
J i»uU! j;i i^t uji ^
° 9 T 9 . WW. 0-~ 9 ^ ^ " o- 9 ' 9 .
fj-U! £ SJlä-U |v3 X^L>öj fy* Jjf
«oJLu; lXJzJ* IäJj ^4-5 ^J^Jt
hLüJI ^sa^x»
J,l xfa^vJ LJÜSyZ Xy*j
iSlxJ Xö\'y Xä.^.aX< Xy+^S
Bl. 34 verso.
. ^ Q Cu ^
Bl. 53 v.
Bl. 27 verso.
S. v. yy sagt er Lyjj'U iail tü SS'
Bl. 34 verso. 1—äJhiU U^Jtxi tXs-j ~~
Dieses scheint sich darauf zu beziehen, was Andere vorgefnnden,
9 0^
da von autoptischer Erfahrung gebraucht worden wäre.
598
Goldzilier.
as-Safadi Gelegenheit eine kritische Bemerkung über al-Gauhari
zu machen. 1
III. Nach as-Safadi haben wir unter den Polemikern
gegen al-Gauhar! den Verfasser des Kämüs: al-Firüzäbädi
zu nennen. Er schrieb zwar nicht direct ein philologisches
Sündenregister des Sahäh, aber durch sein ganzes Werk zieht
sich die gegen al-öauhari gerichtete Kritik hindurch, eine
Kritik, die bis zum Kleinlichsten und Geringfügigsten ins Gericht
geht. Wenn wir seine Ausstellungen aufmerksam betrachten,
so können wir al-Firüzäbädi nicht von einer gewissen Leiden
schaftlichkeit freisprechen, mit welcher der orientalische Autor
die Mängel desjenigen Vorgängers erbarmungslos und ohne
Nachsicht blosslegen zu müssen glaubt, dessen Werk durch
das seinige eben überflüssig werden soll. Daher kommt es
auch, dass seine gegen den grossen Vorgänger geschleuderten
Ausdrücke nicht immer die zartesten und gewähltesten sind,
dass z. B. ferner oder
Ü, so wie Li’U Lfyy oder
und das noch stärkere JJslo u. a. Ausdrucksweisen
neben dem gelinderen |fj nicht zu den Seltenheiten gehören 2 ,
obwohl sich al-Firüzäbädi in seiner Einleitung 3 entschieden
gegen die Ziunuthung verwahrt, als wollte er seinen Vorgänger
herabsetzen. — Er benützte ein Autograph des Sahäh 4 , aller
dings nur soweit der Verfasser selbst in der Lage war, dasselbe
zu redigiren, damit an Stellen, wo dem Gauhari ein tasbif
1 Bl. 48 recto ( Jlü JLs
ia-Lt £ *JL=>-
2 z - B - s- V. yj Ju0 f } y> ,äjCi u. a. m. Einleitung
p. t (der türkischen Ausg.)
pbßjü! juJLe Lo iüyüJI
3 p. (v der türkischen Ausgabe.
4 S. V.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
599
nachgewiesen wird, der Fehler nicht auf Rechnung späterer
Abschreiber gesetzt werden könne.
Die Mängel, die er an dem Gauharischen Werke im
Allgemeinen auszustellen hat, bespricht er im Ganzen und
Grossen in seiner Einleitung zum Kämüs. Er vermisst vor
allen Dingen im Sahäh viele Artikel, ja — wie al-Firüzäbädi
sich ausdrückt — ,die Hälfte des arabischen Sprachschatzes
oder noch mehr', 1 ein Mangel übrigens, den auch der Verfasser
des ,Lisän-al-'Arab hervor hebt, indem er sagt: al-Gauharfs
Werk repräsentire in der Atmosphäre der Sprache nur ein
winziges Stäubchen und in ihrem Meere nur einen Tropfen.' 2
Mehrere hundert Jahre später musste al-Firüzäbädi denselben
Vorwurf von Seiten des gelehrten Holländers Albert Schultens 3
über sich ergehen lassen: ,Neutiquam tarnen omnia exhausisse
,judicandus est. Certe quam plurima a me in priscis fontibus
,reperta, quorum mentio in Camuso nulla. Nec mirum; nullus
,enim Thesaurus tarn copiosus, qui non nova copia cumulari
,queat, quum nec unius sit hominis omnia legere, nec si legerit,
,omnia excerpere atque observare.'
Zweitens erwähnt al-Firüzäbadi die Menge der oL^SJ’s
und oij^i’s, denen er im Sahah begegnet 4 , besonders aber
die in der Schreibung von Personen- und geographischen Eigen
namen verübten Fehler 5 neben anderen mehr die Erklärung
als die Schreibung betreffenden Irrthümern, die sich auf Eigen
namen, besonders auf geographische beziehen. c Ausser den
Verbesserungen dieser Art, welche neben der Ergänzung von
bei al-Gauhan gänzlich fehlenden Artikeln, den Hauptbestand-
theil der Polemik al-Firüzäbädi’s ausmachen, erstrecken sich
die widersprechenden Bemerkungen des Letzteren noch auf
die Festsetzungen von Wortbedeutungen, 7 auf die Interpretirung
1 Türk. Ausg. p. ((“
2 Hägi Chiilfä V p. 311.
3 Origenes hebraeae p. 280.
4 Einleitung pag. |a
5 S. V. tXyO ,jhj0 ,^-Lw ifji
6 s. V. ,lkui
iwttAAÄ. u * a * m -
1 s - v - f* 0 ;
A
u. a. m.
u. a. m.
600
Goldziher.
von Dichtercitaten 1 oder auch auf die Fassung- des Verstextes
selbst oder auf die eines citirten Sprichwortes. 2 Zuweilen
ergänzt al-Firuz&bädi die Quellenangabe, wo diese bei al-Gauhari
mangelhaft oder gar nicht angegeben wird; oder er berichtigt
die Quellenangabe seines Vorgängers, wenn er dieselbe für
falsch hält, wie wenn z. B. al-Gauhari etwas als Jjbo anführt,
was ein Traditionssatz ist, oder umgekehrt 3 , obwol die Traditions
kunde und die Genauigkeit in den oLCwl’s, wie Taki-ad-din
al Färisi bemerkt 4 eben nicht die stärkste Seite des Firüzäbädi
war. Bisweilen mäkelt er an al-Gauhari’s Angaben in klein
licher Weise, wie wenn er vom Sachlichen ganz absehend,
die Ausdrucksweise seines Vorgängers rügt 5 , oder ihm als
Fehler anrechnet, dass er in grammatisch-terminologischem
Sinne einmal vom Singular sagt, wo von einem nomen
feminini generis die Rede ist. 6 Die Absichtlichkeit, mit welcher
er den Fehlern im Sahäh nachjagt, leuchtet an einer Stelle
hindurch, wo er sich in einem Zuge über neun Irrthümer
hermacht. 7
In dieser Dornenlese war er nicht immer selbständig.
Wie man schon aus obigen Citaten sieht, und wie besonders
auch Lane hervqrhebt, s welcher auf die compilatorische Art
des Kamüs besonders hinweist, schreibt er seine Kritik häufig
seinem Vorgänger in derselben, dem Ibn Berri, nach, was
auch, um dies schon an dieser Stelle vorweg zu nehmen,
a. m.
a. m.
1 S. V. ,sTSy» U. a.
2 s- v. Jf^ u-
3 s. v. ,Jubj ,Uj u. a. m. vgl. >Ji
1 bei.Hägi Chalfa IV p. 404.
5 z. B. s. v. <J.^
6 8- V. pjö'
1 8. v. Däwüdzäde macht jedoch die Bemerkung (Bl. 35 recto)
^ ^ (J C W ^ Q I- ^ Q J
8 Preface zum arabisch-englischen Wörterbuch p. XVII.
Beitrage zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
601
besonders Däwüdzädd fast bei jedem Artikel gelungen ist,
indem bei diesem Verfasser die Phrase: £ xJUmj Ai'.
in Bezug auf al-Firüzäbädi zu den stehen
den Phrasen gehört. 1
IV. Es muss noch, bevor wir an die Apologeten al-Firü-
zäbädi’s gehen, erwähnt werden, dass auch in den Compendien
des d. h. in denjenigen Werken, welche systematische
Auszüge aus dem grossen Gauhan’schen Wei’ke liefern, und
den bedeutenden Umfang des Lexicons durch Weglassung der
und sonstige Verkürzungen des Textes herabmindern,
die Verfasser — oder besser gesagt: die Verfertiger dieser
Auszüge — nicht selten die ursprünglichen Angaben des
Gauliari kritisiren und berichtigen; so wie dies auch bei anderen
^ ^ 0)
beispielsweise bei dem von az-Zubeidi
der Fall ist, welches auch wegen dieser und noch vieler anderen
Eigenschaften von den arabischen Recensenten zu jener Ciasse
von Auszügen gerechnet wird, welche das Grundwerk an Vor
züglichkeit überragen. 2 — In dieser Hinsicht müssen daher
die ,Compendien des Sabal/ bei Gelegenheit der Besprechung
der kritischen Literatur auch genannt werden, obwol in den
selben die Kritik nur eine gelegentliche und keine direct
unternommene ist.
Däwüdzäde citirt einige Male ein Buch mit dem Titel
^yoipi, welches auch zur Gauhanliteratur zu gehören scheint.
Ich habe nichts Näheres über dieses Werk finden können,
1 Auch as-Safadi’s Vorarbeit wurde ohne Zweifel von seinem Nachfolger
genügend ausgenützt. Wenigstens ist an vielen Stellen eine ziemlich
treue Uebereinstimmung zwischen den Bemerkungen beider nicht zu
übersehen.
