SITZUNGSBERICHTE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
DREIUNDSIEBZIGSTER BAND.
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WIEN, 1873.
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD’S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
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SITZUNGSBERICHTE
DER
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHEN CLASSE
DER KAISERLICHEN
AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
DREIUNDSIEBZIGSTER BAND.
JAHRGANG 187 3. — HEFT I —III.
f kaisTäkademie*)
DER i
, WISSENSCHAFTEN;
WIEN, 1873.
IN COMMISSION BEI KARL GEROLD’S SOHN
BUCHHÄNDLER DER KAIS. AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN.
300122
Druck von Adolf Holzhausen in Wien
k. k. üniverßititts-Buchdruckerei.
INHALT.
1. Sitzung vom 2. Januar 1873
L am bei, Bericht- über die im August und September 1872 an-
gestellt-en Weisthümer-Forsclningen
Zimmermann, lieber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s
V
Philosophie ....
II. Sitzung vom 8. Januar 1873
Roesler, Ueber den Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung an
der unteren Donau
III. Sitzung vom 15. Januar 1873
/Bergmann, Beiträge zur muhammedanischen Münzkunde . .
IV. Sitzung vom 29. Januar 1873
; Ficker, Ueber die Entstehungsverhältnisse der Const-itutio de
expeditione Romana
Conze, Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst . . .
V. Sitzung vom 5. Februar 1873
VI. Sitzung vom 12. Februar 1873
VII. Sitzung vom 5. März 1873
Werner, Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne
VIII. Sitzung vom 12. März 1873
IX. Sitzung vom 19. März 1873
/ Pfizmaier, Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang
X. Sitzung vom 2. April 1873
Rockinger, Bericht über die Untersuchung von Handschriften
des sogenannten Schwabenspiegels
^ Sachau, Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm I. . .
XI. Sitzung vom IG. April 1873
XII. Sitzung vom 23. April 1873
Goldziher, Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit
bei den Arabern. III
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SITZUNGSBERICHTE
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
LXXIII. BAND. I. HEFT.
JAHRGANG 1873. — JÄNNER,
kaisTäkademiII
DER |
.WISSENSCHAFTEN;
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. I. Hft.
1
3
I. SITZUNG VOM 2. JANUAR 1873.
Der Secretär verliest ein Schreiben des corresp. Mitgliedes
Herrn P. Pius Zingerle über einige in seinem Besitz befind
liche Copien Syrischer Manuscripte, die er zum Abdruck in den
Sitzungsberichten der philosoph.-histor. Classe anbietet.
Ferner verliest derselbe ein Schreiben des Herrn Prof.
Ab. S. Ljubic, worin derselbe für die ihm zur Herausgabe
seines Werkes über die Münzen Bulgariens, Bosniens, Serbiens
bewilligte Subvention seinen Dank ausspricht.
Sodann legt das w. M. Plerr Regierungsrath Zimmer
mann eine Abhandlung vor ,über den Einfluss der Tonlehre
auf Herbart’s Philosophie'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Accademia Pontificia de’ nuovi Lineei: Atti. Anno XXV, Sess. 7 a . Roma,
1872; 40.
Chlebik, Franz, Kraft und Stoff, oder der Dynamismus der Atome aus He-
gel’schen Prämissen abgeleitet. Berlin, 1873 ; 8°.
1*
4
Gelehrten-Verein, serbischer, zu Belgrad: Glasnik. Knjiga XXXIV &
XXXV. Belgrad, 1872; 8».
Istituto, Reale, Veneto di Scienze, Lettere ed Arti: Atti. Tomo 1°. Serie
IV a , Disp. 10 1 . Venezia, 1871—72; 8°.
Jena, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus dem zweiten Halb
jahre 1872. 40 u. 80.
Lese-Verein, akademischer, an der k. k. Universität und st. 1. techni
schen Hochschule in Graz: V. Jahresbericht. Graz. 1872; 8°.
»Revue politique et littäraire 1 et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 . II« Annee, 2« Serie, Nrs. 25 — 26. Paris & Bruxelles, 1872; 4°.
L am bei. Bericht über Weisthümer-Forschungen.
5
Bericht über die im August und September 1872
angestellten Weisthümer - Forschungen.
Von
Hans Lambel.
In meinem letzten Berichte (Sitzungsber. Bd. LXIX.
S. 253) glaubte ich weiteren Nachforschungen immer noch ein
lohnendes Resultat in Aussicht stellen zu dürfen: die Commission
für Sammlung und Herausgabe österreichischer Weisthümer
wünschte, dass ich selbst diese Nachlese halten sollte, und so
machte ich mich, von ihr mit den nöthigen Mitteln ausgerüstet
und mit Empfehlungsschreiben von dem Leiter der oberöster
reichischen Statthalterei, Herrn Hofrath Ritter von Schurda,
sowie dem Landeshauptmann, Herrn Dr. Eigner, versehen,
im August dieses Jahres zum dritten und letzten Male auf
die Reise.
Meine Nachforschungen begannen gleich in Linz mit
einem ermuthigenden, ja theilweise überraschenden Erfolge.
Schon seit länger hatte ich vermuthet, dass im Museum
Francisco-Carolinum noch mehr solcher Urkunden verborgen
liegen müssten, als mir bisher von dieser Seite Vorlagen, und
die Versicherung, die mir voriges Jahr ganz gewiss im besten
Glauben und von sehr achtbarer Seite auf eine Anfrage in
diesem Sinne zu Theil ward, der Commission sei alles, was
vorhanden sei, bereits zugegangen, konnte meine stillen Zweifel
nicht vollständig beschwichtigen. Um so willkommener musste
es mir sein, dass gleich bei meinem ersten heurigen Besuche
6
L a m b o 1.
Herr Rittmeister Adolf Winkler mir mit dem freundlichen
Anerbieten zuvorkam, mir einige Fascikel vorzulegen, in
welchen er noch unbekannte Taidinge vermuthe. In der That
bedurfte es nur kurzer Zeit, um darunter die alten Landesrechten
bei dem Feld- und Landgericht 0 b e r w a 11 s e e‘, zwei Taidinge
von Ober-und Nie der-Schaterlee aus dem Jahre 1469 in
einem Waldhausener Urbar von 1471 und das seit Jahren ver
schollene (Sitzungsber. Bd. LX, S. 553) Ehafttaiding von
Steil-egg in einer Abschrift des 1581 angelegten Urbars
dieser Herrschaft aufzufinden. Weiteres Nachspüren brachte
freilich lückenhafte, aber zum Theil alte Aufzeichnungen über
Traunkirchen und Ort ans Licht, die mich umsomehr in
meinem Vorsätze bestärkten, meine Forschungen am Traunsee,
die ich voriges Jahr kaum mehr recht beginnen konnte, diesmal
mit aller Energie wieder aufzunehmen. Dazu kam später noch
ein Fischrecht von Attersee und das ,Pantliädingbuech‘ der
Herrschaft Eisenstadt in ein und demselben Miscellancodex.
Von geringerer Bedeutung ist die Auffindung neuer Auf
zeichnungen der Ehafttaidinge von Kurzen Zwettl (1523),
der Herrschaft Neidharting (1666) und Windhag (1629),
weil diese Quellen mehr oder weniger identisch sind mit bereits
anderswoher bekannten und copirten. Eine Marktgerichtsordnung
für Otte ns heften, von Niclas Rabenshaupt s. d. Wien
25. Juni 1536 erlassen (Perg. 4°. N. SS;), von der eine Abschrift
aus dem J. 1616 auch in Ottensheim sich befindet, kommt
neben dem schon im Jahre 1868 gefundenen Ehafttaiding
(Sitzungsber. Bd. LX, S. 555. 559) kaum in Betracht, sowenig
wie eine Marktordnung für Kurzen Zwettl in Eferding und Linz
neben dem betreffenden Taiding.
Von Linz begab ich mich nach Enns. Das Stadtarchiv
bot nichts, wichtig und wahrscheinlich auch ergiebig wäre das
Archiv der Herrschaft Ennsegg gewesen, allein in Abwesenheit
des Herrn Besitzers konnte ich nur einen Theil sehen, den Herr
Verwalter Nowak in Verwahrung hatte, von welchem er mir
bereitwillig erschlossen wurde. Darunter aber fand sicli nur ein
,New Vrbar (roth) vber Ir Khay. Mt. etc. Herrschafft vnnd
Pürckhvogthey Ennß‘ (roth) vom J. 1571, Pap. fol., unter der
Signatur XXXVIII. V. E., wovon sich eine 2. Hs. (B) auch
im Archiv des Reichsfinanzministeriums befindet; darin stellt
Bericht über Weistlmmer-Forschungen.
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auf Bl. 67 a folgende Notiz eingeschrieben : Hernach uolgt an
welchen Ortten das Panthäding im Lanndtgericht Ennß gehalten
wierdet. Erstlich am Erichtag vor Sand Veits tag zw Wolßpach
{Wolfspach B.). Item am Erichtag vor Martini zw Aschpacli.
Am Erichtag vor dem Faschang zw Haderßhouen. Festlichen in
der erssten Vasstwochen zw Sand Valentin/ 1
In S t e y e r hatte ich auf das filrstl. Lambergische Archiv
Hoffnung gesetzt: nicht ganz gerechtfertigte, wie sich zeigte.
Das Archiv ist nicht geordnet und es kostete einige Mühe, mit
Unterstützung des Herrn Pflegers Alois Kratky ein altes Urbar
von 1424 in zwei Aufzeichnungen aufzufinden, worin sich die
,Ordnung aines Jeden Innhaber der herrschafft Steyr' findet,
die aber noch näherer Untersuchung bedarf, ob sie wirklich
in den Kreis unserer Sammlung hereingehört. Ein zweites mir
vorgewiesenes Urbar aus dem 17. Jahrhundert, das am Rücken
von jüngerer Hand die Jahreszahl 1658 trägt, die wahrschein
lich nur dem Datum der gegen Ende (Bl. 712—716) beige
bundenen Specification der Untertlianen der Pfarre Sierning ent
nommen ist, bot auf Bl. 531 folgende Notiz: ,Panthäding des
Marclchts llaal. Erstlich heit die Herrschafft Steyr berüerten
vonn Hall Järlichen zu Rüegung Irer Freyhaiten ain Panthäding,
vnnd ivan ain Burgermaister vnnd ain Patli vermindert wierdet,
Die herrschafft durch Ire beuelclihaber die Ambter beseczen lasst.
Wann sich ain Straffmässige hanndlung auch bei den Burgern
im Marckht verfelt, (53 l b ) So gehört dieselb nit denen von Hall
Sonndern der herrschafft Steyr zue/ Ausserdem fand ich darinnen
auf Bl. 679],—684 a die Freiung und Widem-Rechten der Pfarr-
unterthanen zu Sierning und auf 690 a ff. das Taiding des
Marktes Assbach. Ein Ausflug nach IIall, um das in obiger
Notiz erwähnte Taiding zu suchen, und nach dem benachbarten
Schloss Feyereck blieb vorläufig noch ohne Erfolg, ebenso
Nachforschungen im Stadtarchiv, beim Bezirksgericht und der
Bezirkshauptmannschaft in Steyer; doch erhielt ich auf Feyereck
durch den Besitzer Herrn Hermann von Planck wenigstens
Kenntniss, dass ein Archiv daselbst, freilich ungeordnet, noch
1 Eine andere Notiz auf Bl. 15a führe ich, wiewohl sie mit. den Weisthümern
nichts zu thun hat, hier an, damit sie nicht verkomme : ,Ain Braut, so vber
die Pruclchen fert, ist denlinckhenSchuech oder ain Kranz zn geben schuldig 1 .
8
Lamb el.
vorhanden sei und das Versprechen, bei der Ordnung desselben
auf die Weisthümer zu achten und etwaige Funde einzusenden.
Ich begab mich hierauf nach Weyer, wo ich aber nur
im Marktarchiv, das mir Herr Vorstand Bachbauer bereitwillig
erschloss, Nachforschungen anstellen konnte, nicht auch im
Forstamt, dessen älteste Archivalien, wie mir mitgetheilt wurde,
schon früher nach Eisenertz übertragen wurden. Mein Suchen
war nicht von besonderem Erfolg, denn eine neue Aufzeichnung
des Ehafttaidings von Hollnstein und Göstling (1563), die
ich in einer Miscellanhandschrift fand, scheint nach freundlichen
Mittheilungen des Herrn Prof. J. Tomaschek, des künftigen
Herausgebers der nieder österreichischen Weisthümer, mit einer
schon bekannten Quelle im Wesentlichen zu stimmen. Ein
Taiding von Weyer selbst oder dem lange Zeit mit Weyer
vereinigten benachbarten Gaflenz aber war weder in diesem
Miscellancodex, noch sonst im Archiv aufzuspüren und erst
nach langem Suchen gelang es, wenigstens folgendes Zeugniss
in einer Magistratinstruction, die dem Revers, welchen Richter
und Rath des Marktes zum Weyer und Gaflenz über die ihnen
von Abt Wilhelm von Garsten übertragene Verwaltung des
Urbaramtes und Landgerichts am Neujahrstag 1608 ausstellten
(abschriftlich aus dem 18. Jahrhundert), eingeschaltet ist, hab
haft zu werden: ,Zum Aindliften. Nachdem von Altersher jähr
lich vor der Richter wohl umb Thome das Ehehaft Tading der
Bürgerschaft im Markht Weyer und den Urbare undterthannen
besezt oder gehalten wirdt, bey welchem alten lierkliomen es noch
verbleiben solle, doch was (l. mus) zur selben Zeit der Richter
unnß, in unserm Abwesen unserem beuelich hoher, der (1. den)
Gerichts Stab überantivorten, darüber wier oder dem wier es be-
uelichen solch Ehehaft Tliäding zu halten, zu besizen und wie
von alter herkhomben ist, recht ergehen zelassen befuegt; nach
vollendten Ehehaft Tliäding aber soll und mag unser Richter
das nach Tliäding, ob es die nottdurft erfordert, selbsten halten,
besizen und was also in obbestimbten Pontating gerüegt, erkhent
oder gehandlt, Ime Richter auch hernach zu uolziehen anbeuolichen
wirdt, dem solle er gehörsamlichen vleissig nachgeleben und Inn-
sonderheit ob den Articln der Rüegung Steuf und fest halten. 1
Auch ein Ausflug nach dem schon genannten Markte
Gaflenz blieb erfolglos.
Bericht über Weisthümer-Forscliungen.
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Nicht besser erging es mir in Win dis c hgar sten; in
Kirchdorf dagegen fand ich in der mir von Herrn Bürger
meister Deschler freundlich geöffneten schönen Bürgerlade die
Freiheiten des Marktes von 1586 in collationirter Abschrift
von 1696. Im nahen Kloster Schlierbach hat der gegen
wärtige Herr Prälat Edmund Rogner erst mit der Ordnung
des Archives begonnen und soweit es an ihm lag, geschah
alles, um mir meine Aufgabe zu erleichtern. Nachdem im ge
ordneten Tlieile des Archives eine Reihe theilweise alter Ur
barien vergebens nach Weistliümern durchgeblättert war,
scheute er die Mühe nicht, mir bei den Nachforschungen in
dem ungeordneten Theile, die freilich nur unvollkoiximen blei
ben mussten, selbst zu helfen. Es gelang aber nur einige Ex-
tracte aus den Forstfreiheiton und dem Forsti’echtartikelbuche
der Herrschaft Seysenburg von 1605, im ganzen vier Artikel
sammt Eingang ixnd Schluss, die ich sofort an Ort und Stelle
abschrieb, aufzufinden. Eine vollständige ,abschi'ift von denen
Seysenbui’ger Forstfreüheiten dat. ab 629‘, die nach einem vom
Herrn Prälaten gefundenen Verzeichnisse vorhanden sein sollte,
war vorläufig wenigstens nicht mehr zu finden. Für den Fall,
dass diese oder andere derartige Urkunden bei Fortsetzung
der Ordnung des Klosterarchives noch ans Licht kommen
sollten, ist übrigens von dem Herrn Prälaten die Einsendung
freundlich zugesichert worden. Auf Schloss Dorf bei Herrn
von Heyden, wo mich Herr Dr. Carl Schiedermayr aus
Kirchdorf ebenso wie in Schlierbach einzuführen die Güte
hatte, fand ich nur ein Urbar ohne Weisthum.
Nur kurze Zeit verweilte ich in Wels, wo der Zustand
des Archivs ein erfolgreiches Nachsuchen unmöglich machte,
und wandte mich nach Kematen, gleichfalls vei-gebens. Erst
in Offenhausen fand ich bei dem Marktvorstand Herrn
Matthias Geyer ein ,Marktbuch ‘ mit den Freiheiten von 1660.
Von hier reiste ich weiter nach Lambach, von wo aus
ich Ausflüge nach Schwanstadt und Wimsbach machte.
Nur an letzterem Orte war mein Suchen vom Glücke begün
stigt, indem es gelang, in der vom Herrn Marktvorstand Jos.
Jenner freundlich geöffneten Marktlade die Ordnung von 1556
aufzufinden.
10
L amb el.
Mein nächstes Ziel war Gmunden, wo ich die Spur des
Traunkirchner und Orter Weisthiuns zu verfolgen gedachte.
Ich hatte, wie schon erwähnt (S. 6), im Museum zu Linz eini
ges hieher Gehörige gefunden; es bestand für Traunkirchen
in einer Abschrift eines alten ,Vrwar püch,' das nach einer bei
geschriebenen Notiz von Jod. Stiilz ein ,Pergamentcodex in
Quart, grösstentheils dem 14. Jahrhundert angehörig', gewesen
war: darin fand ich auf Bl. 22 11 — 23 a die Rechte der Zinsleute
des Klosters eingetragen. Demselben Heft liegt aber noch
eine Abschrift ,aus einem Pergamentcodex des 15. Jahrhun
derts zu Ort' bei, worin die beim Taiding zu Traunkirchen
üblichen Rechtsfragen, aber leider ohne die Antworten ver
zeichnet sind. Wohin die Originalien gekommen waren, konnte
ich weder im Museum erfragen, noch gelang es anderswo eine
Spur aufzufinden. Für Ort bestand mein Linzer Fund nur
in einem ,Compendium deren Abschrifften Unterschiedlicher
originalien Die Grafschaft Orth am Traunsee Betreffend,' wo
von ich vorläufig nur oberflächliche Kenntniss genommen hatte,
genauere Durchsicht auf die Rückkehr von der Reise ver
spürend. Nach einer Notiz in den Sitzungsberichten Bd. LIII.
S. 369 sollte ein Taiding von Ort sich im dortigen Herrschafts
archive befinden: aber seit dem Verkauf des Seeschlosses gab
es ein solches so wenig mehr, als ein Klosterarchiv in Traun
kirchen. Ich erkundete, dass wenigstens Theile von beiden,
soweit nicht scartirt worden war, an das Forstamt in Ebensee
abgegeben worden waren. Dahin wendete ich mich nun zu
nächst und fand beim Oberforstmeister Herrn Christian Pichler
die freundlichste Aufnahme und in dem Amtsschreiber Herrn
Ferd. Edlinger einen gefälligen Gehülfen. Aber ausser jüngeren
Abschriften des älteren der genannten Traunkirchner Urbarien
und eines zweiten Urbarbuchs, das gleichfalls die Rechte der
Zinsleute enthält, wollte sich nur ein Extract aus dem Traun
kirchner Pantaiding finden, den ich sofort abschrieb. Das
Blatt, von einer Hand des 17. Jahrh. geschrieben, enthält am
unteren Rande von jüngerer Hand die Bemerkung: , Viele fol. 16
des Paanthätungsbüchl im rothen band 1 . Weiter konnte ich
aus den Verzeichnissen nur entnehmen, dass eine Fischerei
ordnung von 1699 für den Traunseb und von 1708 für den
Hallstättersee an die Bezirkshauptmannschaft Gmunden entlehnt
Bericht über Weistliiimer-Forschungen.
ll
worden, wo sie aber, wie mich Herr Edlinger leider zugleich
versicherte, nicht mehr auffindbar seien. Derselbe gab mir auch
an, dass Orter Archivalien wieder zurückgewandert seien und
wies mich dieserhalben an Herrn Anton Kobsa, k. k. Ober
förster in Gmunden. Ehe ich mich aber noch an diesen wen
dete, fragte ich bei meinem Freunde, dem protestantischen
Pfarrer Fr. Koch, an, der in rühmlichem Eifer selbst mit Opfern
bemüht ist, Archivreste, welche die Gleichgiltigkeit ihrer Be
sitzer den Kaufläden als Waarenenveloppe überantwortete, dem
Untergange zu ontreissen, und dessen Theilnahme ich schon
im vorigen Berichte dankbar zu gedenken hatte (a. a. O. S.
250 u. 268). Ich ging auch diesmal nicht fehl. In seinem
Besitz fand ich zunächst das Taidingbuch des Klosters Traun
kirchen sammt den Aemtern Ebensee, Nussdorf, Ischl und
Goisern, das, wenn auch der ,rothe Band' bereits abgerissen ist
durch die Uebereinstimmung der Seitenzahl sich als die von
dem Ebenseer Extract citirte Quelle erweist: denn in der
That steht der in jenem ausgezogene Paragraph auf Bl. 16 a
des gefundenen Taidingsbuchs, das zwar selbst erst aus dem
17. Jahrhunderte stammt, aber, wie die früheren Funde im
Linzer Museum beweisen, in seiner Grundlage mindestens bis
ins 15. Jahrhundert zurückreicht. Ausserdem fand ich in Koch’s
Sammlung ein ,Forst Thättung' von Ort aus dem Jahre 1756
und zwei Extracte aus dem 17. Jahrhundert, von welchen der
eine sich ausdrücklich als ,Extract auß der Graffschafft Ort
Vischrechten oder Tädingpüechl' bezeichnet, während der an
dere auf einem halben Folioblatt ohne alle Bezeichnung, aber
wahrscheinlich aus demselben Rechtsdenkmal gezogen ist. Die
Bezeichnung ,Vischrechten oder Tädingpüechl' liess mich ver-
muthen, dass auch die Fischereiordnung von 1699 für den
Traunsee, von der ich in Ebensee Notiz erhalten hatte, nichts
anderes als dies Orter Taiding sein dürfte, und ich liess mir es
um so mehr angelegen sein, jene Spur zu verfolgen. Ich wen
dete mich nun an Herrn Oberförster Kobsa, der bereitwilligst
mit mir im Seeschlosse Nachforschungen nach etwa zurückgeblie
benen oder wieder zurückgelangten Archivresten anstellte, aber
vergebens. Als ich aber jin weiteren Gespräch ihn über In
halt und Form der gesuchten Rechtsurkunden auf klärte, er
innerte er sich nicht blos, die Fischereiordnung von 1699 und
12
L ambel.
eine noch ältere mit Frageu und Antworten in Händen ge
habt zu haben, sondern theilte mir auch mit, dass er von der
jüngeren, die er auch nach Aufhebung der Pfleggerichte noch
öfter gebraucht, um sie nicht immer von Ebensee verlangen
und dahin zurücksenden zu müssen, für sich Abschrift ge
nommen hätte, die er mir gern mittheilen wolle. Noch den
selben Abend erhielt ich sie von ihm: meine Vermuthung
wurde dadurch allerdings bestätigt, aber was ich in Händen
hatte, war doch wieder nur ein Extract, angefertigt von einem
gewissen Doppelmeyr im J. 1846, freilich ein umfangreicherer
als die beiden, welche ich aus Koch’s Sammlung abgeschrieben
hatte. Von diesen würde der unbezeiclmete, wenn meine Ver
muthung, dass er sich auf Ort bezieht, richtig ist, den in
Doppelmeyrs Extract fehlenden §. 7 ergänzen, während der
andere, der die 14. Frag und Urtl enthält (mit dieser Ziffer
ausdrücklich auch im Extract bezeichnet, wie auch in dem vor
her erwähnten die 7. Frag und Urtl), beweist, dass die Ord
nung von 1699, aus welcher der Extract Doppelmeyrs gezogen
ist, dem Inhalte und der Aufeinanderfolge der Bestimmungen
nach so ziemlich identisch war mit der älteren Fassung, auf
welcher die Koch’schen Extracte beruhen, im Wortlaut aber
mehrfach abweichend, trockener und farbloser, mehr den Para
graphen eines modernen Gesetzbuches sich nähernd, wie denn
die Form der Fragen des Richters und die Urtheile des Recht
sprechers noch erhalten ist, aber ohne dass diese als solche
bezeichnet wären. Sehr willkommen wäre es, wenn Koch’s
Erwartung, dass unter seinen Erwerbungen noch mehr solcher
Extracte sich finden dürften, sich bestätigen würde, weil es
dann vielleicht möglich wäre, das verlorene ältere Taiding zwar
nicht ganz, aber doch zu annähernder Vollständigkeit zu recon-
struiren.
In der Bezirkshauptmannschaft in Gmunden versäumte
ich nicht, der in Ebensee gewonnenen Spur der beiden Fischerei
ordnungen für den Traun- und Hallstättersee nachzugehen,
denn auch in der letzteren ein Taiding zu vermuthen, lag nach
den gemachten Erfahrungen nahe genug, aber sie waren
nicht aufzufinden, wie mir Herr Edlinger in Ebensee be
reits vorausgesagt hatte. Nur einen Wink erhielt ich, den
die Weisthümercommission vielleicht noch benützen kann, dass
Bericht über Weisthüroer-Forsclmngen.
13
nämlich die Fischerinnung zu Altmünster in ihrer Lade noch
eine alte Fischerordnung bewahre; möglicherweise könnte da
durch noch das Orter Taiding vollständig ans Licht kommen.
Ich konnte von diesem Winke keinen Gebrauch machen, da
die Fischer natürlich im Sommer ihrem Gewerbe nachgehen,
und die vier Vorstände der Innung, die wie mir gesagt wurde, jeder
einen Schlüssel zur Lade in Verwahrung haben, schwer zusam
men zu bekommen sind. Hier muss eine Aufforderung von
Amts wegen ergehen.
Im Stadtarchiv zu Gmunden, das mir diesmal zugänglich
war, fand ich nichts, was auf unsere Sammlung irgend einen
Bezug hätte.
Nach Linz zurückgekehrt ging ich nun das schon oben
(S. 10) erwähnte jCompendium' über Ort, das im Museum unter
I. N. ^ auf bewahrt wird, genau durch. Es ist eine Papier
handschrift in 4° aus dem 17. Jahrhundert, in der unter andern
Urkunden auf Bl. 55 ein ,Extract Auß der Grafschafft Orth
Vischrechten, datirt 22. April 1588' steht, der das 11. 32. und
33. Urtl ohne die Fragen enthält. Abgesehen von der Dati-
rung, die wir hieraus für die ältere Fassung des Orter Taidings
gewinnen, ist dieser Extract noch dadurch interresant, dass er
durch das 11. und 33. Urtl den Extract Doppelmeyrs ergänzt,
in seinem 32. Urtl aber Vergleichung mit diesem zulässt, die
wiederum sachlich volle Uebereinstimmung bei leichter Ver
schiedenheit im Wortlaut aufweist, nur dass auch in der Nume
rirung der Rechtsprüche in sofern eine kleine Verschiedenheit
sich zeigt, als das 32. Urtl im Doppelmeyr’scheu Extract als
33. (und letzter) §. erscheint, während an Stelle von Nr. 32 in
diesem eine andere Bestimmung sich findet. Das 33. Urtl des
Linzer Extracts, das wie gesagt, im Doppelmeyr’schen fehlt,
war noch nicht der Schluss des Taidings, denn es weist mit
den Schlussworten, ,fragt weiter was Recht ist‘ auf noch nach
folgende Rechtsprüche, aber viele werden nicht mehr gefolgt
sein, denn jenes Urtl enthält die häufig in Weistlmmern ent
weder selbst als Schluss oder doch gegen den Schluss erschei
nende Weisung, dass zufällige Uebergehung einer oder mehrerer
Fragen und Urtheile der Herrschaft wie den Untertlianen an
ihren Rechten nicht schaden solle. Viel mehr als 33 Fragen
14
L amb el.
und Antworten wird das vollständige Taiding von 1588, wenn
es je-noch sich finden sollte, nicht enthalten.
Ausser dem erwähnten Extract enthält das Compendium
auf Bl. 90“ — 97“ noch einen Vertrag zwischen Ort und Traun
kirchen d. d. Linz 11. November 1628, der in dem Punct ,See-
vischen' mehrfach der Fischtaidinge erwähnt, woraus ich Fol
gendes aushebe : (94 a ) ,klian auch Traunkhirclierischer Hojfrichter
oder Supperior selbst der Jährlichen Vischtäding zu Orth nicht
zwar einiger jurisdiction halber sondern seinen Vischern zu einem
behilf beywohnen; Seitemallen aber (94 h ) füers Sibende in Traun-
khircherischen alten Grundbilechern, Orch (so. 1. Orth) ßschtäding
ein Clausid sich befindet, dz Gottsliauß berecht sey, sovil Es
demselben beliebet, Fischer auf dem Traunsee zu halten, Soll es
doch bei den bißhero gewöhnlichen Sechs galiren, deren An- vnd
Aufnembung zu Traunkhirclien geschieclit imerdar bestehen vnd
Verharren dero intention vnd meinung, damit die menge der
fischer den See vnd fürnembste Fischbruet nit aboede 1 .
Bei dieser Gelegenheit will ich auch nicht versäumen, einen
auf die Pantaidinge Traunkirchens bezüglichen Punct aus der
, Declaratio Privilegiorum Traunkirchensium 1 ' von Ferdinand II.,
7. September 1628, auszuheben, die sich im Linzer Museum
unter J. N.f^ im lateinischen Original auf Pergament und in
deutscher Uebersetzung, in solcher wiederholt in der Confirma-
tion Leopolds I., 22. September 1677, findet. Er lautet: Duo-
decimo. Judicium annuum (:die Ehafft oder Pantdding:) ad quod
annue subditi in suis quisque Prcefecturis euocantur, ubi eis jura
et Priuilegia Monasterij leguntur, etiam mandamus, ut in omnibus
punctis eundem valorem quem reliqua Priuilegia liabeant.
In Linz stellte ich noch Nachforschungen im Archiv des
Landesgerichtes und im Stadtarchiv an, aber vergebens.
