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X. Abhandlung: Kastil.
liches Missverständnis gegründet, mir kaum erspart bleiben
dürfte, suchte ich nicht ihm durch einen nochmaligen Hinweis
auf die eigentliche Aufgabe dieser Schrift zu begegnen. Thomas
ein Subjectivist auf dem Gebiete der Moral, er der mit schier
unnachahmlicher Grösse ein Summum bonum als unverrück
bares Ziel unseres Strebens an die Spitze seiner ethischen Be
trachtungen stellt! Dies mag Manchem gezwungen, übereilt,
manchem, dem mehr als wissenschaftliche Ueberzeugung dem
grossen Scholastiker verbündet, vielleicht geradezu frevelhaft
erscheinen.
Doch ist mein logisches Gewissen rein. Den psycho
logischen Grundlagen, die Thomas seiner Ethik gibt, galt meine
Untersuchung und ward dadurch darauf gewiesen, seiner Ana
lyse des Begehrens zu folgen. Und dass sich eine solche bei
ihm findet, dass er thatsächlich heissen Bemühens aus dem
Boden seiner Seelenlehre den Schatz ethischer Erkenntnis zu
heben sucht, ist ein deutliches Zeugnis für den — von vor-
urtheilsvoller Befangenheit oft genug verkannten —- echt wissen
schaftlichen Charakter seines Philosophierens.
Allein je sorgfältiger ich diese psychologischen Bemü
hungen verfolgte, umsoweniger konnte mir die Divergenz seiner
Resultate mit seinen eigenen psychologischen Grundlehren ent
gehen. Denn diese tragen schon in der Form, wie er sie von
Aristoteles übernahm, den Keim des ethischen Subjectivismus
in sich, und, was auch immer Grosses, Erhebendes und Rich
tiges seine Güterlehre aufweist, ähnlich wie nach einem Worte
Hegels, bei Schelling das Absolute, erscheint bei Thomas das
absolut Gute ,wie aus der Pistole geschossen*.