2 as-Sujüt.T im Muzliir I p. £ ^UUl JLs
J^.äj ^
Sy**"
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXXU. Bd. III. Hft. 39
602
Goldzilier.
glaube jedoch, dass es im X. Jahrhundert der Iligra verfasst
worden ist. Es enthält kritische Bemerkungen zum Sah äh,
wie z. B. diejenige, welche Däwüdzäde s. v. 1 und s. v.
2 anführt; doch hat der Verfasser, wie ich aus den An
führungen ersehe, den Gauhari nicht immer nur der Kritik
unterzogen, sondern ihn auch zuweilen in Schutz genommen,
wo er, wie z. B. vom Verfasser des angegriffen
wird. 3
V. Des Firüzäbädi grosse Autorität auf dem Gebiete der
arabischen Lexicographie mochte es lange unmöglich machen,
den Versuch zu wagen, ihn auf diesem Felde anzugreifen
oder die Stichhaltigkeit seiner Angaben zu bezweifeln, geschweige
denn zu bestreiten. , Al-Firüzäbädi war' so sagt ein biographischer
Schriftsteller ,der letzte unter denjenigen Gelehrten am Ende
1 Bl. 33 verso. iXxj SÄ£ ^ xJjjf \ys\p\ v_a=-UÖ Jli'j
ä+SI ,jl jläj Sl! yoUDt (jdi'Lo zJjj
jvJ LwIaS ^U.XJCwf •-A *
Läa/o viUö
■täfi.1 Ui" IaXä Uaj
fc ^ J ^o ^ aO
^Aj JLiu !j! |*Jj ^Jy.i U*i £AaJ!
Aotkit £ |»bki" £ sil
2 Bl. 81 verso.
3 Bl. 43 verso. lieber die Bemerkung al-Gauhan’s, dass die Anwendung
der Admirativform bei passiver Construction nicht gestattet ist:
äoLcli töt tut |A0jJ xLG-JlJ ^..tOÄ-äÜ! v_*ra.Lo JLs
^jU Lo dG Ai"
j&j äJLcls jJ Jjii sU*x> Jü>
äJLs I t A • t_jUol^ Ebenso vertheidigt er auch s. v. oJ (Bl. 12
recto.) den Gauhari gegen ^aÄiS?.
Beitrage znr Geschichte der Sprnchgelelirsamkeit bei den Arabern.
603
,des VIII. Jahrhundertes, 1 welche alle ihre Zeitgenossen in
,einem Fache übertrafen; und zwar: der Seich Siräg-ad-din
,al-Bülkaini in der säfi'itischen Rechtsgelehrsamkeit; der
,Seich Zein-ad-din al-'Iraki in der Traditionswissenschaft;
,der Seich Siräg-ad-din ibn al-Mulakkin was die Menge
,seiner Werke auf dem Gebiete der Rechts- und Traditions-
,Wissenschaft betrifft; der Seich Sems-ad-din al-Fanäri in
,Betreff der Beschäftigung mit allen speculativen und auf Tradition
,beruhenden (a prioristischen und a posterioristischen) als auch
philologischen Wissenschaften; der Seich Abu ‘Abd-alläh
,ibn 'Arafa in der mälikitischen Rechtsgelehrtheit und den
,übrigen Wissenschaften im MagTib, und endlich der Seich
,Megd-ad-din as-Siräzi in der Kenntniss der Sprache'. 2
Es hielt demnach für die Gelehrten des folgenden Jahrhundertes
schwer, die Vertheidigung des Gauhari gegen die schwer
wiegende Autorität des Kämüs zu versuchen; und sie blieb auch
lange unversucht. Allerdings finden wir hier wieder gelegent
liche apologetische Bemerkungen zu Gunsten al-Gauhan’s;
ich nenne in diesem Betreff Bedr-ad-din Muh am me d
ad-Damämini (starb 828), den Commentator zweier Werke
1 d. h. in unserem Sinne des: IX. Jlidertes. Yrgl. meine Abhandlung über
Sujüti in diesen Sitzungsberichten Bd. LXIX p. 14 Anmerkung 1.
2 Tas köprüzade’s, as-Sakä'ik an-No'mänijja. (Ilschr. der Wiener Hof
bibliothek. H. 0. Nr. 122. Bd. 1 Bl. 15 recto. ^ ^ |
aötyil (j-JtXJI pLwj^JI
i ( jjoLÜ!
«JLaJt
^-UcJU OJlUl A
yw..*-w iÜÜÜ! ^
^jLw gy jGJÜUJ! «üi 3, aüüt
w w w W 9 ,
AJI ^ I ^t Iy Lj I
604
Goldziher.
des Ihn Hisäm, des J..oäSV-)I v_>LxS^ und des
i. In diesen Commentaren nimmt er an ein
Paar Stellen Gelegenheit al-Gauhaiu gegen al-Firüzäbädi zu
vertheidigen; an einer Stelle erwähnt er, dass er das Gauhari-
exemplar des Collegiums des Gemäl ad-din benützte, auf
Grund dessen er die Schuld des vom Sahäh abwälzt. 2
Ein anderer Vertheidiger des Gauhari ist der Seich
al-Karäfi al Misri; er nimmt den Verfasser des Sahäh in
Schutz gegen kleinliche Angriffe des Firüzäbädi, wie z. B.
wenn er ihm Verstösse gegen die Sprachregeln nachzuweisen
strebt, 3 oder wo er die vom Firüzäbädi gewünschte Lesart in
Handschriften des. Sahah selbst vorfindet; 4 ja er ergreift auch
dem Kämüs gegenüber die Offensive, wenn er sich die Frei
heit nimmt an demselben grammatische Fehler zu corrigiren,
wie er dies z. B. einmal thut, wo al-Firüzäbädi den Ausdruck
1 Häg'i Chalfa II, 292, V, 657.
2 Bl. 53 verso: li ^ÄjyoLocXJI J-öLttJf Jls
Jüü |»J äbo^X+JI sIäa^+JI cyJÜJI i_jIaJI £
JLs & sGt u-^oUlt v_a&.Lo hjJjüy ^.Lsall (j-5
^UJt ; ^ & JAj
jd£\j J^i'l aJyb
£ JL+i». Xav)<Aa> ^
is-^ tföi
3 Bl. 49 recto: J^j’^ täiyjo (Jsa.jp I ^oLjI^j^ajÜ!
(XaJj (^Äjl Jot yO pttXsSl Asa-Ij
SioLs ^jaJI yiX.3
^IaääL sjs$ «Äii;
4 Bl. 53 verso bringt er dasselbe vor, was ad-Damämin'i' oben Anm. 2.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkcit bei den Arabern.
605
gebraucht: v^ijI (jwjjül. i Er vertheidigt den Gau-
hari auch gegen einen Angriff des Safadi in Betreff der An
wendung des Artikels vor dem Bergnamen
Wir kennen zwei Gelehrte Namens al-Karäfi al Misri,
welche aber beide im VII. Jhd. lebten, also in dieser kritischen
Literatur nicht in Betracht kommen können; der eine (geb. 626),
Verfasser des Werkes JJLe; 3 der
andere (st. 684) bekannt durch seine juridischen Werke in
mälekitischem Sinne und durch sein polemisches Werk gegen
Juden und Christen, das die Leidener und Oxforder Bibliothek
unter ihren Handschriften besitzt. 4 Unser Karäfi muss im
X. Jhd. gelebt haben.
Die Literatur zur Vertheidigung al-Gauharfs beginnt ihr
eigentliches Leben gegen das Ende des X. Jhd. und blühte
namentlich unter den Gelehrten der europäischen Türkei,
wenigstens die beiden Repräsentanten der Vertheidigung al-Gau-
han’s, welche der Bibliograph der muhammedanischen Literatur
namhaft macht, gehören beide diesem Lande an, und blühten
beide am Ende des X. Jhdertes. 5 Nicht als ob in der west
lichsten Provinz des osmanischen Reiches das Studium der
arabischen Lexicologie sich einer besonderen Bevorzugung zu
1 Bl. 35 verso: «i y älbjl JU
pSkJI xjIj xaLe
9 ^
xjlXjc j
verso: jXj y&j XÄX
jbkjül^ j.Sk.c5H (j oLj <Xz
iyi'i xLaJI N
2 Bl. 34
3 H. Ch. IV. p. 234.
4 Cod. Warner Nr. 173. Vgl. Nicoll p. 78. cod. XLIX, und p. 512.
5 H. Ch. IV. p. 491.
606
Goldziher.