Ebenso erfolglos blieben auch weitere Ausflüge nach Orten,
die ich bei den früheren Reisen bei Seite gelassen hatte, näm
lich: St. Georgen an der Gusen 1 , Gramastetten,
1 Hier fand sich nur noch ein Richterstab, wie ich deren drei aus
andern Orten schon in meinem vorigjährigen Berichte namhaft machte
(a. a. O. S. 242 Anm.). Den einen von diesen aus Perg konnte ich
heuer im Linzer Museum nochmal und genauer besichtigen. Die Tracht
des an dem einen Ende angebrachten Mannes ist die eines alten un-
Bericht über Weisthümer-Forschungen.
15
St. Peter, St. Johann, St.Veit, Nieclerwalclkirchen
(sämmtlich im Mühlviertel gelegen) und Neuhofen, wiewohl
ich von Seite der Gemeindevorstände überall ein bereitwilliges
Entgegenkommen fand. Nur der Pfarrer von St. Veit, dessen
Pfarre früher ein Dominium hatte, konnte sich nicht entschlies-
sen, in das Urbar, das seiner eigenen Mittheilung nach sich
im Pfarrarchiv befindet, geschweige in dieses selbst mir Ein
blick zu verstatten, so dass ich nicht sagen kann, ob mir hier
nicht doch vielleicht etwas entgangen ist.
Damit schloss ich meine Forschungen in Oberösterreich
selbst ab, aber nicht meine Forschüngen überhaupt. Mancher
lei Anzeichen und Winke, namentlich aber der Umstand, dass
gerade die Archive ehemals kaiserlicher Herrschaften, wie z. B.
Steyr, so wenig boten, schien mir auf einen noch unberührten
Fundort zu deuten, auf das Archiv des Reichsfinanzministeri
ums in Wien. Ich wendete mich desshalb an meinen Freund
Dr. Franz Kürschner, Archivsadjunct im Reichsfinanzministe
rium, der auf meine Wünsche mit zuvorkommender Gefälligkeit
einging und mir sogleich ein vor etwa einem Jahre ins Archiv
gekommenes M o n d s e e r Urbarium, angelegt im Jahre 141 6, zeigte,
das mehrere Aufzeichnungen der in den jährlichen Taidingen
den Untertliancn des Klosters gewiesenen Rechte und Freiheiten
enthält. Dieser Fund, im ersten Anlauf gemacht, reizte die
Forschungen sogleich fortzusetzen und ich verwendete dazu
die wenigen letzten Tage meiner Ferien. Bei dem rühmens-
werthen Eifer, mit welchem mich Kürschner dabei unterstützte,
welchem ich dafür hier meinen herzlichsten Dank ausspreche,
darf ich hoffen dass mir trotz der Eile, mit welcher ich im Ge
dränge der Zeit die Untersuchungen anstellen musste, doch
nichts Brauchbares entgangen ist. Der Erfolg war ein sehr
bedeutender, wenn auch das ,Riegbiichel der 4 Ämter* von
Enns und das Taiding der Steyer’schen Ämter Ternberg,
Mitterberg, Laussa, Ertzberg- und Raming (vgl.
Sitzungsber. Bd. LIII, S. 368. 369), welche nach einem mir
garischen Magnaten, was für einen Öberösterreichischen Richterstab eine
unerklärliche Verzierung wäre, wenn sie sich bei genauerer Unter
suchung nicht als ursprünglich gar nicht zum Beschläge gehörig, son
dern erst später darauf befestigt erwiese.
16
Lam b el.
gewiesenen Verzeichnisse vorhanden sein sollten, nicht mehr
zu finden waren, die ,Vischrechten‘ und das ,Eehaft Thätting,
der Herrschaft Co gl, die nach der Inhaltsangabe des Cogler
Urbars von 1570 auf Bl. 206 bis zu Ende desselben stehen
sollten, ebenso wie das Ehaft Taiding der Herrschaft Scharn-
stein aus dem Urbar von 1572, Bl. 109 — 112, ausgeschnitten
sind. Wenn der letzte Verlust zu ertragen ist, weil wir das
Scharnsteiner Weistlmm schon aus dem Original dieses Urbars
in Kremsmünster besitzen, so ist die nochmalige Auffindung
des Pernsteiner Weisthums in einer Copie des Urbars von 1481
aus dem gleichen Grunde kein Gewinn. Dafür war aber Ent
schädigung geboten in der Auffindung der ,Gerechtigkeit und
Freiheit der Urbarleute' von Cammer in einem Cammerer
Urbar von 1540 — 1561, der Rechte des Marktes Weissen-
bach in einem Rutensteiner Urbar aus dem 16. Jh., des
,Rechtenbuchs' der Herrschaft Frankenburg im Urbar der
selben von 1570, der Rechte der Herrschaft Klaus 1 in zwei
Urbarabschriften, der ,Ruegung' der Vorster zu Steyr und
folgender steyrischer Aemter: der beiden Aemter in der
Plofmarch, der 4 Aemter Neustift, Phrunreith, Ebers-
eckh und Windhag, des Amtes zu Molln und zu Stein
bach und des Marktes Hall, wodurch sowohl meine vor- als
diesjährigen Reiseergebnisse in willkommenster Weise ergänzt
werden. (Sitzungsbr. LXIX, S. 244. 250. 254; oben S. 7.)
Dazu kamen aus einer Abschrift des Urbars des Schlosses
Klingenberg v. J. 1589, bezeichnet K. j, und einem unter
gleicher Signatur auf bewahrten Urbar des Marktes Münz
bach v. J. 1566 Notizen über die bis jetzt verlorenen Taidinge
der ,Vogt, Holden zu Abivinden, so der Frawen Abbtessin zu
Nidernburg in Passaio dienstbar vnd der Herrschafft zu Klin-
genperg . . . . vnderworffen 1 und der Unterthanen zu Münz-
bacli (vgl. a. a. 0. S. 242), welche ich nach einer Abschrift
meines Freundes J. M. Wagner hier folgen lasse.
(Bl. 40 b des Klingenberger Urbars:)
Die vorgemelten vnderthonen (sc. die Vogtholden zu Ab
winden) halten Jarlichen Jr Thating des Pfincztag vor dem
1 Die Notiz in den Sitzungsberichten Bd. LIII, S. 368 ist darnach zu
berichtigen.
Bericht über Weistliümer-Forschungen.
17
Vaschanngtag, darczu sol der vogt, als die herrschafft Klingen
berg, ainen Richter vnnd ain sclireiber gen Abwinden schiclchen,
daselb Tliäting zu halten, dennen sein die Abwinden Essen
vnnd Trinclchen oder vier Schilling Phenning, vnd dem Richter
So das Thäting besiczt Zwenunddreissig, vnd dem Schreiber
Neununddreissig Pfenning zuraichen schuldig.
(Bl. 2“ des Urbars von Münzbach:)
Die gemelten zu Milnspach haben auch macht zu yeden pan-
tading aim (1. ain) Richter ain (1. ahn) herrn antzuzaigen: Souer
er im dan gefehlt, so bestet in der herr den selben, vnnd in
Suma 10er ain herrn zw aim Richter zio Miln spach gefeldt,
des miessen sy annemen.
(Bl. 2?:)
In dem vorgemelten Marchht Milnspach besitzt mann Jerlich
drew mall das pantading, Nämlich des Nächsten tag zu; sandt
Georgen tag, zum anndern des Nächsten tag nach Sandt Larenn-
tzen tag Vnnd zum Dritten des Nagsten tag nach sand Ann-
dreas tag: auf demselben panttading ist die Herschaft von Klüng-
berg, an dieselb bedorß es ain Richter nicht besitzen noch halten,
vnnd Solich Pantading wiert albeg bey aim Richter nach Essenn
gehalten, vnnd die Holden bezahlen der Herschafft von Klingberg
Essen vnnd Trünckhen vnd Ruegen auf derselben pantading Jr
freyhait, vnd ain Phleger Setzt sich Nider zu ain Richter Vnd
die vier Geschworrn vnnd die anndern dann neben hiurnb (1 . hin
umb) vnd Fecht dann der Pleger [so!] an Erstlich dem Richter
zw frggen [so!], ob das pantading Nach alten herkliumen zio
Rechter weill vnd Zeit beruefft vnd verkhundt sey, vnd ob die
Schram [so] genuegsam gesetzt seg: So sy es dann also erkhennen,
bo fecht man an Jr Freyhait zio lesen, dann erlaubt ain Phleger
dem Richter Vierern vnd, den Burgern in dreysprach zw gen
vnnd alles das so Jn not ist für zw pringen, Das aber ge-
wenndlich mit der Ersten sprach Jr notturfft anzaigen. Nach
mals spricht ain phleger, wer ausserhalb der Schram zuclagn
hob das meg man Tliain, vnnd wer dann klagt, das verhört man
vnd thuet, dann Ain ausrichtung nach Raut des pantading puechl
vnd welcher zw dem pantading nit khumbt ist der herschafft zw
wanndl verfallen xyj>.
Ich stelle nun wieder ein alphabetisches Verzeichniss
meiner diesjährigen Funde nach den Orten zusammen mit Be
schreibung der Handschriften:
SitzungRher./d. pliil.-liiat. CI. LXXIIl. Dd. I Hfl.
2
18
L am he 1.
1. Assbach.
In dem ,Vrbarium Vber der Khay. Herrscbafft Steyr Vrbars
Vnthianen (so)‘ etc. Pap. fol. 17. Jb. (s. oben S. 7) im fürstlichen
Archiv zu Steyr, Bl. 690“ ff., alter aber nicht genauer Zählung.
(690“) ,Vermerckht die Rechten des Buechs (Burckhfridts ?)
vnd Marckhts Aßpach auß Briefflicher Vrkhündt vnd aus dem
alten Marckht Buech gezogen vnnd von Neuem Im Thäting zu
Recht Erkhennt worden.
Erstlich haben wier daß Recht vnnd ist von Alter also
herkhomben, dg wier ainen Richter sezen vnnd erwelilen auf
vnnserm Burcklifridt’ etc.
Im Ganzen 6 Blätter: auf dem 7., welches, da die 5 da
zwischen liegenden nicht gezählt sind, mit 691 bezeichnet ist,
,Volgen die Vmbfragen vnd Erseczung der Ambter Bei Jeder
Richter vnnd Raths wähl zu Aspachh
2. Atte rsee.
In einem Miscellancodex aus dem 16/17. Jh. Pap. fol. im
Museum Francisco-Carolinum zu Linz I. N. jAl (der auch Ge
drucktes enthält) steht auf Bl. 50“ — 59 b eine ,Vischordnung
Aufm Männ vnd Attersee' von Kaiser Rudolph II., deren Da-
tirung in Folge des Verlustes der Blätter 60 u. 61 fehlt. 1
Darin heisst es Bl. 55 b :
,Voin Attersee.
Damit dann auch verrer am attersee hinfüro den alten
vischrechten merers nacligelebt, So haben wir das vischrecht,
wie dasselb bisheer verricht worden vnd von der herrschafft
Clagl (so, l. Cogl 2 ) vnnsern Commissarien in abschrifften an-
gehenndigt, hernach von wort zu worth Innserieren lassen:
1 Eine Fischerordnung für das Land ob der Enns von K. Rudolph 11.
im Archiv des Reichsfinanzministeriums ist, wie mir Fr. Kürschner
mittheilt, vom 3. Juni 1585 datirt; das ältere Orter Taiding ist aus
dem J. 1588: ungefähr in diese Zeit wird auch die obige fallen.
2 Ist diese Emendation, wie ich kaum zweifeln kann, richtig, so wären
uns die aus dem Cogler Urbar von 1570 ausgeschnittenen ,Vischrechten
(oben S. 16) doch glücklich in dieser Hs. gerettet.
Bericht über Weiethümer -Forschungen.
19
„Vermerckht das Vischrecht zu Attersee, wie manns
hallten vnnd Jährlich besiczen soll, wie von allter herkhom-
men ist,
Das vischrecht soll mau Järlich besiczen ann dem aschtag'
im Ambthauß zu attersee oder wie es die Herrschafft hinn-
legt“ etc.
(59“) „Durch herrn Wolfganng Freyherrn zu Polhaim vnd
Warttnburg Sein verordnet worden Balthasar Colman vnnd
Euckhariuß Freytag’, so der zeit vischmaister zu vnnderach
gewest, die menngl vnnd abgang, so bey dem See gewest,
ain Ordnung zumachen, wie mans füertter hallten. Ist demnach
durch vnns ob Ernente vischmaister auch Segner vnnd anndere
vischer vmb den See, so wir zu vnns genommen, dise her-
nachuolgundte Ordnung gemacht,, etc.
(59 b ) „Ende der vischmaister Echariußen vnnd Collmanß
zu vnnderach Ordnung.“ ‘
Ebensee s. Traunkirohen.
Eberseck s. Neustift.
3. E i s e n s t a 11.
In demselben Codex wie N. 2 auf Bl. 218“ — 226“ von
einer Hand des 16. Jhs.
,Der Herrschafft Eisenstatt Panndäding Buech.
So dennen vnnderthonnen Järlich wann Pandäding ge-
halttenn vnnd die Richter Bestädt worden, fürgehalten wierdet
wie volgt‘ etc.
4. Franken bürg. (Vgl. Sitzungsber. LXIX, 254.)
A. Im Urbar der Herrschaft Fr. vom J. 1570 im Archiv
des Reichsfinanzministeriums in Wien, F. 5., Pap. fol. Bl.
326“ — 358 b .
,Rechtenpüech der herrschafft Franckhenburg, welche Rech
ten man alle Jar des Montags nach der heiligen drey khünigen
tag vnd an Sanndt valenntin Tag vnnd darnach an Sannt
Erhardts Tag, daran man die Ehafft Thating besitzt In der Herr
schafft Schran zu Zwispalln, vnd die mit Frag vnnd vrtl zu
recht gesprochen vnnd erkhennt werden alß von alter ist her-
khomenJ
2*
20
L am b e 1.
B. Abschrift von A aus dem Ende des 16. Jhs.
Gioisern s. Träunkirchen.
Göstling s. Holnstein.
5. Hall.
Pap. 17. Jh. 8 Bl. 4. im Archiv des Reichsfinanzministe
riums, Herrschaft Steyr, S. -/. (Vgl. oben S. 7.)
(l a ) ,Abschrift Gemaiues Marckhts Hall in der Hofmarch
RuegungJ
(2") ,Vermerckht vnnser Gerechtigkhait vnd Lobliclis Alts-
herkhommen, das wir Burger zu Hall in der Ilofmarch haben
zu vnserm Marckht daselbs zu Hall, Das dann vnsere vor-
fodern vnd auch wier alle Jar Järlichen fürbracht vnd geruegt
haben in vnnsers Marckhts Offner Schrann vor vnnserm Rich
ter in vnnserm Eehafften Tading. 4
6. Holnstein und Gföstling.
Von einer Hand des 16. Jhs. auf Bl. 172" — 181" eines
Miscellancodex des 16/17. Jhs. Pap. fol. im Marktarchiv zu
Weyer.
(172 a ) ,Holnstain vnd GestlingDer zwaier Waidhouerischen
Ämbter bestätigt Eehafft Tading buech. De Anno 1563'.
173" — 174 b folgen Bestätigungen der Bischöfe Moriz
Leo und Philipp von Freising.
(174 b ) ,Hierauf! vnd Füers Erst Ordnen setzen vnd wellen
wir, das Järlich zway Thäting (corrigirt Thäding) Nemlich
Ains des Montags nach Georg! vnd das Ander Montags nach
vnser Frauenn tag der diennst zeit jm Herbst doch beit (corr.:
baide) zu hollenstain gehaltenn werdenn' etc.
181" stehen zwei Datirungen: Freising, 5. Juli 1553 (von
Bischof Leo) und Freising, 16. August 1563 (Bischof Moriz).
Ischl s. Traunkirchen.
7. Kammer.
Tm Urbar der Herrschaft K. vom J. 1540— 1561. Pap. fol. 1
im Archiv des Reichsfinanzministeriums C. 1.
Die Blätter des sehr umfangreichen Codex zu zählen, musste ich lei
der aus Mangel an Zeit unterlassen. Das Weisthum umfasst etwa drei
Seiten.
Bericht über Weistliftmer-Forschungen.
21
,Auch ist zemerckenn die gerechtigkait vnnd freihait der
vrbarlewt.
Von Erst sullenn die vrbarlewt des Mitichenn nach dem
Obriste die vrbarschrann zu Camer besiczn vnd auszetragen Jre
vrbar Recht’ etc.
8. Kirchdorf.
Collationirte Abschrift vom 7. November 1696 eines Ori
ginals d. d. Bamberg 16. December 1586, Pap. fol. 3 beschrie
bene Bll. in der Gemeindelade zu Kirchdorf.
Ernst Bischof zu Bamberg bestätigt auf Bitten der
Kirchdörfer ,Innen Ire Alle vnnd von vnuerdennckhlichen Jahren
biß daher gehabtte vnnd gebrauchte Freykeiten, gerechtigkheiten
vnnd Rechtsprüch, wie die hernach volget In specie vermeltt
vnnd geseczt werden, Als Nemblichen vnnd zum Ersten
Ob Einer Ain zw Todt scliueg (so) vnnd khainer Irn dern
vonn Khirchdorf grundt Obrigkhaitt Alß Vnnß Bißschoff Ernn-
sten etc. zugehörtt, mag der Markhrichter den Tliätter durch
die Jexen lassen durchlauffen' etc.
9. Kl a us.
A. In dem ,Urbar Register der Herrschafft Klaws' von
1498 in einer Abschrift aus dom 16. Jh. in dem Archiv des
Reichsfinanzministeriums. Pap. fol. K. f. Bl. 18“ — 29".
(18") ,Die gerechtigkait vnd allt herkomen der herrschafft
Claus/
(19“) ,Hie ist vermerkht die gerechtigkait die da gehört
zu der herrschafft zu Klaus/
(23“) ,Iiie sind vermerkht der Armen Lewt gerechtigkait.
B. In einer Abschrift eines alten Urbars, collationirt
Wien 27. November 1645, Pap. fol., das. stehn auf Bl. 18“ ff.
,Etliche Außzüg außm ReispuechP, theilweise verschieden
von A.
10. Kurzen Zwettl.
5 Bogen einer modernen Abschrift nach einem ,Original
auf Papier', im Museum Francisco-Carolinum in Linz, J. N.
Anfang : ,1523. Des Marckts in der Kuertzenzwetl
Ehaft Tading/
22
L a m b e 1.
,Vermerckt die Rechten des Marckts hie in der Kuertzen-
zwetl vnd der hausgenossn des Ambts vnd herschafft Lobn-
stain bey weilend vnsers genedigen herrn herrn hannsen von
Starhemberg zu Wiltperg Löblicher gedechtnuss selligen, als In
Ehafften Tädingen Erkannt vnd gesetzt sind worden Welich
an heut Erichtag nach sand Thomastag widerumb Neu abge-
schriben hinfür also zu halten Anno dominj etc. im XXiij teu .’
Diese Aufzeichnung von 1553 ist die älteste der bisher
bekannten. Sie enthält aber, von einer Hand des 17. Jhs., auch
die Abschnitte über Wildbann u. s. w. der Eferdinger Auf
zeichnung (vgl. Sitzungsber. LXIX, 260), die den Eingang
kürzer gibt. Eine der Commission schon früher zugekommene
Aufzeichnung von 1658 (a. a. 0. S. 247) stimmt im Eingänge
zu der von 1523, den Abschnitt über Wildbann finde ich aber
darin nicht, wohl aber die übrigen Nachträge.
Lindenoedt s. Windhag (im Mühlkreise).
11. Mol ln.
Pap. 17. Jh. 18 beschr. Bll. 4° im Archiv des Reichs
finanzministeriums, Herrschaft Steyer, S
1" jRiegpüechl Von Molln.'
l b ,Riieg Artickhl so in dem Ambt Molln Järlich zu
Sanndt Phillips vnnd Jacoby tag der gemain fuergelesen vnnd
geurtaillt Werdenn.'
2 b ,Zuuermerckhen Alls auf heut das Panthäding in di-
sem Ambt Molln durch die Herrschafft zu hallten fürgenomen
So volgen Hernach desselben Panthädings Riieg Artickhl.'
12. Mondsee.
Urbarium des Klosters M., angelegt 1416, Perg. fol. im
Archiv des Reichsfinanzministeriums, d. Z. noch ohne Sig
natur.
Bl. 79* — 81“ ,Hie ist vermerkcht was das Gotzhaus vnd
die lanntlawt zü Mannsee recht habnt vmb erb vnd Aigen
grünt, vnd podii.
Item zu dem ersten das ain yeder der hinder dem Gotz-
hauß sitzt ainstn in dem iar-sein ehafftstaiding besuechen sol' etc.
Bericht über Weisthüraer-Forßclmngen.
23
81" jDie recht vnd andrew recht die das Gotshaws her hatt
pracht in nutz vnd gwer sind pestätt mit päbstleichii pischolf-
leichn Kaysserleichn künigleichn vnd fürstleichii hrieffn ye vö
aine vncz auff den andern vnczt her, die vns auch vns hoch-
geporner vnd gnädig furst lierczog Hein?, westätt hatt mit sei
nen brieffn/ 1
Bl. 82: ,hie sind vermerkt die recht als das Gotshauß
vnd ein vogt zu Wartenburg von des Gotshauss lawt wegen
gen einander h ab ent/
Bl. 86 b — 87“: ,Des Gotshawß Mannse Freyhaitten vnd
gerechtigkhaitn So Järlich in den Eehafften Däting vnd Lannd-
rechten yedes Jars zwirendt außtragen vnd von alter außtra
gen worden in maß wie hernach vollg’t/
87“: ,Von dieser Verlesung hat ain herr von Mannsee
Ainem gei'ichtschreiber für sein bemüeung zu geben verwilgt,
Das er des gotshauß freyhait vnd gerechtigkhaiten zu yeder zeit
Im Jar, So die Lanndtrecht gehalten werden bey den vier
Schrannen als zu Mansee, Rindtperg, Oberhofen, Auch zu Sannt
Wolffgang verlist, ain vicrtl wein/
1 Fol. 88 steht eine ,Copy päpstleicher kayserleicher vnd furstleicher be-
stättung 4 , die mir Fr. Kürschner gefällig abgeschrieben hat: 1. Pabst
Johann (XXII. oder XXIII?) bestätigt dem Kloster ,all freyhait, ge-
wonhait recht vnd antlas, die von vnsern voruodern den Römischen
bischouen ewerm gotzhaws mit päbstleichen briefen oder anders ver
üben sein, darzu auch alle freyhait, weltleiche gewonhait vnd rannt
die ew rechtleich geben seint- von kunigen fürsten vnd andern getreuen
kristen, die ir nu rechtleich vnd fridleich in gwer vnd nutz inne habt 4 ,
und verbietet bei dem Banne jede Uebertretung seines Briefes,
d. d. Rom 12. Juni 1308 od. 1411 (?) 2. Kaiser Ludwig bestätigt
ihnen am 2. December 1341 (ohne Ausstellungsort) ,all die brief hant-
uesten, freyhait, gewonhait vnd genad, die .sy von vnsern vettern Hein-
reichen Otten vnd Heinreichen hertzogen zu Beyern etc. seligen oder
von ander ir herschaffte zu Beiern habe nt. 4 3. Zuletzt folgt der Be
stätigungsbrief des oben genannten Heinrich, Pfalzgrafen bei Rhein
und Herzogs in Baiern, an Abt Johann, d. d. Burghausen, 28. October
1415. Ob eine dieser. Urkunden schon gedruckt ist, kann ich, da mir
keine der betreffenden Urkundensammlungen zur Hand ist, nicht be-
• stimmen.
24
L a mb el.
13. Neidharting.
,Eholiafft Thädting Biiechl Bey der Herrschafft Neidhard-
ting Anno 1666', Pap. 19 beschr. Bll. 4° im Museum Francisco-
Carolinum zu Linz (Inv. N. ,® a 0 ) 7 bis auf Umstellung zweier
Bestimmungen identisch mit der nun gleichfalls im Linzer
Museum (Inv. N. | 4 J) befindlichen jüngeren Aufzeichnung von
1730, von der die Commission bereits Abschrift besitzt.
14. Neustift, Phrunreith, Eberseck und Windhag.
A. Perg. 16 Jh. 12 Bll. kleinsten Formats, das rückwär
tige Blatt des Umschlags ist breiter und über die Vorderseite
des Büchleins rechts umgeschlagen.
Titel auf dem rückwärtigen Bl. des Umschlages aussen:
,Die Vier Ämbter Neustifft Phrunreith, Eberseckh Vnd
Windthag in die Iierrschafft Steyr Gehörig Altes Ruegbüechl
dauon Herzog Albrechten Brieff Sagt, den Sy in Iren Ehehaffton
Tädinge Verlesen Oder Rüegen/
Bl. 1° ,Iiie sind Vermercldit Die Rechten vnnd Guette Ge-
wonhait, Die Wier Armen Leüth haben vnd mit gueter gewonhait
von alter her Erberlich Khomen sein vnd herbracht haben In
den vier Ämbtern zu Neustifft, Phnüenreith (so), Eberseckh vnd
Windthag vnnd dieselbigen Ambtleitli Alle .Jar Rüegen vnnd
Rüegen sollen In Eehafften Tädingen Ainsten Im Jar Alls das
mit Löblicher gewonhait von alter her Khomen ist.'
Bl. 9 b u. fg. leer.
B. Perg. 1565. 12 Bll. Quer- 4°.
Neustift ] in
in die herrschafft Steir ge
hörig Altes Ricgpuechl so
Sy In Iren Tading verlesen
oder Riegen.'
12 b : ,Der j Phrienreit ) höi
f ambter ‘ Eberseckh Sy
Windthag
Laut Bl. 10 b u. 11“, collationirte Abschrift d. d. Wien
10. Jänner 1565.
C. Pap. 1570. 12 Bll. fol., gleichlautend mit A, wornacli
es laut Bl. 10 b am 21. Juli 1570 collationirt ist.
D. Pap. 16/17. Jh. 10 Bll. 4°, gleichlautend mit B, wornach
es laut 8 b collationirt ist, ohne Collationsdatum.
E. Pap. 17. Jh. 6 Bll. fol.
1“ ,Abschrifften der alten Ruegungen vnnd freyhaitten.
Bericht über Weisthümer-Forschungen.
25
6 b ,Absclirifft der alten Rüegungen in den 4 Ämbtern/
stimmt zu den vorher genannten Aufzeichnungen wenigstens
im Wortlaut nicht vollständig.
Sämmtliche Aufzeichnungen im Archiv des Reichsfinanz
ministeriums, Herrsch. Steyr, S
Nieder-Schatterlee s. Ober- und Nied er-Schatterlee
Nussdorf s. Traunkirchen.
Oberhofen s. Mondsee.
15. Ober- und Nieder - Schattorsee.
Bl. 103° — 111" des Urbars des Klosters Waldhausen
von 147!, Pap. fol. im Museum Francisco-Carolinum zu Linz
I. N. A b _.
12 7
103' ,Vermergkt meines genädignn Herrn Herrn Johansn
Brobst des Erwirdigli Gotshaws Sand Johanss xij Pot vnnd
Ewangelistnn zw Waldthawsnli Gerechtigkait, In Obern vnd
Nidernn Schaterlee/
108 b ,Yermergkcht meines genadigrm lierrn herrnn Jo-
liannsnli des Wirdign Gotshaws Sannd Johannss zweliffpotn vnd
Ewangelistnn zw walldthausn Brobst gerechtigkayt zw obern
schatterloe am freyperig als er hinderhalb des Tuewnaw
(so) ligtJ
Am Schlüsse Bl. 111" steht die Jahreszahl: ,1469°'.
16. Oberwallsee.
9 Bogen fol. einer modernen von J. Stülz collationirten
Abschrift im Museum Francisco-Carolinum zu Linz Jlg.
Bl. 1“ ,Lanndgericht (Oberwallsec). Das Landgericht ist
eine gute dritthalber Meil Wegs lang und ein starke Meil
Wegs breit, hat sein eigen Hofgericht auch Stock und Eisen
und fangt an‘ etc.
1 Dom Fascikel liegt in Abschrift ein Brief K. ltudolfs vom 1. April
1280 bei, worin er pruilcntibus uiris Omnibus et siugulis colonis resi-
dentibus in Nuwenstifft et pfurrenreit (so) Jus suum antiquum et con-
suetudinem recognoscen(to)s‘ zusichert, dass sie niemand anderm als
ihm und seinen Nachfolgern zu dienen hätten.
26
L a m 1) e 1.
2 b ,Uralt löbliche Landesrechten bei dem Feld- und Land
gericht Oberwallsee, wie solche in alten Schriften bei der
Kanzlei erfunden und hernachfolgend beschrieben werdend
17. Offenhausen.
Pap. 1630. 70 Bll. fol. Mit 5 anh. Siegeln. Im Markt
archiv zu Offenhausen.
Bl. 1“, Offenhausen Marckht Buech Darinen ist Begriffen
des Marcklits Offenhausen Kayserliche Priuilegia Freyheiten
Pollicey Ordnung Recht vnnd Gerechtigkeit Statuten vnnd ge-
wonheiten Auf Ein Neues Contirmiert Vnnd Bestät durch In-
uermeltc Fraw Vnnd Herrn Weissische Gerlmben, Beschehen
Geörgi Im Ain tausent Sechshundert Dreysigistcn Jard
RI. 19 b (=13“ alter Zählung) ,Zum Viertten, so soll solch
pollicey vnnd Ordnung zu dem Ehhafft thäting der gannczen
Gmainen Burgerschafft .... öffentlich verlesen werden' etc.
Ort.
l'B. A. Die oben S. 11—13 besprochenen Extracte aus
den alten ,Vischrechten oder TädingpüechP von 1588.
B. Pap., ein Bogen, fol. 1846; vgl. S. 12.
1“, Extract Aus der Urbarmässigen bei der k. k. Grafschaft
Ort bestehenden Fischerordnung de 1699 Ortner-Urbarium.
I. §. Wer die Fischdatung abzuhaten (so)? (am linken
Rand, wie die Fragen durchaus; rechts daneben die Antwort:)
Der Grafschafft Ort steht es bevor, diese Fcyciiichkeit alle
Jahre so oft sie will abzuhalten, aber nach alter Sitte wird
dieses Fest gewöhnlich an St. Petri und Pauli abgehaltend
Der Extract enthält ausserdem folgende gezählte §§:
2 — 5, 8 — 10, 13 — 15, 17 — 22, 24 — 27, 29, 32, 33.
Hierauf zum Schluss Bl. 2 b die Notiz: ,Extrahirt k. k.
