Müller, Die Vocalsteigerung- der indogermanischen Sprachen.
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Die Vocalsteigerung der indogermanischen Sprachen.
Von Dr. Friedrich Müller,
Professor an der Wiener Universität.
Eine den indogermanischen Sprachen ganz eigenthümliche Er
scheinung, durch welche sie vor allen andern Sprachen sich aus
zeichnen, ist die Vocalsteigerung. Auf ihr basirt hauptsächlich die
indogermanische Flexion, jenes Princip, auf welchem die indogermani
schen Sprachen als solche beruhen. Durch die Vocalsteigerung stehen
die indogermanischen Sprachen zu den beiden anderen flectirenden,
nämlich den semitischen und den hamitischen Sprachen, in einem
förmlichen Gegensätze.
Wir fassen die Flexion als eine innige Verbindung von Stoff-
und Form-Elementen zu einer die Sprachform begründenden Einheit.
Sie existirt also nur dort, wo die Scheidung zwischen Stoff und Form
vorhanden ist und Stoff- und Formwurzeln von der Sprache strenge
auseinander gehalten und ihrer Natur nach angewendet werden.
Sprachen, welche zwar Stoff und Form in der Rede scheiden, aber
die Form lautlich nicht bezeichnen, können also eine Flexion nicht
besitzen.
Eine Scheidung von Stoff und Form finden wir in den drei
entwickeltsten Sprachen der mittelländischen Rasse, den indo
germanischen, semitischen und hamitischen nämlich, durchgeführt.
Von einander aber sind diese drei Sprachstämme wieder durch die
Behandlung der Stoffelemente während des Processes der Formbil
dung streng geschieden. Die hamitischen Sprachen verwenden dabei
die Stoffelemente theils in ihrer ursprünglichen Einfachheit, theils
zu concreten Stämmen entwickelt, die semitischen Sprachen nur in
der letzteren, in ihrer vollsten Entwicklung auftretenden Form. Dabei
bleiben wieder die Stoffelemente in ihren lautlichen Bestandteilen