erfreuen gehabt hätte; denn es ist ja allbekannt, dass in dieser
Beziehung die östlichen Länder Asiens, besonders Persien und
das weitere Mittelasien, der gelehrten Literatur viel Tüchtigeres
und Denkwürdigeres lieferten. Verdanken wir ja die beiden
Säulen der arabischen Lexicographie, mit denen wir uns in
dieser Abhandlung beschäftigen, gleichfalls diesen östlichen
Ländern! — In der europäischen Türkei, sowie in allen un
mittelbaren Provinzen des Grossherrn, strömte die studirende
Welt mehr jenen Wissenschaften zu, welche in der Staats
verwaltung und in den besteinträglichen Staatsämtern Verwen
dung finden konnten, durch welche man wenigstens Kadi oder
sonst irgend welches Administrationsorgan werden konnte, —
also der streng genommenen Theologie, dem fikh. Anderer
seits dürfen wir nicht meinen, als ob das im ganzen muham-
medanischen Osten gehegte und gepflegte |*-Lc hier
ganz vernachlässigt worden wäre. Wenn wir die biographischen
Werke der Osmanli’s befragen, so finden wir hin und wieder
Daten, die uns eben das Gegentheil beweisen. — Unter Muräd
‘Gäzi’s Regierung konnte ein Lehrstuhl, bei dessen Besetzung
es der Verfügung des Stiftors gemäss die erste Bedingung war,
dass der betreffende Mudarris das Sahah des Gauhari ganz
auswendig wissen muss, einem Gelehrten der Türkei verliehen
werden; 1 und zur Zeit Muhammed Chän’s wird der Molla
al Melihi als Orakel in lexicographischen Dingen für seine
Zeitgenossen erwähnt; er konnte jede lexicalische Schwierig
keit aus dem Sahah, das er auswendig wusste, lösen. 2
1 Täsköprüzäde as-Sakäik an-No'rnanijja Bd. I. Bl. 10 recto: s. v.
Gemäl-ad-din al-'Akaaräni ^ Lw^lLo sJÜI
JCy£j Lj Loj. 2
JiÄ=a. Je SH Lg.Ai AjIiI ,jl LaLjU
JL*ä ^jJUl dL!Ai
2 ibid. Bl. 75 verso, s. v. al Mollali al MelThi: jjtyi je,
„ LssJI (jb 1 «jJI
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
607
Aber was bedeuten vereinzelte Daten aus einem Werke,
in welchem Hunderte von Gelehrten erwähnt werden? Das
selbe Resultat ergiebt sich auch, wenn wir die türkische
Gelehrtengeschichte jener Zeit untersuchen, welcher die beiden
türkischen Apologeten al-Gauliarfs angehören. Ein Studium
des (jßÜLw Jjö von Nau'izäde 'Atä’i hat uns auch nicht
allzuviele Namen geliefert, denen wir in der Geschichte der
Lexicographie einen Platz einräumen könnten. Es werden
zwar in dem ungefähr achthundert Biographien fassenden
Werke einige Namen genannt, deren Träger in den
sich ausgezeichnet haben, 1 aber literarische Bedeutung haben
kaum einige von allen diesen. Ich will diejenigen, von denen
dies doch nachzusagen wäre, auf Grund meiner Quelle namhaft
machen. Moliah Mustapha b. Sems-ad-dTn, welcher aus
Kara hisär stammte und im Jahre 968 in Kütähija starb,
wird als grosser Kenner der arabischen Sprachwissenschaft
gerühmt; er schrieb auch ein Lexicou (freilich ein türkisches)
von welchem unser Gewährsmann bemerkt, dass er es in drei
Ausgaben, in einer grossen, mittleren und kleinen, bearbeitete,
und dass der Werth dieses Werkes den des Sahah und
xjl ^1^1 Ldf kJ lulc J!öi, Jü ig&JLjI
O ** ^ C3 ^ ** ** Qj ^
sia&j. x+AÜI viLljo Lo l^SÜI LuAc 9*
1 Ich stelle hier die Stellen des Nau'izäde’sehen Biographienwerkes zu
sammen, an welchen solche sprachgelehrte Türken genannt werden:
p. 1“. Ni'met Allah b. 'Ali st. 969; p. Muhammed b. Ibrahim al
IJalebi st. 972; p. ('(“♦ Ibrahim b. Kasim al Ilalebi st. 983; p. tPP.
Ahmed Bosnawi st. 983; Mahmud b. Ahmed Bezenzftde st. 983;
('("•) Muhammed b. 'Abd-al-'Aziz st. 931; Ahmed b. Muhammed
b. Ramadan st. 989; Mollali Muhammed st. 990; t'vf Molla Ga'far
aus Monastir st. 990; pyt“ Hasan Ma'änigi. st. 990; 'Alt b. BälT
st. 292; ptp Muhammed Salftmizade st. 998j t"|<| Muhammed Neili
st 997; Sinän-ad-din Jüsuf st. 1019; ap| Feiz-allüh st. 1020;
Molla Gcläl st. 1020; 'Ali Käbil st. 1024; ‘jp» Muhammed
b. Kara Däwüdzade st. 1026. Muhammed b. Jüsuf al Bahti st. 1033;
yp^ 'Omar b. Muhammed st. 1039; v("t Muhammed Beg. st. 1039;
Muhammed b. Muhammed st. 1040; ve* Mollali 'Abd-allah st. 1042.
608
G o 1 (1 z i h o r.
des Kämüs bei weitem übertrifft. 1 —‘Abd-ar-Rahmän
b. Sidi' ‘Ali, welcher 983 starb, hinterliess zum Iväniüs; 2
desgleichen ‘Abd-ar-Rahman ‘Alemsah (st. 987). 3 Der
im Jahre 1006 gestorbene Moliah Muhammed‘Ajsi schrieb
ein Compendium des Sahäh, welches viel nützlicher angelegt
ist als das am meisten gebrauchte: ^LäSj! ^Ghs? 4
Der am Ende des X. Jahrhundertes gepflegte Geschmack
an lexicalischen Studien, findet den sprechendsten Beweis in
dem Bedürfniss nach einer türkischen Uebersctzung des Sahah,
ein Bedürfniss, welches der Gelehrte Wan Kuli befriedigte. 5
Dieser Uebersetzer führte ein sehr bewegtes Leben; es ist
eine continuirliche Reihe von Versetzungen von einem Orte ’
an den anderen. 6 Das allererstemal begegnen wir ihm als
Professor an der Akademie des Mahmud Pasa, im Jahre 970;
zwei Jahre später docirt er bereits an der Chänljähakademie,
wird aber 974 wieder abgesetzt, um 976 an der Hochschule des
w w M c -
1 ibid. p. p. jv3t - XaäJ tva
)T^ j0
-bw«I, jiSI äAX+äjI v__oslS'
sA-üLyo »oLw ! xJbl^b
V-y 0 y?
2 ibid. p. pf“!
2 ibid. p. p ö <)
4 ibid. p. öOt" ^LsXj! .XxJ
ob5" £sb sAb^
5 Für das Aufblühen der lexicologischen Studien in der Türkei um diese
Zeit kann auch die von Täsköpriizäde erwähnte Notiz angeführt werden,
dass Sultan BajazTd II. ^ItXjb yc\
(cod. xÄjüt) äibUt jvlc ^jjo xLJ!
viU j u-yiLäJ!, ii-bXÜ!^ (Öakäik I Bl. 100 verso).
Die biographischen Notizen schöpfe ich aus Nau'izäd e p. m
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
609
'Ali Pasa, eine Anstellung zu erhalten. Auch an dieser hält
er nicht lange aus, denn im Jahre 979 nimmt er das Amt
des Kara Muhammed als Mufti von Khodus ein; in derselben
Eigenschaft finden wir ihn im Jahre 982 in Magnesia; wieder
988 als Kadi von Saloniclii und 989 als Kadi von Amasia.
Im Jahre 991 wird er wieder seines Amtes entsetzt und mit
80 Akee pensionirt, bis er 997 als Kadi von Jenisehr auftritt.
Auf sein eigenes Verlangen wird er von dieser Stelle bald
enthoben, und nachdem er im Jahre 998 noch eine Kädtstelle
einnahm, starb er im Jahre 1000. Es wird ihm grosse Uneigen
nützigkeit nachgerühmt, was allerdings bei türkischen Kädi’s
nicht zu den alltäglichen Erscheinungen gehört. Was seine lite
rarische Thätigkeit anbelangt, so sind seine Werke zumeist
rechtswissenschaftlichen Inhaltes; er übersetzte auch das Buch
äolxJlJI Ia+.G” von Al-'Gazäli ins Türkische, 1 und verpflanzte
auch das Lexicon des Gauhart in die osmanische Literatur.
,Ein Exemplar dieses letzteren Werkes legte er in der Moschee
des Sultan Muhammed nieder, damit es Jeder, der dessen
bedürfte, benützen könne 1 . 2
Das Werk ist auch in anderer Beziehung bemerkens-
werth: es ist das erste Product der von Ahmed III. gegründe
ten und von Ibrahim Basmagi dirigirten türkischen Staats
druckerei: 1141 (1728). Nachher wurde es noch zweimal
gedruckt: 1757 in derselben Staatsdruckerei, und eine höchst
schlechte Ausgabe Scutari 1803. 3
VI. Unmittelbar nachdem Wänkult das Lexicon des
Gauhart dem türkischen Publicum zugänglich machte — denn
aus dem Umstande, dass sich ein so hervorragender Gelehrter
die Mühe der Uebersetzung nicht verdriessen liess, können wir
schliessen, dass das Original nicht mehr Jedem, der dessen
bedurfte, zugänglich war — treten auch die beiden Apologeten
des Saljäh auf; Däwüdzäde und Uwois b. Muhammed. Wir
*
1 Dieses Buch wurde mehrfach in die türkische Sprache übertragen.
2 Nau'izäde 1. c. ^^1=*
3 S. Toderini Leteratnra Tnrchesca, Tnmo III p. 21—24, —Biographie
universelle Bd. XX p. 446.
G10
Goldzihor.
dürfen daher mit Recht voraussetzen, dass irgend ein Zusammen
hang zwischen der Uebersetzung und dieser Vertheidigungs-
literatur besteht, wenn auch kein directer und causaler, so doch
derjenige, dass beide auf ein Wiederaufleben der lexiealischen
Wissenschaft in der Türkei schliessen lassen.
Wenden wir uns vorerst zu dem Buche Däwüdzäde’s.
Der volle Name des Verfassers ist: Muhammed b. Musfapha
b. Däwud b. Kemäl, oder Muhammed b. Mustapha
ad-Däwüdi; bekannt ist er noch unter dem Namen Ibn
Iljas Dawüdzade. Sein Werk das er ebenfalls als eine
Art zum Kämüs anlegte 1 führt den Titel: ia-uLU! ^JJI
■ J ^^äJI IiaäJI JoiLcI £
Es lag mir in einer Handschrift der Leipziger Universitäts
bibliothek vor, wo es No. 70 der Ref&'ijja-Sammlung bildet.
