Kant und die positive Philosophie.
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Kant gelangt so wie Comte zu einer Art /Theodicee',
als Rechtfertigungsversuch der Existenz dessen, was beiden
an sich für durchaus verwerflich gilt. Kant findet die Un
geselligkeit durchaus nicht ,liebenswürdig'; aber ,die Natur
weiss besser, was für ihn gut ist; sie will Zwietracht'. Comte
schilt Theologie und Metaphysik ,Fiction'; aber ohne die theo
logische Weltbetrachtung fände sich die Menschheit beim Erwa
chen ihres Geistes in einen ,bösen Ring' (cercle vicieux) einge
schlossen, aus welchem nur jene einen Ausweg (issue) bietet
(a. a. O. I. p. 12). Alle Cultur und Kunst, sagt Kant, welche
die Menschheit ziert, die schönste gesellschaftliche Ordnung,
sind Früchte der Ungeselligkeit, die durch sich selbst genötliigt
wird, sich zu discipliniren (a. a. O. p. 299). Comte nennt die
spontane Entstehung der Gottesideen am Anfang der Mensch
heitsentwicklung ein glückliches Ereigniss, denn sie boten
derselben einen Vereinigungspunkt (point de ralliement) und
Nahrung für ihre Thätigkeit (aliment ä son activite). Die drei
Stufen des theologischen Weltalters, die durch die verschiedene
Gestaltung der Gottesidee charakterisirt werden, das Zeitalter
des Fetischismus, des Polytheismus und Monotheismus, stellen
eben so viele der sich erweiternden Socialität den Menschen
dar. Das letztere, welches den Höhepunkt des theologischen
Weltalters und zugleich den Beginn des Verfalls desselben
bezeichnet, umfasst in Comte’s Sinne das gesammte christliche
Mittelalter und gibt demselben Veranlassung zu einer mit der
üblichen Geringschätzung seiner ,Finsterniss' stark contrastiren-
den Würdigung der positiven Verdienste desselben um die
Grundlegung der neuen Zeit. An Hegel gefiel es ihm, dass er
bei ihm eine ähnliche wahrzunehmen glaubte. Aus diesem
Sinne für das Historische, der ihn den Leibnitz’schen Ausspruch,
dass das Gegenwärtige die schwangere Mutter des Zukünftigen
sei, preisen lässt, entspringt es, dass ihm der blos zerstörende
Charakter eines Zeitalters oder einer Lehre antipathisch ist*
Dass er das metaphysische Weltalter, das seiner Ansicht nach
schon im 12. Jahrhundert unserer Zeitrechnung beginnt, nur
in diesem &inne auffasst, steht nicht im Einklänge mit seiner
eigenen Definition des metaphysischen Zustandes. Derselbe ist
nicht bloss negirend, was die agents surnaturels der theolo
gischen Weltbetrachtung, sondern zugleich ponirend, was die