Full text: Sitzungsberichte / Akademie der Wissenschaften in Wien, Philosophisch-Historische Klasse Sitzungsberichte der Philosophisch-Historischen Classe der Kaiserlichen Akademie der Wissenschaften, Wien, 153. Band, (Jahrgang 1906)

2 
I. Abhandlung: v. Schroeder. 
gebende, die andere mehr die empfangende war, ohne daß das 
Umgekehrte deswegen ausgeschlossen wäre. Diese Beeinflussun 
gen erstrecken sich durch die Jahrtausende, sie sind älter oder 
jünger, weiter ausgedehnt oder mehr lokal begrenzt, und dar 
nach lassen sich die verschiedensten Ablagerungsschichten über 
einander und nebeneinander, in mannigfachen, bisweilen recht 
krausen Verschiebungen wahrnehmen. Sie beziehen sich auf 
das ganze Gebiet der Kultur, auf die Sprache wie auf die 
Sitte, auf Mythus, Sage und Aberglauben, auf alles, was man 
unter dem Namen Folklore zusammenfaßt. 
Die ältesten, über das Gesamtgebiet der finnisch-ugrischen 
Völker sich erstreckenden, sprachlichen Übereinstimmungen mit 
den Ariern haben Forscher wie Nikolai Anderson, Otto Donner, 
Theodor Koeppen und neuerdings auch Henry Sweet zu der 
Annahme einer Urverwandtschaft beider Sprachfamilien ge 
führt. Wer sich durch die Ausführungen der Genannten nicht 
überzeugen läßt, wird in diesen Übereinstimmungen die älte 
sten Zeugen sprachlicher Beeinflussung zu erkennen geneigt 
sein. Später sind dann die an der Ostsee sitzenden finnischen 
Stämme zuerst durch die Litthauer und Letten, dann durch 
die alten Germanen — Skandinavier, Goten — sprachlich 
stark beeinflußt worden, was bekanntlich von Wilhelm Thom- 
sen so meisterhaft dargelegt ist. Aber auch weiterhin, bis auf 
die Gegenwart, haben sprachliche Beeinflussungen jener Stämme 
durch Litthauer und Letten, Slawen und Germanen fortdauernd 
in verschiedenen Stärkegraden stattgefunden, so daß es oft 
nicht leicht ist zu sagen, wann diese oder jene Entlehnung 
sich vollzogen haben dürfte. Oft genug aber geben freilich 
die sprachlichen Formen darüber deutlich redenden Aufschluß. 
Ganz analog hat auch eine Beeinflussung der Sitten und 
Gebräuche durch Jahrtausende hin stattgefunden. Auch hier 
sind ältere und jüngere, weiter reichende und lokal beschränkte 
Ablagerungsschichten zu unterscheiden, und die Ostseefinnen 
zeigen naturgemäß auch in dieser Beziehung, ebenso wie in 
ihrer Sprache, eine besonders intensive Einwirkung. Ich 
habe das an dem Beispiele der Hochzeitsgebräuche früher zu 
zeigen versucht. Eben dasselbe gilt aber auch für das Gebiet 
des Mythus, der Sage und des Aberglaubens. Einen Fall 
dieser Art — die Beeinflussung des Estenvolkes durch germa-
	        
Waiting...

Note to user

Dear user,

In response to current developments in the web technology used by the Goobi viewer, the software no longer supports your browser.

Please use one of the following browsers to display this page correctly.

Thank you.