Pfleggericht Ort Doppelmeyr m/p.: den 18. April 1846.'
19. Pap. 18. Jh. 14 Bll. fol. im Besitz des protest. Pfar
rers Fr. Koch in Gmunden.
,Forst Tliättung, Welche Jährlich dennen gesamten Unter-
thanen Sowohl in dem Salzkammergut als auch bey der Graf
schaft Orth .... gleich wie es bis anher üblich gewesen noch
weils offendlich solle abgelesen vnd Publicieret werden
Actum Gmunden den 20 lc " 7br. 1756/
Unten: ,Johann Winckler Unterwaldmeister 1787/
Bericht über Weiathümer-Forscliungen.
27
20. Pernstein.
Im Urbar der Herrschaft P. vom J. 1481, Abschrift aus
dem 17. Jh., im Archiv des Reichsfinanzministeriums P. 10.
,Zuuernemen die Frag In der stifft vorscht vnnd wasser
Rechten der Herrschafft Pernstain' ctc.; vgl. oben S. 16.
Pethkirchen s. Windhag (im Mühlkreise).
Phrunreit s. Neustift.
Rin dtp erg s. Mondsee.
21. Seisenburg.
Vier Extracte im Archiv des Klosters Schlierbach, der
zeit noch unsignirt; vgl. oben S. 9.
A. Ein Fol.-Bogen, collationirt nach einer Collation von
1706, Linz 10. Juli 1716.
,Extract Auß denen original Vorsstfreyheiten und Vorsst-
rechtens Articul Buech der herrschafft Seysenburg.
Eingangs.
Vorstbueeh zu der Herrschafft Seysenburg, Welches mit
allen Inhalten Articuln von alter liero also zu Recht Erkhendt
und Bewogt wordteid etc.
Auf den Eingang folgt Artikel 19 und 34, hierauf der
,Schluß
,Zu Vrkliundt, Inmasßen Ich (sc. Hans Ludwig Kürcli-
berger zu Seysenburg) dise Vorsstarticul Jeder gebraucht auch
villmahls Rechtlich erhalten, in der gemainen Versamblung aller
Vorsstunterthannen Jährlich öffentlich Rechtens weiß gehalten
und verlesen lassen, auch aniezo herrn Achazien Freyherrn
zu Feyrogg und Wolfstain etc. übergehen, liab ich mein an-
gebohrnes Pöttschafft und aigen handtschrüfft hierunter gestellt.
Actum Bartholomoi im Sechzechenhundert und fünfften JahrJ
B. Ein Fol.-Blatt nach einer vidimirten Abschrift colla
tionirt Linz, 22. December 1621, enthält den 19. ,Articl aus
dem Vorstbuch/
C. Ein Fol.-Bogen, collationirt nach dem Original, Linz
21. November 1708. Unterschriebene Zeugen bestätigen, ,dz
28
L a mb e 1.
anno 1704 am Tag Gcorgi Bey dem vntern Haittern liimmel
der veblichen gewohnbeit nach am Magdalenaperg gehaltenen
Vorsst Rechten' der Pfleger den 32. Artikel, der im Wortlaut
folgt,,Sonderbahr außgelegt' etc., Beschechen den 21. Martij anno
1707.'
D. Ein Fol.-Bogen nach einer Collation von 1711, colla-
tionirt Linz, 7. August 1713; enthält den Eingang wie A, dann
den 39. Artikel.
22- Sierning.
Bl. 679” — 684 a des Steyrer Urbars aus d. 17. Jh.
(s. S. 18 N. 1.) enthält eine collationirte Abschrift einer ,Glaub-
wüerdige(n) vnd Collationirte(n) Abschrifft Ainos Pfarrers zu
Sierning vnderthonenn daselbs habenden Freyung vnd Widmb
Rechten.' Die Vorlage war eine Collation von Linz, 8. August
1613, das Collationsdatum der Abschrift Bl. 684“ ,Schloß Steyr
den 29. Augusti 1653.'
Das Widemrecht ist erneuert von Ebex-hart Marschalk
zu Reichenau als Pfleger zu Steyr ,am Sonntag vor Sant Mer-
then tag, Im Sechs und Zwainczigisten Jare' (Bl. 679 b ).
23. Steinbach.
Pap. Ende des 16. Jh. 11 bcsclir. Bll. 4°, im Archiv
des Reichsfinanzministeriums, Herrsch. Steyr, S
Bl. 1“ ,Rüeg Püeclil Im Ambt Stainpach.'
2“ ,Hie ist zumcrckhcn das Ambt zw Stainpach das
zw dem Fürsten Geschloß gehört mit seinen Freyhaiten vnd
Rechten.
Item von Erst was dz Ambt zu Stainpach Freyliait hatt
Auf den tag so wir vnser Ehehaffts Tading hie auf dem Geschloß
zu Steyr haben' etc.
24. Steyeregg.
Im Ui’bar der Herrschaft St. von 1581, abschriftlich im
Museum Fi’ancisco-Carolinum zu Linz I. N. “ss, Bogen 52 ff.
,IIye sind vermergkeht die Rechtenn zw Steyeregkch.
Item Ex’liafftaiding (so) scliol der Richter zu Steyregkch be-
sitzenn selb viorder Richter' etc.
Bericht filier Weiptlifimer-Forpclinngen.
29
S t e y e r.
25. A. ,Alt aufgerichtes Vrbarium Vber die Khay. Herr
schafft Steyr Anno 1424/ Pap. fol. im herrschaftlichen Archiv
zu Steyer, Bl. 423 a — 428 a .
,Ordnung aiues Jeden Innhaber der herrschafft Steyr.
Erstlich soll ain Burkhgraf oder phleger von den Vrbars-
leuten den dinsthabern wie In der wächst nemen' etc.
B. Pap. fol. 15. Jh. Bl. 424 n — 429 a das. gleichlautend
mit A.
Vgl. oben S. 7.
26. Pap. 17. Jh. 8 Bll. 4° im Archiv des Reichsfinanz
ministeriums, Herrsch. Steyr, S ~.
Bl. 1\ ,Vermerc.kht Der Vrbar Leuth in baiden Ambtern
In der Hofmarch Ir Gerechtigkhait vmb die Ruegung der
Eehafften Thäding, So sy dann Ee ye von Allter vnd Alweg
gehalten haben vnd in dz khain Herschafft nie widerspro
chen hat.'
27. Pap. 17. Jh. 9 beschr. Bll. 4° im Archiv des Reichs
finanzministeriums, Herrsch. Steyer,
Bl. 1" ,Vermerckht die Rüegung Der Vorsster In der
Herrschafft Steyr In die Eehafften Tading Gehornndt.'
l b ,Von erst auf allen vorsthueben' etc.
9 b ,Enndt der Vorsster Rüegung.'
28. Traunkirchen.
A: I. N. „4 des Museums Francisco - Carolinum zu Linz
enthält:
a) eine Abschrift des ,Vrwar pftch des goteshous ze
Trounchirchen' nach einem ,Pergamentcodex in Quart, grössten-
theils dem 14. Jh. angehörig.' (Eine Abschrift aus dem
17. Jh. befindet sich auf dem Forstamte zu Ebensee N. 147).
Darin steht Bl. 22 b .:
,So sint daz di recht di des gotzhauzz zinsläut habent
von dem gotzhaus vnd das gotzhaus hintz in'.
Sie reichen bis 23 a und stehen auch in einer Abschrift
eines alten Urbars in Ebeusee N. 148.
b) Abschriften ,aus einem Pergamentcodex des 15. Jhs.
zu Ort.' Auf Bogen 2 :
30
L ambel.
,Vermerkcht des Gotzhawss Rechten ze Trawnnkirchen.
Item am Ersten sol man fragen ob es ain (1. am) tag, zeyt
vncl weil sey, das man Ehaft täding richtten sull' etc., nur
Fragen ohne Antworten.
B. Pap. 17. Jh. 61 Bll. fol. im Besitze des protest. Pfar
rers Fr. Koch in Gmunden.
Bl. 1“ ,Hoff- vnd Ehensee Ambt.
Nachdem Durch die Hochlüblichisten Fürsten von Osster-
reich die Ynderthannen zu dem Gottshaus Traunkirchen vor
anderer Herrn Vnderthanncn in allerley Freylieiten gnadigist
begabt vnd fürgesehen wordten, auch Jährlichen ein Fhehafft-
oder Paan Tätting gehalten: in Offener Schrannen geruegt:
vnd die erkhenten Vrthl durch die Obrigkeiten iederzeit fesstig-
lich geschermbt vnd geliandhabt werdten, Darauf wollet nun
Ihr Vnderthannen Jung vnd alt' mit Heiß merckhen auf das
den Hernach benennten Rechtsprüchen in allen fahlen ain be-
nüegen beschehen: vnd ainer von dem andern bey denen her
nach benenten pöen vnd straffen nicht betrüebt oder be
schwehret werdte.“
2“ ,Zuuermerckhen die Articul des Ehafften Tätting,
welche man iährlich denen Vnderthannen des Landts Fürstl.
Stifft vnd Gotts Haus Traunkirchen vorlüst vnd altem her-
khoinen nach in offener Schrannen zu recht sprächt wie volgt:
Frag. Erstlichen Frag ich Euch' etc.
Reicht bis 16’’, hierauf sind 5 Bl. ausgeschnitten und
es folgt fol. 22, das ganz leer ist.
Bl. 23“ — 32“. ,In Ausßern Ämbtern für zu nehmen.
Nachdem durch die Hochlöblichiste Fürsten von Osster-
reich' etc. 32’’, 33 und ein ungezähltes Bl. leer.
34“ — 44“ ,Nußdorffer Ambt'. Darauf 3 leere Blätter.
48° — 58“ ,Ischl- Vnd Goyßerer Ambt.'
59“ bis zu Ende:, Extraordinary Vorhalt dennen gesambten
Vnderthannen in denen Ehehafft- oder Paan Tättingen in allen
Ämbtern.'
29. Weissenbach.
Pap. 16. Jh. 7 beschr. Bll. fol. im Archiv des Reichs-
iinanzministei’iums R, 12.
Bericht über Weisthümer-Forschnngen.
31
Bl. 1" ,Vermercklit. das Vrbar der herschafft zu Ruten-
stain mit seiner gcreclitigkhait (2a) Im Mai’cklit Weyssnpach.,
4’> — 7 b , Vermerckht die Reckten des Marekhts vrbar
vnnd gerichts zu Weyssenpach.
Von Erst das Es ist Recht freiß Aigen/
30. Wimsbach.
Pap. 17. Jh. 14 beschr. Bll. fol. im Marktarchiv zu W.
1“ ,Policei vnnd Ordnung So Ich Hanns Asclipan zu
Liechtenhag vnd Wimbmspacli meinen Burgern Verneut vnd
gepessert Nach absterbon Weillundt meines lieben Vatters se
ligen Welicher si seid Anfaung das Wibmspach zw ainem
Marckht erhebt In guetem gepraucli ersessen, allain was Ich
Inen zu merer Erleutterung Irem begern nach erclärt vnd .ge
pessert/
14 b ,Greben Vnnd besclieheu an saunt Thomastag des
heiligenn zwelffpoten' 1556.
Windhag s. Neustift.
31. Windhag (im Mühlkreise).
Pap. 1629. 48 Bll. 4" mit anh. Siegel im Museum Fran-
cisco-Carolinum zu Linz I. N. .
Bl. 1“ ,Tading Buech Der Herrschafft Windthag im Ertz-
hertzogthumb Osster: ob der Enß, Machlandt Viertls ange-
höriger drey Ambter alß des Iloffambts auch Lindenöedt vnd
PethKirchen: Allermassen dasselbe von weihend den Wolge-
bornen herrn herrn Audree Von Pi'ag Freyherrn zu Windthag
noch im 1553. Jar aus denen vil Eltern Thätingliclien Vralten
Vrbarien vnd andern Briieflichen Vhrkhündten in dise Ordnung
zusamben getragen , So Ich Georg Schütter Von Klin
genberg auf Kolmitz aus erstermeltem Pragerischen Original
Tädingbuech von wortt zu wortt mit allem heiß abtzuschreiben
verordnet, vnd nach meiner Abtrettung bey merernennter
Herrschafft Windhag zu Ewiger nachrichtung als ein authen
tisches Instrument hinterlassen hab. Im Jar 1629/
Das Taiding reicht bis 39". 40 n —47 b , Volgen hernach die
vnterthannen so dieser zeit in das Tading des Ambts Windthag
gegangen seind/ 48“ Datum Windhag 10. October 1629 und
Unterschrift.
32
Lambel. Bericht über Weistbümer-ForschungeTi.
Scheint von der zu Grunde liegenden durch Andreas von
Prag veranstalteten Aufzeichnung, welche die Commission schon
aus einer andern Handschrift des Linzer Museums besitzt,
kaum verschieden zu sein.
St. Wolfgang s. Mondsee.
Von den verzeichneten 31 Nummern sind 5 (N. 6, 10,
13, 19, 31) bereits aus andern Handschriften copirt, von einer
(N. 25) ist es noch zweifelhaft, ob sie in die Sammlung wird
aufzunehmen sein, die übrigen 25 Nummern sind bisher unbe
kannt. Dass ich diesmal wie früher auch Ausser-obderennsi-
sches, wo ich es vorfand, mit aufzeichnete, bedarf wohl nicht
der Entschuldigung. Ich hoffe vielmehr von meinen geehrten
Herren Mitarbeitern, dass Sie, sollte Ihnen zufällig auf Ihren
Gebieten Obderennsisches begegnen, es gleichfalls mir zur
Kenntniss bringen werden.
Indem ich diesen meinen dritten und letzten Bericht
schliesse und sämmtlichen Förderern meiner Forschungen noch
mals meinen Dank ausspreche, zumal dem Herrn Rittmeister
A. Winkler am Museum in Linz, der unsere Sammlung durch
Aufnahme meiner Bitte um Mittheilung etwaiger nachträglicher
Funde in dem demnächst erscheinenden Jahresbericht über das
Museum auch noch weiter fördern will, kann ich mir ander
seits nach den mannigfachen Erfahrungen, die ich machte, nicht
versagen, offen meine Zustimmung zu der Aeusserung meines
Recensenten im Literarischen Centralblatt (1872 Sp. 825) zu
erklären, dass es an der Zeit wäre, ,dass die österreichische
Regierung das Archivwesen energisch in die Hand nähme, um
von der Geschichte des Landes ob der Enns zu retten, was
noch zu retten istJ
Zimm ermann. lieber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie. 33
Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s
Philosophie.
Yon
Dr. Robert Zimmermann,
wirklichem Mitgliede der kais. Akademie der Wissenschaften.
Der zufällige Umstand, dass der erste Vortrag in der
ersten Sitzung des neubegonnenen Jahres die Harmonielehre
behandelt, mag vielleicht als günstiges Vorzeichen angesehen
werden. Zwar betrifft derselbe weder ihren ästhetischen Werth
für die Kunst, wofür in der Akademie überhaupt, noch ihre
physicalisch-acustisehen Bedingungen, für welche in dieser
Classe kaum der passende Ort wäre. Dagegen darf die
selbe wol, insofern sie in der Geschichte der Philosophie
Einfluss auf die letztere übend sich zeigt, auf eine Stelle in
den Abhandlungen der philosophisch-historischen Abtheilung
Anspruch machen.
Allerdings ist die Betrachtung dieses Einflusses weder
neu, noch der Einfluss selbst neuerlich. Derselbe weicht,
sei es im Morgen-, sei es im Abendland, in die älteste Zeit
zurück. In dem um 500 v. Chr. verfassten Buche des Tso-
Kiu-Ming, eines Schülersund Freundes des Kong-Fu-Tse, werden
die fünf Töne der alten chinesischen Tonscala mit den fünf
Elementen ihrer Naturphilosophie (Wasser, Feuer, Holz, Metall
und Erde) verglichen. Im griechischen Alterthum ist der Ein
fluss der Musik auf das System der pythagoräischen Schule stets
anerkannt worden. Die von dem Gründer derselben angeblich
entdeckten harmonischen Intervalle haben nicht bloss zu der
sogenannten Musik der Sphären, d. h. zu der Voraussetzung
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. LXXIII. Bd. I. Hft. 3
34
Zimmefmann.
analoger harmonischer Verhältnisse zwischen den Abständen
der Weltkörper Veranlassung gegeben, sondern scheinen auch
durch ihre Einfachheit und ihre Bildung aus der ersten Decade
der natürlichen Zahlenreihe zu der wichtigen Stelle, welche
die letztere in der Kosmologie jener Schule spielt, nicht wenig
beigetragen zu haben. Die später von Plato adoptirte Er
klärung der Tugend als einer Harmonie, so wie die von diesem
dem Pythagoräer Simmias in den Mund gelegte Behauptung,
dass sich die Seele zum Körper wie die musikalische Harmonie
zu den Saiten verhalte, sind Beweis genug, Welches Gewicht
seitens der Schule den wohlklingenden Tonverhältnissen nicht
blos für die Lehre von der Welt, sondern auch für jene vom
Menschen in ethischer nicht weniger, wie in psychologischer
Hinsicht beigemessen worden sei.
Der Zweck dieses Vortrages ist, darzuthun, dass unter
den neuern hervorragenden Denkern ein ähnlicher Einfluss
der Tonlehre auf Ethik und Psychologie bei Herbart stattfinde.
Derart, dass man sagen kann, dieser Denker, der bekanntlich
selbst ausübender Tonkünstler und theoretischer Musikgelehrter
war, nicht nur virtuos Clavier spielte, sondern sich auch nicht
ohne Glück im Componiren versuchte, 1 sei durch die Musik
und zwar durch die Harmonielehre auf die grundlegende
Idee sowohl seiner Seelen- wie seiner Sittenlehre theils ge
bracht, theils in derselben bestärkt worden.
Es ist längst anerkannt, dass das Charakteristische der
Psychologie Herbart’s nicht sowohl in seiner Beiseitesetzung
der herkömmlichen Theorie der Seelenvermögen, in welcher
Hinsicht er mit der Schule der Empiristen und Sensualisten,
mit Locke, Condillac und unter den Deutschen mit Beneke in
gleicher Richtung sich bewegt, sondern in der ihm eigen-
thümlichen Anwendung der Mathematik auf Psychologie liege.
Indem er versucht, die einzelnen Elemente des Seelenlebens, die
Vorstellungen, als Kräfte anzusehen, die, durch die Einheit des
Bewusstseins genöthigt, in Wechselwirkung treten, ergibt sich
ihm die Aussicht auf eine Statik und Mechanik des Geistes-
1 Im Jahre 1806 erschien eine Sonate von ihm im Stich, die er seinen
Freunden, dem Uebersetzer des Ariost, Gries, und dem Philosophen
Fr. Koppen widmete.
Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart's Philosophie.
35
lebens, welche mit jener der Körperwelt das Gemeinsame hat,
dass mit Berücksichtigung gewisser durch die Natur der Sache
gebotener Abweichungen die allgemeinen mathematisch formu-
lirten Naturgesetze auf dieselbe Anwendung finden. Die ersten
Anfänge dieser Theorie fallen, wie man aus seinem eigenen
Bekenntnisse weiss, in eine sehr frühe Zeit. In der 18.11 abge
fassten Abhandlung: Psychologische Bemerkungen zur Tonlehre
(S. W. VII. Band) sagt er (S. 25), dass er die psychologischen
Grundformeln vom allgemeinsten Gebrauch, auf welche seine
ganze Theorie gebaut sei, schon sechs Jahre früher besessen
und zu mancherlei Untersuchungen angewendet habe, ehe
es ihm gelungen sei, von ihrer Anwendung auf Musik die
ersten Anfänge zu entdecken. Da er in den um 1808 er
schienenen ,Hauptpunkten* der Metaphysik (S. W. III. S. 46)
diese Anwendung bereits vorzulegen im Stande war, so muss
die Entdeckung obiger Grundformeln mindestens in das Jahr
1800, eher noch weiter zurückgeschoben werden, zu einem
Zeitpunkt, wo er das 26. Lebensjahr noch nicht überschritten
hatte. Steht es durch obige Erklärung fest, dass er nicht
durch die Tonlehre auf deren Entdeckung geführt wurde, so
lässt die Art, wie er in den Hauptpunkten und noch mehr in
den psychologischen Bemerkungen zur Tonlehre von der
letzteren spricht, keinen Zweifel übrig, dass er durch dieselbe
im Vertrauen auf die Richtigkeit obiger Grundformeln endgiltig
bestärkt und zu dem Entschlüsse vermocht wurde, mit den
selben als Basis einer neuen und besseren Psychologie als die
seiner Vorgänger und Zeitgenossen, vor das Publicum zu treten.
Er selbst nennt die Tonlehre die empirische Bestätigung
seiner a priori construirten psychologischen Theorie. Wenn er
in den Hauptpunkten der Metaphysik, nachdem er in §. 13
die ,Elemente einer berechtigten Psychologie* entwickelt hat,
nach ,Anwendungen* fragt, so ,bietet sich die Tonlinie dar*
(III. S. 46). In den psychologischen Bemerkungen zur Ton-
lelire bekennt er (VII. S. 6), dass die Tonlehre ihm interessanter
wurde, als er seine psychologischen Bemerkungen auf sie aus
dehnen lernte und neue Aufschlüsse erhielt, die, wenn er nicht
irre, dieser selbst die erwünschteste Bestätigung gewährten. Und
noch nahe dem Schlüsse seines Lebens, in dem nur zwei Jahre
vor seinem Tode veröffentlichten ersten Hefte seiner psycho-
3*
36
Z i in m e r ra a n n.
logischen Untersuchungen (VII. 193) erklärt er die Tonlehre
für einen der ,vesten Punkte' in der Erfahrung, deren jede
a priori construirte Theorie zur Bestätigung bedarf, wenn sie
nicht ,als ein Hirngespinnst, wie es viele gibt', erscheinen soll.
An derselben Stelle erkennt er der Tonlehre vor andern
festen Punkten, die mit seiner Lehre Zusammentreffen, den
Vorzug zu. Denn während es der Bestätigungen durch die Er
fahrung viele und mancherlei gebe, seien sie doch nicht alle
von gleichem Werthe, weil in vielen anderen Fällen die (a
priori gefundenen) Lehren der Psychologie bestimmter lauten,
als dasjenige sich beobachten lässt, was in der Erfahrung mit
ihnen Zusammentreffen soll. Vielmehr sei dasselbe so schwan
kend, zerfliessend und vieldeutig, dass für die Vergleichung
keine sicheren Resultate gewonnen werden. Was würde es
nützen, meint er, wenn wir z. B. eine psychologische Lehre zur
Erklärung des Unterschiedes zwischen dem Bitteren, Süssen,
Gewürzhaften besässen? Diesen Unterschied, unabhängig von
aller Lehre, schon bloss thatsäcldich festzustellen, würde nicht
gelingen, man würde die Theorie mit keiner sichern Erfahrung
vergleichen können. Ganz anders verhalte es sich mit dem
Unterschiede zwischen einer Quarte, falschen Quinte, reinen
Quinte, deren jede von der andern so weit getrennt ist, dass
es lächerlich sein würde, hier von einer Gefahr der Verwechs
lung auch nur zu träumen; und zwar dergestalt getrennt, dass
lediglich das musikalische Denken, ohne leibliches Hören und
vollends ohne Theorie, hinreiche, um sie zu unterscheiden.
Schon hieraus erhellt, was ihm die Tonlehre leisten soll.
Wenn es gelingt, auf apriorischem Wege durch psychologische
Rechnung Werthe für die musikalischen Intervalle abzuleiten,
welche mit den empirisch bekannten der Tonlehre zusammen
stimmen, so liegt darin jene Bestätigung durch die Erfahrung,
welche jede apriorisch construirte Theorie, also auch die seine,
sich wünschen muss. Die Intervalle der Quinte, Quarte, grossen
und kleinen Terz, sowie die übrigen im Umfange der Octave
gelegenen, bilden den Probstein der seiner Wissenschaft zu
Grunde gelegten psychologischen Grundformeln'. Es ist nicht
seine Meinung, dass nach der Methode der Erfahrungswissen
schaften jene als ,veste Punkte' Principien der Erklärung ab
geben sollen. Die Psychologie hat im Gegentheil in demjenigen
Ueber den Einfluss der Tonlebre auf Herbart’s Philosophie.
37
Gebiete, in welches er sich mit seinen Lehren versetzt, nicht
eigentlich (aus cler Erfahrung-) zu lernen; sondern sie lehrt
in Folge der Principien, die sie schon (vor aller Erfahrung)
hat. Auch geht ihre Lehre ohne allen Vergleich weiter, als bloss
auf die Tonkunst, die vielmehr ein sehr untergeordnetes Glied
für die Lehre im Ganzen genommen ist. Vielmehr haben obige
Intervalle, wenn sie aus den psychologischen Principien ge
funden werden, als Bürgschaft für die Verlässlichkeit dieser
selbst zu dienen; etwa wie das Eintreffen der Himmelskörper
an ihren vorausberechneten Orten zur Bestätigung der ihrer
Berechnung zu Grunde gelegten Hypothese dient. Auf einem,
wenngleich untergeordneterem, Gebiet empirisch bewährt, werden
die psychologischen Grundformeln auch auf anderen wichtigeren
Gebieten des psychischen Lebens sich Zutrauen erwerben.
Welches die Gebiete seien, gegen welche das der Ton
kunst als untergeordnet erscheine, wird unverkennbar ange
deutet. In den Hauptpunkten §. 13 (III. 45) nennt er das
Geschmacks-Urtheil vielleicht die grösste aller psychologischen
Aufgaben'. Damit sie nicht ,unberührt' bleibt, setzt er das
,Folgende' hinzu. Dieses nun ist nichts anderes als eben die
Entwicklung jener psychologischen Grundformeln, deren ,An
wendung' und Bestätigung die Tonlinie ausmacht. Hält man
damit zusammen, dass das ,Geschmacksurtheil' die Basis seiner
allgemeinen praktischen Philosophie bildet und letztere mit den
Hauptpunkten der Metaphysik in demselben Jahr (1808) erschien,
so springt der Zusammenhang der Tonlehre nicht nur mit
seiner Psychologie, sondern auch mit seiner Ethik in die
Augen. Es bedürfte nicht einmal der ausdrücklichen Ver
sicherung in den drei Jahre später geschriebenen psycholo
gischen Bemerkungen' zur Tonlehre (VII. 27), dass die vor
stehenden (die Tonlehre betreffenden) Untersuchungen uns tief
genug in unsere Seele blicken lassen, zwar keineswegs zu
einer erschöpfenden Kenntniss des vorgelegten (musikalisehen)
Gegenstandes, aber wohl dazu, um eine nützliche Ver
gleichung mit den Grundlehren der praktischen Philo
sophie darzubieten.
Um letztere also ist es ihm vornehmlich zu thun. Nur
insoweit die Grundlehren der Tonlehre nicht nur als ,fester
Punkt' in der Erfahrung ,eine Bestätigung' der a priori ge-
38
Zimm ermaun.
fundenen psychologischen Grundformeln darbieten, sondern
auch eine ,nützliche Vergleichung' mit den Grandlehren der prak
tischen Philosophie zulassen, vermögen sie ihm als Philosophen
Interesse einzuflössen. Worin diese Vergleichung- bestehe, wozu
sie ,nützen' soll, erhellt, wenn wir das Ergehniss jener Unter
suchungen über die Tonlehre und die Grundlage seiner prak
tischen Philosophie neben einander stellen. Als jenes bezeichnet
er: dass wir begreifen gelernt haben, dass und warum das
musikalische Wissen also beschaffen sein muss (wie es er-
fahrungsgemäss ist); dass und wie die verschiedenen Brechungen
der Töne einen verschiedenen Sinn der Intervalle ursprüng
lich ergeben (a. a. O. VII. 27). Es wird nur der Erinnerung
bedürfen, dass Herbart’s praktische Philosophie auf eine ge
schlossene Reihe ursprünglicher unter sich verschiedener
ästhetischer Willensverhältnisse sich gründet, um obige ,Ver
gleichung' weder ,fernliegend' noch ,zwecklos' zu linden.
Jene psychologischen Grundformeln, deren ,Anwendung'
die Tonlinie zeigen soll, sind in den Hauptpunkten u. s. w.
§. 13 in äusserster Knappheit entwickelt. ,Es seien zwei oder
mehrere Thätigkeiten desselben Wesens (die in ihm ohne
Zweifel zusammen sind) so beschaffen, dass sie einander
hemmen, nicht aber vernichten, noch verändern, demnach,
dass das Gehemmte als ein Streben fortdauere'. Das Gesagte
erlaubt sich dieselben unter dem Bilde in entgegengesetzter
Richtung wirkender Kräfte vorzustellen, in welchem Falle auch
keine derselben vernichtet oder verändert, sondern der Erfolg,
den jede für sich hervorgebracht haben würde, durch die an
dere aufgehoben wird. 11erbart folgert hieraus, wenn die Hem
mung vollkommen sei und unter den Thätigkeiten kein Unter
schied der Stärke stattlinde, so werde von je zweien eine ganz
gehemmt werden, die andere ganz ungehemmt bleiben. Da nun
kein Grund für eine oder die andere vorhanden sei, so vertheile
sich die Hemmung; jede werde halb gehemmt.
Diese Folgerung entspricht nicht dem obigen Bilde. Zwei
Kräfte gleicher Stärke in völlig entgegengesetzten Richtungen
wirksam, werden einander nicht halb, sondern jede die andere
ganz hemmen. Wird an dem Körper in 0, den eine beliebige
Kraft P in der Richtung Ox bewegt, eine der P gleiche
Kraft Q in der entgegengesetzten Richtung Oy angebracht, so
TJeber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart's Philosophie.
39
bleibt der Körper in Ruhe. Passender wäre es, die beiden ein
ander hemmenden Thätigkeiten unter dem Bilde mit gleicher
Geschwindigkeit in entgegengesetzter Richtung sich gegen ein
ander bewegender elastischer Kugeln vorzustellen, die, in der
Mitte ihrer Distanz Zusammentreffend einander gegenseitig in
Ruhe versetzen. Die Summe der in Folge der Gegensätze der
Richtungen verlorengehenden Geschwindigkeiten (die Hemmungs
summe) ist der ursprünglichen Geschwindigkeit jeder von
beiden gleich; die Hemmung, die jede erfährt, gleich der Hälfte
ihrer ursprünglichen Geschwindigkeit; der Rest ihres Be
wegungserfolges nur die Hälfte der Distanz, welche sie ohne
die andere zurückgelegt haben würde.