Der Codex umfasst 55 Blätter in quarto zu 29 Zeilen und
wurde nach dem Autographe des Verf. abgeschrieben. 2 Bio
graphisches Material hat sich mir ausser dem, was ich aus
dem Buche selbst schöpfen konnte, in Bezug auf diesen Gelehrten
nicht dargeboten. Im biographischen Werke Nau'izäde’s
vermissen wir einen Artikel über Dawüdzade. Nur soviel ersehen
wir aus Hägi Chalfa, der das uns hier beschäftigende Werk
kennt, dass der Verfasser im Jahre 1017 der Higra starb. 3
Ich entnehme aus mehreren Stellen seines Werkes, dass
unser Verfasser eine Art von Melancholikus sein mochte, der
mit sich und der Welt unzufrieden, immer über Zurücksetzung
1 Das Titelblatt bietet die Aufschrift: ^^LäJI ^c * 1 I <r-
xJJI J,l j-aääJI tkytAJ I IoaäsJ!
LgjlxXzwU I
zu sein! denn der Zustand der Hschr., namentlich einige Lücken
deuten darauf, dass wir es hier mit keinem Autograph zu thun haben.
z. Bl. 34 verso .... Lol^
a H. Ch. IV p. 491.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgulehrsamkeit hei den Arabern.
611
und Verkennung klagt. Schon in der Einleitung, die wir
weiter unten kennen lernen werden, bricht er in bitteren
Worten über sein Loos aus. Dann deutet er seine Missmuthig-
keit und seine herabgestimmte Lebenslust im Laufe des Werkes
im Vorbeigehen an. ,Die Kümmernisse mit denen mein
Gemüth überhäuft ist, gestatten mir nicht, dass ich die
wahre Sachlage weitläufiger auseinandersetze' sagt er am Schlüsse
eines grammatischen Excurses. 1 Bei Gelegenheit der Wurzel
Oj-«i sagt er ferner: ,A1-Firüzäbädi sagt: ojXkJ! bedeutet eine
Anhöhe, einen hohen Ort; dann auch einen bestimmten Platz
in Sevilla, von welchem auch Abu Ishäk Ibrahim b. Muhammed,
ein Prediger und Polizeipräfect Cordova’s seinen Namen hat.
Das ist wunderbar! (dass nämlich die nisba auf einen einzelnen
Platz einer Stadt zurückgehf). Hätte der Imam al-Firüzäbädi
unsere Zeiten erlebt, so hätte er wunderbarere und befremdendere
Dinge als dies ist, gesehen'. 2 Blatt 36 recto nimmt der Ver
fasser, die Gelegenheit geradezu vom Zaune brechend, Anlass
sein Herzleid in ausführlicherer Weise zu klagen. Wir erfahren
hier, welcher Art denn eigentlich die Unbill gewesen sei,
welche ihm von seinen Zeitgenossen angethan wurde; er ver-
räth die Ursache seines galligen Unmuthes, dem er gleich in
der Einleitung in dunkler und unbestimmter Weise Luft machte.
An der Wurzel p Oj arbeitend, bei welcher ihm al-Firüzäbädi
gar keine Gelegenheit gab, den Verfasser des Sahäh in Schutz
zu nehmen, citirt er ein langes Stück aus dem Kämüs um an
dieses Citat den Ausdruck seines durch gekränkte Eitelke’it
und unverdiente, ja ungerechte Zurücksetzung erregtem Miss-
mutlies anzuknüpfen. Er verräth uns, dass er in die Classe
jener Gelehrten gehörte, denen irgend ein Lehrstuhl an
einer Hochschule, zu dessen Besteigung sie allein sich berufen
1 Bl. 37 recto: Ls Lo JUI
Jlil kÜAÄs. {j.£. ü5l^
- u ^ ,s=j i
ItV® uwil
2 Bl. 37 verso:
612
G old ziher.
fühlen, unerwarteter Weise entgeht. Natürlich kann eine
hierauf bezügliche Expectoration nicht ohne Schmähung derer,
die ihn verdrängt und derer um derentwillen man ihn ver
drängte, ablaufen. Doch hissen wir den Verfasser selbst sprechen:
, . . . . Du-l-Wada'ät — sagt al-Firüzäbädi — wird
,Habannakab. Jezidb. Tarwän genannt, welcher um seinen
,Hals eine aus Muscheln, Knochen und Thonstücken zusammen
gesetzte Kette trug, damit er sich nicht verirre, wie er sagte.
,Einst stahl ihm sein Bruder diese Kette und legte dieselbe um den
Jials. Als unser Habannaka des Morgens erwachte und die Kette
,um den Hals seines Bruders erblickte, da sagte er: Bruder,
,du bist ja ich, und wer bin denn ich? Daher ist die Thor-
,heit Habannaka’s sprichwörtlich geworden. Bis hieher al-Firü-
,zäbädi. Eines von Habannaka’s tliöricliten Stücken ist auch
.Folgendes: Einst gieng ihm ein Kameel verloren; da rief er
,aus: Wer mein Kameel lindet, der mag’s für sich behalten!
,Als man ihn nun darüber zur Rede stellte, warum er denn
,dann sein verlorenes Kameel ausrufe, wenn er es dem Finder
,schenken wolle, erwiederte er: Wo bliebe denn sonst das
,süsse Gefühl, das man beim Wiederfinden (einer verloren
,geglaubten Sache) empfindet? Vielleicht aber ist der Grund
,dessen, dass die Thorheit Habannaka’s sprichwörtlich geworden,
,der, dass er in seiner Zeit vereinzelt dastand und sich vor
,allen Zeitgenossen auszeichnete. Fürwahr der grösste Theil
,der Hochschullehrer in unserer Zeit ist thörichter als er,
,denn sie können kein türkisches Wort richtig sprechen; der
,Professoren von hohen Anstellungen gar nicht zu gedenken,
,welche in den höchsten und hervorragendsten Akademien
,vortragen. Denn diese Leute machen gar keinen Unterschied
,zwischen Hochschulen und gemeinen Kneipen. Giengen nicht
,ihre Famuli vor ihnen, so Würden sie irre gehen und den
,-Weg verfehlen (vor Trunkenheit) und gar nicht nach
,Hause treffen, obwohl sie die chäkänischen Lehrstühle ein-
,nehmen. Zu den Unglücksfällen, mit welchen mich die Zeit
,betroffen, gehört auch, dass die erhabene kaiserliche Schule
,A1-Chäsikijja, welche sich in der glorreichen Residenz Con-
,stantinopel befindet — Gott möge sie beschirmen —, einem
^Wahnsinnigen, Flachkopfe, einem Ignoranten, Sohne eines
'Ignoranten übergeben wurde, welcher die schwarze Farbe von
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
613
,der rothen, ja auch nicht einen Baum von einem Steine,
,geschweige dann das Gold von dem Thone zu unterscheiden
,weiss, nicht aber diesem armen, geringfügigen, .schwachen,
,sündigen Knechte, Sohne eines Ausgezeichneten und Vor
züglichen, Enkel des ansehnlichen Gelehrten, dem Verfasser
,dieses ausgezeichneten Werkes, trotzdem genanntes Lehramt
,mir vermöge der Verfügung zukam, welche die hochselige
,Stifterin traf, indem sie festsetzte, dass im Erledigungsfalle
,der von mir beanspruchten Chasikischen Professur, dieselbe
,dem jeweiligen Professor der Chankahakademie, welche sie
,selbst in Constantinopel stiftete, verliehen werden möge. Ich
,aber, der arme und im Meere der Sünde versunkene Knecht,
,lehrte zu jener Zeit an genannter Hochschule.
Zu Dir, nicht über Dich, Gott! will ich klagen,
Genüge bist Du, wenn mich Unfall’ plagend 1
Der Text des oben übersetzten Stückes: üu LcO^JI yöy
>> -r-- O . .-.-ot - >
^JJO XÄÄ£ £ Jjls* JÜJ) (J-?
£ ^ ^ vw ^ ^ ^ p, y ^ ^ y ^ ^ ^ ^
JwÄt JLfti Jülls- J^Jo £/0 ^»Lfö-C.j
£ L&zijy ÜOlXJjijj xJ~J g ä^ia.|
toi i Ul lil oöt ,^=>1 «J JLäi xjLkc
JJl;s2 iJ l)Jö Jöt LAj! ij-Ay t5 £Jüt
Jliii sJAxj L+Ai xJ «J cP 0
^ ^ ^ Cu 0 05-^ ^ ^ x
(^.+^•1 SkLo xääa£>
^ 2txs ID^AÄ/0 ! ■ XiLop ^ ^ ^
iäjLL jvX^jcJf
L> ^LE.U 1 |*.ji>LäsJt L+aau xssäII
ey~otIS~*J 1 (V^-jLi xiä?lJÜ! xxAi^J!
„ ? S . U. .l'i >j,o» > ^ ..1t ° ii
IjJLölj 1^-LäJ p-gxtvXA» |V^o'tXä
614
Gol dz ih or.
In der Einleitung des Werkes, auf welche wir oben hin-
weisen, sagt der Verfasser nach dem in muhammedanischen
Werken üblichen Exordium:
,Nachdem mir Gott vergönnte, das Kamüs zu studiren, ein
.Buch von dem man glauben könnte, es sei durch Offenbarung
,des Engels Gabriel entstanden^ verfasst durch den ausgezeich
neten, hochgelehrten und talentvollen Megd-ad-din Muham-
,med b. Ja'küb-al-Firüzäbädi, setzte ich mir vor, alle jene
,Fehler zusammenzustellen, welche der Verfasser dem Werke
,des vorzüglichen und wundervollen Meisters Abu Nasr
jlsmü'il b. Gemäl-ad-din al-Gauhari zur Last legt, und zu
p-gj| £* (?) jUillJI |VÜ5eLI
üj yoJJl Lo &£*=» fLölSütl
£ jüüjt^J! saJCoUL| jUillXLwJI üaj^-äJI iLu^JL+-H
^aaI^-cI kl+ÄsJI ÜAÄAhlioxifXl...!1
SlJdi Jj (jju j.AA*xJI
jjj! ^aä=U ^aaÜI AÄaül ftX-gJ iaij |Jy ^A^Jt^
pLutxa Jl v-AA+JI y*r^r>-1 jvJL*J! ^J^sxjl JoöLaJ!
