Friedrich Christoph Schlosser. 133 der Vergangenheit gleichmässig sichergestellt ist. Wie wenn der einzelne Mensch von der verzweifelnden Befürchtung be fallen würde, dass ihm sein eigenes Gedächtniss nichts als Lüge und Täuschungen vorspiegelt, so müsste einer Nation wahrlich ihre eigene Geschichte verhasst werden, wenn ihr dieselbe nur als ein Chaos widersprechendster Auffassungen entgegenträte, in welchem kein einziger sicherer Punkt der Ueberlieferung wäre. Wenn wir nun aber auch durch gewisse grosse Marksteine der Entwicklung sowohl in der allgemeinen wie speciell in der deutschen Geschichte vor einer solchen äussersten Verwirrung und Verzweiflung an geschichtlicher Wahrheit wenigstens der Hauptsache nach bewahrt zu sein scheinen, so muss man es doch gestehen, dass wir auch heute eigentlich kein durchgreifendes Princip, keine anerkannte historiographische Richtung, ja nicht einmal einen historischen Stil von einiger Gleiehmässigkeit, und was das Bedenklichste zu sein scheint, von Jahr zu Jahr weniger Neigung besitzen, uns über Dinge dieser Art zu verständigen oder auch nur ernsthafter zu unter halten. Unter den zahlreichen Kunstanstalten von Paris findet sich eine speciell für die Contiuuität der französischen Malerei höchst merkwürdige Sammlung, in welcher die Preisbilder der französischen Akademie in Rom seit dem Jahre 1721 aufbewahrt werden, eine Reihe von Gemälden, welche bei der grössten Mannigfaltigkeit eine wunderbare Gleichheit der künstlerischen Tradition erkennen lassen; man würde jedes für sich sofort als Bild der französischen Schule erkennen. Ich weiss nicht, ob man diesen selben Charakter nicht auch in der französischen Geschichtschreibung nachzuweisen vermöchte; soviel aber ist gewiss, dass unsere deutsche Geschichtsliteratur das gerade Gegentheil einer solchen nationalen Tradition darbietet: die höchste Individualisirung in Betreff der politischen und histo rischen Auffassung, der wissenschaftlichen Aufgaben, des Stils und der Darstellung. Jeder deutsche Geschichtschreiber steht äusserst vereinzelt und einsam wie ein besonderes Problem da, und es gehört fast immer zu den grössten Schwierigkeiten, seine Stellung in dem grösseren Zusammenhänge der Wissen schaft zu bezeichnen, die Beziehungen aufzufinden, die er zu anderen Geschichtschreibern vor und nach ihm, zu anderen