Die Grössen, die hier eintreten, werden eine Veränderung
erleiden, wenn der Grad der Hemmung und die Stärke der
Hemmenden eine solche erfährt. Auch bei obigen Kugeln
würde Solches der Fall sein, wenn das Verhältniss ihrer Ge
schwindigkeiten oder (was unmöglich ist) das Verhältniss ihrer
Richtungen ein anderes würde. Herbart legt sich die Frage
vor: wenn mehrere Thätigkeiten a. b, c, cl ... . m, n gegeben
seien und n von allen die stärkste sei, wie gross die Summe
der Hemmung (HS) werde ausfallen müssen? Für vollkommene
Hemmung ist dieselbe nach ihm
HS = a J rb- s rc~\-....-\-m.
,Denn sollte n ganz ungehemmt bleiben, so müssten a, b,
c ... . m ganz gehemmt werden; was sie gewinnen, muss n
verlieren/ Bei unvollkommener Hemmung, so weit sie bei
mehreren die nämliche sei, müsse ein gemeinschaftlicher Divisor
der Summe der Hemmung beigelegt, für ein Hinderniss, das
die Thätigkeiten im Allgemeinen, aber keine insbesondere trifft
(z. B. Unaufgelegtheit aus physiologischen Ursachen), der Summe
eine Grösse addirt werden. Es kann nun unmöglich ange
nommen werden, dass die stärkste aller vorhandenen Thätig
keiten ungeachtet ihrer Ueberlegenlieit von diesen gar keine
Rückwirkung erfahre; vielmehr ist zu erwarten, dass auch sie
etwas verlieren werde, was nothwendig die andern gewinnen
müssen. Ist es nun von höchstem Interesse, die Regel zu ent
decken, nach welcher die Hemmungssumme d. i. der Gesammt-
verlust sich auf die einzelnen Thätigkeiten (die Theilnehmer
des Verlustcapitals) vertheilt, so muss vor allem das Verhältniss
40
Zimmermann.
erforscht werden, in welchem die einzelnen Thätigkeiten einander
hemmen. ,Jede stemmt sich auf gleiche Weise gegen alle; die
schwächeren weichen am meisten; weichen aber nur, indem sie
wirken; wirken desswegen verhältnissmässig am meisten; die
Thätigkeiten hemmen einander daher im umgekehrten Ver
hältnisse ihrer Stärke.'
Dazu gibt Herbart folgendes Beispiel. Wäre die Stärke
dreier Vorstellungen auszudrücken durch die Zahlen I, II, III,
so sind dem Obigen zufolge die Hemmungsverhältnisse in der
selben Ordnung
1 1 1
1? 2? 3
oder:
6, 3, 2
die Hemmungssumme aber, da III die stärkste, I die schwächste
von allen dreien ist, = I + H = 3.
Um nun den Antheil jeder einzelnen Thätigkeit an der
selben zu finden, hat man nur zu beachten, dass, da jede
Thätigkeit desto weniger gehemmt wird, je stärker sie ist, das
Verhältniss zwischen der ganzen und dem Antheil jeder ein
zelnen an der Hemmungssumme das nämliche sein muss, wie
das zwischen der Summe aller Hemmungsverhältnisszahlen und
jeder einzelnen derselben. Daher
6 + 3 + 2:6 = I + H:£c
6 + 34-2:3 = 1 + II : y
6 + 3 + 2:2 = 1 + 11 : z
woraus folgt
rp i± ,, _? JL
^ — ii > y — ui' 4 —■ 11 ?
welche Verlustantheile von der ursprünglichen Stärke I, II, III
subtrahirt werden müssen, um ihre nach geschehener Hem
mung übriggebliebene Stärke zu erhalten. Nun tritt hier das
Auffallende ein, dass von der schwächsten jener Vorstellungen
I mehr gehemmt werden soll, als sie selbst beträgt; es ist aber
einleuchtend, dass von I nicht sondern nur I zu hemmen
ist, also gerade so viel, als es zur Hemmungssumme beiträgt. Es'
verschwindet für die Rechnung und das Uebrige der Hemmung
vertheilt sich unter die übrigen, wie wenn jenes gar nicht vor
handen wäre. Und zwar lässt der Punkt, jenseits dessen (unter
Voraussetzung vollkommener Hemmung) dieses Verschwinden
der schwächsten unter drei Thätigkeiten nothwendig eintreten
lieber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
41
muss, die von Herbart sogenannte Schwelle des Bewusstseins,
sich auf folgendem Wege finden:
Sind a, b, c drei einander vollkommen hemmende Thätig-
keiten verschiedener Stärke und ist c die stärkste derselben,
so ist nach Obigem die Hemmungssumme
HS = a + b,
sind die Hemmungsverhältnisse in der obigen Reihenfolge
1 1 1
a? b) c
oder:
6c, ac, ab;
folglich nach der Vertheilungsregel:
bc + ac + ab : bc = a + b : x
bc + ac + ab : ac = a + b : y
6c + ac + ab : ab = <x + b : z,
woraus sich die Verhältnisse ergeben:
. 6c (a + b)
bc + ac + ab
ac (a-\- b)
y = — ——
J bc + ac + ab
ab (a + b)
bc + ac + ab
und die nach geschehener Summirung zurückbleibenden Reste
a 2 (c + 6)
a — x — lir _._ ar + - ab
b -
6 2 (c~h a)
■ y = —
a- c
bc + ac + ab
(b + c) c 2 + abc — a (ab + b)
bc + ac + ab
sind. Setzt man nun den Rest der schwächsten der drei
so folgt
a == b
V
c
c + 6
als derjenige Werth von a, bei welchem dieses aus dem Be
wusstsein verschwinden muss.
‘Wird nun der Einfachheit halber
6 = c = 1
gesetzt, so geht obiger Werth in
«= VY= V}
' 2
2.2
V2
2
0*707
42
Z i rnrnerm anu.
oder a = 1 und b = c gesetzt in
d. i.
i = t>rv> = jrT
b = c= l r 2 = 1-414 ....
über. Davon nun macht Herbart nachstehende Anwendung: Man
setze, um den einfachsten Fall zu haben, ein Continuum von
Vorstellungen; so geartet, dass von einem beliebigen Punkte
aus der Gegensatz (die Fähigkeit zu hemmen), fortwährend
wachse, so lässt sich (a priori) Folgendes annehmen:
1. Vorstellungen auf zwei nächsten Punkten der Linie,
werden einander fast gleich sein, sich sehr wenig hemmen,
sondern beinahe nur verstärken. Wo der Gegensatz wächst,
muss die Verstärkung abnehmen. Geht das so fort, so kommt
irgend ein Punkt, wo die Verstärkung ganz aufhört, und reiner
Gegensatz eintritt. Von diesem zweiten Punkte aus wiederholt
sich das Vorige bis zu einem dritten Punkte des reinen Gegen
satzes. So nach beiden Seiten der Linie hin unbestimmt fort.
2. Jetzt werde die Distanz zwischen je zwei nächsten
Punkten des vollen Gegensatzes näher betrachtet. Gerade in der
Mitte muss Verstärkung und Gegensatz gleich sein — so dass
wegen der Verstärkung jede Vorstellung die andere eben so
sehr hervortreibt, als sie wegen des Gegensatzes dieselbe hemmt.
Der Punkt der grössten Unruhe.
3. Zwischen diesen drei Punkten u. zw. sowohl zwischen
dem Punkte völliger Verstärkung (Gleichheit) und dem der
Gleichheit zwischen Hemmung und Verstärkung, wie zwischen
diesem und dem Punkte völliger Hemmung, lassen sich (gleich
falls a priori) weitere Punkte fixiren:
Um von dem Punkte reiner völliger Gleichheit (Ver
stärkung ohne Hemmung) zu dem Punkte, wo Hemmung und Ver
stärkung einander gleichen, überzugehen, muss die Verstärkung
bis zu dem Grade abgenommen (oder was dasselbe ist, der
Gegensatz zugenommen) haben, dass die Hemmung merklich,
d.h.dass eine Vorstellung von der andern unterscheidbar wird.
Die Unterscheidung tritt dann ein, wenn ,die Vorstellungen als
reine (d. i. vor dem Hemmungsprocesse) sich halten können
im Bewusstsein neben ihnen selbst als modificirt durch die
Verstärkung d. h. wo sich die reinen zu den modificirten ver-
TJeber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
43
halten wie 1 : j/2 (nach der obigen Scliwellenrechnung). Unter-
dieser Voraussetzung nämlich sind die Vorstellungen als reine
noch nicht verschwunden, obgleich am Verschwinden; die
Unterscheidung derselben von ihnen selbst, wie sie nach der
Wechselwirkung durch Verstärkung geworden sind, ist noch
möglich. Die Gleichheit beider Vorstellungen ist dabei nur
Eine, dagegen ihr Gegensatz vielfach, indem jeder conträre
Gegensatz wegen des Eigenthümlichen jeder Vorstellung zwei
contradictorische Gegensätze in sich schliesst. Von jener nun
geht die Nöthigung zum Einswerden, die sich deshalb auf jede
(der beiden) Vorstellungen gleich vertheilt, von diesen das
Streben des Auseinanderhaltens aus, das jeder Vorstellung als
solcher angehört. So sind vier Grössen in der Rechnung, die
beiden Gegensätze und die beiden Hälften der Gleichheit, von
denen sowohl die ersten als die letzten ein Paar gleicher
Grössen ausmachen. Hier können nun folgende Fälle statt-
tinden, deren Folgen aus obiger Schwellenrechnung sich ergeben,
wenn sie statt auf drei, auf vier einander hemmende Thätig-
keiten ausgedehnt wird. Stellen nämlich A = B die beiden
Vorstellungen, a = b die beiden Gegensätze und c = d die
beiden Hälften der Gleichheit dar, so wird
I. die Formel
A + c:A=\/ 2 : 1 1
B + c:B=]/2: 1 I
U414
: 1
den Punkt darstellen der reinen Unterscheidbarkeit;
II. die Formel
a : c = 1 : j/2
b : d = 1 : j/2
1 : 1-414. . . .
wird den Fall ausdrücken, wo die blossen Geg-ensätze zu der
halben Gleichheit das Verhältniss gewinnen, welches zum Ein
tritt ins Bewusstsein nothwendig ist;
III. die Formel a = b — c = cl oder a : c = 1:1
b: d = 1:1
wird den Fall ausdrücken,
Gleichheit gleichen;
IV. die Formel
a : c = 1
b:d = \
wo die Gegensätze den Hälften der
1 : 0-707
44
Zimmermann.
den Fall, wo die Hälften der Gleichheit gegen die Gegensätze
unter die Schwelle sinken;
V. die Formel
den Fall, wo der ganze Gegensatz der ganzen Gleichheit
gleicht und
VI. die Formel
den Fall, wo der ganze Gegensatz die ganze Gleichheit über
wältigt.
Fänden sich nun in der Erfahrung Verhältnisse, welche
den auf diese Weise apriorisch gefundenen, zwischen je zwei
Punkten vollkommener Verstärkung oder vollkommener Hem
mung gelegenen Einschnitten entsprächen, so wäre die Be
stätigung der psychologischen Grundformeln, aus welchen die
selben gewonnen wurden, hergestellt. Herbart zeigt, dass dies
bei der Tonlinie der Fall sei. Auf dieser kann nämlich von
jedem beliebigen Tone aus continuirlich bis zu einem von
demselben nur durch die Verdoppelung der Schwingungszahl
verschiedenen Punkte fortgeschritten, dieselbe kann von jedem
beliebigen Grundton aus in beliebig viele Octaven nach vor- und
rückwärts zerlegt werden.
Dieser Umstand lässt vermuthen, dass der Punkt vollen
Gegensatzes mit der Octave zusammenfallen werde. (Also
genau so, wie es bei dem Punkte vollen Gegensatzes voraus
gesetzt worden.) In der Mitte der Octave bei der falschen
Quinte findet die grösste Disharmonie, wie in der apriorisch
construirten Reihe in der Hälfte der Distanz zwischen dem
Punkte völliger Verstärkung und völliger Hemmung die ,grösste
Unruhe' statt. Nimmt man statt der mathematischen Verhält
nisse der Secunde, der grossen und kleinen Terz, der Quarte,
der Quinte, deren Logarithmen und dividirt durch diese, den
Logarithmus der Octave, so erhält man nach der Reihe die
Werth e:
log 2 : log | = 5-885
log 2: log | = 3-8018
TJeber den Einfluss der Tonlelire auf Herflart’s Pliilosophie.
45
log 2 : log | = 3 - 1060
log 2 : log | = 2-4096
log 2 : log | = 1-7095,
welche ausdrücken, wie vielmal der Gegensatz jedes einzelnen
Intervalles in dem vollen Gegensatz der ganzen Octave ent
halten ist. Dass man die Logarithmen statt der Schwingungs
zahlen seihst nimmt, erklärt sich daraus, dass man es mit
Empfindungen, nicht mit den Schwingungen selbst zu thun
hat, und dass jene eine arithmetische Reihe bilden, während
diese eine geometrische darstellen, eine apriorisch entdeckte
Thesis Herbart’s, welche durch das von E. H. Weber auf
empirischem Wege gefundene, und von Rechner adoptirte Gesetz,
dass sich die Empfindungen verhalten, wie die Logarithmen der
Reize, bestätigt worden ist. Der Gegensatz beider Töne beträgt
bei der Secunde
1
5 • 8 8 5
von der ganzen Tonempfindung, folglich die Gleichheit
Davon die Hälfte oder f-lfff zu jeder ganzen Vorstellung addirt,
'gibt das Verhältniss
8-327 :5-885.
oder nahezu
1/2:1,
wie es nach der Vorhersagung zwischen der modificirten und
der reinen Vorstellung stattfinden soll. Das wirkliche Verhältniss
wäre 8"340 : 5.885. Der Punkt der Unterscheidbarkeit fällt
daher in die Nähe der Secunde.
Für die kleine Terz ist der Werth = 3‘8018, folglich jeder
der Gegensätze = y-soTS, daher die Gleichheit = J| und
deren Hälfte = die sich zu ersteren verhält wie
1-4009: 1
also abermals nahe wie
]/2 :1 = (1-414 ....: T)
Die kleine Terz fällt daher mit II, wie die Secunde mit I zu
sammen.
Für die grosse Terz beträgt der Gegensatz g^ 1 —, die
Gleichheit daher y|yf| und die halbe Gleichheit -; die
halbe Gleichheit verhält sich daher zum Gegensatz wie
1 : 1-0531,
46
Z i in m e r in a n n.
also nahezu wie
wie es nach III sein soll.
1:1,
Für die Quarte gibt der Werth 2'4096 die Gegensätze
— »vrWc un d die halbe Gleichheit = 07048, folglich das Ver-
hältniss derselben zum Gegensätze wie
0-7048:1
t/2~
oder nahezu wie 1, was mit IV übereinstimmt. V fällt
mit der falschen, VI aber mit der echten Quinte zusammen;
denn da der Gegensatz bei letzterer = 1 . 7 * 96> die ganze Gleich
heit — 7
neu — j • 7 o o 5
Gegensatz wie
also nahe wie
ist, so verhält sich die ganze Gleichheit zum
07075 : 1
y2
~ :1 = (0707:1).
u
Bei dieser Theorie mag es befremdlich erscheinen, dasst
die Punkte des grössten Gegensatzes gerade dahin fallen,
wo erfahrungsgemäss die vollkommenste Consonanz zu finden
ist, in die Gegend der Octave und der reinen Quinte. Man
möchte das Gegentheil erwarten. Den Grund dieser Erscheinung
sehen die psychologischen Bemerkungen zur Tonlehre (VII. 9)
darin, dass dem Quantum Gleichheit ein ebenso grosses
Quantum Nöthigung zum Einswerden, dem Quantum Gegensatz
ein ebenso grosses Quantum Widerstrebens gegen das Eins
werden entspreche. Der volle und reine Gegensatz (die Octave)
kenne keine solche Nöthigung, die Qiiinte überwinde die
selbe vollkommen und trete dadurch der Octave am nächsten.
Diese Bemerkung erstickt obiges Bedenken nicht, sondern
umschreibt es nur. Denn nicht darin, dass der Gegensatz dem
Einswerden widerstrebt, liegt das Auffallende für die natürliche
Erwartung, sondern dass gerade diese Punkte des lebhaftesten
Widerstrebens gegen das Einswerden mit den Intervallen der
vollkommensten Harmonie Zusammentreffen sollen. Wer von
der Harmonie die Vorstellung mitbringt, dass sie der Einklang
der Gegensätze sei, würde es begreiflicher finden, wenn die
Punkte des vollen Gegensatzes mit der Disharmonie zusammen-
Uelier den Einfluss flor Tonlelire auf Herbart’s Philosophie.
47
fielen. Auch macht Herbart selbst sich den treffenden Einwurf
(a. a. 0.), dass Septimen und Sexten ebenfalls die nämliche
Nöthigung (zum Einswerden wie die Quinte) überwinden,
wodurch obiger Unterschied disharmonischer und harmonischer
Intervalle aufgehoben zu werden scheint. Er entkräftet den
selben, indem er die Septimen als umgekehrte Secunden und
die Sexten als ebensolche Terzen betrachtet.
Doch liegt der wahre Grund anderswo. Der springende
Punkt der Theorie ist die Betrachtung der Octave als des
Punktes voller Hemmung. Die Aehnlichkeit der Tonlinie mit
dem apriorischen Schema eines ,Continuums von Vorstellungen,
das so geartet sei, dass von einem beliebigen Punkte aus der
Gegensatz (die Fähigkeit zu hemmen) beständig wächst' (III. 45),
wurzelt dai’in, dass jene ,von jedem beliebigen Punkte aus in
eine unbestimmte Menge von Octaven eingetheilt werden kann',
und dieses ,sieh zerlegen lässt in eine unbestimmbare Anzahl
bestimmter Distanzen, denen die volle Hemmung zugehört'.
(VII. 9). Diese sich wiederholenden Punkte des reinen Gegen
satzes sind es, welche, wie Herbart sich ausdrückt, von den
Octaven der Tonlinie sogleich sich ,zugeeignet' werden. Ihre
Berechtigung dazu werde schon dadurch ,höchst wahr
scheinlich', weil die Octave unter allen Intervallen am
wenigsten Effect mache, eigentlich gar keinen, als nur den,
dass sie zwei sehr leicht zu unterscheidende Töne hören lasse.
Das aber müsse gerade bei voller Hemmung der Fall sein,
weil da kein Streit zwischen dem Einswerden und den Ges-en-
o
Sätzen stattfinde. Darin, dass ,volle Hemmung' am wenigsten
,Effect' mache, liegt nun allerdings nichts Befremdendes; desto
mehr in dem Umstand, dass die Octave, ,die gar keinen' macht,
zugleich die vollkommenste Consonanz nach Herbart’s eigenen
(VII. 11) und nach den Worten von Helmholtz (Lehre von
den Tonempfindungen S. 287) eine ,absolute' Consonanz sein soll!
Zugestanden werden muss: wenn es ein Continuum der
geschilderten Art wirklich gibt, dem die Tonlinie gleicht, so
hat kein Punkt auf der letzteren grösseren Anspruch, mit dem
Punkt völliger Hemmung airf der erstem zusammengestellt zu
werden, als die Octave. Dasselbe wird in den psychologischen
Bemerkungen (VII. 8) folgendermassen geschildert. In einem
Continuum von Vorstellungen müsse es unendlich nahe Vor-
48
Zfimmerm ann.
Ii
Stellungen geben, die sich also unendlich wenig liemmen. Da
bei allmäligem Fortschreiten auf einem Continuum nirgends
ein Sprung stattlinden könne, so müssten alle mittleren Ueber-
gänge von unendlich kleiner zu völliger Hemmung Vorkommen.
Folglich auch letztere selbst; denn gehe irgendwo die unend
lich geringe Hemmung unendlich naher über in einen end
lichen Hemmungsgrad, welcher = -j- der völligen Hemmung sei,
so werde das Intervall, das diesem Hemmungsgrad entspricht,
nmal genommen die volle Hemmung ergeben.
Nach diesen Worten muss man erwarten, dass zwischen
der ,unendlich geringen' und der ,völligen' Hemmung, da ,kein
Sprung' stattfinden darf, unendlich viele verschiedene Hem
mungsgrade gegeben seien. In der That wird die Tonlinie, wie
(psychologisch genommen) jedes Continuum, als unendlich theil-
bar bezeichnet. Dieselbe geht ,auch' zu beiden Seiten unbestimmt
fort, so dass sie gleich der Zeitlinie die zweifache Unendlich
keit nach beiden Seiten besitzt, obgleich alle in der sinnlichen
Erfahrung vorkommenden Töne in einer gewissen nicht genau
begrenzten Strecke liegen. Wie aus dem ,auch' hervorzugehen
scheint, wird diese unbestimmte Fortsetzung der Tonlinie nach
beiden Seiten über den Punkt völliger Gleichheit und völligen
Gegensatzes (Prime und Octave) hinaus, von dem ,Continuum'
zwischen diesen beiden (den Tönen innerhalb derselben
Octave) ausdrücklich unterschieden. Jene zerfällt in eine
,unbestimmbare Anzahl' bestimmter Distanzen, denen die volle
Hemmung zugehört (unbestimmt vieler Octaven); dieses müsste
als ,unendlich theilbar' eine unendliche Menge von Gliedern
enthalten, die den unendlich vielen Graden der Hemmung, die
zwischen der ,unendlich geringen' und völligen Hemmung
liegen können, entsprächen (unendlich viele Töne innerhalb
derselben Octave). Hier zeigt sich die Abweichung. Die Töne
innerhalb derselben Octave bilden im obigen Sinne kein Con
tinuum. Zwischen dem Grundton nnd seiner Octave liegt
keine weder ,unendliche' noch ,unbestimmte', sondern eine
vollkommen bestimmte, endliche Anzahl von Tönen. Wenigstens
gelten diejenigen Schälle, deren Schwingungszahlen nicht in
einem der acht oder (nach Helmholtz a. a. O. S. 286) 15
bekannten Verhältnisse stehen, in musikalischem Sinne für
keine Töne mein - , und dürfen auch die ihnen etwa ent-
lieber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
49
sprechenden Gehörsempfindungen für keine wirklichen ,Ton
empfindungen' angesehen werden. Von ,unendlicher Theilbar-
lceit' wie bei obigem Continuum, kann daher nicht die Rede
sein. Ebensowenig davon, dass jedem Punkt eines aus unendlich
vielen Gliedern bestehenden Continuums ein solcher einer aus
einer endlichen Anzahl von Gliedern bestehenden discontinuir-
lichen Reihe (wie die Töne einer Octave) correspondiren könne,
ja müsse.
Auf letztere Annahme jedoch ist die Behauptung gebaut,
dass dem Punkt völliger Hemmung die Octave entspreche.
Nur dann, wenn jedem Punkte des Continuums unendlich
vieler verschiedener Plemmungsgrade ein Punkt innerhalb der
Tonreihe einer Octave entspricht, ist es mehr als wahrscheinlich,
dass dem letzten Punkte des ersteren, welches natürlich der
Ort völliger Hemmung ist, auch der letzte der letzteren, die
Octave, correspondire. Fällt jene Annahme, wie sie denn fallen
muss, wenn das obige Continuum unendlich viele, die Tonreihe
innerhalb einer Octave aber nur eine endliche Anzahl von
Gliedern zählt, so ist über den Ort des Continuums, auf welchen
das letzte Glied des Discontinuums fallen müsse, nichts auszu
machen.
Wenn die Octaven nach dem oben angeführten Ausdruck
,sogleich' jene sich wiederholenden Punkte des vollen Gegen
satzes und der völligen Hemmung sich ,zueignen', so sind sie
von dem Tadel der Voreiligkeit nicht freizusprechen. Auf dieser
Besitznahme beruht alles Folgende. Die auffallende Ueberein-
stinnnung zwischen den im Voraus berechneten und den that-
sächlich bestehenden Verhältnisszahlen der Intervalle hat nichts
Ueberraschendes, wenn die Octave wirklich, wie angenommen,
der ,volle und reine Gegensatz' ist. Denn die anscheinend
gewagte Beseitigung der geometrischen Reihe der Intervalle
und deren Ersatz durch die arithmetische der Empfindungen,
die Rechnung statt mit den Zahlen der Schwingungsverhältnisse,
mit deren Logarithmen ist zwar von Anhängern Herbart’s
(s. Resl: Bedeutung der Reihenreproduction für die Bild, psychol.
Begriffe und ästhetischer Urtheile. Gymn. Progr. v. Czernowitz
1856 u. 57 Ztschr. f. ex. Philos. VI. S. 146—190 u. 225—252)
bestritten, von Ändern jedoch (Drobisch, vergl. dessen Brief
an den Obeng. v. 11. Aug. 1857. Abgedr. im Gymn. Progr.
Sitzungstor. il. pliil.-hist. CI. LXXUI. Bd. I. Hft. 4
50
Zimmer mann.
v. Czernowitz f. d. J. 1872. S. 70) vertheidigt und durch
Weher’s Gesetz und Fechner’s Psychophysik auch empirisch
bestätigt worden. Der Quotient des Logarithmus der Octave
durch die Logarithmen der Intervalle stellt jedoch erst dann
den jedem einzelnen Intervall zugehörigen Gegensatz dar,
wenn der ganze Gegensatz des Intervalls die Octave selbst
darstellt.
Den Punkt völliger Hemmung einmal mit der Octave
identificirt, wird die Reihe der Töne innerhalb der Octave nach
einem Princip construirt, welches von jenem, nach welchem der
Punkt vollen Gegensatzes gefunden wurde, nicht unwesentlich
unterschieden ist. Der Punkt völliger Hemmung wurde nach
dem Axiom postulirt, dass in einem Continuum bei allmälig
wachsendem Gegensätze und abnehmender Verstärkung ein
Punkt ,kommen müsse, wo die Verstärkung aufhört und reiner
Gegensatz eintritt'. Wann dieser Punkt kommen werde, wird
nicht gesagt; es geht aber aus dem gebrauchten Ausdrucke
,allmälig' und noch mehr aus dem Zusatz der ,psychol. Bemerk.'
(a. a. 0. S. 9), dass in der Reihe der wachsenden Hemmung
,kein Sprung' Vorkommen dürfe und ,alle mittlern Uebergänge'
von ,unendlich kleiner zu völliger Hemmung' Vorkommen
müssten, mehr als deutlich hervor, dass man denselben erst
nach Ablauf sämmtlicher Punkte, deren Hemmungsgrade
zwischen ,unendlich kleiner' und ,völliger' Hemmung liegen,
zu erwarten habe.
Wie viele werden das sein? Der Mathematiker wird
ohne Bedenken antworten: unendlich viele, weil ein stetiges
Wachsen des Hemmungsgrades von unendlich kleiner bis zu
vollkommener Hemmung unendlich viele Grade verlangt. Die
Punkte unendlich kleiner und völliger Hemmung sind wie die
beiden Grenzpunkte einer stetigen (Raum- oder Zeit-) Linie an
zusehen, zwischen welchen unendlich viele Punkte in allmälig
wachsender Entfernung vom Anfangspunkte gelegen sind. Die
in §. 13 der Hauptp. d. M. entwickelte Theorie aber kennt
deren nur endlich viele, und zwar diejenigen, welche, wie
später gezeigt wird, mit den Tonintervallen der falschen Quinte,
der Secunde, kleinen und grossen Terz, der Quarte und reinen
Quinte zusammenfallen. Sollten dieselben daher ein ,Continuum'
darstellen, so muss dieses von einem Continuum im obigen
Uefler den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
51
(mathematischen) Sinne ganz verschieden sein. Das ,allmälige
Wachsen vom Grade unendlich kleiner zu jenem völliger Hem
mung' kann, wenn es überhaupt stattfindet, nicht in dem Sinne
gemeint sein, dass darin jeder der unendlich vielen zwischen
,unendlich klein 1 und ,völlig 1 gelegenen Hemmungsgrade ver
treten sei.
Welches nun ist der Sinn dieses ,neuen 1 Continuums?
Derselbe liegt der ausserordentlichen Kürze der Darstellung
wegen in den Idauptp. d. Met. nicht so offen vor Augen, als
es wünschenswerth wäre; mit Hilfe der in den psychologischen
Bemerkungen zur Tonlinie gegebenen Erläuterungen, ergibt
sich derselbe mit genügender Deutlichkeit. Das Ziel der
Theorie ist eine erschöpfende Aufzählung aller in Beziehung
auf das Verhältniss zwischen Verstärkung und Gegensatz über
haupt möglichen Fälle, und sie versucht dasselbe mittelst einer
vollständigen logischen Eintheilung, zwischen deren je zwei
auf einander folgenden Gliedern ,kein (logischer) Sprung 1
stattfindet, zu erreichen.
Nimmt man nämlich an, der Gegensatz (dessen Wirkung
die Hemmung) wachse in demselben Grade, als die Gleichheit
(deren Wirkung die Verstärkung ist) abnimmt, und bedenkt
man, dass die letztere für beide (einander hemmenden und ver
stärkenden) Vorstellungen nur eine, also auf beide zu gleichen
Hälften vertheilt ist, die Gegensätze aber jeder von beiden eigen-
thümlich sind, so hat man folgende Grössen in der Rechnung:
die ganze Gleichheit; die Summe der Gegensätze; zwei
Hälften der Gleichheit und die beiden (einzelnen) Gegensätze.
Zieht man nun in Betracht, dass der Gegensatz die Ursache
der Hemmung und die Reihe von unendlich kleiner bis zu
völliger Hemmung fortzusetzen ist, so ergibt sich Folgendes:
Im Anfänge sind beide Vorstellungen nicht zu unter
scheiden. Die Unterscheidbarkeit tritt ein, wo die Vorstellungen
als ,reine 1 sich halten können im Bewusstsein, d. h. eben auf
der Schwelle sind, neben ihnen selbst als modificirt durch die
Verstärkung. Die Hemmung beider Vorstellungen ist hier un
endlich klein 1 ; ihre Gegensätze sind fast unwirksam (unter der
Schwelle!); nur die beiden Hälften der Gleichheit rufen als
wirksam Verstärkung beider Vorstellungen hervor (Vgl. oben I).
Die Summe der Gegensätze ist hier unwirksam; die ganze
4*
52
Zimmerman n.