0 ^ ^ x y CJ ^ Ü x* ^ t
^ jÜO^Ax Lgjji C_&AÄ+J| l_ÄAjbJt t cX-gJ
(cod. ( jJ^t) ^Xjo viJLji »JOI jbcjjkXJt
i]x) vaAAiaxJ lii XaAÄaJI kfij^xül xlColill iLwjA+Jl
xajA*j LgÄAÄj <^11 sLäjlsf juwjAÜJIj LXjAjo A=-^
^=1 £ (^3_J^jeJf j-aääJ I A-ysJI^ (?) iuXlw.^sJ! io. ».<01 &A A A L. A.L .w.J
CUJ ^Loyj! dU ö &av^A-*-^^J Lw^AaO OaS^ ^LaA*I 3t fl
^ffAJi ^wjIajLaJ oAli * ÄXic i) ^XjüamJI OUt
Beiträge zur Geschichte der Spracligelehrsamkeit hei den Arabern.
615
,dieser Zusammenstellung einige Einfälle meiner mangelhaften
,Einsicht hinzuzufügen, und einige Proben von meinen flüchtig
gefassten, schwächlichen Gedanken dabei zu veröffentlichen.
,Da hörten die aufrichtig Gesinnten unter meinen Freunden nicht
,auf 1 mich mit dem Geschrei der Befremdung zu bestürmen, und
,sagten: Fürwahr, ist das eine wunderliche Sache! und die
,Eigensinnigen unter meinen Genossen wollten sich nicht auf
,den rechten Weg leiten lassen, wandelten vielmehr unbeirrt
,den Weg des Irrigen. Ich aber sagte: Warum will euer Thun
,nicht den Worten des Mannes folgen von dessen Thaten alle
,Welt eingesteht, dass sie vorzüglich sind, des Meisters Mu’ejjid-
,ad-din Tugrä’i nämlich, welcher sagt:
,Verachte nicht den Rathschlag des Geringen,
,Wenn er nur tüchtig ist und recht und bieder
,Sinkt wol die Perl' — geschätzt vor allen Dingen —
,Im Werth, wenn auch der Taucher noch so nieder?
,Ich dictirte es (das nachfolgende Werk) in aller Eile,
,gleichsam aus dem Stegreif, trotzdem ich von Sorgen und
,Kümmernissen überhäuft, und trotzdem mein Gemüth von
,vielem Kummer angegriffen war, welcher mir von Vornehmen
,und Gleichgestellten, ja auch von Niedrigen und Nichtswürdigen
,zugefügt wurde, und trotzdem ich von Prüfungen heimgesucht
,wurde durch die aufeinander folgenden Wechselfälle der Zeit,
,und trotzdem die Schläge des Schicksals mich unaufhörlich
,verfolgten,
,Und wär’ ich auch und war’ mein Herz aus Eisen
,Trotz seiner Härte schmelzen würd’ das Eisen;
,Mich trafen Unglücksschläge unablässig
,Als wär’ ich ein Magnet und sie das Eisen;
,Die Zeit reibt meine Kräfte auf, und dennoch
,Bleibt sie, Gott sei’s geklagt, stets fest wie Eisen.
,Ich nannte mein Werk: ,Z usammengelesene Perlen
,über die Fehler des Kämüs muhiff, und hoffe von den-
1 Wörtlich: ,sie versenkten, vertieften sich in das Geschrei der Befremdung“
d. li. sie äusserten dieselbe unaufhörlich und nachdrucksvoll.
616
Goldziher.
,jenigen, die in diesem Buche studiren, dass sie Nachsicht
,haben mit meinen Irrungen, wenn sie auf Fehler stossen
,die ich begangen; ich bestätige gerne, dass Irren meine Eigen
schaft ist, und dass mich der Schleier der Nachlässigkeit ver
hüllt. Von Gott aber hoffe ich Stütze und er ist meine Zuflucht
,und Genüge denjenigen, die auf ihn bauen.'
Ich gebe auch den Text dieser Einleitung in Folgendem:
M» ^ Ü-<3 ^ 9 +*** Q o ''° -- --
4 ^Lw-UI ^LJ!
ijuj+Mj |vJlü |V» xJI
ct^csüss 5 Lo ‘^LudaJi^ xjlyül XjItkgJI sU^j
elXo ,j«..dfltyiJI ‘^üb'ilL UaiLl^ ia^il ^s.
yt xJjt L+ii tXjUj ^lkr/0 £ j»!
•SüNI
Üc3 xil/ i_.>\sf' y>^ £ äiJÜa+J! J,t
tkä ‘^dLNI yi> iöoikxJI (^öLÜ! <\±' 41 L^yiUI
1 Trotzdem dem Muhammedaner die UnvergleichUchkeit des geoffenbarten
Religionsbuches als Dogma gilt, an welchem zu rütteln selbst der lite
rarischen Kritik nicht erlaubt ist, so sehr sie auch durch eine ernste,
vorurtheilslose Vergleichung vieler Producte der muhammedanischen
Literatur mit jenem non plus ultra classischer Beredsamkeit dazu ver
leitet werden könnte, — lassen es sich rechtgläubige Männer im Strome
schmeichlerischen Phrasenprunkes dennoch nicht nehmen, die hier ange
wendete Phrase: ,dieses oder jenes Buch gliche wegen seiner Vorzüglich
keit der Offenbarung 1 mit einfliessen zu lassen. Orientalische Schmeichelei
und Aufschneiderei ist in diesem Falle kräftiger als muhammedanische
Dogmenscrupulosität, und die Sucht Alles zu vergrössern und zu über
treiben stärker als jene gedankenlose Pietät vor dem geschriebenen
Buchstaben. Der oben im Texte zu lesenden Lobeserhebung Hessen
sich viele Beispiele an die Seite stellen. Ich verweise nur auf Einige.
Hari'ri sagt z. B. in seinem Antwortschreiben auf eine poetische
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
617
(cAiaJ.iJ! ,j! ‘^abf^juÜI ^yÄxj tX+i
y£>j J,| U&lg ^II
- 0® - ' 1 ' " _
^Uai! s t5*“ XibM £xi ‘^eggl JU-=>-
UoLäj ‘s^jläJt ^LDI £yo jbj iLöbt^ ‘Sj-oUJt
bj ^ol^xiLwiH käi Lol^i.| |^_iL«aÄ/>
( > 3jg> CkjüLä. IyuGjCün ^elij ,t_>L3£
(»Xj SM t^Jjii l i_jlgT ikj d>kbjl Jwju-w fgg
<J~UJ! <JJ&! 1 x-U-c J-td-öj ^j.xi cJj-äj
»• . “ -r ! f 11 " 11 >«®» ’\'°ku
yX-M ^ulyXjaJl ^yJuXJI i\jyo OUCwjll
<-^b I^ys Jgj'l )<S| olyaJ! |iX&. ' : ' (Jjjl^io gj ^1J! ^^Äsi y
lJ9^\ij\ ^t JäÄ+Aii -bs* Lo ’" " ^ÄZüj Sä^^u Jo>-l ^söj ^i\Jb
j»^+iJ( |vsa-l^j' £« ‘Jlgifl (Jjjg J*£- ‘Jbl^b LgJC-yLo!^
f»cXäj ^0 ‘JLJI ^-t-gJI [*g-> £f
Epistel des Prinzen Negm-ad-din Abu-l-'Abbäs Ahmed: (Maltamen
2. Ausg. Einleitung p. 39, 12)
v Ujp! g ijh1, jUt 15 «gj 3 gf Jjf
und der tatarischo Fürst und Dichter Mir 'Ali Sir Newä’i sagt von
Gräm? (Quatremere’s Ausgabe des j ■ V» 1 1 ( x ,<^1 <y, in der Chre
stomathie orientale p. 25), dass ein jedes seiner Gazelen wie die Offen
barung sei, und jeder seiner Briefe den prophetischen Traditionen gleich
schätzbar:
I" xJg y&J JyÄ+J! Jj£ y£ ^JäXjl yxf
^IXlo J,Lc J-WJ.4J! ^aaJ! tdooL=>l£ Vgl. noch
Häfiz, Ausg. von Kosenzweig Bd, III p. 528, Z. 4.
Cod. J-*öÄi
2 Cod.
Sitzb. d. phil.-hist. CI. LXXII. Bd. III. Hft. 40
618
Goldziher.
(^iLLill Jj
yxJ» ‘^UtÜI 1 eM? 4^'j vj"5 '-r’^ ai -
tVjtXil xXjSUo |^fc oltXJ "’ AjAÜ- (S*l ^5
> ^ ^ ^ o-* > o Ä: f o ^i ^r. s ^
JotXi» ^S&. (JMJUO LüvO Iä>j_0 iX: " ^i.jLX_j «yjfcjU3 i3]
JoJea. (jgst^J <X>tXi» ,4“^ ^jLx>yi *JJI JjJ ^Xäo!
