Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 144. Band, (Jahrgang 1902)

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IX. Abhandlung: Schönbach. 
Mittelalters abzielen, auch die Exempel zur Herstellung eines 
theoretischen Massstabes am liebsten dem Mittelalter selbst ent 
nehmen möchte. 
Nach mancherlei Versuchen glaubte ich in den beiden 
Erzählern Jakob von Vitry und Stephan von Bourbon den 
günstigen Fall gefunden zu haben: beide sind Franzosen, beide 
während nahe derselben Zeit in kirchlichen Aemtern tätig, die 
sie mit weiten Kreisen des Volkes in Berührung bringen — wenn 
sie dieselben Geschichten verschieden erzählten, so möchten sie 
aus fast derselben Ueberlieferung schöpfen, und die Varianten 
ihrer Berichte durften als Zeugnisse für den einfachsten Trieb 
des Umbildens und Stilisierens gelten, der sich bei erneuter 
Mitteilung bekannter Stoffe betätigt. Ueberdies lagen, was gar 
nicht zu unterschätzen ist, die Erzählungen beider in (zwar 
sehr unvollständigen, aber doch) modernen Ausgaben vor (Crane 
1890, Lecoy de la Marche 1877). 
Später bin ich dann, im Zusammenhänge meiner Arbeiten 
in dem Gebiete der Cistercienserlitteratur, auf Caesarius von 
Heisterbach geraten. Dieser Schriftsteller aus der ersten Hälfte 
des 13. Jahrhunderts hat im Verlaufe eines Jahrzehntes eine 
grosse Anzahl von Erzählungen zweimal, einzelne auch dreimal 
aufgezeichnet: im Dialogus miraculorum, in den drei ersten 
Teilen der Homilien und in den Libri miraculorum. Da lag 
also der von mir theoretisch construierte Fall in aller wünsch 
baren Reinheit und Simplicität wirklich vor. Den Kundigen 
brauche ich nicht auseinanderzusetzen, wie wichtig die hier 
wahrzunehmenden und in Gruppen zu sondernden Unterschiede 
der Darstellung desselben Stoffes, von blossen Wortvarianten bis 
zur Umbildung der sachlichen Substanz, für das Studium der 
Veränderungen einer mündlichen Tradition werden können: sei 
es, um die Abstände zwischen verschiedenen Redactionen des 
selben Gedichtes zu bemessen, oder zwischen gleichzeitigen 
historischen Berichten, oder zwischen Gestaltungen eines Mär 
chens und einer Sage. Was sich mir an Variabilität bei dem 
ruhigen und wahrheitsliebenden, aber poetisch veranlagten Cae 
sarius ergab, das scheint mir geeignet, den raschen Vermutungen 
in Bezug auf Verschiedenheit von Autorschaft und Ursprung, 
von Echt und Unecht, ebenso einigermassen Zügel anzulegen, 
wie meine Beobachtungen über die Differenzen innerhalb zweier
	        
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