;wi
■y
i
ii
I
i
!Ü
I
I
I
i
,
m
.*'1
Gleichheit allein wirksam. Diesem entgegen steht ein Fall, wo
sowohl die Summe der Gegensätze (der ganze Gegensatz) als
die Summe der halben Gleichheiten (die ganze Gleichheit)
wirksam und einander gewachsen sind (Vgl. oben V), und
ein anderer, wo als Umkehrung des ersten die Summe der
Gegensätze (der ganze Gegensatz) allein wirksam, die Summe
der halben Gleichheiten (die ganze Gleichheit) unwirksam ist
(Vgl. oben VI).
Man ziehe nun statt wie bisher die Summe der Gegen
sätze (den ganzen), den einzelnen Gegensatz (den halben) in
Betracht, so ergeben sich abermals drei mögliche Fälle: es ist
nämlich der (halbe) Gegensatz der halben Gleichheit gegen
über unwirksam (auf der Schwelle, vgl. oben II), oder der
(halbe) Gegensatz der halben Gleichheit gewachsen (Vgl. oben III),
oder die halbe Gleichheit dem (halben) Gegensatz gegenüber
unwirksam (auf der Schwelle, vgl. oben IV).
Wie leicht zu erkennen, liegt dieser ganzen Aufzählung
zuerst eine Dicho-, sodann eine Trichotomie zu Grunde. Ganz
heit und Halbheit sind dort, Unwirksamkeit, Gl eich Wirksam
keit und alleinige Wirksamkeit hier die Glieder des Einthei-
lungsgrundes. Die daraus entspringende, in zwei symmetrische
Gruppen, aus je drei correspondirenden Gliedern bestehend,
gegliederte Reihe von sechs Gliedern enthält alle jene Fälle,
welche weiterhin in derselben Reihenfolge der Secunde, der
falschen Quinte, der (reinen) Quinte, der kleinen Terz, der
grossen Terz und der Quarte entsprechend gefunden werden,
nach folgendem Schema:
I
'Gegensatz ——
ganzer halber
Ueber den Einfluss der Toulelire auf Herbart's Philosophie.
53
der unleugbare Umstand, dass zwischen sämmtlichen Gliedern
obiger Einteilung ,kein Sprung* sichtbar wird. Nicht nur das
Ganze und die Hälfte, sondern auch das Befindlichsein beider
Vorstellungen oder nur einer derselben (und zwar entweder
des Gegensatzes oder der Gleichheit) über der Schwelle des
Bewusstseins stellen vollkommene Paare von logischen Gegen
sätzen dar. Die Abwesenheit des ,Sprunges* bedeutet daher so
viel, als dass zwischen je zwei auf einander folgenden Gliedern
der Einteilung kein drittes ausgelassen oder einzuschieben
sei, dass die Umfänge der Eintheilungsglieder einander voll
kommen ausschliessen und zum Umfang des Eintheilungs-
ganzen ergänzen, also logisch betrachtet, hart aneinander
liegen.
Bei dem mathematischen Continuum nun bezeichnet der
Mangel des Sprunges gerade das Gegenteil. Die Stetigkeit,
sowohl der Raum-, wie der Zeitlinie, charakterisirt sich dadurch,
dass sie ,unendlich tlieilbar*, d. h. zwischen je zwei auf ein
ander folgenden Punkten derselben ein dritter gelegen ist. Die
Anwendung des Begriffs des (mathematischen) Continuums auf
das reale Gebiet in Wechselwirkung begriffener, einander
verstärkender oder hemmender Thätigkeiten oder wie Kräfte
sich verhaltender Vorstellungen, schliesst den Gebrauch des
Ausdrucks ,ohne Sprung* in anderer als von der Mathematik
als zulässig erkannter Bedeutung von sich aus. Die For
derung: (VII, 8) ,da beim allmäligen Fortschreiten auf einem
Continuum nirgends ein Sprung stattfinden kann, so müssen
alle mittleren Uebergänge von unendlich kleiner zu völliger
Hemmung Vorkommen*, kann mathematisch keinen andern
Sinn haben, als dass zwischen je zwei verschiedenen Hem
mungsgraden ein dritter mittlerer gelegen sein muss.
Unter dieser Voraussetzung hat die Annahme, dass das
Ende der stetig wachsenden, die völlige Hemmung sein werde,
Berechtigung. Unter der entgegengesetzten hat die Construction
der später mit der Tonreihe innerhalb der Octave zusammen
gestellten Reihe Bestand. Die in sich einheitlich sein wollende
Operation ist auf zwei sich unter einander aufliebende Begriffe
des Continuums gebaut.
Wäre die Reihe der zunehmenden Hemmung auf derselben
Grundlage wie die der a priori construirten, später mit der
Tonreihe zusammengestellten Reihe errichtet, so müsste es
befremden, dass die Glieder der beiden letztem eine so ab
weichende Folge zeigen. Die Reihe der Töne ist die bekannte,
die nach ihrer Stellung zu ihrer Benennung Veranlassung
gegeben hat; die Reihe der entsprechenden Glieder obiger
Reihe ist dagegen folgende;
Secunde, falsche Quinte, reine Quinte,
kleine Terz, grosse Terz, Quarte,
wenn man, wie oben geschehen, von der zu Grunde liegenden
Eintheilung nach logischen Gegensätzen ausgeht. In Herbart’s
eigener Darstellung (a. a. O. 45) wird dieser Mangel an Ueber-
einstimmung theilweise verhüllt. Die falsche Quinte zwar folgt
unmittelbar hinter der Octave; aber im Folgenden ist in der
Abfolge Secunde, kleine und grosse Terz, Quarte und reine
Quinte, die kanonische Tonfolge beobachtet. Diess aber wird
nur dadurch möglich, dass unmittelbar nach der Secunde, bei
welcher beide Hälften des Gegensatzes gegen beide Hälften
der Gleichheit unter der Schwelle sind, die drei Fälle des
Verhaltens der einzelnen Hälften (des Gegensatzes und der
Gleichheit) abgehandelt werden, worauf dann wieder (bei der
reinen Quinte) beide Hälften (des Gegensatzes und der Gleich
heit) ins Spiel kommen, nachdem das Gleiche schon vorher
(bei der falschen Quinte) der Fall gewesen ist. 1 Mit Ausnahme
der grossen und kleinen Terz und der Quarte sind, wie man
sieht, die logisch zusammengehörigen Fälle (Secunde, falsche
und reine Quinte, die sämmtlicli auf dem Verhalten beider
Hälften sowohl der Gleichheit als des Gegensatzes ruhen) der
Analogie mit der Tonreihe zuliebe auseinandergerissen und
mit Ausnahme der falschen Quinte an jener entsprechenden
Stellen untergebracht.
Die Unvollständigkeit der berechneten, verglichen mit
der wirklichen Tonreihe, wird dadurch beseitigt, dass die fehlen
den Sexten und Septimen als umgekehrte Terzen und Secunden
1 Beiläufig bemerkt muss es (III, S. 46) 7. v. 1. statt ,sinken“ heissen
,steigen“. Ebenso S. 47, 39 und 12 v. o. jedesmal statt JV —
I/T
zu lesen
Uetier den Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
55
betrachtet werden, weil .Octave und Prime einander in Ge
danken gleichgesetzt sind' (VII, S. 14). Die beste Bestätigung
der (wie gezeigt, grundlegenden) ,Hypothese' von der Octave
als dem Punkt voller Hemmung wird gewonnen, indem man
wahrnimmt, dass die durch die Rechnung ausgezeichneten
Punkte mit den durch das Ohr ausgezeichneten Zusammen
treffen.
Der Antheil der Rechnung beschränkt sich dabei auf
die Anwendung der Schwellenformel. Dagegen ist, wie gezeigt,
die Zerlegung und Gruppirung der mittels ihrer berechneten,
der Rechnung unterworfenen Vorstellungen auf eine a priori
entworfene logisch vollständige Eintheilung gebaut. Auf dieser
ruht das Vertrauen, dass weder mehr noch weniger Fälle des
Sichverhajtens zwischen einander theilweise verstärkenden,
theilweise hemmenden Vorstellungen möglich seien. Die em
pirische Bestätigung seitens der Tonreihe gilt daher nicht
sowohl der Anwendung der Mathematik auf Psychologie als
jener der formalen Logik. Den Beweis liefert die ähnliche
Grundlegung einer andern Wissenschaft, bei welcher die
Mathematik keine Stelle findet, mittels einer logisch voll
ständigen Eintheilung, der praktischen Philosophie, zu deren
Grundlehren die Tonlehre eine ,nützliche Vergleichung' dar
bietet.
Bevor wir zu dieser übergehen, sei nochmals der Selt
samkeit gedacht, dass nach obiger Theorie die Punkte der
vollkommensten Consonanz gerade mit jenen des Ueberwiegens
des Gegensatzes zusammenfallen sollen. Der Grund der Disso
nanz liegt nach ihr in der Nöthigung des Verschiedenen zum
Einswerden; wo daher überhaupt keine solche besteht (wie bei
der Octave), oder völlig überwunden wird (wie bei der reinen
Quinte), herrscht vollkommenste Consonanz. Auch die (übrigens
nichts weniger als vollkommene) Harmonie der Terzen und
der Quarten stammt aus derselben Quelle, da bei jeder der
selben die Nöthigung zum Einswerden eine Rolle spielt. Wo
dieselbe (wie bei der falschen Quinte) dem Gegensatz gleich ist,
oder die Gegensätze (wie bei der Secunde) noch tiefer als
bei der kleinen Terz, d. h. nicht nur auf, sondern unter der
Schwelle des Bewusstseins stehen, herrscht aus demselben
Grunde Dissonanz.
56
Z i m m e r m a n n.
Es ist interessant, diese apriorische Construction der
Töne aus Gleichheit und Gegensatz mit der empirischen Theorie
zu vergleichen, die Helmholtz gegeben hat. Jener zufolge sind
die Töne einfache Empfindungen; jeder derselben lässt sich
aber vermöge einer zufälligen Ansicht (Hptp. d. Met. §S. 2, 5)
,in Gedanken zerlegen in Gleiches und in Entgegen gesetztes'.
Vermöge des Ersteren müssen sie ,zum Theil Eins werden',
vermöge des Letzteren ,zum Theil einander widerstreben'; d. h.
obgleich sie einfach sind, muss ihr Verhalten zu einander doch
so angesehen werden, als wären sie zusammengesetzt.
Nach Helmholtz nun sind die Tonempfindungen das
wirklich, was sie Herbart zufolge nur vermöge einer zu
fälligen Ansicht sein sollen. Er weist nach, dass alle Töne,
die wir hören, zusammengesetzt sind aus Partialtönen, deren
tiefster und stärkster, nach dem die Benennung der Ton
empfindung erfolgt, von ihm Grundton, die übrigen gleich
zeitig vernommenen Obertöne genannt werden. Helmholtz zeigt
nun, dass Consonanz und Dissonanz zweier gleichzeitig vernom
mener Klänge auf dem Verhalten der beiderseitig mitklingenden
Obertöne beruhe. Obgleich, sagt er (a. a. O. S. 275) obige Namen
längst gegeben waren, ehe man von den Obertönen und ihren
Schwebungen etwas wusste, so bezeichnen sie doch das Wesen
der Sache, ungestörtes oder gestörtes Zusammenklingen, ganz
richtig. Gestört wird das Zusammenklingen, wenn die beider
seitigen Obertöne einander sehr nahe liegen, ohne zusammen
zufallen (a. a. 0. 275), und daher Schwebungen bilden. Da
gegen fliessen Klänge, deren Obertöne ganz oder doch theil-
weise zusammenfallen, in demselben Verhältniss gleichmässig
neben einander ab. Dass es hiebei auf die dem Grundton am
nächsten stehenden Obertöne am meisten ankommt, erhellt
schon daraus, weil diese verhältnissmässig die stärksten sind.
Da beispielsweise der erste Oberton (die Octave des Grund
tons) doppelt so viele Schwingungen macht, als sein Grundton,
so fallen (Vgl. d. erste Notenbeispiel a. a. 0. S. 275)
der direct angegebene Ton c und der erste Oberton des tiefen C
als identisch zusammen, das Verhältniss der Schwingungszahlen
Uober den Einfluss dor Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
57
*■
von C: c ist wie 1 : 2 und die Töne können keinerlei Schwebun
gen machen. Damit ist der Grund angegeben, warum zwei Töne,
die genau um das Intervall einer Octave von einander abstehen,
consoniren müssen.
Dem Anscheine nach stimmt diese Theorie mit der
Herbart’schen Tonlehre so wenig zusammen, dass sie viel
mehr das gerade Gegentheil darzustellen scheint. Während
nach Herbart der vollkommenste Einklang, die Octave, auf
dem vollkommenen Gegensatz, so beruht sie nach Hclmholtz
vielmehr auf nahezu völliger Gleichheit, indem der höhere
Klang mit dem ersten Partialton des tiefem zusammenfällt
(a. a. O. 287). Nichtsdestoweniger gibt es ein Mittel, beide
Gesichtspunkte zu einigen. Die Consonanz stützt sich nach
Helmlioltz auf die Abwesenheit von Schwebungen zwischen
den beiderseitigen Obertönen, nach Herbart auf die Abwesenheit
der Nöthigung zum Einswerden. Nun entstehen aber Schwe
bungen überall dort, wo Töne einander sehr nahe liegen, ohne
zusammenzufallen, und sie sind desto langsamer, also desto
vernehmlicher, folglich störender, je kleiner die Differenz der
Schwingungszahlen der betreffenden Töne ist, d. h. je näher
dieselben einander liegen. Da nun einander nahe liegende Töne
Herbart zufolge am meisten Gleichheit, also am meisten Nöthi
gung zum Einswerden besitzen, so kann das, was Helmlioltz
Schwebung, mit dem was Herbart Nöthigung zum Einswerden
nennt, als identisch angesehen werden. Die Abwesenheit von
Schwebungen bedeutet dann für den Einen ebensoviel als für
den Andern die Abwesenheit der Nöthigung zum Einswerden,
und die vollkommene Consonanz der Octave, von welcher
die eine wie die andere gilt, ist vom Standpunkt der einen
wie der andern Theorie erklärlich.
Das von Herbart als Kennzeichen der Octave angeführte
Merkmal, deren Effect darin bestehe, dass sie zwei sehr leicht
zu unterscheidende Töne hören lässt, erklärt sich aus dem
von Helmlioltz hervorgehobenen ruhigen Nebeneinanderfliessen
zweier, genau um eine Octave von einander abstehender Töne
und der Abwesenheit von Schwebungen zwischen den beider
seitigen Partialtönen zur Genüge. Man hat, um beide Theorien
unter einander vereinbar zu finden, nichts weiter zu thun, als
die ,zufällige Ansicht' Herbart’s zur nothwendigen zu machen,
58
Z immermann.
und die Qualität der Tonempfindungen statt für einfach, für
thatsächlich zusammengesetzt aus Gleichem und Entgegen
gesetztem anzusehen. Die Consonanz zweier zugleich ver
nommener Klänge erscheint dann um so bedeutender, je mehr
und je näher dem Grundton gelegene Obertöne derselben zu
sammenfallen, d. h. je weniger Schwebungen, das ist Nöthigung
zum Einswerden in den beiden Klängen vorhanden ist. Dagegen
dissoniren die Klänge um so stärker, wenn keine oder nur
sehr weit vom Grundton abstehende (in Folge dessen unver
nehmliche) Obertöne coincidiren, also die Menge der Schwe
bungen und in Folge dessen das Quantum der Nöthigung zum
Einswerden sehr gross ist. Letzteres ist bei der kleinen und
grossen Secunde, bei der grossen und in milderem Grade bei
der kleinen Septime, Ersteres bei der Octave, der Duodecime
und zweiten Octave, sowie bei der mehr in der Mitte des
Octavintervalls gelegenen Quinte, Quarte und grossen Sext,
in minderem Grade bei der grossen und kleinen Terz der Fall,
die daher erst seit dem 12. Jahrhundert und auch dann nur
für unvollkommene Consonanzen gelten. (Vgl. Helmh. a. a.
O. S. 287 u. ff.)
Der Verwandlung der Tonempfindung aus einer einfachen in
einen Complex mehrerer gleichzeitigen Empfindungen zugleich
klingender Töne steht von Seite Herbart’s um so weniger im
Wege, - als seine eigene gelegentlich geäusserte Ansicht über
den Bau des Gehörorgans miQ der von Helmholtz seiner
Theorie zu Grunde gelegten im Wesentlichen zusammentrifft.
Letzterer sagt (a. a. 0. S. 215): dass es verschiedene Theile
sein müssen, welche durch verschiedene Töne in Schwingung
versetzt werden und diese Töne empfinden. Werde daher
ein zusammengesetzter Klang (oder ein Accord) dem Ohre zu
geleitet, so werden alle diejenigen elastischen Gebilde erregt,
deren Tonhöhe den verschiedenen in der Klangmasse ent
haltenen einzelnen Tönen (dem Grundton und seinen Ober
tönen) entspricht, und bei gehörig gerichteter Aufmerksamkeit
werden daher auch alle die einzelnen Empfindungen der ein
zelnen einfachen Töne einzeln wahrgenommen (der Accord
wird in seine einzelnen Klänge, der Klang in seine einzelnen
Töne zerlegt) werden können. Herbart sagt (Lelirb. z. Psych.
§. 72 W. V. S. 54): wahrscheinlich habe jeder musikalische
TJefler den Einfluss der Tonlelire anf Herbart’s Philosophie.
59
Ton seinen eigenen Antheil am Organ. Ausserdem wäre nicht
wohl einzusehen, wie gleichzeitige Töne gesondert bleiben, und
warum sie nicht einen dritten gemischten Ton erzeugen,
welches die ästhetische Auffassung der Intervalle vernichten
würde. Man bedenke, dass die erste Ausgabe des Lehrbuches
1816 erschienen ist. Es wird genügen, um beides verträglich
zu finden, von Seite der Psychologen zuzugeben, dass sämmtliche
Reize, welche das Ohr treffen können, nicht einfache Klänge,
sondern ,Klangmassen' sind, denselben daher auch nicht ein
fache Empfindungen, sondern ganze Complexe von solchen als
primitive Gehörssensationen entsprechen. Man hätte, um Her-
bart’s mathematischen Calcul auf die empirischen Thatsachen
anzuwenden, sodann nur nöthig, demselben an der Stelle ein
facher Empfindungen, Complexe von solchen, die theilweise
entgegengesetzt, theilweise gleichartig sind, zu Grunde zu legen.
Ich habe auf diese Nothwendigkeit bereits an einem andern
Orte (Aesth. als Formwiss. Wien 1865. Vorr. IX u. S. 43 u. ff.)
hingewiesen und Andere (z. B. Pokorny: Zeitschr. f. ex. Philos. VIII,
3. 261 u. ff.) sind mir in diesem ,entscheidenden Schritt' gefolgt.
Dass die Herbart’sche Tonlehre in ihrer ursprünglichen Gestalt
unhaltbar sei, haben innerhalb der Schule schon Andere,
besonders Theodor Waitz und W. Resl gefühlt. Ersterer
machte die tief einschneidende Bemerkung, es sei eine ,unstatt
hafte' Fiction, rvenn man, wie es die ,zufällige Ansicht' verlangt,
an den Vorstellungen Gleiches und Entgegengesetztes ,nur im
Denken' unterschieden und doch in normalem Gegeneinan
derwirken begriffen sein lasse (Lehrbuch der Psycholog, als
Xaturw. S. 148). Statt jedoch daraus den Schluss zu ziehen,
dass die mit einander in Wechselwirkung stehenden sinnlichen
Vorstellungen (Klangempfindungen) eben nicht einfache Em
pfindungen, sondern aus theilweise gleichartigen, theilweise
entgegengesetzten Elementarempfindungen (die bei den Klängen
etwa den einzelnen Impulsen der Schallwelle entsprechen) zu
sammengesetzte Complexe seien, hielt er an der Einfachheit
der Empfindungen fest, und verlegte das Mannigfaltige, aus dem
das angenehme und unangenehme Gefühl hervorgehe, in die
,zusammengesetzten Nervenreize'. Waitz verfiel dadurch in den
demjenigen, welchen er Herbart vorwarf, entgegengesetzten
Fehler. Dieser habe, sagte er, dem Satze, dass ,Schwin-
60
Zimmer mann.
gungen keine Vorstellungen, keine Seelenzuständc seien', eine
zu weitreichende Bedeutung beigelegt. Um auf psycholo
gischem Gebiet zu bleiben, habe er das Mannigfaltige der
Gleichheit und des Gegensatzes in den elementaren Empfindungen
in eine blosse Fiction verwandelt. Waitz dagegen, um das
Mannigfaltige derselben zu retten, verlegt es in den blossen
,Nervenreiz' und bleibt dadurch gänzlich auf physiolo
gischem Gebiet! Resl (a. a. O. Zeitschr. f. ex Phil. VI, 2. S. 178
Vergl. ebendas. VIII, 3. S. 266) vermied diesen Fehler, indem
er, was Waitz Nervenreiz nannte, für ,Empfindungen' erklärte
und in dem einzelnen Tone (wie Ilelmholtz im ,Klange') eine
Reihe von einzelnen Vorstellungen unterschied. Da er aber
auf die Lehre von den Obortönen, die erst 1862 (seine Ab
handlung ursprünglich bereits 1857) erschien, keine Rücksicht
nehmen konnte, so irrt er darin, dass er unter diesen Partial
empfindungen nur die nacheinander, durch die Zeiträume von j-
bis 24ooo Secunde getrennt, aus Eindrücken der einzelnen
Schallwellen mittels der Nerven auf die Seele hervorgehen
den einfachen Vorstellungen versteht. Nach Ilelmholtz sind
die Partialklänge der vernommenen ,Klangmasse' wirkliche
musikalische Töne, und die denselben entsprechenden ,Partial
empfindungen' der zusammengesetzten ,Klangempfindung' meiner
Ansicht zufolge wirkliche Tonempfindungen. Die von Resl
entwickelte Theorie, welche mit der von Lotze (Medicin.
Psycholog. S. 204) angedeuteten der ,psychischen Oscillationen'
sich berührt, begegnet wie diese der Schwierigkeit, die Lotze
(a. a. 0. S. 205) in die inhaltschwere Frage zusammenfasst:
wie sich die psychischen Elcmentarzustände, davon jeder einer
Luft- (oder Aether-) Schwingung entspricht, zu den qualitativ
bestimmten Empfindungen (wirklicher Töne und Farben) ver
halten? Resl erklärt, wesshalb musikalische Töne, bei denen
die Schwingungen (und folglich auch die den einzelnen Impulsen
der Schallwellen entsprechenden Partialempfindungen) periodisch
und gesetzmässig erfolgen, verglichen mit dem ungeregelten
Schall um ihrer Gleichartigkeit willen gefallen. Dass er damit
nur dasjenige Phänomen theoretisch begreiflich macht, welches
ich (Aesth. §. 519) Reinheit des Tons genannt habe, ist von
Pokorny (a. a. 0. S. 266) richtig erkannt worden. Für die
Lösung der eigentlichen Frage wäre die Theorie Eulers, die
Ueljer (Ion Einfluss der Tonlelire auf Herbart’s Philosophie.
61
sich auf Leibnitz’ bekannten Ausspruch über die Musik stützte,
näher zur Hand gelegen. Leibnitz erklärte die Wirkung der
Musik für ein ,unbewusstes Zählen'; Euler bestimmte das
Wohlgefallen an der Musik als Folge des Wahrnehmens ,ratio
naler Verhältnisse der Tonschwingungen'. Helmholtz’ Einwand
gegen die letztere, dass eben gar nicht gesagt sei, wie es die
Seele denn mache, dass sie die Zahlenverhältnisse je zwei
zusammenklingender Töne wahrnehme (a. a. 0. S. 351), trifft
den Nagel auf den Kopf. Der natürliche Mensch, sagt er sein-
richtig, macht sich kaum klar, dass der Ton auf Schwingungen
beruht. Jedenfalls darf sein Wohlgefallen an der Musik nicht
von dieser (rein physikalischen) Kenntniss abhängig gedacht
werden. Die physikalische Wirkung zweier Verhältnisse aber,
die intermittirende oder continuirliehe Empfindung des Hör
nerven (Anwesenheit oder Abwesenheit von Schwebungen)
kann sie mit Leichtigkeit wahrnehmen. Zu dem Ende muss
jedoch die Vorstellung von der Einfachheit der Tonempfindungen
und deren bloss ,in Gedanken' als ,zufällige Ansicht' vor sich
gehender Zerlegung in Gleichartiges und Entgegengesetztes auf
gegeben und an deren Stelle die mit der Helmholtz’schen
Theorie der Consonanz und Dissonanz mittels der ganz oder
theilweise zusammenfallenden oder in Schwebungen verhar
renden Partialtöne in Einklang stehende Theorie zusammen
gesetzter concreter Tonempfindungen (vgl. meine Aestli. als
Formwiss. §. 462) substituirt werden.
Auch gegen die oben angefochtene Auffassung der Octave
als des Intervalls vollen Gegensatzes, dieses Fundament der
Tonlehre Herbart’s, hat schon Waitz (a. a. O. S. 147) Bedenken
erhoben, der sie ,willkürlich' nannte. Scheint es, meint er,
nicht weit natürlicher, die Grösse des Gegensatzes direct nach
der Grösse des Intervalls zu bestimmen und nächst dieser
nach dem Grade der Disharmonie? Auf das Befremden, das
es erregen muss, wenn nach obiger Annahme der volle Gegen
satz dahin fällt, wo der Erfahrung des Ohrs zufolge der voll
kommenste Einklang herrscht, ist oben schon hingewiesen
worden. Zugleich aber auf den Weg, auf welchem, wenn nur
die unhaltbare (und höchstens in propädeutischen Lehrbüchern
der Einfachheit wegen vgl. m. Lchrb. der philosoph. Pro-
paedeutik, 3. Auflage S. 199 u. 201, wo statt ,einfache' immer
62
Zimmer mau n.
der Ausdruck ,elementare oder, ursprüngliche' Empfindung ge
brauchtwird, erlaubte) Annahme, dass die concreten Ton- (und Far
ben-) Empfindungen einfach seien, beseitigt wird, eine Vereinigung
der Herbart’schen und Helmholtz’schen Tonlehre sich ermöglicht.
Welcher Verbesserungen im Ganzen und Einzelnen aber
auch Herbart’s Tonlehre bedürftig und fähig sein möge, ihr
Einfluss auf seine Philosophie, der Gegenstand dieses Vortrags,
ist darum nicht minder gewichtig. Nicht nur dient sie ihm als
erwünschte Bestätigung der Richtigkeit seiner Schwellenformel,
des Keimes der mathematischen Psychologie, sondern zugleich
als Vorbild für das gleichfalls a priori construirte Schema
ästhetischer Willensverhältnisse, das er seinem zur selben Zeit
entworfenen System der praktischen Philosophie zu Grunde
legte. Letzteres, wie er an seinen Jugendfreund, den spätem
Bürgermeister Johannes Smidt in Bremen, am 17. Jan. 1808
von Göttingen aus schrieb (Herb. Rel. S. 170), obgleich auf
Götting’schem Boden gewachsen, keimte bereits in Bremen
(während seines Aufenthaltes daselbst im Smidt’schen Hause
nach seiner Rückkehr aus der Schweiz vom März 1800 bis
Ende April 1802) *. Die Rechnungen, die in den Hauptpunkten
der Metaphysik erscheinen, sind nach derselben Quelle bereits
im Jahre -1800 mit denselben Formeln ausgeführt worden, und
haben sich, wie er nicht ohne Selbstgefühl hinzusetzt, durch
ihre (obige) Anwendung auf die theoretische Musik auffallend
bewährt. Die Wurzeln seiner Philosophie reichen noch weiter,
nach seiner eigenen Erklärung (an Carl Steiger a. a. O. 146)
bis in’s Jahr 1798 zurück 2 , wo er während eines dreiwöchent
lichen Aufenthalts an dem ,kleinen Bach von Engisstein' bei
Hochstetten im Canton Bern ,sein System fand'. In dem
,Ersten problematischen Entwurf der Wissenslehre' (W. XII.
S. 38—57) sind nach Hartenstein’s Urtheil (W. XII. Vorr.
1 Dasselbe erschien, wie aus dem Briefe an C. v. Steiger (Herb. Eeliq.
S. 168) erhellt, schon vor dem 22. Nov. 1807, ebenso die Hptp. d. Met.
2 Er ist der ,philosophischen Muse 1 zuerst an dem ,kleinen Bach zu Engis-
stein 1 begegnet. (Vgl. d. Brief v. Ende August 1798 an C. St. S. 146 u. d.
Brief v. Behlendorf an Eist. S. 87.) Die Hptpkte d. Met. erschienen in d.
ersten Bearb. bereits 1806. Vgl. Br. an C. St. v, 23. Aug. 1806. Am selben
Tage ging d. Logik (Hptpkte d. Logik) in die Druckerei ab. Geschrieben
wurden d. Hptpkte ,ohne Absatz in drei Wochen 1 (Ebendas. S. 159).
Ueber den EinfluBS der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie.
63
S. XI.) die Grundbegriffe seiner Psychologie durch die aus
Fichte’s Schule anhängenden trüben und unklaren Elemente
hindurch bereits deutlich zu erkennen. Für die ihm später
so wichtige Anwendung auf die Tonlehre ist es bedeutsam,
dass schon hier unter den Beispielen nicht in- sondern anein
ander liegender und sich einander ausschliessender Gefühle,
welche deshalb ein ,Continuum‘ bilden, die ,Tonlinie' genannt
wird (a. a. 0. S. 42). Die oben hervorgehobene Vermischung
des ,mathematischen' und des ,logischen' Continuums, deren
erstes zwischen je zwei Punkten einen dritten enthält, während
das zweite zwischen je zwei auf einanderfolgenden Gliedern
kein drittes duldet, geht, wie man sieht, bis auf das embryonale
Ei seiner Philosophie zurück.