‘U j.^vll uw^joLkjl isSLc! ^ ‘iaxüJJt ^AJIj LgjU*-w^
^ w o ^ ^ ^ f- 55
txlc ^'I^Äffl t^yc^j ^1 Lg-O ^j-J^icÜJI
‘^jL&ju «JjüJI f-liai^ ‘^iLi (JJO ^_g_*dt (jU ybo y>U
jjyj ^jjo ZJ1^> ySt> } ‘ t5 ijyt xaJIj xjljüUw^l aJÜl ,jjo^
‘(5^
In dieser Einleitung stellt sich der Verfasser, wie wir
sahen, blos die Aufgabe, eine Uebersiclit der von al-Firüzäbädi
angegriffenen Artikel des Gauhari’schen Lexicons zu liefern, und
an diese übersichtliche Zusammenstellung einige eigene Be
merkungen anzuknüpfen. Doch ist Däwüdzäde’s Buch im
strengsten Sinne des Wortes eine Vertheidigung des §ahäh
und der Titel desselben weist darauf hin, dass eine solche
von vorne herein beabsichtigt wurde. Unter den fast fiinft-
halbhundert Artikeln des Buches ist kaum ein Dutzend, in
welchem der Verfasser nicht die Vertheidigung al-Gauhan’s
unternimmt; und zwar nicht nur gegen die Angriffe al-Firü-
zäbadfs, der allein im Titel ausdrücklich genannt wird, sondern
auch gegen die Ihn Bern’s und As-Safadf’s, sowie anderer
Gelehrten, die dem Gauhari in gelegentlichen Anmerkungen
Fehler nachweisen. Es würde uns zu weit führen, wollten
wir seine Vertheidigung des Sahäh hier näher beschreiben.
1 Vielleicht
L-)sl jjG
" v
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
619
So viel will ich aber erwähnen, dass er Rücksicht auf die ver
schiedenen Handschriften des Gauhari’schen Buches nimmt
und dadurch seine Arbeit für die Kritik des Gaüharitextes
selbst nicht ohne alle Wichtigkeit ist; 1 auch vom Kämüs benutzte
er ein Autograph des Verfassers, das al-Firüzäbädi selbst mit
Randglossen versah, wie aus seiner Bemerkung s. v. (jöli zu
ersehen ist: 2 I JA”üJ-ä’ lACw_JI ....
xki=i jjAx'la £ joJA^ aüLi'
LiL IsfcLo t5 xJI äLu^A+JI v_AA" xjlvA ji xäjUJ!
et |v1oIä! ^jjo ^ AiJ« Xa+JsJI ä-oUiajiia*«Jü
JA” ^ t xJJf Lt-3-xXi. UoXk«J I
Obwohl er einsieht, dass der Verfasser des Kämüs den Gau-
hart mit einer Absichtlichkeit beschuldigt, die ihn manchmal
ganz unbegründete Ausstellungen Vorbringen lässt, 3 ist er doch
nicht blind gegen begründete Bemerkungen des Kämüs, selbst
dann, wenn sich al-Gauhari auf Grund mancher Handschriften
vertheidigen Hesse. Er giebt dem Firüzäbädi in Betreff der
Lesarten des Gauhart stets Recht, weil wie er selbst aus
führlich nachweist, dem Verf. des Kämüs ein Autograph des
Sahäh vorlag 4 . Ja er übt zuweilen ganz selbstständige Kritik
gegen seinen Schützling, und greift ihn an, wo von Seiten des
obligaten Gegners kein Angriff verzeichnet ist. 5
Wie wir aus der auf dem Titelblatte stehenden Bezeich
nung schliessen können, ist das Werk aus Glossen
entstanden und hat auch in der uns vorliegenden Fassung
diese Gestalt. Es nimmt die polemischen Artikel des Firüzä-
' S. Bl. 20 recto, s. v. Axä; Bl. 31 verso s. v. jLjuo ;
2 Bl. 33 recto.
3 Bl. 35 recto La (nämlich unbegründete Beschuldigung
zu erheben).
4 Bl. 53 verso.
6 Bl. 30 recto s. v. sagt er: LtSC
31 verso s. v.
^-\ XJuo B1 -
Bl. 34 recto s. v. q
620
Goldziher.
bädi der Reihe nach durch, und bearbeitet hin und wieder
auch solche, bei denen keine polemische Bemerkung zu finden. —
Nach den Objecten der Firüzäbädi’schen Angriffe kann man
voraussetzen, dass die Vertheidigung des Apologeten sich zumeist
auf Wörter bezieht; seltener ist eine sachliche Auseinander
setzung. Wir wollen zu diesen auch, die über den Begriff
des öoAa» rechnen, obwohl auch da in erster Linie die Wort
erklärung in Betracht kommt. Wir haben bereits oben bemerkt,
dass al-Firüzäbädi einigemal am Sahäh den Fehler berichtigt,
dass ein Sprichwort (J-ibo) als Traditionssatz (ö*j<Aä.) citirt
wird. 1 An der ersten Stelle, an welcher dieser Angriff gemacht
wird, vertheidigt unser Däwüdzäde den Verf. des Sahäh mit
einer kurzen Bemerkung, die wir hier mittheilen wollen: (s. v. Is^)
(ja/CÜI JUu
Ja+Jl pLoütl jjAjO yc IxjIj y> 1*5^ JA+ll di
Oy ^yjLt! öotka» ju tXjy syt+JI xj\sS' £
-„*• s„-
öoAil (j'Skio! J jv^l Jy> xjU 2(-a-X_c.
s^h> £jL*i äjLösJt
iJLi* Lei.» 11 ^.yw ^ xa*) ykLLv~"..+j y w 11
xjläSJI Jlyj ciotkil jjyjJsvJI
H jval
•Xj Lo jvä-Lo J
. ^
I
J ^ I 9 I
,jjT Ijjß JJj L*-g-U*io öotLitj l j-a L^ye
■’ «AyLwüll
Schon aus dieser Probe können wir ersehen, dass dem
Verfasser eine ziemlich weite Belesenheit in der gelehrten
1 Siehe oben S. 600.
2 Dieses Wort ist mir nicht ganz klar.
3 Bl. 5 recto.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
621
Literatur zu Gebote stand. Und diesen Eindruck macht auch
das ganze Buch, mit dem wir uns hier beschäftigen, so klein
es auch ist. Wir begegnen hier einer ganzen Literatur und
zum Theil auch weniger oder gar nicht bekannten Werken.
Von letzterer Gattung könnte ich allerdings nur ein Beispiel
nennen 1 u. z. Abu Hajjan’s ,aethiopische Grammatik'
ijA^Ll ^jLwJ uLüdl die uns nur noch aus einer
Notiz bei al-Makkari bekannt ist; 2 betreffs dieses Citates bringe
icli in einem anderen Zusammenhänge das Nähere bei, weswegen
ich mich auch hier mit dieser Hindeutung begnüge. Ueberhaupt
kennt der Verf. Abu Hajjän’s i ssehr gut und
benützt es recht häufig. Um der vielen Commentare über viel-
commentirte Werke, die er anführt, gar nicht zu gedenken,
erwähne ich noch unter den citirten Büchern, die Werke der
an-Nawawt, at-Taban, Chalil, 3 Ta'lab Ibn-as-Sikkit,
Ibn Haukal, Ibn TJägib, al-Mutarrizi, al-Wähidi, az-Zamachsari,
(dem er einmal einen Widerspruch zwischen >oLÄS^ und J>^a.Lo
nachweist) 4 , Ibn-al-Atir, Ibn-al-Gauzi, Ibn Ja'is, Ibn Kuteiba,
Ibn Dureid, Ibn Ginm, Ibn Cballikän, Ibn Färis
und noch vieler Anderer, die er auf Schritt und Tritt excerpirt.
Dabei beruft er sich häufig auf zeitgenössische oder kurz vorher
lebende Gelehrte der Türkei, wie as-Seich ar-Radi, Äbdalläh
Nukrakiär, Ibn Kemäl Pasa, Sa'di Efendi u. a. m; an einer
1 Bl. 42 recto.
2 Makkari I p. At“v ult.
3 Kitäb-al-ajn. Bl. 41. recto. Ich will nicht unerwähnt lassen, dass
Bl. 7 verso al-Leit als der Verfasser des citirt wird:
4 Bl. 13 verso ^ & v_jL&XJ! Jläj
JkJte- JuoäJI £ 3La£xi ftk» (Jj-i'lj
Lu*-* l*-*-=* iUi
, - ,*■
622
Goldzilier.
Stelle bezieht er sich sogar auf eine briefliche Mittheilung —
Diejenigen, welche die zumeist nicht zutreffenden alttestament-
lichen Citate der muhammedanischen Schriftsteller sammeln,
können hier die sonderbare Notiz finden: Jls
JX Jliüj ^ tLa.
ä-oEaJiJLi J*.s!Lo
Bevor wir unsere Mittheilungen über diesen Schriftsteller
schliessen, wollen wir noch darauf aufmerksam machen, dass
er in der Vertheidigung seines Schützlings melireremal in
die Lage kömmt denselben vom Standpunkte der küfischen
Grammatikerschule aus in Schutz nehmen zu müssen, wo ihn
al-Firüzäbädi vom Standpunkte der bas rischen Grammatik
ausgehend angreift. — Unter Anderen geschieht dies in Bezug
auf die Verba primae «. Die Grammatiker basrischer Schule
unterscheiden sich nämlich von den Anhängern der kütischen
betreffs solcher Verba insofern, als jene behaupten, dass die Elimi-
nirung des ^ im Imperfectum, wo eine solche stattfindet, (wie
in impf. iX*j) ein phonologisches Bedürfniss ist, indem
das lautliche Zusammentreffen eines Wäw mit einem Ja einer
und einem mit Kesre lautenden Consonanten anderseits (wie
die Aussprache erschwert is^-wXI^ gl+Äa-l)
(JJÜaak.xj) ; während die Kufenser die Elimination des Wäw
nicht auf phonetische Verhältnisse zurückführen, sondern von
der Transitivität der betreffenden Verba abhängen lassen.
