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Prof. Loewe,
Das speculative System des Rene Descartes, seine Vorzüge
und Mängel.
Von Prof. Joh. lleinrich Loewe.
I.
Die Geschichte der Philosophie ist schon oft, und wohl nicht
mit Unrecht, mit dem scheinbaren Laufe der Planeten verglichen
worden, um dessen Verständniss die Wissenschaft so lange vergeblich
sich mühte. Auch die Philosophie hat ihre Zeiten, in denen die
Bewegung von einem völligen Stillstand unterbrochen, oder gar in
eine rückläufige umgesprungen scheint. Dass insbesondere wir heut
zu Tage in einem ähnlichen Falle uns befinden, wird uns nicht nur
von dem lauten Schwarme derjenigen mit Zuversicht verkündet, deren
Kenntniss überall nicht weiter als das Hörensagen reicht, sondern
wird selbst von den Eingeweihten mehr oder minder unumwunden
als ein offenkundiges Geheimniss behandelt.
Und in der That fehlt es an Versuchung für ein gleichlautendes
Urtheil nicht, wenn man den Stand der Zeitphilosophie erwägt,
und wie die Einen uns zumuthen, vor dem wirren Durcheinander
rufen gegenseitig sich anklagender Stimmen in die verlassene Burg
irgend eines entthronten Systemes neuerdings uns einzuschliessen,
während Andere das undankbare Geschäft eines von beiden Seiten
zurückgewiesenen Vermittlers übernehmen, und die feindseligsten
Gegensätze zu einem „ewigen Frieden“ zu verquicken bestrebt
sind.
Ich will hier nicht näher darauf eingehen, oh ungeachtet dieser
unleugbar vorhandenen unbefriedigenden Zustände nicht dennoch
anderweitig einiger Baum für eine tröstlichere Auffassung sich öffne,
ja ob nicht überhaupt von vornherein gestattet sein möchte, auch die
vermeintlichen Stillstands- oder Rückschritts-Perioden der Philo
sophie mehr für scheinbare als wirkliche zu betrachten, obschon es
hier allerdings bisher nicht gelang, in gleicher Weise wie hinsicht
lich der planetarischen Umläufe den Schein auf seine Ursachen und
Gesetze zurückzuführen.