80 K r e m e r. Europa herrschten, während gleichzeitig der Orient frei davon geblieben ist. Allerdings dürfen wir nicht unbemerkt lassen, dass bei den orientalischen Autoren wahrscheinlich kleinere locale Epi demien nicht verzeichnet worden sind, und dass auch die Chronik der europäischen Seuchen manche Lücke, manche irrige Angabe enthält, ist kaum zu bezweifeln. Trotzdem können die arabi schen, sowie die europäischen Angaben für die grossen Pest epidemien als zuverlässig gelten, denn es waren dies Ereignisse, die durch den Schrecken, welchen sie hervorriefen, tief dem Gedächtnisse sich einprägten. Mit den aus diesen Bemerkungen sich ergebenden Ein schränkungen wird man also immerhin, ohne gegen die Grund sätze der historischen Kritik zu verstossen, die Pestchronik des Orients mit jener Europas vergleichen können und hieraus Schlüsse zu ziehen berechtigt sein. Der Schluss, zu dem wir nun auf dem eben dargelegten Wege gelangen, ist ziemlich überraschend: denn wir müssen auf Grund der Tliatsachen anerkennen, dass, ganz abgesehen von klimatischen Verschiedenheiten, die Pest auch in Europa sich selbstständig entwickelte, sobald die Verhältnisse derart waren, dass die Vorbedingungen hiefür bestanden. Wir wollen von den früheren Zeiten ganz absehen, wo doch der Einwurf gestattet ist, dass die Aufzeichnungen zu lückenhaft seien. Wir beginnen daher mit dem eilften Jahr hunderte christlicher Zeitrechnung, indem wir als Ausgangs punkt die Epoche der Kreuzzüge wählen, wo der Verkehr zwischen Europa und der Levante lebhafter war, als in irgend einem der früheren Jahrhunderte des Mittelalters. Die Pestepidemie von 448 H. (1056—1057 n. Chr.), welche in Syrien und Aegypten herrschte, sich auch 449 H. in anderen Gegenden des Orients zeigte, liefert uns den Be weis, dass jene Länder damals so ziemlich als verseucht an gesehen werden können. In den entsprechenden Jahren 1056 und 1057 finden wir in Europa keine Pestepidemie, ausser, nach einer vereinzelten Nachricht, eine Pest in Macedonien. 1 1 Peinlich: Geschichte der Pest in Steiermark. Graz, 1877—78, II, 394.