Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 67. Band, (Jahrgang 1871)

Ueber Kaut’« mathematisches Vorurtlieil und dessen Folgen. 
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Kant’s ,mathematisches Vorurtlieil' ist die Wurzel der 
Kritik. Dringender noch als die ,Rettung' der Metaphysik 
mochte ihm, bei seiner tiefen Hochachtung vor jener Wissen 
schaft, ,die schon jetzt von bewunderungswürdigem Umfange ist, 
und unbegrenzte Ausbreitung für die Zukunft verspricht', jene 
der Mathematik erscheinen. Diese aber mit ihrer ,durch und 
durch apodiktischen Gewissheit' stand in äusserster Gefahr, 
wenn das mathematische Urtlieil, wie Kant überzeugt zu sein 
glaubte, synthetisch war. Ohne Annahme reiner Anschauungen 
war sie sodann unmöglich; mit deren Annahme aber wurde 
nicht nur Mathematik, sondern, wenn einmal ein apriorischer 
,Zusatz' zum sinnlichen ,Grundstoff' durch sie bezeugt war, 
nicht nur reine Naturwissenschaft, sondern selbst Metaphysik 
innerhalb bestimmter Grenzen möglich. 
Wie hätte sich die Kritik bedenken sollen, von einem so 
augenscheinlich vorheissenden Hilfsmittel Gebrauch zu machen? 
Von dem mathematischen Vorurtheil Kant’s aus fällt ein Licht 
auf den Entwickelungsgang der gesammten Kritik. Die synthe 
tische Natur der mathematischen Urtheile führt zu den reinen 
Anschauungen des Raumes und der Zeit, diese selbst bahnten der 
Annahme apriorischer Elemente auch in den anderen Bestand- 
theilen des Erkenntnissvermögens, des Verstandes und der Ver 
nunft, ja im Begehrungsvermögen und in der Urtheilskraft den 
Weg. Das Gelingen der transcendentaleu Deduction der reinen 
Formen der Sinnlichkeit gab den Anstoss und das Vorbild zu 
-den ähnlichen Deductionen der apriorischen Elemente des 
Verstandes, der Vernunft, ja selbst des Willens und des Ge 
schmacks. Weil die ,ausgemacht' synthetischen und zugleich 
apriorischen mathematischen Erkenntnisse nicht ohne apriorische 
Elemente der Sinnlichkeit möglich und folglich die letzteren 
wirklich 1 sind, so müssen die apriorischen Elemente des Ver 
standes, ohne welche die gleichfalls ,ausgemacht' synthetischen 
und apriorischen ,ersten Regeln der Erfahrung' nicht denkbar 
sind, gleichfalls wirklich sein. Freilich gilt bei den letzteren 
deren apriorische Natur nur für Kant ebenso ,ausgemacht' 
als bei den ersteren deren synthetische. So wenigHume be 
zweifelt, dass der mathematische Satz, der ihm nicht für syn 
thetisch galt, nichts destoweniger apriorisch, so wenig giebt er 
zu, dass der Satz, jede Veränderung müsse eine Ursache haben',
	        
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