Platonische Aufsätze.
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liehen auszusondern, durch strenge Beweisführung gleichwie
durch den Hinweis auf bereits vorgebrachte, aber nicht nach
Gebühr gewürdigte Argumente zu sichern und in stetigem,
behutsamem Vorschreiten zu mehren — ein anderes Mittel kenne
ich nicht, um aus dem Gewirr einander kreuzender Einzelpfade
endlich in die breite und gefestigte Bahn continuirlicher For
schung zu gelangen. Der Arbeit des Wegebauers geht jene
des Feldmessers voraus, der die Richtpunkte ermittelt und
absteckt, welche die vollendete Strasse dereinst wird verbinden
müssen. Solch einer bescheidenen Vorarbeit sind die nach
folgenden Blätter gewidmet.
1. Der Dialog Menon bildet einen Knotenpunkt platoni
scher SchriftsteUerei. Zunächst verschlingen sich in ihm Fäden,
die aus zwei verschiedenen Gesprächen stammen und daher
auch diese selbst mit einander verknüpfen. Die Durchsichtigkeit
des wenig umfangreichen Dialogs und sein vergleichsweiser
Reichthum an positivem Lehrgehalt machen diese Beziehungen
zugleich deutlich erkennbar und fruchtbar an Folgerungen. Zwei
dieser Fäden reichen aus dem Protagoras herüber. Es sind
die hier und dort verhandelten Fragen: 1. wie kann Tugend
Erkenntniss und somit lehrbar sein, da wir doch keine Lehrer
derselben aufzuweisen vermögen? 2. wie lässt es sich unter
derselben Voraussetzung erklären, dass treffliche Staatsmänner
ihre Söhne nicht zu gleicher Trefflichkeit heranbilden ? Die
zweite dieser Aporien erhält hier durch die Unterscheidung der
allein zum Lehren befähigenden ,wissenschaftlichen Erkennt
nis' und der für die Praxis vielfach ausreichenden ,richtigen
Meinung' ihre Lösung. Und eben hiedurch wird, da es ja
haare Thorheit wäre, ein schon gelöstes Räthsel den Lesern
von Neuem zur Lösung vorzulegen, das Zeitverhältniss der zwei
Gespräche (wie schon Schleiermacher aufs Beste erkannt hat)
unwidersprechlich festgestellt. Im engsten Anschluss an diese
fundamentale Unterscheidung tritt jene glimpfliche Beurtheilung
athenischer Staatslenker auf, die zu dem giftigen Hohn, mit
welchem der Gorgias sie überschüttet, einen so denkwürdigen
Gegensatz bildet. Einen Gegensatz überdies, der allezeit be
merkt werden musste und mithin, da nicht die Werke eines
Stümpers vor uns liegen, gewiss auch bemerkt werden sollte.
Hier wie dort werden vier athenische Staatsmänner ersten