306 Prof. Goldenthal. Die neueste historische Schule in der jüdischen Literatur. (Zugleich Bericht über die von Hrn. Dukes der Akademie vorgelegten Werke.) Von dem c. M., Hrn. Professor Dr. Coldcnthal. Geschichte ist das Losungswort unserer Zeit. Merken wir auf die Thätigkeit des Geistes zu allen Zeiten und in allen Beziehungen, so gewährt sie uns den Anblick einer durchgängigen Doppelseitigkeit. Production und Reproduction, Schaffen und Ordnen des Geschaf fenen, selbstständige Forschung und nachträgliche Revision der Ge schichte folgen wechselseitig auf einander, ergänzen sich gegen seitig in dem strengpünctlichen Leben und Wirken des Geistes. Ist der neu aufgefundene Stoff genugsam vorhanden, sucht ihn die Ge schichte zu sammeln und zu gestalten , und hat die Gestaltung ihre Vollendung erreicht, zerstiebt sie in sich selber, um in grösserem Umfange sich zu entwickeln. Dass nun diese nachträgliche Schöpfungsart des Geistes, die geschichtliche Forschung gegenwärtig allenthalben in der Literatur wahrzunehmen ist, waltet für den Bewanderten kein Zweifel ob. Dass aber auch inderjiidischenLiteratur diese geschichtliche Richtung jetzt sich kund gibt und vorherrscht, gehört zu jenen Ereignissen der Geschichte, die wohl merkwürdig in ihrem Zusammentreffen sind, doch fast unbegreiflich in ihrer Äusserung. Thatsache ist es nun einmal. Geschichte bildet jetzt den Hauptpunct, der die bedeutenderen Kräfte in der jüdischen Literatur in Anspruch nimmt und beschäf tiget, und ist, wenn auch noch in geringen Anfängen, doch schon so weit gereift, dass sich einürtheil hierüber mit Bestimmtheit fällen lässt. Und zwar ist das Urtheil hier nicht willkürlich mehr, denn dann wäre die Thatsache noch keine gereifte, keine vollendete ebenfalls. Das Urtheil ist hier vielmehr ein sich aufdringendes, ein aus der Natur des Gegenstandes sich ergebendes. Ein jeder Literatur zustand, der eine gewisse Reife erlangt hat, sucht durch das Hervor- spriessen seiner eigenen Mängel in einen andern umzuschlagen, gleich dem gereiften Apfel, der selbst vom Baume fällt, oder der vollen Knospe, die sich zerblättert und im Zerblättern selber die neue Gestaltung zeigt.