Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 29. Band, (Jahrgang 1858)

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Julius Feifalik. Über allböhmische Vers- und Reimkunst. 
tute auch unter den siavischen Bewohnern entdecken können 87 ). 
Auch ein grosser Theil der sogenannten Jahrmarktslieder bequemt 
sich unserem oft erwähnten Gesetze ; ja noch aus der neuesten Zeit, 
aus dem ungrischen Kriege, sind mir solche Jahrmarktslieder be 
kannt geworden, deren Strophen ganz regelrecht in zwei Stollen 
und einen Abgesang zerfielen. 
Die vorstehenden Blätter werden, so hoffe ich, das häufige 
Vorkommen und die weite Verbreitung der dreitheiligen Strophe in 
der altböhmischen Dichtkunst zur Genüge dargethan haben: dass 
wir dieser Strophenform zu Ende des 13. und im Anfänge des 
14. Jahrhunderts schon in voller Ausbildung begegnen, lässt den 
Schluss gerechtfertigt erscheinen, dass sie wohl bereits im Beginne 
des 13. Jahrhunderts nach deutschem Muster in die böhmische 
Poesie musste eingeführt worden sein. Dass aber für die ältere Zeit 
so wenige Beispiele aufgeführt werden konnten, wird den Kenner 
nicht wundern, der weiss, dass das Besprochene fast alle lyrischen 
Gedichte umfasst, welche uns aus jener Zeit erhalten sind. Weitere 
Abhandlungen sollen sich mit der Untersuchung des altböhmischen 
Verses, namentlich in der epischen Dichtung, und mit dem Reime 
beschäftigen: auch diese werden uns die Macht und die frühe Ent 
wickelung deutsches Einflusses auf die böhmische Poesie zeigen. 
Weit entfernt aber, aus diesem Anlehnen an deutsche Dichtung 
und Dichtkunst der böhmischen etwa einen Vorwurf zu machen, 
sehe ich darin nur einen Beweis ihrer frühen Lebenskräftigkeit so 
wie ihres richtigen Tactes, der sie ihre Muster gerade dort suchen 
Iiess, wo sie zugleich Vermittelung jener Ideen fand, welche damals 
ganz Europa bewegten. Und gerade dieser Anlehnung verdanken die 
Böhmen es, dass sie Jahrhunderte früher in die Geschichte und nament 
lich in die Literaturgeschichte eintraten als andere Slavenstämme. 
37 ) Freilich hat man sich gewöhnt, in den sogenannten Literatenbruderschaften eine 
Art Meistersingervereine zu erblicken : eine Ansicht die auf Unkenntniss beider 
Institute beruht, und zu welcher der hochtrabende Name der Literaten und der 
Umstand verleitete, dass diese auch hei dem Gesänge in der Kirche mitwirkten. 
Ein Einblick in die Statuten der Literaturgesellschaften lehrt, dass diese blosse 
religiöse Bruderschaften zur Verherrlichung des Gottesdienstes und zur Übung 
christlicher Liebeswerke waren, und dass an Pflege oder Förderung der Dicht 
kunst bei ihnen im entferntesten nicht zu denken ist. Hätte es slavische Meister 
sänger in Böhmen gegeben, eine einzige erhaltene Tabulatur einer solchen Schule 
wäre uns von noch unberechenbarem Werthe.
	        
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