Materialien zur Quellenkunde der Kunstgeschichte.
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überhaupt die Peripetie althellenischen Lebens verkörpert er
blickt. Es ist die Verkündigung der geistigen Schönheit,
um die es sich hier handelt; sie taucht freilich schon früher
bei den Dichtern, wie Sappho, auf. Diese Forderung des
seelischen Ausdrucks im Körper wird durch Sokrates, der
bekanntlich von Hause aus Bildhauer gewesen war, in den
Xenophontischen Gesprächen mit dem Maler Parrhasios und
dem Bildner Kleiton ausgesprochen. Wenn Xenophon sagt,
daß der erstere durch diesen direkten Einfluß der Maler der
Grazien geworden sei, so ist das nur ein pragmatischer Aus
druck für die Wendung im hellenischen Kunstleben, die auf
Praxiteles hinleitet und von Julius Lange meisterhaft analysiert
worden ist. Diese Art des Schönen ist nun freilich Messungen
nicht zugänglich, sie erhält auch bei Sokrates sofort die Folie
des Moralischen, die von da ab immer wieder mit ihr ver
bunden worden ist. Die Richtung auf die praktische Ethik,
auf Tugend und Tüchtigkeit, tritt auch in Sokrates’ weiteren
Versuchen, das Schöne zu umgrenzen, hervor, in seiner Iden
tifizierung des Schönen mit dem Brauchbaren und Zweck
mäßigen, die trotz ihrer Beschränktheit und Einseitigkeit
immer wieder hervorgetreten ist, noch in der materialistischen
Auffassung der von Sempers genialem Werk ausgehenden
Richtung, wenn auch mit anderer Betonung. Und noch der hl.
Augustinus hat eigenem Bekenntnis nach in seiner heidnischen
rhetorischen Jugend ein Buch de pulehro et apto verfaßt. In
Sokrates’ berühmten Extremen des ,schönen 1 , weil brauchbaren
Mistkorbes und des , häßlichen 1 goldenen Schildes liegen aber
die Keime zu jener einflußreichen Lehre vom Angemessenen,
dem Dekorum, das durch Vermittlung der alten Rhetorik in
der Kunstlehre der Renaissance eine so wesentliche Rolle ge
spielt hat. Dann tritt bei ihm jener concetto der Auswahl der
schönen Teile durch den Künstler hervor, etwas, das wohl
auch seine Herkunft aus alten Atelierpraktiken nicht verleugnet
uud dank der langlebigen griechischen Anekdote bis in die
Theorie der Renaissance hinein Leben behalten hat.
Wir gelangen zu dem Manne, dessen Gestalt schon im
Altertum mit dem Zauber des Göttlichen umwoben war und
dessen Geisteskraft noch heute die Welt im Bann hält, zu
Platon. Seine Hypostase des begrifflichen Denkens in das
Sitzuugsber. d. pkil.-hist. Kl. 177. Bd. 3. Abh. 5