In der logischen ,Continuität' liegt die Aehnliclikeit der
Tonlinie mit der Reihe praktischer Ideen, welche die Basis
von Herbart’s praktischer Philosophie bildet. Jene stellt eine
Folge von logisch dicht aneinander (mit Ausschliessung jedes
Mittelgliedes) gereihten Ton-, diese eine von ebenso beschaffe
nen Willensverhältnissen dar. Bei oberflächlicher Vergleichung
kann es auffallen, dass nach Herbart die Tonlinie nicht mehr
als fünf ausgezeichnete Intervalle: Octave, (falsche und reine)
Quinte, (kleine und grosse) Terz, Quarte und Secunde zählt,
da er die Sexten und Septimen nur als Umkehrungen der Terz
und Secunde gelten lässt. Man könnte versucht sein, in der
entsprechenden Fünfzahl der praktischen Ideen eine Accommo-
dation an die erstere zu wittern. Davon wird man zurück-
kommen, wenn man bedenkt, dass die Reihe der ästhetischen
Willensverhältnisse zwar gleichfalls fünf, aber, wenn man das
beifällige und das missfällige Verhältniss besonders zählt,
eigentlich acht Glieder enthält, und zwar in der Reihenfolge:
Innere Freiheit Vollkommenheit Wohlwollen
Innere Unfreiheit Unvollkommenheit Uebelwollen
(Recht) (Billigkeit)
Streit Unvergoltene That,
von denen drei beifällig, fünf dagegen unbedingt missfällig sind.
Die falsche Quinte zählt Herbart besonders auf, wodurch die
Zahl der ausgezeichneten Intervalle auf sechs, die kleine Terz
unterscheidet er von der grossen, wodurch sie auf sieben steigt.
Darunter sind fünf harmonisch, zwei disharmonisch, so dass
64
Z immermann.
die Beschaffenheit beider Reihen weder in der Zahl noch in
der Qualität der einzelnen Glieder stimmt. Demungeaclitet
findet Herbart ihre Vergleichung ,nützlich'; stellt er die musi
kalische Harmonielehre, den Generalbass, als Vorbild einer
Aesthetik hin, wie wir noch keine haben (W. VIII. 20). Da
er dessenungeachtet ausdrücklich einen ,Unterschied“' zwischen
Musik und den ästhetischen Bestimmungen über räumliche
und zeitliche Verhältnisse statuirt (Psych. Unters. Erstes Heft
W. VIII. S. 222), so kann sich diese Mustergültigkeit auf
nichts Anderes als die Abgeschlossenheit der ursprünglichen
harmonischen und disharmonischen Tonintervalle beziehen, von
welcher ein Aehnliches nicht nur der Aesthetik anderer Künste,
sondern insbesondere auch der Aesthetik des Willens zu
wünschen wäre.
Nicht sogleich am Beginn von Herbart’s Ideenlehre tritt
dieser geschlossene Charakter derselben hervor. Es hat etwas
Befremdendes für den Leser, wenn nach den vorausgeschickten
Betrachtungen über die Natur des ästhetischen Geschmacks
das erste Buch der praktischen Philosophie, die Ideenlehre,
sofort mit der Idee der inneren Freiheit beginnt und die
übrigen folgen lässt, anscheinend wie aus den Monde gefallen.
Erst in dem siebenten Capitel, welches den Uebergang von
den ursprünglichen zu den abgeleiteten Ideen enthält, und
auch da nur beiläufig und in knappster Form wird ein Ein
blick gewährt in das Gefüge der ,Grundlehren'; die Reihe der
ursprünglichen Ideen wird als ,geschlossen' bezeichnet (a. a. 0.
VIII. S. 74). Das erste Verhältniss, heisst es, fand sich zwischen
der Beurthoilung selbst und dem ihr entweder entsprechenden
oder nicht entsprechenden Wollen überhaupt; das zweite
zwischen den mehreren Strebungen, die schon in einem und
demselben wollenden Wesen einander der Grösse nach messen;
das dritte lag gleichsam auf der Grenze des Fortschritts zu
einer Mehrheit von Vernunftwesen, indem es zunächst nur
einen vorgestellten fremden Willen mit dem eigenen Willen
des Vorstellenden zusammenfasste; das vierte entstand im Zu
sammentreffen mehrerer wirklicher Willen auf einen äussern
Gegenstand; das fünfte ergab sich aus der absichtlichen That,
wodurch ein Wille dem andern Wohl oder Wehe bereitet.
Ueljer den Einfluss der Tonlelire auf Herbart’s Philosophie.
65
Dass diese geschlossene* Reihe einen ,Fortschritt* enthalten
soll, wird hier klar gesag't. Ebenso dass derselbe von der ein
facheren Annahme nur eines zu der erweiterten zweier ,Vernunft
wesen* gehe, zwischen welchen die blosse Vorstellung eines
zweiten ,auf der Grenze’ liegt. Warum die eine jener Voraus
setzungen einfacher sei als die andere, wird nicht gesagt, aber
springt in die Augen, wenn man bedenkt, dass die eigenen
Zustände, sie mögen untereinander noch so verschieden sein,
ohne Zweifel uns näher stehen als fremde, diese mögen in
anderer Beziehung den unsern noch so ähnlich sein. Der
logische Gegensatz eigener und fremder Zustände aber ist ein
vollständiger, der jedes Mittelglied ausschliesst, der Fortgang
von einem zum andern Gliede daher ein ,continuirlicher* im
logischen (wenn auch nicht im hier überhaupt unanwendbaren
mathematischen) Sinne. Das ,auf der Grenze* gelegene Ver
hältnis liegt streng genommen diesseits derselben, nach der
Seite der eigenen Zustände hin. So lange der fremde Wille
nur vorgestellt wird, ist er eben nur eigene Vorstellung.
Der fremde Wille macht zwar ihren Inhalt, dieselbe nichts
destoweniger für den Vorstellenden nichts Fremdes aus. Die
eigene Vorstellung eines fremden Willens steht dem Vorstellen
den immer noch näher, als dieser fremde Wille selbst, voraus
gesetzt, dass ein solcher vorhanden ist.
Was hier durch ,Nahestehen* bezeichnet wird, ist im
Grunde reale Zusammengehörigkeit. Zustände eines und
desselben VernunftsWesens, sie mögen untereinander noch
so heterogen sein, sind einander psychologisch genommen
viel näher verwandt, als Zustände zweier verschiedener
Individuen, dieselben mögen logisch genommen einander noch
so ähnlich sein. Zwischen dem Ich und dem Du liegt eine
metaphysische Scheidewand; zwischen dem Willen des Einen
und jenem des Andern ist die Gleichheit höchstens eine
logische. Die Glieder eines ästhetischen Willeusverhältnisses sind
daher einander viel mehr entgegengesetzt, wenn jedes einem
vom anderen verschiedenen, als wenn beide einem und
demselben ,Vernunftwesen* angehören. Der Fortgang von der
Annahme eines zu jener zweier Vernunftwesen ist daher zu
gleich ein solcher von Verhältnissen, deren Glieder einander
Sitzungster. d. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. I Hft. 5
66
Z imra ermann.
im niederen, zu solchen, deren Glieder einander im höheren
Grade entgegengesetzt sind.
Die Analogie mit der Tonreihe wird sichtbar. Auch die
musikalischen Tonintervalle sind eine logisch continuirliche Folge
von Verhältnissen mit allmälig steigendem Grade des Gegen
satzes zwischen den Gliedern. Gelingt es, zu zeigen, dass der
Gegensatz zwischen den Gliedern der Verhältnisse innerhalb
der ersten und zwischen jenen innerhalb der zweiten Gruppe
sich ebenso stetig ,steigere 4 , als diess zwischen den beiden
Gruppen selbst der Fall ist, muss jene Verwandtschaft immer
schärfer hervortreten.
Die erste Gruppe umfasst drei, die letztere zwei ästhe
tische Willensverhältnisse.
Bei dem ersten Verhältnisse sind die Glieder, wie oben
bemerkt, die eigene Beurtheilung und das eigene (derselben
entweder entsprechende oder nichtentsprechende) Wollen; bei dem
dritten der eigene (wirkliche) und ein vorgestellter fremder
Wille (mit welchem der eigene entweder harmonirt oder in Oppo
sition tritt: Wohl- undUebelwollen). DasEigenthümliche des ersten
Verhältnisses (der Idee der innern Freiheit) liegt darin, ,dass
es zwei ganz heterogene Aeusserungcn des Vernunftwesens
verknüpft, den Geschmack und die Begehrung' (a. a. O. 35),
,heterogen', weil der eine der Region des Vorstellens (Urtheilens),
die andere jener des Strebens angehört. In diesem Sinne
können auch die Glieder des dritten Verhältnisses heterogen
genannt werden, weil das eine Wollen, das andere nur Vor
stellung eines solchen ist. Es findet daher in dieser Hinsicht
zwischen den beiden Verhältnissen vielmehr eine Aehnlichkeit
als eine Entgegengesetztheit statt. Dieselbe geht noch weiter,
wenn „man erwägt, dass der ,Geschmack' mustergiltiges Vor
stellen, der sittliche insbesondere für das Wollen mustergiltiges
Vorstollen d. h. Vorstellung eines Wollens (gedachtes
Wollen) ist, welchem das wirkliche eigene Wollen entweder
entspricht oder nicht entspricht; auch bei dem dritten Ver-
hältniss ist dasjenige Glied, mit welchem das eigene, wirkliche
Wollen entweder im Einklang oder im Contrast sich befindet,
Vorstellung eines Wollens (gedachtes Wollen)! An diesem
Ort aber beginnt die Abweichung: das gedachte fremde steht
dem eigenen wirklichen Wollen offenbar ferner als das ge-
Uel)er den Einfluss der Tonlelire auf Herbart's Philosophie.
67
dachte eigene Wollen. Der Grad des Gegensatzes zwischen
den Gliedern hat sich bei dem dritten Verhältnisse gesteigert
gegen das erste.
Das erste und das dritte Verhältniss haben das mitein
ander gemein, dass ihre Glieder untereinander ,heterogen', ein
,Wollen' und ein ,Vorstellen' sind. In diesem Betracht sind
beide von dem zweiten verschieden, bei welchem nach Obigem
beide Glieder ,Strebungen', also homogen sind. Qualitativ
findet sonach in diesem Fall zwischen den Gliedern nicht nur
nicht der geringste Grad des Gegensatzes, sondern überhaupt
gar kein Gegensatz statt. Beide wären eines und dasselbe und es
verschwände jedes ästhetische Verhältniss zwischen ihnen, wenn
sie nicht quantitativ, d. h. der ,Grösse nach' verschieden
wären. Hier aber tritt weiter kein gradweiser, sondern sogleich
der volle Gegensatz ein, indem beide ,Strebungen' sich ,anein
ander messen', die eine nothwendig die stärkere, die andere
die schwächere sein muss. Wären sie beide gleich stark, so
wären sie ebensowenig quantitativ, wie nach Obigem qualitativ
verschieden, in jeder Hinsicht identisch, und ein ästhetisches
Verhältniss zwischen ihnen bestünde nicht mehr.
Wir werden an das Intervall des vollen Gegensatzes, die
Octave, sowie durch die steigenden Gegensatzgrade des ersten
und dritten Verhältnisses, an die gleichfalls im Steigen be
griffenen Gegensätze der harmonischen Intervalle der Terz,
Quarte und Quinte erinnert. Die (logische) Gleichheit der
Glieder weicht in dem Masse zurück, als deren (logischer)
Gegensatz wächst; metaphysischer Gegensatz ist, da alles im
nämlichen ,Vernunftwesen' beisammen ist, noch keiner vor
handen.
An der zweiten Gruppe ästhetischer Willensverhältnisse
taucht dieser zuerst empor zwischen den beiden ,Vernunft
wesen', deren wirkliche Wollen mit und zueinander in ein
Verhältniss treten; zugleich aber ist die logische Gleichheit
beider Vernunftwesen so gross, dass die beiden Verhältniss-
glieder fast nicht zu unterscheiden sind. Das Du, das dem Ich
gegenübersteht, ist in jeder Beziehung demselben völlig gleich
artig, ein Wesen ,seines Gleichen', so dass man jedes an die
Stelle des andern setzen könnte, ohne dass das Verhältniss
beider dadurch eine Aenderung erführe. Letzteres selbst
Zimmermann.
68
aber entsteht dadurch, dass beide in einer und derselben ge
meinschaftlichen Sinnenwelt existiren und darin ihr beider
seitiges Wollen zur Aeusserung bringen, entweder ohne
Wissen des Einen vom Dasein des Andern, oder unter Vor
aussetzung, ja in Folge dieses Wissens. Da sie nun, um ein
ander äusserlicli mit ihren Willensacten zu berühren, noth-
wendig auf denselben Punkt losgehen müssen, so sind beide
wollende ,Vernunftwesen' auch in dieser Hinsicht, was den
Inhalt ihres Willens betrifft, nicht zu unterscheiden; ihre
Differenz besteht daher schlechterdings in weiter nichts, als in
der metaphysischen Thatsache, dass der Eine nicht der Andere
und dieser nicht jener ist.
Die Gleichheit ist hier so gross, dass der vorhandene
Gegensatz nur eben zur Unterscheidung hinreicht, ganz wie
es die Herbart’sche Tonlehre von dem Secundenintervall ver
langt. Daher auch der dort entwickelten Theorie gemäss das
Streben zur Einigung am stärksten, die Dissonanz am em
pfindlichsten. Die metaphysische Scheidung ist nun einmal
nicht hinwegzuräumen. Dieser Gegensatz bleibt bestehen und
das Streben zur Einigung kann nur vermindert werden, wenn
der Gegensatz vermehrt wird. Diess geschieht, wenn die beiden,
die bisher dasselbe wollten, entweder gar nicht oder nicht
mehr dasselbe wollen, d. h. der Eine zu Gunsten des Andern
auf das Gewollte verzichtet (Ursprung des Rechts).
Der von Herbart weiter eingeführte Gegensatz des ab
sichtslosen oder absichtlichen Zusammentreffens beider ,Ver
nunftwesen' setzt das logische Continuum fort und führt zu
gleich eine Steigerung des metaphysischen Gegensatzes der
selben herbei. An dem zufälligen Zusammentreffen haben beide
Vernunftwesen gleichen, an dem absichtlichen hingegen beide
ungleichen Theil. Dort ist Keiner, liier nur Einer vorsätzliches
Object des andern. Und zwar entfernen sich beide nach ent
gegengesetzten Seiten hin gleich weit von ihrer ursprünglichen
Gleichheit, so dass der Thätige zu seinem ursprünglichen
Niveau ebensoviel zulegt, als der Leidende unter dasselbe
heruntersteigt. Das Streben nach Einigung muss daher, da die
Gleichheit der Glieder geringer wird, sich mindern, die Dissonanz
an Empfindlichkeit abnehmen, ln der That findet Helmholtz
(a. a. O. S. 287) die kleine Septime, die wie die grosse nach Her-
Ueber den Einfluss der Tonlehre auf Herbart's Philosophie.
69
bart’s Tonlehre nur eine umgekehrte und zwar ,grosse' Se-
cunde ist, noch milder als diese und an der Grenze der
Dissonanzen stehend. Die beiden letzten ästhetischen Wil
lensverhältnisse dürften daher ohne Anstand in directer
Reihenfolge der grossen und kleinen Secunde parallell gedacht
werden.
Endlich ist es vielleicht nicht zufällig, dass die härteste
musikalische Dissonanz, die falsche Quinte, nach Herbart in
der Mitte der Octave (dicht neben der reinen), das ,hässlichste'
aller Verhältnisse, das ,Uebelwollen' (a. a. O. S. 43), gerade
,an der Grenze' des Uebergangs von einem zu mehreren Ver-
nunftwesen (dicht neben dem Wohlwollen) liegen soll.
Mit Ausnahme der Quarte und einer der beiden Terzen,
von denen die kleine bis an’s Ende des Mittelalters als Disso
nanz angesehen wurde (Helmh. a. a. 0. S. 345), finden sich
in der Reihe der einfachen ästhetischen Willensverhältnisse
Parallelen für jedes der einfachen Tonintervalle der Herbart’-
schen Tonlehre wieder. Dem der Idee der Vollkommenheit zu
Grunde liegenden Verhältnis entspricht die Octave, jenem
der innern Freiheit die grosse Terz, jenem des Wohlwollens
die reine (ihrem Gegen theil, dem Uebelwollen, die falsche)
Quinte, dem Verhältnis des Streits, auf welchem die Rechts
idee, und jenem der unvergoltenen Tliat, auf welchem die Idee
der billigen Vergeltung aufgebaut ist, die kleine und die grosse
Secunde (grosse und kleine Septime). Als Seitenstücke zur
falschen Quinte dürften die falsche Octave und die der Secunde
sehr nahestehende, ,der Störung durch den Grundton noch
merklich ausgesetzte' (Helmh. S. 289), an Zahl der Dissonanz
verursachenden Schwebungen (6) alle übrigen für consonirend
geltenden Intervalle übertreffende (a. a. 0. 281) kleine Terz l ,
wie jene dem Uebelwollen, so diese etwa der Unvollkommenheit
und innern Unfreiheit analog angenommen werden, wenn es hier
1 Dass die kleine Terz enger als ein Viertel der Octave, ja enger als die
übermässige Secunde sei, sagt Herbart selbst (Psych. Bemerk. VII S. 19.).
70
Zimmer mann.
nicht vielmehr darauf ankäme, die leitende Idee der praktischen
Philosophie Herbart's als eine musikalische aufzudecken, denn
darauf, sie als solche fortzusetzen.
Keine Rücksicht auf Flüchtigkeit und (gegen die Einfluss
nahme der Musik auf Philosophie gerichtete) Vorurtheile, sagt
Herbart (VII. S. 25), solle ihn hindern, über die Beziehung
der vorliegenden (psychologischen) Untersuchung (über die
Tonlehre) auf praktische Philosophie das Nöthige zu sagen.
Er habe gezeigt, dass die letztere Wissenschaft auf einer
Anzahl von genau bestimmten ästhetischen Urtheilen (den
obigen fünf oder acht beifälligen und missfälligen ästhetischen
Willensverhältnissen) ruhe. Das Gebäude der Musik stehe seit
Jahrhunderten auf den ästhetischen Bestimmungen der obigen
(fünf oder acht) Tonverhältnisse unerschüttert. Herbart ist so
durchdrungen von der Analogie, die zwischen der musikalischen
Ton- und der ethischen Ideenreihe herrscht, dass ihm, die
Sache mit dem treffenden Worte zu bezeichnen, der Ausdruck
entschlüpft: ,dic Musik sei das Gleichniss der praktischen
Philosophie!' (a. a. 0. 26).
Schwerlich wird er dabei nur an die immerhin nicht
gering zu achtende Aehnlichkeit der einzelnen Ton- mit den
einzelnen Willensverhältnissen gedacht haben. Die voran
stehende Erörterung wird hinreichend sichtbar gemacht haben,
dass wenn dieselben wirklich als ,Gleichnisse' für einander
gelten sollen, auch das übliche ,Hinken' denselben nicht völlig
erspart geblieben ist. Auch die ,Continuität' der Tonlinie bildet
einen schwachen Vergleichungspunkt, wenn sie, wie man aus
dem Tadel, ,dass es während der langen Herrschaft der Kant’-
schen Philosophie Niemandem eingefallen sei, dieselbe mit
Raum und Zeit zu vergleichen' (a. a. 0. S. 25), sieht, das
mathematische Continuum im Auge behält. Setzt man da
gegen an Stelle des letzteren das logische Continuum einer voll
ständigen Reihe von Gegensätzen, deren einzelne Glieder sich
unter einander ausschliessen, so tritt die Aehnlichkeit der auf
diesem Wege a priori construirten geschlossenen Ton- und
ebensolchen Ideenreihe schlagend hervor.
Ueher den Einfluss der Tonlehre auf Herhart’s Philosophie.
71
Im Anfang sind beide Glieder des Willensverhältnisses
in einem und demselben Veruunftwesen beisammen und zwar
beide (eigene) wirkliche Willensacte, welche, da sie sich nicht
qualitativ (durch ihre ihrer XJnberechenbarkeit halber unvergleich
baren) Objecte unterscheiden können, quantitativ durch ihre
Stärke (Mannigfaltigkeit, Ordnung) sich unterscheiden müssen,
wobei der stärkere neben dem schwächern gefällt, der letztere
neben dem ersteren missfällt. (Idee der Vollkommenheit, Unvoll
kommenheit.) Dom eigenen wirklichen nun steht als Gegen
satz der bloss gedachte eigene Wille (der Gedanke eines eige
nen Willens) d. h. das Vorbild eines solchen entgegen, zu wel
chem das eigene Wollen selbst sich entweder als nachahmendes
oder als eontrastircndes Abbild verhält d. h. die beifällige Ueber-
einstimmung von Wollen und Einsicht oder deren missfälliges
Gegentheil (Idee der innern Freiheit, Unfreiheit). Von dem
gedachten eigenen aber stellt wieder das gedachte fremde
Wollen den contradictorischen Gegensatz dar, woraus sich das
dritte Verhältnis des eigenen wirklichen zu dem gedachten
fremden Wollen entweder als beifällige Harmonie oder als
missfällige Disharmonie beider ergibt (Idee des Wohlwollens,
des Uebelwollens). Ein neues Verhältnis entsteht, wenn
statt des bloss gedachten ein wirkliches fremdes Wollen
dem eigenen gegenübertritt, wobei nun der Fall eintreten
kann, dass dasselbe als Wollen eines andern Vernunftwesens
von dem ersten nicht, oder dass es als solches auch ge
dacht wird. Im ersten Falle kann diess Zusammentreffen
des wirklichen Wollens (beider Vernuuftwesen) nicht anders
als zufällig (Streit), im andern auch absichtlich (That)
erfolgen, wobei ersterer immer, letztere nur so lange missfällt,
als sie unvergolten bleibt (Idee des Rechts und Idee der
Billigkeit).
Auch hier liegt, wie leicht zu erkennen, eine Reihe von
Dichotomieen zu Grunde. Das einzelne Vernunftwesen steht den
mehreren, die qualitative Gleichheit beider Verhältnissglieder
ihrer Verschiedenheit, die Stärke der Schwäche, das eigene
Wollen dem fremden, das wirkliche dem gedachten gegenüber.
72
Z immermann.
Die Combination der verschiedenen Eintheilungen untereinander
vollzieht sich nach folgendem Schema:
Eigenes wirkliches Wollen, und eigenes wirkliches Wollen
„ „ „ „ » gedachtes „
„ „ „ „ fremdes „
„ „ „ „ „ wirkliches „
„ „ „ ,, >, .. ge
dachtes Wollen,
womit die Reihe der möglichen Willensverhältnisse geschlos
sen ist.
Wie hei der Tonreihe liegt das Motiv der Zuversicht in
die Vollständigkeit der Ideenreihe in deren logischer Ge
schlossenheit. Die empirische Bestätigung, die durch das Ohr
bei jener zu Hilfe kommt, während es dieser, wenn man nicht
die Stimme des unbefangenen ästhetischen Urtheils (des
Geschmacks)' dafür gelten lassen will, an einer solchen fehlt,
wird vermöge der gleichnissartigen Natur der Musik von dieser
auf die Ethik übertragen. Die unanfechtbaren Tonintervalle
dienen nicht bloss der rationalen Psychologie, sondern auch der
apriorischen Construction des unbedingt Löblichen und Schänd
lichen als ,veste Punkte in der Erfahrung'. Wie das Zusammen
treffen der nach den apriorischen Grundformeln der Psycho
logie berechneten mit den erfahrungsgemäss feststehenden Ton
intervallen geeignet ist, Zutrauen zu jenen einzuflössen, so
taugt umgekehrt die allgemein anerkannte Geltung der Ton
reihe längst vor, und unabhängig von jener psychologischen
Theorie dazu, die Unabhängigkeit der praktischen Philosophie
von der theoretischen darzuthun. So wenig eine psychologische
Theorie die Wahrheit der Tonlehre selbst begründen kann,
so wenig hängen die ,ersten Unterscheidungen des Löblichen
und Schändlichen von einer (psychologischen) Theorie über
die Möglichkeit solcher Unterscheidungen oder von Lehrsätzen
über die Möglichkeit der Befolgung dieser Unterscheidungen
durch einen standhaften Willen' ab. Die ,guten praktischen
Musiker, sagt Herbart treffend, die echten Kenner werden nicht
IJelier (len Einfluss der Tonlelire auf Herhart’s Philosophie.
73
meinen, dass selbst der offenste Blick in die Seele, wie sie
es macht, gewisseHarmonieen richtig, andere unrichtig zu finden,
ihrer Uebcrzeugung von dieser Richtigkeit oder Unrichtigkeit
selbst nur den geringsten Zusatz geben könne'. Ebensowenig
darf ,der Unterschied zwischen Ehre und Schande, Recht und
Unrecht, Tugend und Laster so lange zweifelhaft bleiben', bis
die Psychologie etwa ,den Ursprung der Gemüthshandlungen
nachgewiesen hätte, welche in uns Vorgehen, indem wir das
Sittliche beurtheilen und beschliessen'. Was die Psycho
logie leistet und leisten kann, ist in beiden Fällen, bei der
Tonlehre nicht weniger wie bei der Ethik, Theorie; und selbst
diese ,bleibt demjenigen unverständlich, der nicht zuvor das kennt,
wovon sie redet', in einem Fall die ursprünglichen musikalisch
ästhetischen, im andern die ebenso ,ursprünglichen praktischen'
Ideen, deren Giltigkeit beide, die Harmonielehre wie die Sitten
lehre, voraussetzen, ohne sie beweisen zu können'. So fest
wie die Ueberzeugung des Musikers von der harmonischen
oder disharmonischen Natur gewisser Ton Verhältnisse steht, als
,ein streng absolutes Wissen, fest als ein ursprünglich mannig
faltiges Wissen; fest ohne Princip und ohne Einheit, aber
zugleich als eine Summe von Principien, die zur Vereinigung
in ein einziges Kunstwerk fähig sind' — so fest, darf man in
Herbart’s Geist suppliren, muss auch die Ueberzeugung des
Ethikers von der absoluten, mannigfaltigen, principiellen Natur
seines praktischen Wissens, von der unbedingt lobens- oder
tadelnswerthen Natur gewisser Willensverhältnisse stehen.
Die ,nützliche Vergleichung' der Tonlelire mit den Grund
lehren der praktischen Philosophie, von der wir Herbart sprechen
hörten, hat wie wir sehen den Zweck, dem ,Vorurtheil, welches
theoretische und praktische Philosophie in einander mengt',
ein Ende zu machen. Die fundamentale Trennung der prakti
schen von der theoretischen Philosophie, der Lebensnerv seines
Philosophirens, soll durch das ,Gleichniss' der ersteren, die
Tonlehre, zur Evidenz erhoben werden. Durch die empirische
Bestätigung, welche sie durch ihr Zusammentreffen mit den
Ergebnissen mathematisch-psychologischer Speculation gewissen
74 Zimraermann. Ueljor den Einfluss der Tonlelire auf Herlmrt’s Philosophie.
a priori gefundenen psychologischen Grundformeln gewährt,
kommt sie der theoretischen, durch ihre von psychologischer
Theorie unabhängige Giltigkeit der unmittelbaren Klarheit
der praktischen Philosophie zu Iiilfe. Der weitreichende
Einfluss der Tonlehre auf Herbart’s Philosophie bedarf keiner
weitern Beweise.
75
II. SITZUNG VOM 8. JANUAR 1873.
Das c. M. Herr Prof. Kob. Roesler in Graz sendet eine
Abhandlung- ,über den Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung
an der unteren Donau'.
Das w. M. Herr kais. Ratli Fiedler legt vor: ,Uuge-
druekte Briefe Napoleons aus den Jahren 1796 — 1797',
welche Herr Professor Dr. Hüffe r in Bonn mit dem Gesuch
um Abdruck derselben in den akademischen Schriften ein
gesendet hat.
An Druckschriften wurden v orgelegt:
Akademie der Wissenschaften, Königl. Preuss., zu Berlin: Abhandlungen
aus dem Jahre 1871. Berlin, 1872; 4°.
— — Königl. Bayer., zu München: Abhandlungen der pliilos.-philolog. Classe.
XII. Bandes 3. Abtlilg. München, 1871; 4°. Abhandlungen der mathem.-
physik. Classe. XI. Bandes 1. Abtlilg. München, 1871; 4 U (nebst den
betreffenden Separatabdrüelcen). — Erlenmeyer, Emil, Die Aufgabe des
chemischen Unterrichtes gegenüber den Anforderungen der Wissenschaft
und Technik. München, 1871; 4°. — Friedrich, Johann, Ueber die Ge
schichtsforschung unter dem Kurfürsten Maximilian I. (München, 1872; 4°.
Gesellschaft, geographische, in Wien; Mittheilungen, Band XV. (neuer
Folge V.), Nro. 12. Wien, 1872; 8°.
76
Lund, Universität: Acta. Philosoph]’, spräkvetenskap ocli historia. 1869;
Tlieologi. 1870; Mathematik och Naturvetenskap. 1869 & 1870. Lund,
1869—1871;. 4".
Mittheilungen von J. Perthes’ geographischer Anstalt. 18. Band, 1879,
Heft XU. Gotha; 4«.
.Revue pnlitiquo et litteraire' et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger. Ile Annee, 2« Serie, Nr. 27. Paris, 1873; 4".
Society, The Asiatin ot Bengal: Bibliotheca Indica. Old Seriös. Nrs.
228 — 230; New Series. Nrs. 244 — 245, 217 — 257. Calcutta, 1872; 4" & 8°.
Verein, historischer, von und für Oberbayern: Oberbayerisches Archiv.
XXV111. Band, 3. Heft; XXX. Band, 1. u. 2. Heft; XXXI. Bd. München,
1868—1871; 8°. — Die Sammlungen des Vereins. 111. Abtheilung, 1. u.
2. hloft. München, 1871; 8 n .
— Siebenbürgischer für romanische Literatur und Cultur des romanischen
Volkes: Transilvania. Anulu V, Nr. 21. Kronstadt, 1872; 4°.
Zürich, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften von Ostern 1871 bis
Michaelis 1872. 4° und 8°.
Roesler. Zeitpunkt dev slavisclien Ansiedluug an der unteren Donau.
77
Ueber den Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung
an der unteren Donau.
Abhandlung
von
Robert Roesler,
corr. Mitglieds der k. Akademie der Wissenschaften.
Die grosse Encyklopädie des Plinius (um 77 nach Chr.)
nennt uns zuerst das Volk, welches seither den grössten Thei)
von Europa erfüllt und in unwiderstehlichem glücklichen Aus
breitungsdrange auch die Nordhälfte Asiens sich zu eigen ge
macht hat. 1 Nicht viel vor Schluss des ersten christlichen
Jahrhunderts also hebt unsere Kenntniss von den Slaven an,
denn die älteren Nachrichten des Herodotös bieten keinen
sicheren Anhalt. Höchstens dass man die Argimpäer und Bu-
dinen den tatarischen und finnischen Völkern beizählen darf 2
und dadurch Raum gewinnt für die Slaven, die man am ehe
sten in seinen Grelonen vermuthen dürfte.
