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Kremer.
Allerdings mag man klimatischen, socialen und (monomi
schen Verhältnissen keinen geringen Antheil zuschreiben daran,
dass man in den letzten dreissig Jahren in Europa grosse
Kriege sich vollziehen sah, ohne dass sie verheerende Seuchen
immer unmittelbar im Gefolge hatten, aber dennoch möchte
ich mich getrauen zu behaupten, dass den Fortschritten der
medizinischen Wissenschaft, den systematisch zur Anwendung
kommenden modernen Desinfectionsmethoden, der rationell ein
gerichteten Verpflegung der Truppen und überhaupt dem
modernen Sanitätswesen ein hervorragendes Verdienst hiebei
zukommt.
Dies verhindert aber keineswegs die Besorgniss, dass,
wenn die orientalischen Wirren länger fortdauern sollten, und
zwar in solchem Grade, wie während und kurz nach dem
letzten orientalischen Kriege, und wenn es unterlassen bliebe,
wirksame internationale Sanitätsmassregeln zu treffen, die
orientalische Frage nebst ihrer politischen und militärischen
Bedeutung auch eine höchst gefährliche sanitäre Tragweite er
langen könnte.
Diese Besorgnisse erhielten durch das seitdem erfolgte
Auftreten der Bubonenpest in Wetljanka und an einigen
Punkten Persiens eine erhöhte Berechtigung.
Für Jene, welche sich gewöhnt haben, in dem grossen
Wirrsale der Geschichte den Zusammenhang zwischen Ursache
und Wirkung zu erforschen, wird die Befürchtung nahe liegen,
dass jene Geissei Gottes, wie die mittelalterlichen Schriftsteller
die Pest nannten, plötzlich wieder erscheinen könnte. Denn
im türkischen Reiche sehen wir ganze Völkerstämme aus ihren
Sitzen aufgescheucht, von Haus und Herd verjagt und statt
des früheren Wohlstandes dem Elende preisgegeben. Unter
dem Einflüsse nationaler und religiöser Vorurtheile haben sich
die Gemüther auch allmälig so erhitzt, dass jedes unbefangene
Urtheil schwindet und die Grundsätze des Rechtes, der Billig
keit, der Menschlichkeit immer mehr durch blinde Leidenschaft
und Verfolgungswuth zurückgedrängt oder gänzlich unterdrückt
werden. Hieraus entspringt ein Nothstand, ein Massenelend,
welche, wie die folgenden geschichtlichen Nachweise zeigen,
die Entstehung der grossen Seuchen besonders befördern.