JjwJI o-sX* Ui! ^ ,jjo ^I^JI ^1)
. r ÖUf, indem sie in ihrer starren, formalen und so
zu sagen algebraischen Auffassung der grammatischen Erschei
nungen, die Transitivität des Verbums als Aequivalent für ein
eingebüsstes Wäw gelten lassen, 'CäyS. o ^iXxX}\
und der basrischen Erklärung, Fälle wie die
Imperativform tXt und die Causalform entgegensetzen,
1 Bl. 25 recto.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsarakeit bei den Arabern.
623
wo einerseits ein eliminirtes Wäw ohne vorhergehendes Jä,
andererseits ein festgehaltenes Wäw trotz vorhergehendem Ja
und nachfolgendem Kesre zu bemerken ist.
Die Basrenser wieder führen zur Erhärtung ihrer An
schauungsweise die Thatsache eines ähnlichen i—ibiäsi unter den
selben phonetischen Bedingungen an, wo jedoch die Aussprache
nicht durch Eliminirung sondern durch j»LciS! des zwischen
Ja und Kesre lautenden Consonanten erleichtert wird, wie z. B.
W "■ w '' O" O "
in statt yyjjuo und u. a. m.; was in unserem
Falle wegen der haraka des ersten der in Betracht kommenden
Laute nicht gut möglich wäre löt »Jl ^1)
OyAi' £ l+jSlcksd Li^
il^-sLo Jj51| ,j5i |*Jj (JÜwof joiü ll»ls&
u. w, ^ fr ^ ß J
j»Lc35U_> » ö_^ÄÄ\Jt ^^jA+j |*J LfJ-j Lü Iw tjt
ojwilj ljLuüAM sie stellen ferner den Kufensern
transitive Verba wie v_*j« entgegen, welche in der
Imperfectbildung das gerade Gegenthoil davon beweisen, was
die Küfenser über solche Verba lehren. 1
1 Formen, wie ,^öj w0 trotz ^ es m it Fatha lautenden zweiten
Wurzelconsonanten die Elimination stattfindet, erklären die Basrenser
dahin, dass ein ursprüngliches
Co
unter dem Einfluss des Guttural
lautes ein Fatha einsetzt, welchen Vocal die Gutturale gerne in ihrer
Nähe haben, ob nun der Gutturallaut an zweiter oder letzter Wurzel-
steile zu stehen kömmt. Jjbo lijJCLo £l( ^ Lc Lo!^
JJsSH A j-^Aj yj-i LlgJlLolj £Sb £Syy £0«
X- U -x ? X- ? Üx- x-
kSVAjt^ OwiAs» viUö 0^"=*. LJ ^n}\y
(Bl. 7 recto) L&J OljOict 51 jtÖjLe
624
Goldzilier.
Diese Streitfrage zwischen den beiden grammatischen
Schulen ist noch viel weitläufiger ausgesponnen; Rede und
Gegenrede ist noch viel ausführlicher von beiden Seiten ge
leistet worden, als wir hier anzuführen für nöthig erachten.
Man kann über diese, wie über 113 grammatische, zum besten
Theile syntaktische Differenzpunkte *, die gründlichen und für
Forscher auf dem Gebiete der arabischen Nationalgrammatik
sehr werthvollen Auseinandersetzungen in verständiger, wenn
auch durch scholastischen Formalismus in sich einigermassen
complicirter Anordnung 2 neben einander finden, in Kemäl-
ad-din Abu-l-Barakät ‘Abd-ar-Rahmän b. Sa'id al-
1 Aehnliche Schriften sind: I £ ^ÄÄ+J!
von Abu Nahhäs; XjJ Lo
von Ibn Kejsän; ji ^ <s. !| von dem Küfenser
Ta'lab, ein Buch gleichen Titels von Ibn Färis, und vielleicht auch
das iV~A1| von Al-Azdi (Flügel Grammatische Schulen
der Araber, p. 64, 98, 166, 226, 247).
2 Der Verfasser befleissigte sich nämlich in seiner Darlegung derselben
Methode, die in juristischen Werken ähnlichen Inhaltes befolgt wird, wie
er in seiner Einleitung ausdrücklich sagt: 1 g S ö 11 jjx. I t ^ Lj
yj ^ ^ 0 ) y, ^ ri
,j1 L^.-öL Lj-oL./; jJJ l^-4-C ä-yoLläUl
iLoiLi! JoLw^JI läJaJ LjUXJaiü
iLoüüi-l JoLwm-M
j*Ae 3, oi-uo («jUX jjl ^xiLLlI
! IlXüWir haben hier demnach ein weiteres Beispiel
für die Uebertragung der juristischen Methode auf die Sprachgelehrsam-
keit, welche as-Sujiiti dann im ganzen Umfange dieser Wissenschaft
ausbildete. S. unsere Abhandlung über as-Sujuti in diesen Sitzungs
berichten LXIX p. 18—21.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
625
Anbäri’s oiüll JoLwo £ usLoj^l
^AAi^XiJfj ^.AJ*_t£lAj| '
Genug an dem, dass wie unser Däwüdzäde nachweist,
der Verfasser des Sahäh die Eliminirung des Wäw sich nach
der Anschauungsweise der küfischen Schule erklärt, 2 weswegen
er auch dann von as-Safädi und 'Ali al-Küsagi angegriffen
wird. Dieser letztere will den auf ,Induction beruhenden
und nur dazu bestimmten grammatischen Erklärungsversuchen,
dass die Spracherscheinungen dem Verständnisse der Anfänger
näher gebracht werden', nicht viel Werth beilegen, weil eben
an dem hier behandelten Falle klar zu ersehen ist, dass die
Theorien der Formenlehre, wie man sie immer wenden und
drehen mag, nicht nach allen Richtungen hin klappen, und
immer noch Ausnahmsfälle zur Erklärung übrig bleiben, an
denen die im Allgemeinen aufgestellten Regeln Schiffbruch
leiden. 8
Auch noch in einigen anderen Fällen würdigt unser Verf.
die Angaben des Gauhan vom Standpunkte der küfischen
Schule aus; 4 einmal zieht er auch die Ansicht der Bagdadi-
schen Grammatikerschule herbei. 5
VII. Wir kommen nun zu Weis! oder Uweis b. Mu-
hammed, (geb. 969 st. 1037) dem Letzteren der von Hägi
1 Ich benützte das Exemplar der Leidener Bibliothek (Cod. Warner
Nr. 564). Ausserdem besitzt der Escurial eine Handschrift dieses
Werkes (Casiri I. p. 29 Nr. CXIX) und auch eine Constantinopler
Bibliothek zählt eine Abschrift des («jU5huiter ihren Schätzen.
2 s. v. und
3 Bl. 36 verso:
s. v. j Bl. 7 recto ^
Bl. 36 verso.
l<Xg.Ai ^j-ajAJCa+JI 1-g.i! JJ ^ Li!
^ O ^ 0 oO — ü ^ 0 ^
ij ! yj'äS' (3.ääao.3
4 Bl. 6 verso, Bl. 45 verso, Bl. 48 verso. Einmal jedoch Bl. 17 recto
führt er selbst die Lehre der Basrenser gegen al-Gauharl an.
6 Ueber <3^1 Bl. 73 recto.
626
Goldzilier.
Chalfa 1 aufgeführten zwei Apologeten des Gauhaiu. Auch er
ist Türke, ja ein hochberühmter türkischer Dichtei - , und dieser
Umstand enthebt uns der Aufgabe, uns näher mit seinem
Lebensgang zu beschäftigen, da dieser in genügender Ausfühi - -
lichkeit von HammelvPurgstall entworfen wurde 2 , welcher
seine Biographie aus der guten Quelle Nau'izäde’s schöpfte. 3
Dieser ist voll Begeisterung für die Sprachkunst des Dichters,
und vei’gleicht ihn mit Togrä’i, Harm, Bedi’i und Wassäf 4 . —
Was seine Vertheidigungsschrift für al-Gauhari anbelangt, so
führt sie den Titel t i^y^i 5 und scheint nicht nur
al-Fxrüzäbädi, sondern auch dessen Vorgänger Ibn Berri
zu Leibe zu gehen. Dahin deuten wenigstens die Worte seines
Biographen, ,dass er Ibn Berri in das Meer der Verwirrung
tauchte', 6 obwol diese Bemerkung sich nicht dii - ect auf das
Wex-k v/ bezieht, sondern auf eine Arbeit über
einige Subtilitäten der arabischen Sprache, welches er noch
ausser der Vertheidigung des Gauhaiu schrieb, und dessen
Erwähnung wir bei v. Hammer vermissen. Doch ist es
möglich, dass die Arbeit über die Subtilitäten der ai’abischen
Spx - ache kein besonderes und vom vei - schiedenes
Werk ist, obwol Nau'izäde’s Angabe auch dieser Vermuthung
Raum gibt. Ich setze die betreffende Stelle des türkischen
Schriftsteller’s hieher, damit der Leser selbst zwischen beiden
Annahmen urtheilen könne: jaLöJI v_^=a.Lo ^Ul
yjS> (Jpil IwjLxS"” yl !SOäUJ^.£.
viLa.sA.jl ^Jy^- i^Syi (Jjtj
Noch hätten wir zum Schluss zweier Vertheidiger des
Gauhaiü aus neuerer Zeit zu gedenken; eines Arabers und
1 H. Ch; IV. p. 491.
2 Geschichte der osmanischen Dichtkunst III. p. 203—6.
3 In der gedruckten Ausgabe p. vlt" vtl
4 ibid. p. vl*.
