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Max v. Karajan.
Über die Handschriften der Scholien zur Odyssee.
Von Mnx v. Karajan.
Als Villoison im Jahre 1788 die berühmten 'scholia vetera’ der
gelehrten Welt inittheilte, hatte er wohl nicht geahnt, dass durch
die Veröffentlichung derselben die philologische Behandlung von Ilias
und Odyssee in ein völlig neues Stadium treten würde. Denn was
vordem von verschiedenen Seiten, von Bich. Bentley, Is. Casaubonus,
Jac.Perizonius und andern nur gelegentlich, von G. Vico aber zuerst
mit genialer Kühnheit über die beiden Epen geäussert worden ist, war
doch alles noch mehr geahnt und gefühlt als erkannt. Mit der Publi-
cation jener Scholien aber war eine reale Grundlage gewonnen,
und F. A. Wolf, der schon 1779 als zwanzigjähriger Student in
Göttingen Heyne einen Aufsatz ] ) überreicht hatte, in welchem den
conventionellen Ansichten über Homer scharf entgegen getreten war,
konnte aus diesem reichen Schatze das Materiale zu dem kühnen
Baue gewinnen, den wir noch heute in seinen unsterblichen Prole-
gomenen bewundern.
Es handelte sich damals zunächst um jene Bedenken, die gegen
Ilias und Odyssee von Seite derjenigen Kritik erhoben wurden, die
man in unmöglicher Scheidung von einer niederen gewöhnlich mit
dem Namen der höheren auszeichnet.
Einen ungleich grösseren Werth aber als zur Beantwortung jener
allgemeinen Fragen, hatten jene Scholien zur Herstellung des Textes
der beiden Gedichte. DieserwarvorWolf so unsicher und schwankend,
wie überhaupt ein Text sein kann und muss, bei dessen Constituiriing
reiner Ekleldicismus, subjectives Dafürhalten und planlose Conjectur-
gelüste ihr tolles Spiel eröffnet haben. Villoison’s Scholien aber zeig
ten mit einem Male, wie die bedeutendsten Gelehrten Alexandriens
bereits in ihren Meinungen über den homerischen Text weit aus ein-
A ) Vgl. L. Friedländer, die homerische Kritik von Wolf bis Grote. Berlin 1853,
p. 1 ff.