II. Abhandlung: Zimmermann. Leibnitz bei Spinoza.
II.
Leibnitz bei Spinoza.
Eine Beleuchtung der Streitfrage
von
Robert Zimmermann,
wirkl. Mitgliedc der kaiserl. Akademie der Wissenschaften.
Das persönliche Zusammentreffen zweier Denker, deren
jeder in seiner Weise für die Geschichte der Philosophie
epochemachende Bedeutung besitzt, ist an sich ein ausser
ordentliches Ereigniss. Das Interesse an demselben erhöht sich
in demselben Grade, in welchem die vorhandenen Berichte
über den Inhalt der bei diesem Anlass gepflogenen Unter
redungen den gehegten Erwartungen und billigen Vermuthungen
entgegengesetzt zu sein scheinen. Unwillkürlich drängt der Ver
dacht sich auf, dass aus was immer für Gründen der wahre
Sachverhalt entstellt, entweder ein Theil des zwischen beiden
stattgehabten Meinungsaustausches zufällig vergessen, oder, was
bedenklicher wäre, vorsätzlich verschwiegen worden sei.
Dieser Fall ereignet sich in Betreff der Zusammenkunft,
welche im November 1676 zwischen Spinoza und Leibnitz im
Haag stattgefunden hat. Wenn der Verfasser der Ethik und
jener der Monadologie einander von Angesicht zu Angesicht
gegenüberstehen, so ist es natürlich zu erwarten, dass zwischen
beiden ein zum mindesten ebenso bedeutendes Gespräch sich
entwickle, wie es etwa in ähnlichem Falle bei der mit Recht
berühmt gewordenen zweiten persönlichen Begegnung Goethe’s
mit Schiller eingetreten ist. Und wenn an die letztere ein
in seiner Weise unvergleichlicher bedeutsamer Briefwechsel
sich geknüpft hat, so werden wir dem sich von selbst auf
drängenden Bedauern, dass kein ähnlicher die Folge der Zu
sammenkunft jener beiden Philosophen geworden sei, nur durch
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. CXXU. Bd. 2. Abk. 1