3 II. Ch. 1. c.
6 Nau’izädg p. v | 2t£=>.sAj| yzd^JyX.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
627
eines gelehrten Europäers. Der Araber ist Abu Zeid 'Abd-
ar-Rähmän b. 'Abd-al-'aziz dessen
lJ^.su3j oÜA'
das einzige im Druck
erschienene Werk dieser Art ist. (Büläk 1281 in oct.) und
gewöhnlich als Supplement zu der Büläker Ausgabe (1282)
des Gauhari’schen Lexicons ausgegeben wird. Der andere ist
der gelehrte Lexicograph der arabischen Sprache: La ne,
welcher al-Gauhari höher stellt als den Verfasser des Kämüs. 1 —
Auch der türkische Erklärer des Letzteren (Abu-l-Feid-al-
Hindi az-Zubeidi, nimmt den Gauhari zuweilen gegen al-Firü-
zäbädi in Schutz. —
Nachträgliches.
1) Zu Seite 7.
Da hier wieder häufig auf das sogenannte grosse und
kleine istikäk Bezug genommen wird, so wird es nicht
schaden, auf die Definition dieser termini der arabischen
Sprachgelehrsamkeit näher einzugehen. — Gewöhnlich wird
das ,grosse' vom ,kl einen' istikäk insoferne unterschieden,
als bei diesem die Ueb er ein Stimmung der Wortfirmen, sowol
was Consonantenelemente der Wurzel, als auch was die Com-
bination derselben betrifft, in Betracht kommt v_**uL1äJI)
LLöjjj); während bei ersterem nur das Consonantenmaterial,
nicht aber die Combination desselben massgebend ist. LÜ!)
iLjv-Gi 2 Ich verweise diesbezüglich der Kürze halber
auf einen Excurs hierüber, in Ibn al-Atir al-Gazari’s Werke
über die arabische Rhetorik 3 ; muss aber hinzufügen, dass
1 Preface p. XVII.
i_öLCJI olol ysL*JI Handschrift der
k. k. Hofbibliothek. Cod. N. F. Nr. 38 Bl. 112 verso.
Vgl. einen Commentator bei Mehren Rhetorik der Araber p. \\
r® o
LäÄd.bf|
L im i 790' vj
+j OL+JI j
628
Goldziher.
eine andere Eintheilung der arabischen Etymologie drei
c-
Arten derselben kennt: 1) ein yiucI ^_vLäÄxi! 2) ein j-üue
und 3) ein y£\ (j'L&Xci!. — Die erste Art nimmt die Ueber-
einstimmung der Radices sowol was Material als auch was
Combination betrifft, in Betracht, die zweite reflectirt nicht
auf die Congruenz der Reihenfolge der Wurzclelemente, wol
aber auf die Uebereinstimmung des Consonantenmaterials in
beiden mit einander in Verhältniss gesetzten Wörtern; der
dritten ist der dritte Wurzelconsonant gleichgültig und stimmt
ungefähr mit der Methode überein, welche von vielen semitischen
Lexicologen geübt wird, seitdem die sogenannten ,organischen
Wurzeln' aufgekommen, welche, wie wir oben sahen, bereits
von as-Safadi und al-Beidawi 1 versucht wurden. Ich entnehme
diese Eintheilung der Encyklopädie des Muhammed b. Ahmed
at-Tarsüsi, 2 und erlaube mir nachfolgend auch den arabi
schen Text seiner Auseinandersetzung nach der einen Hand
schrift, die mir zu Gebote stand, zu ediren:
(Jj-oiH CLuAäX ÜuÜjt <X^ £)t U-Lft
J,! jü-w-ÜU «ai «XtaLl £ «JLaiU JXrJJ
«-ywÜj <Xä.L-> (jl Oj-AJl
iaTä LojI l<X®j
1 Zu den Bd. LXVII p. 232 Anm. 2. angeführten Stellen aus al-Beidawi
füge ich jetzt noch hinzu I p. Z. 15 ^ g i
2 rr^> , \l Handgehr. der k. k. Hofbibliothek, Cod. N. F.
Nr. 2 Bl. 5.
*" >''05Ö?
3 Einige Zeilen früher wird das istikäk definirt: r jo.* pAc
äJLaiH_s (jA*j jiy» cjlOj-i+JI
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
629
- c5^ *" " - - y ^ ü a .. ^ 9 - - ^
[V-C-' 3U-wLL*JJ^ \jsG <w3va2J! ^./O lX^U Uj
.<■ y ^ ^ ^ Jo ^ ^ Cl j
^ ^äjuJ! £ «jii!^*JI aui ^aJCäI ^ ^jliiÄXiilli äLäil^Jt
j! IpLoj 0^-0.5^ N--A3
U_g^i iü^uÜ.+Jt dJU^ jjlXT ^uuaJls ij^Oo
I^aaS" (jax^o J^Sn tXi'^ v_*Jöj jvJj' «-^ v^S^SiLs
2) Zu Nr. I. dieser Beiträge. (Sitzungsberichte Bd.
LXVII. S. 209)
Wir haben an angeführter Stelle nachzuweisen gesucht,
dass confessionelle Vorurtheile bei den Muhammedanern zu
weilen das Urtheil über Sprachgelehrte zu trüben vermochten.
Es ist ganz merkwürdig, dass auch az-Zamachsari, der doch
durch sein tjJ&Juc einerseits und durch sein kä^Ld! u-Lu.1
andererseits mit Recht unter den Säulen der arabischen Sprach
gelehrsamkeit genannt zu werden verdient, diesem Vorurtheile
nicht entgehen kann; er war bekanntlich Mu'tazilite und legte
den Koran im Sinne dieser dogmatischen Schule aus in einem
Werke ,(v sLw_S3t) das die orthodoxe Schule wol verwerfen musste,
aber dennoch plagiren und excerpiren durfte. Der andalusische
Gelehrte Abü Hajjän 1 lässt nun bei Gelegenheit einer sprach
lichen Erörterung folgende Worte fallen: ,Diese Antwort
wurde freilich von den in der arabischen Sprachgelehr
samkeit schwachen Männern z. B. von az-Zamachsari
und Anderen gut geheissen' «Äx i_ilyil Ick®
1 Jjbo SLo^xJI JjM xäjtö
In dieselbe Rubrik gehören noch einige Erscheinungen
auf dem Gebiete der arabischen Sprachgelehrsamkeit, die ich
hier hervorheben will. Die Professur der Grammatik
an der Hochschule an-Nizämijja war zu einer Zeit von
dem Umstande ahhängig gemacht, dass der betreffende Hoch-
1 Bei as-Sanawäni, in seinen Antworten auf sieben Fragen des Sujuti
(Hschr. der Hofbibliothek Cod. Mixt 191, b, Bl. 18 recto).
630
Goldziher.
Schullehrer sich zur Säfi'itischen Secte bekenne. Allerdings
war dies kein so horrender Zwang; denn wie bekannt, war
es ein Leichtes von einer jeden der vier orthodoxen Secten
zu jeder beliebigen Anderen überzutreten. So wird uns auch
gerade betreffs der in Kede stehenden Professur berichtet, dass
Ibn-ad-Dahhän-al-Wagih, welcher früher bereits eine
Wendung von seinem ursprünglichen Hanbalisinus, zur Secte
des Abu Hanifa machte, der Erlangung dieses grammatischen
Lehrstuhles zu Liebe nun auch den Abu Hanifa abschwor
um es mit der safi'itischen Seligkeit zu versuchen. Diese
Manteldreherei brachte ihm und der Literatur der satirischen
Poesie ein allerliebstes Gedichtchen des Abu-l-Barakät at-
Tekriri ein. 1 — Von as-Sujüti erfahren wir ferner, 2 dass
die religiöse Pietät in älteren Zeiten einen grossen Einfluss
auf die Objecte der arabischen Philologie ausübte. So berichtet
er von al-Asma'i, dass ihn religiöse Pietät abhielt, sich an
die Erläuterung des Korans zu machen, und dass er auch von
dem sonstigen arabischen Sprachschätze Nichts zu erklären
wagte, was Analogien oder etymologische Begründung im Koran
oder der Tradition hat. — Ein specielles Beispiel solcher reli
giöser Pietät in rein grammatischen Dingen ist Folgendes; az-
Zamachsari bespricht in seinen Korancommentar die gram-
matische Form der Gottesnamen: I und meint
ersteres sei aus ebenso wie aus
uy 14 : aus Alu;, letzteres sei J-yxi derselben Wurzel und
vergleicht die Formen (jAjvx; damit. Diese unschuldige
grammatische Deduction bietet nun dem frommen Imam
al-Bulkeinl 3 Stoff zu vier wuchtigen Einwendungen, unter
1 Ibn Challikän Bd. VI p. \♦ Nr. 565.
* Hschr. der Leidener Bibliothek cod. Warner. Nr. 474 (39) Bl. 5 recto
Boiträge znr Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
631
welchen uns liier, wo wir ein Beispiel für den Einfluss reli
giöser Pietät auf die Sprachgelehrsamkeit anführen wollen,
nur die dritte interessirt. Der naive Imam meint nämlich:
,es sei höchst ungezogen, die Formen mit
Wörtern — wenn auch nur zu grammatischem Behüte — zu
vergleichen, welche ihrer Bedeutung nach sich zu solchem
Vergleiche nicht eignen. Wie kann man jene Wörter auf die
Analogie mit ijlyCw = betrunken, = zornig, ijäjyo
[Voü“ — krank, gründen? Wäre es nicht schicklicher anzu
führen: (jLLo jjlZs»? — Die vier Einwürfe werden nun aber
auch von verschiedenen Gelehrten mit Bemerkungen begleitet.
Die zwei ersten und der vierte werden glücklich zurück
gewiesen. ,Was aber die dritte Einwendung des al-Bulkaim
betrifft' — sagt der Berichterstatter 1 — so kann man Nichts
auf dieselbe erwiedern. Gott weiss es am besten.'
) " w. 5 w fc
iljl ,jl5Ü ^ ^
1 ibid. |vEc.| «JUI^ »Xe. cyJlÄH Lolj owLs
Bl BL ÖAW
+YW18984700