Ueber Kaut’« mathematisches Vorurtlieil und dessen Folgen.
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Kant’s ,mathematisches Vorurtlieil' ist die Wurzel der
Kritik. Dringender noch als die ,Rettung' der Metaphysik
mochte ihm, bei seiner tiefen Hochachtung vor jener Wissen
schaft, ,die schon jetzt von bewunderungswürdigem Umfange ist,
und unbegrenzte Ausbreitung für die Zukunft verspricht', jene
der Mathematik erscheinen. Diese aber mit ihrer ,durch und
durch apodiktischen Gewissheit' stand in äusserster Gefahr,
wenn das mathematische Urtlieil, wie Kant überzeugt zu sein
glaubte, synthetisch war. Ohne Annahme reiner Anschauungen
war sie sodann unmöglich; mit deren Annahme aber wurde
nicht nur Mathematik, sondern, wenn einmal ein apriorischer
,Zusatz' zum sinnlichen ,Grundstoff' durch sie bezeugt war,
nicht nur reine Naturwissenschaft, sondern selbst Metaphysik
innerhalb bestimmter Grenzen möglich.
Wie hätte sich die Kritik bedenken sollen, von einem so
augenscheinlich vorheissenden Hilfsmittel Gebrauch zu machen?
Von dem mathematischen Vorurtheil Kant’s aus fällt ein Licht
auf den Entwickelungsgang der gesammten Kritik. Die synthe
tische Natur der mathematischen Urtheile führt zu den reinen
Anschauungen des Raumes und der Zeit, diese selbst bahnten der
Annahme apriorischer Elemente auch in den anderen Bestand-
theilen des Erkenntnissvermögens, des Verstandes und der Ver
nunft, ja im Begehrungsvermögen und in der Urtheilskraft den
Weg. Das Gelingen der transcendentaleu Deduction der reinen
Formen der Sinnlichkeit gab den Anstoss und das Vorbild zu
-den ähnlichen Deductionen der apriorischen Elemente des
Verstandes, der Vernunft, ja selbst des Willens und des Ge
schmacks. Weil die ,ausgemacht' synthetischen und zugleich
apriorischen mathematischen Erkenntnisse nicht ohne apriorische
Elemente der Sinnlichkeit möglich und folglich die letzteren
wirklich 1 sind, so müssen die apriorischen Elemente des Ver
standes, ohne welche die gleichfalls ,ausgemacht' synthetischen
und apriorischen ,ersten Regeln der Erfahrung' nicht denkbar
sind, gleichfalls wirklich sein. Freilich gilt bei den letzteren
deren apriorische Natur nur für Kant ebenso ,ausgemacht'
als bei den ersteren deren synthetische. So wenigHume be
zweifelt, dass der mathematische Satz, der ihm nicht für syn
thetisch galt, nichts destoweniger apriorisch, so wenig giebt er
zu, dass der Satz, jede Veränderung müsse eine Ursache haben',