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F r i e d r i c h Maassen.
Das Corpus juris canonici ist daher eine Quelle des in einem grossen
Theil von Deutschland noch gegenwärtig geltenden gemeinen Civil-
rechts. Zwei der tüchtigsten Juristen des vorigen Jahrhunderts, Chri
stian Tomasius und Justus Henning Böhmer, heben aus diesem
Grunde bei jeder Gelegenheit aufs Nachdrücklichste die Nothwen-
digkeit des canonistischen Studiums auch für den Civilisten hervor.
Die wichtigste Stelle in dieser Beziehung nehmen unter den
Bestandtheilen des Corpus juris die Decretalensammlungen ein. Man
würde sich aber täuschen, wenn man glaubte, dass der Dogmatik der
durch das canonische Recht berührten Institute des Civilrechts mit
einer blossen Kenntniss des unmittelbaren, wörtlichen Inhaltes der
Quellen genügt wäre. In viel geringerem Masse als für das römische
Recht reicht hier die Kenntniss des Gesetzes hin, aus dem einfachen
Grunde, weil hier nicht, wie in den römischen Reehtst|uel!en, der
grösste Theil selbst wissenschaftliche Entwickelung ist.
Für das Verständniss der Decretalen als Quellen des gemeinen
Civilrechtes ist erforderlich einmal das Zurückgehen auf das frühere
canonische Recht, namentlich das Decret, dann aber auch, und zwar
vor allen Dingen, auf die früheren Glossatorenschriften.
Ich glaube nun nicht zu weit zu gehen, wenn ich der Ansicht
bin, dass es für den letzteren Zweck noch an vielem nothwendigen
gebricht 1 ). Es würde mir nicht ziemen, S a rti’s grosse Verdienste
noch hervorheben zu wollen. Aber was Savigny über die Bedeu
tung seines Werks für die eigentliche Literargeschiehte sagt, das
gilt ebensowohl für die Glossatoren des canonischen Rechts als für
die des römischen. In dieser Beziehung hat Sarti den grössten Theil
der Arbeit zurüekgelassen. Für Einen Zweig, die ordines judiciarii,
ist allerdings in der neuern Zeit verhältnissmässig viel geschehen 2 ) ;
1 ) Es bedarf nicht der ausdrücklichen Erwähnung, dass es nicht die Aufgabe von Hand-
und Lehrbüchern sein kann, hier Detailforschungen zu liefern.
2 ) Sa vigny an verschiedenen Stellen seiner Rechtsgeschichte, ferner Incerti auctoris
ordo judiciarius (Ulpianus de edendo), ed. Haenel 1838. — Bartoli de Saxoferrato
Iractatus de online judiciorum, ed. Martin 1838. — Anecdota, quae processum
civilem spectant, Bulgarus, Damasus, Bonaguida , edid. Ag. W u n d e r 1 i ch 1841.
— F. Bergmann, Dissert. de libello, quem Tancredus Bonon. de judiciorum ordine
composuit. 1838. (Recension von Wunderlich in den kritischen Jahrbüchern
für deutsche Rechtswissenschaft, B. 9,1841, S. 229—233.) — Pillii, Tancredi, Gratiae
libri de judiciorum ordine, ed. F. Bergmann 1842. — W u nd e r I i c h, Beiträge zur
Literargeschiehte des Processes im XII. und XIII. Jahrhundert, Zeitschr f. geseh.
Rechtswissenschaft, Bd. 11, 1842, S. 73—98. — Rudorff, Über den Processus