Neben dem fremden von den Germanen ausgehenden
Namen der Venedi tritt uns bei Plinius ein anderer, vielleicht
der einheimische Name des Volks entgegen. 3 Plinius selbst ist
weit davon entfernt, einen Zusammenhang zwischen den beiden
Bezeichnungen zu ahnen, geschweige zu behaupten, und es ist
deshalb auch dieser einheimische Name vor Anzweiflung nicht
1 H. n. 4, 97.
2 K. Möllenhoff, über die Herkunft und Sprache der pontischen Scythen
und Sarmaten. Monatsber. d. Berlin. Akad. d. W. 186lj, S. 550.
3 0, 22 Spalei, aber in der Nähe des unteren Don und mit vielen anderen
Völkern so erwähnt, dass man schwor an ein grosses Volk denken kann.
78
Roes! er.
sicher zu stellen. Es fragt sich nämlich, oh die Spaloi des
Pliilius und die Spali des späteren Jordanes 1 in der That die
Sporoi des Prokopios sind, der diesen Namen ausdrücklich als
alte Gesammtbezeichnung aufführt, die sich die Slaven einst
selbst gaben. 2 So bestechend die Zusammenstellung anfangs
wirkt, so sind es doch mächtige Einwendungen, die gegen sie
können geltend gemacht wei’den. Die Erklärung von Spali,
Sporoi aus einem den slavischen Sprachen geläufigen Stamme,
welche die Bedeutung Stammgenosse, Mitbruder ergäbe, muss
dagegen für sehr beifallswürdig gelten. 3
Im ersten Jahrhundert den Römern bekannt geworden,
ist der Name aber bei seinem Volke im 6. Jahrhundert wieder
zu den Todten gelegt. Längere Dauer als dieser behauptet
derjenige, welchen die Germanen und zuerst die nächsten west
lichen Nachbarn, Gothen und Skiren, dem Volke verliehen:
Venedi Veneti Venadi Winidae OüsvsSai. Ihn aufzufassen als die
Weidenden oder Bewohner der grossen Weide d. i. des Flachlands,
welches inmitten Osteuropas grosse Räume erfüllt, hat von allen
Deutungen am wenigsten bedenkliches. Im deutschen Volke ist
er auch nach späterer Bekanntschaft mit dem jüngern National
namen (Slaven) nicht erstorben, die Sprache der Wissenschaft
hat sich der ,Wenden' entschlagen, der Ungelehrte wenigstens
bei denjenigen Stämmen nicht, die als Nachkommen und Ver
wandte des Gothenvolkes gelten. Der baierische Volksstamm
in Steiermark und Kärnten nennt die Slaven noch jetzt be
harrlich Winden, Windische. Aber auch im nordwestlichen
Deutschland lebt der Wendenname als Gesammtbenennung wie
in Ortsnamen fort. 1
Der den Slaven selbst fremde Wendenname bürgt dafür,
dass die Nachrichten über die Slaven von den Germanen aus
gingen. Plinius, Tacitus (um 100 n. Chr.) Marinos von Tyros,
Ptolemaeos schöpfen wesentlich aus derselben Quelle. Das
1 De reb. get. c. 4- (ed. Clogs S. 21).
2 B. goth. 3, 14.
3 Zeugs, die Deutschen und die Nachbarstämme 58, 67. Vgl. auch Cuno,
Forschungen im Gebiete der alten Völkerkunde I. 229, 290, 295 und
meine Beurtheilung des Werkes in der Zeitschr. für d. östorr. Gymn. 1872.
4 Herrn. Guthe, die Lande Braunschweig und Hannover. Hannover 1867.
S. 616 ff.
Zeitpunkt der slavißchen AnBiedlung an dev unteren Douan.
79
Volk war so binnenländisch eingekeilt, dass Hellenen wie
Römer keinen unmittelbaren Verkehr mit ihnen gewannen. 1
Wie lange es schon mit den Germanen grenzte, als die Römer
davon Kunde erlangten, lässt sich nicht sagen; kaum haben
die älteren Stammsitze bis an die mittlere Weichsel gereicht,
wo sie den Gothen nahe traten. Jedenfalls liegt der Raum,
den sie als ihr Gebiet zu allen Zeiten inne hatten weiter ost
wärts, seine Mitte bilden die Ufer des oberen und mittleren
Dnieper, südwärts reichte es gewiss nicht weiter als bis an
die bekannten Stromschwellen (Porogi) in ihm. Im Norden von
dem Niemen bis zur Dünamündung hatten sie noch im ersten Jahr
hundert unserer Zeitrechnung die Familie der Aisten wie sie der
Germane nannte, oder die Prusi nach slavischer Bezeichnung,
zu Nachbarn, deren äusserste Glieder, die Galinder und Sudinen,
bis an die Pregel (Pregora) reichten 2 , weiter nördlich grenzten
sie mit den Liven und Esten von finnischem Stamme. Mit dem
anderen Zweige der Aistenfamilie, den Litauern, berührten sie
sich an der BeVezina, der oberen Düna (Dwina) und am Prypet.
Gegen Nordosten wurden sie umrahmt von den finnischen Wes
am weissen See, von den Merja an der oberen Wolga und
den Muroma am Zusammenfluss der Oka und Wolga. Sie
insgesammt nannte der Slave Tschuden, vielleicht, die Fremden
Seltsamen. Eine Linie von den letzteren quer an den Dnieper
bis unterhalb Kijews vervollständigt die Ostgrenze, nirgends
erstreckten sich die Sitze damals bis in das Gebiet des Don,
die Grenze Europas, an dem wenigstens schon seit dem ersten
Jahrhundert türkische Völker ihren Wohnraum hatten. Längs
der ganzen Südgrenze im baumlosen Gebiet der pontischen
Steppe, vom Spiegel des unruhigen Binnenmeers bis zum
Granitplateau, welches die wasserreichen Flüsse in Strom
schnellen durchbrechen, hausten wieder Nomaden, bis tief in
1 Ich bemerke nur beiläufig, dass ich die hielier gehörigen Arbeiten von
A. Sembera, Z&padni Slovanö v praveku, Wien 1868 und Ueber die Lage
der Wohnstätten des h. Severinus in Nieder-Öesterreieh, Wien 1871 wol
kenne, sie aber zu denjenigen zähle, welche von Zeit zu Zeit entstehen,
um deu Forscher bei der ernsten Arbeit aufzuheitern.
2 Zeuss 271. K. Möllenhoff, über das Sarmatien des Ptolemaeus. Monats
berichte der Berliner Akad. der Wissenseh. 1866. 1, 2. Röpell, Geschichte
Polens 1, 22.
80
R o e s 1 e r.
das 4. Jahrhundert hinein von arischem Stamme: Skythen
Sauromaten Massageten Alanen, später türkische Horden.
Niemals in der langen Zeit von 9 Jahrhunderten, die wir
überblicken können, wagten sich slavische Bevölkerungen in
jene Gasse hinein, welche die gefürchteten Stämme der kühnen
Räuber und Staatenverheerer ohne Unterlass in Bewegung
hielten. Im Südwesten lehnten sich an die Sarmaten die Ba
starnen. Vor allen Germanenvölkern hatten sie zuerst sich nach
Südosten zu verbreiten angefangen und die Karpatenländer im
Norden wie im Süden des Gebirges eingenommen. Wenigstens
seit dem 2. Jahrhunderte wohnten sie auch auf dem Plateau
raume des östlichen Galiziens (Podolien und Wolynien) und
der Moldau, eben da, wo viele slavische Gelehrte einen Ursitz
der Slaven annehmen möchten. Im Westen endlich sassen
germanische Stämme, die Gothen an der unteren Weichsel
und im Gebiete zwischen dieser, der Pregel und dem Meere,
welches die Slaven nirgends berührten und auf dem sie nicht
gleich den Germanen vertraut wurden. 1
Es war ein Flächenraum von etwa achttausend Quadrat
meilen, den die Slaven in jenen alten Tagen von wenigstens
500 v. Chr. bis etwa 400 n. Ohr., wie es scheint ungestört, be
wohnten, ein wild- und fischreiches Land, wimmelnd von Bären,
Elen und Uren, ganz geeignet, einer Bevölkerung kräftiger
Jäger Unterhalt zu geben, aber zum grossen Theil auch ein
unerschöpflich fruchtbarer Ackerboden, wenn ihn ein getreide
bauendes Volk bewohnte.
Germanen und Sarmaten wirkten am meisten auf sie ein,
sie ihrerseits pflanzten die von beiden empfangenen Cultur-
1 Zeuss 671. Weil W. Surowiecki (Sledzenie poczatku narodöw Slowiaris-
kich. Roczniki towarzystvva kr. Warszawskiego przyjaciöl nauk, XVII,
165—357. Warschau 1824-, eine ungebührlich vernachlässigte Arbeit) sich
die Lage der Aesten einerseits, der Bastarnen und Sarmaten anderseits
nicht klar gemacht hatte, ist sein Ansatz der Grenzen des alten Slaven-
gebiets weit zu gross ausgefallen. S. 198: Poczawszy od Wisly wdluz
krainy Est6w przez dzisieyszy Niemen, Zmudz, Tnflanty, Estonija az do
wschodnich koricöw Baltyku; stamtiid okol'o zrzödel Wolgi i Dniepru do
ujscia Prypeci; dalöj wdluz tej rzeki do jej zrzödel przez czesc Polesia
i Wolynia, przez wyiszy Dniestr az pod Tatry i Wisle, ktora odtad byla
sciana zachodnia dzielaca ich od narodöw Germanskick.
Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung an der unteren Donau.
8.1
elemente auf die Finnen weiter, die tiefer standen. 1 So haben
sie die Zimmerung der aus Holzbohlen gefügten oder aus
Weide und Schilf geflochtenen Hütte von den Germanen ge
lernt. 2 Ihre Bewaffnung bestand in Schilden und Wurfspiessen,
wie die Germanen kämpften sie am liebsten zu Fusse, mit
nacktem Oberleihe. Als Jäger durch die dichten Forste ziehend,
hatten sie nur zerstreute Ansiedlungen. Des Ackerbaues war
bei ihnen damals noch wenig, 3 die Hauptfrucht Hirse. Die
Slaven waren in der Zeit noch kein an Herd und Scholle fest
haltendes Volk, wie Pogodin und Andere wollen, sie sind es
erst viel später geworden. Noch Prokopios im 6. Jahrhundert
hebt es ausdrücklich hervor, dass sie den Wohnort gern
wechselten und alle Zeugnisse weisen es aus, dass Sümpfe
und Wälder ihr Heim waren. Der Wanderzug, die Unstätheit,
welche die altangesessenste aller slavischen Bevölkerungen,
die russische, noch heute erfüllt, ist ein merkwürdiges Phänomen
für Beobachter, die aus dem westlichen Europa kommen. 4 In den
Wäldern sammelten sie den Honig der wilden Bienen, um ihn
theils roh, tlieils als gegorenes Getränke (medü) zu gemessen. 5 In
1 Tacit. German, e. 46.
- Man sehe die vorzüglichen Ausführungen von Victor Hehn, Culturpflanzen
und Hausthiere bei ihrem Uebergange von Asien nach Europa, Berlin
1870, S. 74. Noch 1787 gab es zu Norowla in Wolynien und vielleicht
noch an manchem andern Orte ein hölzernes Schloss. Möllers Reise
von Volhynien nach Cherson. Hamburg 1802. Zur Vergleichung ist aber
besonders die Stelle bei Herbordus, vita Ottonis Ep. Babenb. (M G. SS.
XII. 818) wichtig, wo noch von den Slaven des 12. Jahrhunderts gesagt
wird: Urbes ibi et castra sine muro et turribus ligno tantum ac fossatis
muniuntur; eeelesiae ac domus nobilium humiles et vili scemate.
3 Am eben angef. O. Studia hominum aut venatio aut piscatio est. vel pe-
eorum pastura. In his etenim omnes diviciae illorum consistunt: siquidem
agrornmseultus rarus ibi est. Vgl. darüber auch Helmold.
1 Procop. de 6. g. 2, S. 335 (Bonn) oixouoi ok ev xa).u[iai^ oixipat^ oiEax.rj-
VTjü.cVrj: -o\\m jj.'ev an’ aWo^Xtov, d(j.e(ßovt£s 3k to? ta -oWot rov xi)< Ivoixijaswe
Ezaaroi ytopov. Jordanis S. 27 (Closs) paludes silvasque pro civitatibus
habent. Diesen Berichten stehen zur Seite Mauritius aus dem 7., Ibn
Dasta im 10. Jahrhundert. „In den dichten Wäldern wohnen sie“, be
merkt der letztere. Eben so Johannes von Ephesus, übers, von Schönfeld
S. 255.
J Ueber die Bienenzucht der alten Slaven s. Ibn Dasta, herausgegeben von
Chwolson (russ.) S. 126.
Sitzangsber. d. pliil.-Uist. CI. LXXIII. Ud. I. Ilft.
6
82
Roes ler.
den Wäldern, wo die grossen Thiere, der Auerochs, das Elen, 1
der Bär, noch in ursprünglicher Stärke hausten, muss der
Kampf mit diesen ein ununterbrochener gewesen sein. Welche
tüchtige Soldaten diese überaus abgehärteten Leute abgaben,
hat man zuerst im griechischen Reiche erkannt. 2
Es fragt sich, warum dieses Volk, dem es an Zahl so
wenig fehlte, wie an Lust, sich der Güter der Nachbarn zu
bemächtigen, nicht erobernd aufgetreten ist. Es haben sich
Forscher erhoben, die um dieses ihnen unwahrscheinlich be-
dünkenden Stilllebens wegen behauptet haben, dasselbe Volk
habe unter dem Namen Skythen und Sarmaten schon weit
früher eine weltgeschichtliche Rolle gespielt. 3 Doch ist es nicht
so schwer, die lange Passivität zu erklären. Die Slaven waren
östlich, südlich und westlich von stärkeren, kriegskundigeren
Nachbarn umgeben und wie in einen undurchbrechlichen Ring
eingeschlossen. Gegen diese kühnen Nachbarn mochten sie
vielleicht hie und da einen raschen Streifzug ausführen, einen
ernstlichen Strauss begehrten sie aber nicht. Einzig nach Norden
hin gegen die noch ruhigeren Finnen hätte sie nichts gehindert,
siegreich vorzudringen — wir wissen auch nicht wie viel Boden
sie ihnen schon in alter Zeit abgenommen haben —- aber die sicli
steigernde Unwirthlichkeit jener Länder, die äusserste Armuth
der bedürfnisslosen Bevölkerung, die auf ihnen hauste, konnte
keinen zu starken Antrieb zur Eroberung abgeben. Und warum
waren diese Nachbarn, Gothen Bastarnen Sarmaten Alanen,
mächtiger als die Slaven? Von allen den Kräften abgesehen,
die in den Tiefen dos Gemüthes walten und sich schwerer be
stimmen und abschätzen lassen, vor allem darum, weil sie auf
einer höheren socialen Stufe standen, weil sie von einem festeren
politischen Bande zusammengehalten wurden, als die Slaven.
1 Im Przypiecgebiete am Slucz und Horyn gab es noch 1787 viele Elen.
Job. Willi. Möller, Reise von Volhynien nach Cherson. Hamburg 1802.
Heber die einstige Verbreitung und das allmähliche Verschwinden des
Elens handelt J. F. Brandt, Beiträge zur Naturgeschichte des Elens. Mem.
de l’Acad. de Science de St. Petersb. 1871. S. 50 ff.
2 Tlieophan. S. 559. Theophan. Contin. 306. 474. 481.
:i .Tiingst besonders wieder Cuno, Forschungen S. 230 u. 303, wo er gegen
Schafarik, der hier das Richtige erkannte, polemisirt. Vor Schafarik hat
bereits W. Surowiecki in dem angeführten Werke die Gründe, welche
gegen solche Behauptung sprechen, zur Geltung gebracht.
Zeitpunkt der slaviachen Aneiedlnng an der unteren Donau.
83
Die Zersplitterung dieser in tausende von gesellschaftlichen
Monaden, die aber keine prästabilirte Harmonie zusammenband
in einen kräftigen Organismus, die Kindlichkeit der gesell
schaftlichen Zustände, die überall bestehen blieben, so lange
nicht äussere Gewalten sie zerstörten oder sie abzulegen
zwangen, machte die Slaven ungeeignet, das Schwert gegen
das Ausland zu kehren, das ihnen voran geeilt war in poli
tischer Entwicklung. 1 Uebrigens haben auch später die Slaven
gern fremder Leitung den Anstoss zu erhöhter Thätigkeit ver
dankt; ihr grösster Staat ruht auf den Traditionen einer Disci-
plin, welche nicht im Schosse der Nation selbst emporkam.
Zwischen der südlichen karpatischen und der nördlichen
baltischen Landhöhe breitet sich durch die ganze Osthälfte des
alten Königreichs Polen eine sumpfige Niederung, das weit
läufige Gebiet des Prypet, der zum Dnieper, fliesst und seiner
mächtigen Nebenflüsse, des Styr, Horyn, Slucz und anderer.
Es setzt sich westwärts bei ähnlicher Beschaffenheit des Bodens
in geringerer Ausdehnung am Bug und Narew fort. Die ganze
weite Thalung von der Weichsel bis zum Dnieper ist auf
einem Räume, der der Hälfte des jetzigen Königreichs Preussen
gleichkommt, noch jetzt, nachdem die Cultur schon vielen
Boden urbar gemacht hat, mit dichtestem Wald bedeckt. Die
Frühjahrsüberschwemmungen schaffen daraus eine undurch
dringliche Wasserwüste, wie derengleichen in Europa sich
nicht wieder findet. Im Norden und Süden dieser die alten
Landschaften Masowien Podlachien und Podlesien ausfüllenden
unwegsamen Region, an den sanften Abhängen der hohem
Bodenschwellen muss die westliche Wanderung der Slaven er
folgt sein. Doch sind die ersten Scharen derselben, welche
längs dieser ostwestlichen Eintiefungen der mittleren Weichsel
und des Centrums des spätem polnischen Staates vorbrachen,
kaum zu ruhigem und dauerndem Wohnen gelangt. Die Aus
breitung, welche das gothische Volk nach Osten zu nehmen
aufing, trat den Slaven in den Weg und gestattete ihnen nicht,
1 Es fehlt nicht an alten Zeugnissen darüber, so bei Mauric. Strateg. S. 21‘2
ä-a/.TOi y.j.: «vapyoi toajiEp kb.Xaßot, 8. 275 avap/a ok xai [jiaäXl.rp.x ovia
S. 275 ouok Taftv -pivtiaxouaiv und bei Nestor erklären die Slaven selbst:
zemjla nasa velika i obilna, a narjada v nei njet.
6*
auf der betretenen Strasse neuen Nachschub gegen West zu
werfen. Als die Gothen im 3. Jahrhundert gegen den Pontus,
in die Nähe der reichen Länder des,Reiches' schlechthin drängten,
warfen sie auch die sich entgegenstellenden Spalen vor sich
nieder. 1 Es war vielleicht der erste Kampf zwischen Germanen
und Slaven, der geschichtlich bezeugt ist, und der erste auch, in
dem Slaven, wie in der Folgezeit so oft, vor den Germanen den
Kürzern zogen. Die Spalenniederlage fällt kurz vor das Jahr 238.
Losgerissene Haufen von Wenden (Yenadi) verzeichnet
die Reichsstrassenkarte im Norden Dakiens und an der Donau
mündung. Es ist das erste noch isolirte Erscheinen der Slaven
an den Karpaten, oder bastarnischen Alpen der Zeit. Dass
die Höhe der gothischen Macht bis zu den Tagen Ermanareiks’
(375) und die Herrschaft der Gepiden an der Weichsel
eine gewaltsame Westwanderung der Slaven völlig zu hindern
im Stande war, leidet keinen Zweifel, — Ermanareiks selbst
besiegte einmal die Wenden 2 — ob aber nicht friedliches
Weiterrücken unbewehrter Leute aus der anschwellenden Be
völkerung und in Folge derselben eine Verdichtung der Volks
massen im mittleren Weichsel- und Buglande stattfand, lässt
sich nicht sagen. Kaum aber haben sie sich über die Weichsel,
gewiss nicht über die Oder vorgeschoben, eben so wenig ge
lang es ihnen noch Fuss zu fassen zwischen den Karpaten
und dem Pontus Euxinus. Hünen im Osten, Gothen west
licher wehrten bis zum Ende des 4. Jahrhunderts jedem Volke
von Norden her das Vorrücken.
Als sich die Hunenherrschaft über alle östlichen Germanen
ausdehnte, war damit zu Gunsten der Slaven nichts geändert.
Aber der Untergang des ephemeren Reiches nach 453 schuf
sogleich eine andere Karte im Osten. Gepiden und Gothen
nahmen den Innenraum der Karpatenburg und überliessen die
äusseren Anräume jedem beliebigen Einwohner. Die ge
schwächten Hünen waren weit nach Osten zurückgewichen, in
jene Sitze, welche das Volk schon vor der denkwürdigen Ex
pansion unter Attila sein genannt hatte.
1 Jordanis de reb. get. 4 (Closs S. 21) illico ad gentem Spalorum adveniunt,
c.onsertoque proelio victoriam adipiscuntur, exindeque iam velut- victores
ad extremam Scytliiae partem, quae Pontico mari vicina est, properant.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung an der unteren Donau.
85
Das war das Signal zur Entfesselung der Slaven; nun
hielt kein Dämm die Fluth des Nordens zurück und auf der
ganzen Linie zwischen dem unteren Dnieper und der Donau,
von der Katarakte bis zur Mündung, nahmen sie ihre Wohn
sitze. Es ist eine Strecke von 120 Meilen. Den Donaulimes
ihnen gegenüber hielten bis 488 die Gothen und so waren ein
Menschenalter hindurch die Slaven Nachbarn der Gothen.
Da sie sich zu gleicher Zeit bis über die untere Oder
vorgewagt, von wo die Germanen gleichfalls sich zurückge
zogen hatten, um ihrerseits sich zum Schaden ihres Volks
thums in dem zahlreicheren romanischen Elemente der südwest
lichen Provinzen des Römerreichs zu verflüchtigen, so um
spannten die Slaven einen ungeheuren Raum von ihnen noch
unbetretenen Landes, der vorerst ihre weitestgehenden An
sprüche vollkommen muss befriedigt haben. Die bedeutungsvolle
Thatsache der zweiten Hälfte des fünften Jahrhunderts ist
freiwilliger Abzug der Germanen aus den östlichen Stammsitzen
längs dem Meere von der Memel bis zur Oder und (nach dem
Satze natura liorret vaeuum, der in die Völkergeschichte über
tragen lautet: kein Wohnraum bleibt auf die Dauer leer) die
darauf folgende Ueberschwommung und Infiltrirung des Ger
manenbodens durch die östlichen Nachbarn, welche es nach
westlichen Sitzen ebenso zu verlangen schien als die erstehen.
Die Germanen aber fuhren fort, in den neu erlangten Be
sitzungen sich wechselweise zu schwächen und zu vertilgen,
und öffneten so den Slaven noch weitere Räume zu dauernder
Ansiedlung: Neid und Streitsucht, Abenteuerlust und Unbot-
mässigkeit waren die Dämonen, welche den Germanen Dakien
und Pannonien entrissen. Das Letztere haben die Ostgothen den
Langobarden überlassen, die Langobarden wieder den Avarcn,
nachdem sie sich mit diesen verbunden, um den letzten Zweig
der Gothen, der bodenständig geblüht hatte, die Gepiden, des
staatlichen Daseins zu berauben (567). 1
Etwa ein Jahrhundert lang umstanden denn die Slaven
die Karpaten auswärts von allen Seiten. Wo deren Ausästungen
1 Vielleicht gegen 60.000 Männer fielen allein im letzten grossen Todes-
kampfe der Gepiden. Sigebert. Gemblac. M. G. SS. VI, 317.
8(3
Bo e sler.
im NW. und SO. die Donau berühren bei Karnuntum und an
der Katarakte erscheint der Ring noch ungeschlossen. Oder
reichten die Slaven schon damals die Donau noch weiter auf
wärts? Es scheint beinahe, dass sie unter Connivenz der Ge-
piden im sirmischen Theile Unterpannoniens bereits sesshaft
zu werden anfingen, ehe noch Jordanis sein wichtiges Werk
beendet hat. Das ist vielleicht 551 oder doch gewiss vor 555 1
geschehen. Im Kriege mit den Langobarden ist zu den Ge-
piden slavisches Hilfsvolk gestossen 2 , die Gepiden haben den
Slaven hinwiederum ihren Schutz angedeihen lassen, als sie von
einer Raubfahrt aus Illyricum lieimkehrten und das römische
Heer hinter ihnen her war, um sie für die Gewaltthat zu züch
tigen. Gegen ein hohes Fährgeld Hessen sie die fliehenden
Räuber über die Donau. 3 Hier muss die Vermuthung entstehen,
dass der Rückzug der Slaven auf das norddanuvinische Gebiet
erfolgt sei auf der Strecke zwischen der Savemündung und
der Katarakte, denn eben da grenzte Gepidien an das rö
mische Reich und den Strom, alles andere Uferland im Norden
des Stromes oder die sogenannte walachische Uferseite war ja
ohnehin slavisch, und sie hätten dort weder der Erlaubniss
zum Uebersetzen bedurft, noch Gepiden gefunden, die ihnen
Schutz gewährten. Wenn die Slaven aber eben auf dem an
gedeuteten Stromgliede sich zum Uebergange anschickten,
müssen sie mit den Gepiden auf sehr gutem Fusse gelebt
haben, um die Erlaubniss zum Durchzug bis in ihr Land von
denselben mit Beruhigung erwarten zu können, oder sie müssen
in jener Gegend selbst, unter der Oberherrschaft der Gepiden,
gewohnt haben. Für die letztere Alternative spricht Jordanis,
wenn nämlich die Erklärung die ich von dem stagnus Mur-
siauus gebe, annehmbar befunden wird. Der stagnus Mursia-
nus erscheint an zwei Stellen dieses Schriftstellers. Einmal
wird seine Lage dadurch bestimmt, dass an ihm die östliche
Grenze Skythiens beginnt; 1 die Grenze Skythiens ist aber auch
1 Wattenbacli, Deutschlands Geschichtsquellen im Mittelalter, S. 59.
- Kropatschek, De Gepidarum rebus. Halae 1869, S. 39.
3 Procop. 6. g. 4, 24.
4 c. 5 (Closs S. 22) Seythia siquidem Germaniae terrae confinis eotenus,
ubi Hister oritur (orditur?) anmis, vel stagnus dilatatur Morsiauus.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung an der unteren Donau.
87
da, gemäss derselben Stelle, wo der Fluss Ister entspringt,
d. h. wo der Strom den Namen Ister zu führen beginnt, wäh
rend er bis dahin Danuvius hiess. Wo aber lag die Grenze
für diese verschiedene Namengebung? Nach Strabon an der
Katarakte 1 d. i. wohl oberhalb der Katarakte, denn die
gesammte Strecke von der Savusmündung bis zum Anfang der
Katarakte, etwa bei Novae in Obermoesicn, war einst dakisch,
und erst weiter aufwärts begann das Gebiet der keltischen
Völker. Dakisch oder, was dasselbe ist, thrakisch hiess die
Donau Ister, keltisch Danuvius; wo sich das Gebiet der beiden
Sprachstämme einst schied, trat der Namenwechsel ein.
Nach der zweiten Stelle des Jordanis 2 fingen die Wohn
sitze der Slaven zu des Schriftstellers Zeit, den wir uns,
als er dies abfasste, in Constantinopel zu denken haben, also
an einem Orte, wo er über diese ethnographische Frage gut
orientirt sein konnte, bei dem lacus Mursianus und einer Stadt
an, welche nach der besten Handschrift Nova oder Novae
lautet. Wo nun lag die Wasserfläche, die bald Mursianiseher
Teich, bald See genannt ist? Der auf den Stadtnamen Novi
folgende räthselhafte Zusatz etumense hat der Erklärung die
grösste Schwierigkeit gemacht, und je nach deren Entscheidung
wurde der Mursianische See bald da, bald dort angesetzt.
Th. Menke hat sich neuestens für das heutige Sistova erklärt 3
und setzt darum den Mursianus in die Walachei nördlich von
jenem. Aber man muss es sehr bezweifeln, ob geographische
Vorstellungen über die grosse Walachei, die selbst in der Zeit
des Besitzes derselben durch die Römer ein unbekannter Boden
war, im sechsten Jahrhundert im Umlaufe waren, so dass Jor
danis davon Gebrauch machen konnte. Sodann ist die Con-
1 S. 305. Die römische Herrschaft und Colonisation am moesischen Ufer trug
dazu vor allem hei, dass der von den Römern angenommene Name Danuvius
über den andern, den die Griechen vorzogen, obsiegte. Nach Ptolemaeos
(3, 8, 3) iin 2. Jahrhundert, führte die Donau nur mehr von Axiupolis
d. i. von ungefähr der letzten Nordwendung des Stromes an den Namen
Istros.
2 Ausgabe v. Closs S. 27.
3 Spruners Handatlas für die Geschichte des Mittelalters und der neueren
Zeit. 3. Aufl. Er schlägt die Lesung vor a Civitate nova et Utense und
bestimmt Civitas nova als Sistova.
88
Ro eale r.
jectur Menke’s gewaltsam. Doch wie dem auch immer sei,
man darf hei Novae sehr wol auch an das obermoesische Novae
östlich von Viminacium denken, und den Mursianus suche ich
eben da, wo der Name als ein Jedermann bekannter sich findet,
es ist Mursa am Di’avus, das auch Mursia hiess. 1 Zwischen
Mursa und Cibala (Vinkovce) gab es einen Bereich ausge
dehnter Sümpfe, welche im 2. Jahrhundert nach Chr. Volkaea
hele, Sümpfe des Volka- (WolfsJ Flusses genannt wurden. 2
Yermuthlich sind diese Sümpfe auch nach der bedeutendsten
Stadt in der Nähe Mursianischer Sumpf genannt worden.
