Kritische Studien zu den Naturales Quaestiones Senecas.
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etiamsi non susceperis vota, non ßet.‘ Falsa est ista interrogatio,
quia illam mediam inter ista exceptionem, praeteris: futurum
hoc est, sed si Vota suscepta fuerint. So liest man die Stelle
nach Codex B in den älteren Ausgaben und bei Haase. Fickert
war dem Codex E gefolgt, in welchem das zweite Glied des
Syllogismus fehlt: si futurum est, fiet, etiamsi vota non fient.
Falsa est etc. Das Weitere war ihm als fremder Zusatz ver
dächtig. Und es fehlt zum Verdachte nicht an Gründen. Zu
nächst ist augenscheinlich, dass sich etiamsi vota non suscipis
und etiamsi non susceperis vota nicht mit einander vertragen.
Denn der Syllogismus ist nur correct und bindend, wenn das
positive wie negative Glied gleichmässig entweder von der
Abwendung eines Uebels oder von der Zuwendung von Hilfe
gegen ein Uebel verstanden werden, nicht darf der negative
Satz si non est futurum, etiamsi non susceperis vota, non fiet
vom Uebel verstanden werden, wenn das positive si futurum
est, fiet, etiamsi vota non suscipis von der Hilfe zu verstehen
ist. Darum ergibt sich mit Nothwendigkeit, dass die Negation
entweder im ersten oder im zweiten Gliede zu streichen, also
entweder etiamsi vota suscipis oder etiamsi susceperis vota zu
lesen ist. Die Schlussworte illam mediam inter ista exceptionem
praeteris: futurum hoc est, sed si vota suscepta fuerint zeigen,
dass die Negation im ersten Gliede als richtig anerkannt werden
muss, mithin wäre sie im zweiten Gliede zu tilgen.
Das ist jedoch allein nicht geeignet, Verdacht gegen die
Echtheit des ganzen Gliedes zu begründen. Vielleicht aber
ist es die Unebenheit, welche im Praesens suscipis und im
Wechsel des Tempus suscipis — susceperis liegt? Letzteres,
der Wechsel im Tempus, findet sich anderwärts, 1 wie bei
Seneca zu oft und mannigfaltig, als dass er Anstoss erregen
dürfte: Dial. 6, 1, 3 quam diu in pretio fuerit Romana cognosci,
quam diu quisquam erit, qui reverti velit ad acta maiorum.
(Vgl. ad Polyb. 2, 6 Quam, diu fuerit ullus litteris honor, quam
diu, steterit aut Latinae linguae potentia aut Graecae gratia).
De benef. 5, 19, 1 Si agrum tuum coluero, tibi beneficium
dedero; si domum tuam ardentem restinxero . . . tibi beneficium
1 S. Stil des älteren Plinius, S. 63. Wochenschrift f. dass. Philologie 1888,
Nr. 28, S. 880.