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„Über das Becken des Kabul."
Ebenso wie für die Pflanzenkunde jene Gegenden unserer
Erde besonders wichtig sind, wo die Arten eines Himmelsstriches
in jene eines andern übergeben, ebenso ist es für die Untersuchun
gen hinsichtlich der geistigen und geschichtlichen Ausbildung der
menschlichen Gesellschaft mit jenen Ländertheilen der Fall, wo
die Grenze einer Gesittung mit der einer andern Volkstümlichkeit
zusammentrifft. Meistens, ja fast immer, findet dieser Übergang in den
Gebirgen Statt, und da diese mit wenigen Ausnahmen auch zugleich
die Scheidelinie der Pflanzenformen sind, so trifft oft das Eine mit
dem Andern zusammen. Besonders reich an Ergebnissen sind jene
Vereinigungspuncte der letzteren, wo das Hochgebirge gegen Sü
den in eine Ebene ausläuft, und die Sonnenstrahlen eben so sehr
durch die dichteren Luftschichten der Niederung an Wärme zuneh
men, als durch ihre mehr senkrechte Stellung. Ein solches Land
ist in Europa das nördliche Italien, wo die nördliche Pflanzenwelt
mit der südeuropäischen der Halbinsel aneinandergrenzt. Hier ist es
auch, wo der germanische Stamm sich an den romanischen an-
scliliesst. Eine ähnliche Stellung, im grösseren Massstabe, findet
in Asien Statt, wo die höchste Erhebung der Erde sich in eine
Ebene verflacht, an welche sich eine mächtige Halbinsel anschliesst,
Händlich in dem nordwestlichen Indien, wo indische Gesittung zu-
sammentrifft mit jener der rauhen Gebirgsvölker Mittel-Asiens: da,
wo die jedes Leben schonende Lehre der vielglaubenden Hindu
übergeht in die Gewohnheit an Raub und Mord der im Deismus nur
an das materielle Leben angewiesenen wilden Stämme. Dies Land
ist das Becken des Kabul, der westlichen Quelle des Indus, ein
Land, welches vor mehr als zwei Jahrtausenden Wichtigkeit durch
Alexander des Grossen Zug erhielt, in welchem vor wenigen Jah
ren das grässliche Schauspiel des Hinschlaehtens einer grossen
Heeresabtheilung gegeben wurde, und welches bis in die neueste
Zeit ein tief verschlossenes Geheimniss war, von den bösen Geistern
der Raubgier und der Glaubenswuth bewacht.
Diese Gegend, die westlichste Grenze des Hinduismus, aus
welcher er durch die Mohammedaner fast gänzlich verdrängt wurde,
Sitzl). d. phil.-liist. CI. I. Bd. G