Wir werden also wieder auf dieselbe Localität verweisen,
die wir schon früher vermuthen durften. Ist meine Beweis
führung richtig, dann waren Slaven um die Mitte des 6. Jahr
hunderts schon im Saveland, und lebten im Schirm gepidischer
Herrschaft, der sich freilich schon nach wenigen Jahren als
sehr gebrechlich erwies. Die Avaren, welche nach dem be-
klägenswerthen Untergang des gepidischen Reichs und dem
Abzug der Langobarden in’s germanische , Volk ergrab ‘ Italien,
ihre Zelte bis nach Noricum vorschoben, fanden die Slaven schon
vor im walachischen Tiefland und wenn wir denn recht sehen,
auch im heutigen Slavonien. Sie scheinen weiterer Einströmung
dieses Elements in der eingeschlagenen Richtung nicht nur
keinen Widerstand geleistet, sondern diese Tendenz noch ge
fördert zu haben, vielleicht dass sie selbst auch Schwärme
von Menschen am Dniester und Dnieper aufgriffen und in die
Gegenden warfen, wo sie selbst sich niederliessen, um die
nendes Volk nicht zu entbehren, wie uns denn berichtet wird,
dass sie Slaven aus der Gegend bei Thessalonich nach Pan
nonien versetzt haben.
1 Moupata bei Ptol. (II, 16, 8. VIII, 7, 6), Aurel. Vict. de v. Caesar. 33.
2 S. über den Ulcus amnis und die Sümpfe u. a. W. Tomäschek, Oesterr.
Gymnasial Zeitschrift 1867, S. 710. Schon das Registr. de Varad aus dem
Anfang des 13. Jahrhunderts nennt eine villa Uulchoi, Uelchea (Endlicher
Mon. Arpad. S. 739, 647), das castrum Wolkou (Wulckow, Walkow,
Walko, Valko u. s. w.) begegnet uns in zahlreichen Urkunden. Es ist
das heutige Vukovar in Slavonien.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung an der unteren Donau.
89
Ueberall auf dem bezeichneten Raume, wo sieb die Slaven
niederliessen, bildeten sieb bald Benennungen für die einzelnen
Tlieile der Nation aus; Flusseinschnitte, Wälder, Seen, Berge,
Meeresnähe wurden die Quelle der Namen; häufig' kam dabei
Anlehnung vor an die Namen, welche man für die Naturob
jecte vorfand, ebenso häufig Neubildung oder Uebertragung.
Ueberall wird der Name der Bewohner erst später zum Gau-
und Landnamen.
Diese geographische Benennungsweise, die nächstliegende
aller für ein Volk, in dem die politischen Gewalten noch nicht
bedeutendes Gewicht ausiiben, hat wohl schon vor der Wan
derung, im Mutterlande Platz gegriffen und bei der Zähigkeit,
mit der sich in einfachen, langsam vorrückenden Zuständen
Namen erhalten, kann es leicht sein, dass die Namen für die
Gaustämme des Mutterlandes, welche uns Kaiser Constantinos
im 10. und Mönch Nestor im 12. Jahrhundert überliefern, schon
vor der Wanderung an derselben Stätte hafteten.
Da werden denn genannt die Poljane, d. i. Bewohner
der Ebene im mittleren Dniepertlial um Ivijew, westlich von
ihnen in den weiten Wäldern die Derewljanen (AspßXev(voi), die
Poloeane dort, wo die Polota in die Düna fällt, um Polock;
der Grund mancher andern Benennung ist nicht so klar, denn
mancher Wortstamm ist seither verschollen und manche Oert-
lichkeit, der Grund der Benennung, heute nicht mehr be
stimmbar.
Als die Slaven hervorbrachen aus dem Dnieperbecken,
dem Centralboden ihrer altheimischen Wohnsitze — zunächst
eine neue Gefahr für die Cultur der abendländischen und den
Bestand des durch die Germanen und Hünen schwer erschüt
terten römischen Reiches — da nannten sie sich insgesammt
nicht mit einem der Stammnamen, welche von gewissen Oert-
lichkeiten, von Feld und Wald und Flüssen den Namen trugen,
weil diese Theilbenennungen für die wohl aus allen Theilge-
bieten des Mutterlandes aufbrechenden Massen zur allgemeinen
Bezeichnung sich nicht eigneten, sondern mit den zwei Namen
der Slavenen und Anten. 1 Die Bedeutung des ersteren als
1 Procop. de b. g. 3, 14. S. 334, 336. Die Einschiebung des k in Sklavenen
statt Slavenen ist nur dem Umstand zuzuschreiben, dass griechischer wie
90
Boesler.
die ,Redenden', gewählt im Gegensätze zu den fremdzüngigen
Völkern, in deren Mitte sie nun allerseits eintraten, kann nicht
angezweifelt werden. Dagegen ist die Bedeutung des Anten
namens, der Grund einer Doppelbenennung überhaupt und der
Zusammenhang zwischen Slavenen und Anten dunkel. Im
sechsten Jahrhundert, als längst die Aussendung der wandern
den Leute erfolgt war, werden Anten als die östlichen Nach
barn der Slavenen bezeichnet, und ihre Wohnsitze über dem
Pontus, zwischen Dnieper und Dniester angesetzt. Einige Jahr
hunderte später aber, ohne dass seither welche Verschiebung
der Massen stattgefunden hätte, nennt ein Schriftsteller aus dem
Dnieperlande selbst, also auf eigentlich antischem Boden, alle
die Völker die zu seinem Stamme zählten, Slavenen und be
legt die westlichen Slaven, also die Slovenen der früheren
Zeit, mit dem besonderen Namen der bis dahin nicht vernommen
wird, Lechen Ljachen. 1 Prolcopios’ Anten sind also bei Nestor
Slovenen. Und so ist der Name Slovenen noch später west
lichen Slaven eigenthümlich, während der Name Anten ganz
erlischt. So scheint denn Zeuss in der That Recht zu haben,
wenn er meint 2 , ,dass jede der zwei grossen Abtheilungen sich
selbst Slovenen (die Redenden, sich gegenseitig Verständigenden)
nannte, und der zweiten durch ihren abweichenden Dialekt ihr
weniger verständlichen Völkerfamilie einen eigenen Gesammt-
namen gab'. Schade nur, dass der Name Anten auf slavischem
Sprachgebiete bisher keine sichere Erklärung fand; gewiss
aber darf man ihn nicht nach Dobrovskys Vorgang mit dem
germanischen Wendennamen zusammenbringen.
Einige der Glieder des Volkes haben den gemeinsamen
Namen der Slavenen oder Slovenen wohl schon frühe fallen
gelassen, da sie in beglaubigter Zeit denselben nicht
führen, so die Serben (Sorabi) der Nordwestgruppe, die Serben
lateinischer Mund sich gegen den Anlaut a\ sträubt und ihn durchwegs
nicht duldet, ja seihst im Inlaut ablehnt, so wurde aus Visla Vislus,
Viscla, Vistla, Visculus schon bei Plin. (h. n. 177). So auch in den ro-
man. Mundarten, doch ist makedorom. scllifure wol älter als suljiliur. Lat.
Sclavus wurde it. schiavo Schiavone, alb. (geg.) iskja Bulgare, skläf Sklave.
1 Seine Bedeutung als Bew'oliner der Ebenen wird durch Röpell, Gesch.
Polens 1, 30. Anm. 24, sehr wahrscheinlich gemacht.
2 S. 69, 604.
Zeitpunkt der slavisehen Ansiedlung an der unteren Donau.
91
des Südens, die Chrovaten u. a. Wenn einige dieser Tlieile
später Namen führen, die schon im Stammlande hervortreten,
so dürfen wir daraus noch nicht den Schluss ziehen, dass die
Beiden in einem engeren Zusammenhänge standen; die Pölen
(Poljane Polacy) sind also keineswegs Auswanderer der Poljane
am Dnieper, die Serben (Sorabi) der Elbe nicht eine Colonie
der Serbioi, welche Kaiser Constantinos im Mutterlande nennt,
die Chorvaten in Russland und die weissen Chorvaten in Illy-
rien eben so wenig nähere Verwandte, sondern überall, wo die
gleiche Naturbeschaffenheit sich zeigte, fand sich auch wohl
derselbe Name wieder ein, darum nannten sich die Ansiedler
der Weichselebenen ebenso ,Flachländer', wie es die am Dnieper
in derselben Natur gethan, so begegnet uns der Name Pomorane,
Zagorci, Zachlumi, Drewaner mehr als einmal, weil es mehr
als eine Ansiedlung' gab, welche die Lage am Meer, hinter einem
bedeutenden Berge oder Hügel oder an Wäldern veranlasste,
davon den Namen sich beizulegen. Nur ist es nicht gelungen,
die Stämme aller Namen klar zu machen; so waltet insbeson
dere Dunkel über dem Serben- und Iirvaten- (Kroaten)-Namen. 1
Sind es nicht die Gepiden gewesen, welche den Slaven
des walachisehen Tieflandes den Gebirgskranz Dakiens und
Ungarns eröffneten, so ist deren Ansiedlung doch wenig später
daselbst erfolgt in den Tagen avarischer Herrschaft. Die Wege
auf welchen die neue Fluth einlief, die Lagerung der Stämme,
die Aufeinanderfolge der Besetzungen, alles dies und anderes
bleibt im Dunkel. Vermuthungen aus den spätem Verhält
nissen geschöpft, müssen an die Stelle der Berichte treten.
Nur so viel steht fest, dass zwischen 568 u. 592 die Slaven
Pannonien in seinem ganzen Umfange zur Zeit der Römer,
1 Ueber diesen handelt am besten, ohne jedoch zu einem sicheren Ergeb
nis zu gelangen, Zeuss S. 607, 608 die Anmerkung. Kühner bricht Leo,
Vorlesungen über die Geschichte des deutschen Volkes und Reiches 2, 115,
sich durch alle etymologischen Dickichte Bahn, und entdeckt in Serben
Servier Sorben (obgleich er selbst diesen Namen S. 120 von Serben zu
trennen weiss und aus dem Gaunamen Zurba ableitet) , Sirmiern Sar-
maten Slawen Slowenen Sclaven Sclavinen den einen Stamm sr, gehen
laufen. Alle sind demnach ,Wandernde, Strömende*.
92
Ro esl e r.
Noricum und alles Land von der Donau bis Istrien erfüllt
haben. Da die Bevölkerung der späteren Steiermark durch
aus dem im engeren Sinne sogenannten slovenischon Stamme
augehört, welcher Pannonien wie Kärnten und Krain erfüllte,
im Norden der Donau (Oesterreich und westliches Ober-Ungarn)
ein anderer vom slovenischen sprachlich sich sondernder
Stamm sesshaft erscheint, so wird die Ansiedelung der Slaven
in Pannonia Noricum und Istria nur von Osten her erfolgt
sein, von jenem grossen Bevölkerungsstrome, der, vom Süden
des Mutterlandes ausgehend, die Dniester- und Donauländer
ergriff und den wir den südöstlichen oder pontodanuvinischen
nennen können, im Unterschiede von dem, der durch die
Prypetpforte nördlicher nach Westen vorbrach, die Weiclisel-
und Oder-Landschaft erfasste, vielleicht durch die Karpaten
pässe nach Oberungarn, durch die Oderpforte nach Mähren
und Böhmen eindrang. Der südöstliche Strom also hat sich nach
dem Lauf der Donau aufwärts bewegt und ist so in das sir-
inische und pannonische Hügelland eingedrungen, welches als
ein reiches Gefilde Bewohner anlockte. Dass der in entgegen
gesetzter Richtung später in Noricum einrückende bajuvarisehe
Stamm so wenig Schwierigkeiten bei der Ansiedlung in Oester
reich südlich der Donau, in Nord-Steier und Nord-Kärnten
fand, obgleich er hier überall schon auf Slaven stiess, hat seinen
Gi'und vor allem in der ungleich minderen Dichtigkeit, in welcher
die Slaven das nördliche Gebirge erst erfüllt hatten. Im
Gegensätze dazu lässt der geringere Erfolg der Bajuvarisirung
im Gebiete südlich der Drau annehmen, dass eben hier die
Dichtigkeit der Slavenmassen besonders intensiv war. Auch
scheint sich die Dichtigkeit mit der Entfernung vom Aus
gangspunkte der Bewegung vermindern zu müssen. Vor allem
aber muss im Auge behalten werden, dass die Slaven von der
Ebene kommend, an der Ebene (sei sie nun höher oder tiefer
gelegen) und am Hügellande mehr Gefallen fanden, als an dem
Gebirge. Sie haben dieses, so lange Auswahl möglich war,
immer bei Seite gelassen, die Gebirgsränder Böhmens haben
die Slaven nicht besetzt, in Siebenbürgen, das sie nach
dem Untergange der Gepiden hätten ausfüllen dürfen, haben
sie nur spärlich Platz genommen. Nur wenn ein Thal so all
mählich aufstieg, wie das Drautlial, sind sie bald tief in das-
Zeitpunkt der slavisclien A.nsiedlung an der unteren Donau.
93
selbe hineingekommen, schon 592 fielen Kämpfe der Slaven
mit den Bajuvaren vor, die am Toblaclier Felde auf einander
stiessen. Erst ein Jahrtausend der Fortpflanzung hat die spär
lichen Elemente, welche sich ins Gebirge einbetteten, ver
dichtet. So haben denn die Slaven Obersteier nur in einigen
offeneren Thälern besetzt, die höheren Schichten nur wenig be
treten und es konnte ihnen der Germane zuvorkommen. Haben
sich der slovenische und der eechoslavische Stamm in ihren
Aussendungen einmal berührt? Der letztere hat die Donau
überschritten und das südliche Land besetzt; zwar nur in ge
ringem Masse, denn seine Zahl reichte offenbar nicht aus, um
so viel Boden zu bedecken und bald setzte das Gebirge seiner
Ausbreitung Grenzen. Ebenso ist der slovenische Stamm über
die Marke des Semmering und derjenigen Alpen, die sich west
wärts ansehliessen, gewiss nicht hinausgegangen; im Gebirge also
fand die Berührung wol nicht statt; aber in der pannonischen
Ebene, die vom Wienerwalde schrankenlos nach Osten ausläuft,
werden die Wanderer des südöstlichen und die Colonisten
des nordwestlichen Stromes auf einander gestossen sein. Wo
diese Linie gewesen ist, bleibt unbestimmbar. Die grossen
Kämpfe zwischen Avaren und Germanen haben das Slaven-
tlium im Donaubecken sich nicht entwickeln lassen. Ein Tlieil
des in der Völkerwanderung von den Germanen erworbenen
Landes fiel ihnen wieder zum Lose und die Enden des grossen
Slaven-Kreises wurden so gehindert sich zusammen zu schliessen.
Die spätere Zeit drängte sie immer weiter auseinander und
auch im Donaumündungslande riss der Zusammenhang wieder
ab. Die Mitte des Kreises aber füllte endlich ein Stamm der
Ugren.
Welche Rolle die Avaren dabei gespielt haben, gehört zu
den vielen unaufgeheilten Punkten dieser Völkerverschiebungen.
Dass sie der Ausbreitung der Slaven nicht fremd geblieben
sein können, ist gewiss, herrschten sie doch jetzt über dasselbe
Gebiet, das die Slaven auszufüllen sich gedrängt sahen. Haben
sie die Slaven vorgeschoben als erste Verthcidigungslinie gegen
Langobarden und Bajuvaren? Dazu waren die Slaven doch
wol noch zu wenig kriegerisch geschult. Haben sie sich ihrer
als Ansiedler im verödeten Pannonien und Noricum bedient,
und sie zu dessen Bewohnung eingeladen? Die Slaven waren
bis dahin noch viel zu wenig Freunde eines fleissigen Acker
baues, als dass sie diesen aus freiem Antrieb gepflegt hätten.
Anders freilich dann, wenn die Avaren das Slavenvolk zur Ar
beit zwangen, wenn sie sie zu Feldknechten und zu jeglichem
Dienste pressten. Und diese Zwangarbeit zu Hause wie im
Felde wird es hauptsächlich gewesen sein, was den Avaren die
Slavenzuwanderung in die verödeten Marken der beiden rö
mischen Provinzen angenehm machte. Unter solchen Lehr
meistern eigneten sich die Slaven auch jene Kriegs- und Zer
störungskünste an, durch welche sie schon in nächster Zeit den
Umlanden furchtbar wurden. Zwischen den Jahren 602 und
611 suchten sie sich mit den Avaren Istrien und Dalmatien
zum Schauplatz aus, und Istrien wie ein Theil des Carner-
landes (Friaul) ging aucli in bleibenden Besitz der Slaven über.
Aber schon früher hatten die slovenischen Slaven die
Länder rechts der unteren Donau mit Plünderungen erfüllt.
Jahre lang haben Slovenen und Anten, mit Hünen (Bulgaren)
von der Maeotis im Verein, die Landschaften Moesiens Thra
kiens Makedoniens und alles flache Gefilde bis an die Thore
von Constantinopel, bis in den Peloponnesos und an die joni
sche Meerküste hin verwüstet und es lag nicht an ihnen, wenn
von der alten Cultur noch etwas aufrecht blieb. So ging es in
entsetzlicher Weise fort unter den Regierungen des kläglichen
Justinian II. (527—565), Justinus II. (f 578) und Tiberius II.
(f 582). Die Ausmordungen, die Wegschleppungen mussten die
ohnehin arg herabgebrachte Volkskraft des romäischen Reiches
erschöpfen, während die wahnsinnige Zerstörung alles unbeweg
lichen Eigenthums neben dem ungemilderten Steuerdruck die
Reste der Bevölkerung an den Bettelstab brachte oder sie dazu
zwang, von der Sesshaftigkeit und dem Landbau zum flüch
tigen Nomadenthum des Hirten hinabzusteigen. Es war eine
furchtbare Zeit, in welcher Blut wie Wasser vergossen wurde.
Wie viele von den fortgeführten Gefangenen sind wol auf
dem Wege zu unbekannten Barbaren dem Hunger, den Schlä
gen, der ungewohnten Anstrengung und schlechten Behandlung,
dem trostlosen Kummer über ihr und der Ihrigen Schicksal erlegen.
Damals geschah es, dass von der zahlreichen romanischen und
romanisirten Bevölkerung nur der nomadisch lebende" Theil das
Leben bewahrte, und wer es bewahren wollte, Nomade wurde.
Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung an der unteren Donau.
95
Mit ihnen vermischte sich das zahlreiche aus Carpen Sarmaten
Bastarnen und anderen Stämmen gebildete, gleichfalls schwei
fende Bevölkerungselement, das im Laufe der letzten zwei
Jahrhunderte auf der Halbinsel war angesiedelt worden. Das
städtische Leben Moesiens und des inneren Thrakiens, wieder
holt geknickt, ging bis auf kümmerliche Beste unter. 1 Nur
im Gebirge fand die Bevölkerung Schutz, dieses blieb denn
auch romanisch. Das südliche Thrakien und Makedonien,
welche nicht stets den ersten furchtbarsten Anprall zu erleiden
hatten, konnten ihre Städte und ihr Bürgerthum länger be
wahren, besonders in den festen Plätzen der Seeküsten fand es
besseren Schutz. Hier aber war das Bürgerthum ein griechi
sches oder gräcisirtes. Von jetzt an wurde auch der griechisch
redende Theil das einzige, nicht wie bisher nur das vorzüg
lichste Culturelement des Reichs, und so musste auch im amt
lichen Gebrauche das Latein dem Griechischen endlich
weichen. 2
Hier stehe ich nun an dem Punkte, den zu untersuchen
ich mir vornahm, der Bestimmung des eigentlichen Zeitpunkts, in
welchem die Slaven von öfteren vorübergehenden Plünderungs
zügen zur Ansiedlung in der Halbinsel selbst übergingen. Ich
bin genüthigt, von meinen Vorgängern in der Forschung abzu
weichen, weil ich glaube, dass eine genauere Prüfung der Nach
richten zu einem richtigeren und etwas bestimmteren Ergeb
nisse gelangen lasse, als bisher erreicht wurde.
1 Die lateinische Sprache war Sprache des Heeres noch am Ende des
0. Jahrhunderts, Theophylact. S. 254. 272. Sie heisst "drp'.oc rtov PtopLahov
iptov/| 272 oder rrarpio? <piovyj schlechthin 254. 260. 264. 296 oder ijw/wpto;
'(Xu'lTTT] S. 99.
2 Von dem Uebergange aus sesshaftem Leben zu einem beweglichen haben
wir ein Beispiel auf anderem Gebiete an den Tscheyenne-Indianern. ,Von
ihren Feinden, den Sioux, verfolgt und schliesslich selbst aus ihrem be
festigten Dorfe vertrieben, brach dem Stamme das Herz. Ihre Zahl war
zusammen geschmolzen, sie durften nicht mehr wagen, sich ständige
Wohnungen zu errichten, sie gaben die Bebauung des Bodens auf und
wurden ein wandernder Jägerstamm, dessen werthvolles Vermögen nur
in einigen Pferden bestand.* Edward B. Tylor, die Anfänge der Cultur,
Leipzig 1873, 1, 47.
96
Ro e s 1 er.
Kaspar Zeuss, ein Forscher den wir desto mehr bewun
dern, je mehr wir ihn studiren, meinte, dass schon mit dem
Anfänge der Regierung des Maurikios, also um 582, die helle
nischen Länder an die Nordvölker verloren gingen und sah
in den späteren moesischen Slaven einen Antenstamm, der sich
schon um 558 von der nördlichen Masse abgelöst habe, und in
ein bundesgenössisches Verhältniss zu den Römern getreten sei. 1
Miklosich setzt die Eroberung der östlichen Hämusländer durch
die Slovenen zu Ende des fünften Jahrhunderts an. 2 Nach
M. Büdinger haben sich die Slaven im Laufe des sechsten
Jahrhunderts, wahrscheinlich besonders nach dem Abzüge der
Ostgothen und bei dem Vordrängen der Avaren, nach den
Ländern südlich der Donau verbreitet. 3 Schafarik findet in
seinem Hauptwerke, hierin Surowiecki folgend, dass die Slaven
,bereits in der ersten Hälfte des VI. Jahrhunderts in diese Gre
genden eingerückt seien, aber bei ihrem stillen, dem Ackerbau
hingegebenen Leben den Historikern lange Zeit keine Veran
lassung gegeben haben mögen, ihrer zu gedenken'. 4
Um den Leser hierin zu einem sicheren Urtheile gelangen
zu lassen, erscheint es durchaus nothwendig, ihm die Ge
schichte jener Feldzüge vorzulegen, welche unter Maurikios
gegen die Barbaren am Ister geführt worden sind. Es liegt
über diese Ereignisse ein Bericht des Theophylaktos Simokatta
vor, der unter Heraklios schrieb, und ein Auszug desselben
Werks in der weitläufigen und wenig erquicklichen Compila
tion des Abtes Theophanes (f 817). Sie sind beide lange keine
Geschichte, sondern eine Ansammlung unverstandener und oft
unverständlicher Nachrichten, aber sie lassen meines Erachtens
1 Die Deutschen S. 626. 606.
2 Die slavischen Elemente im Rumunisehen S. 4.
3 Oest. Gesell. I, 72. 73.
4 Slav. Alterthiimer 2, 14. W. Surowiecki Sledzenie poczatku Naroddw
Slowianskich S. 218 äussert sich über die moesischen Slaven nur all
gemein: Jest podobienstwo, ze osady te (der sieben Stämme in Moesien)
zawiazaly sie w czasach ciaglycli najazdöw i zagoszczeri w Tracii, to
Slowian zaistrzariskich, to röznych innycli barbarzyiicow, i ze przy spo-
kojnie prowadzonem rolnict.wio, nie daly tu przez dlugi czas zadnego
powodu do zmianki o sobie. Derselbe lässt aber freilich andere Slaven-
schaaren schon um 560 auf der Halbinsel wohnen (S. 216).
Zeitpunkt der elavisehen Ansiedlung an der unteren Donau.
97
das in Rede kommende Verhältniss, in welchem sich die
Slaven am Ister zu den Romäern befanden, noch erkennen.
Unausgesetzt haben die Avaren seit ihrem Eindringen in
das grosse Donaubecken die Grenzen des romäischen Reichs
angegriffen und bedroht. Zinsverträge hatten nur unsichere
Stillstände bewirkt. Jeder neue Regierungsantritt wurde ein
Vorwand, sich über das beschworene Wort hinweg zu setzen,
und das unvorbereitete Reich zu verwüsten. So hatte auch
Maurikios, als er (582) den Thron bestieg, nicht lange auf den
Friedensbruch zu warten. Als der Chagan sein Begehren, den
bisherigen Tribut von 80.000 Goldstücken auf 100.000 zu er
höhen, nicht erfüllt sah, brach er los und fuhr über die Donau
städte zerstörend hin. Nachdem Singidon (Singidunum), Vimi-
naciurn, Augusta und Anchialos in seinen Besitz gefallen waren,
gab der Kaiser, den der Krieg mit den Persern in Europa
wehrlos machte, nach, und der Chagan zog sich in sein Land
zurück, um für ein nächstes Jahr insgeheim die nördlichen
Slaven zu einem Einfalle in das Reich anzuspornen.
Diese unterliessen es nicht, ihren und des Chagans Wün
schen Erfüllung zu geben (584?) und wälzten sich über die
thrakische Halbinsel hin bis zur langen Mauer, das mächtigste
Bollwerk Constantinopels von der Landseite her. Es gelang
mit den Truppen, die man eben in der Nähe hatte, über die
wahrscheinlich ungeordneten Haufen der Slaven einen Sieg zu
erfechten, der sie über die Landschaft Astica hinauswarf. Da
aber bald nachher das Einverständniss, welches zwischen dem
Chagan und den Slaven bestand, dem Kaiser verrathen Wurde
und dieser in unkluger Heftigkeit sich gröblich an dem Tar-
gitios oder Gesandten des Chagan vergriff, so brach der Cha
gan von neuem los (587) und unterwarf sich in einem Zuge
Ratiaria (j. Aröer Palanka), Bononia (j. Vidin), Akys (Aquae),
Dorostylon (j. Silistria), Zaldapa, Paunasa, Markianopolis und
Tr opaeon.
Aus dieser Erzählung wird ein wichtiger Umstand klar;
diejenigen Slaven, welche den Einbruch von 584 machten,
unterhielten gute Beziehungen zu den Avaren, befanden sich
aber in Unabhängigkeit von ihnen. Wären sie Unterthanen
des Chagans gewesen, so würde der Friedensbruch desselben
unmittelbar nach Abschluss des Vertrages, der ihm die Sub-
Sitznngsber. d. phil.-hist. CI. LXXIII.Bd. I. Hft. 7
98
R o e s 1 e r.
sidien erhöhte, sogleich offenkundig geworden sein, und es
hätte nicht erst besonderer Umstände bedürft, dem Kaiser dar
über die Augen zu öffnen.
Ueber die Oertlichkeit aber, aus welcher sich dieselben
Slaven auf das römische Reich warfen, und ob esSlaven vom
Süden oder vom Norden der Donau gewesen, erfahren wir hier
noch nichts. Doch wir haben dem Theophylaktos nur weiter zu
folgen, um die gewünschten Ergänzungen zu bekommen. Nur
so viel erhellt auch ohne besondere Angabe, dass die Slaven,
von denen hier die Rede ist, nicht oberhalb der Donau-Kata
rakte wohnten, denn alle dort wohnenden gehörten als Leute,
die auf dem unmittelbaren Herrschgebiete der Avaren sassen,
zu deren wirklichen Unterthanen.
Wir eilen aber jetzt über den nächsten schweren Kampf
zwischen Römern und Avaren hinweg, weil in ihm von den
Slaven nicht die Rede ist. Nach manchem Wechsel des Glücks
wurden die Avaren, denen es diesmal nicht gelang, sich eines
festen Punktes im Süden der Donau zu bemächtigen, in ihr
Land zurückgedrängt (586).' Die Verweigerung einer nochma
ligen Tributerhöhung, führte den Chagan Bajan im J. 592
neuerdings ins Feld und es erging sein Befehl, dass ihm die
Slaven die Schiffe zimmerten, deren er für den Donauübergang
bedurfte. Die Arbeit des Schiffsbaues — wahrscheinlich waren
es eine ungeheure Zahl jener Einbäume, welche die Uferbe
wohner der Donau seit alten Zeiten verwendeten — wurde
aber von den Bürgern von Singidon (j. Belgrad) durch häu
fige Ueberfälle gestört, so dass der Chagan, um sie daran zu
hindern, Singidon zu belagern anfing. Bereits nach sieben
Tagen willigten die hartbedrängten Städter in die Zahlung von
2000 Dariken und eine Lieferung von Geschenken. Der Chagan
verliess sodann die Umgebung dieses Platzes und beschloss, bei
Sirmion 2 etwas oberhalb von Singidon, über die Save zu gehen
und liess hier durch seine ,Taxiarchen' den Bau der nöthigen
Kähne auf das eifrigste betreiben. Und hier fand denn der
Uebergang auch statt.
1 Das Jahr nach cler Bestimmung der Hist. mise. S. 304. 395. Theophylact.
S. 87—104. Thcophan., irrig zum J. 579, S. 395—398.
2 Theophylact. 240 iMipoiov, die Hist. mise. 404 richtig Sirmium.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung an der unteren Donau.
99
Wir wollen, ehe wir weiter gehen, einige sich aufdrän
gende Schlüsse ziehen. Zunächst den, dass Singidunum, welches
der Chagan vor einigen Jahren in Besitz nahm, hei Anfang
dieses Feldzugs wieder in römischen Händen war. Sodann,
dass die mit dem Bau der Flottille des Chagans beauftragten,
in Furcht vor ihm lebenden Slaven am linken Ufer der Save
wohnten, dass es also keine anderen als die im alten Savia
oder im sirmischen Lande sesshaften Slovenen waren, deren
Kräfte der Chagan in Anspruch nahm.
Der Chagan rückte von der Save in raschen Märschen
auf Bononia (j. Vidin), wendete sich von da südwärts gegen
den Hämus, wo er den Pass von Procliane durch Salvianus
den Legaten des Priskos, des Strategos von Europa, verthei-
digt fand, aber den Uebergang nach mehrtägigen Gefechten
erzwang. Ueber Sabulum Manale 1 am Südabhang des Gebirgs
stürmte er ostwärts vor bis Anchialos, den berühmten Badeort,
den er von früheren Besuchen wohl kannte. Nirgends fand er
mehr ernstlichen Widerstand im offenen Felde. Doch liess er
in panischem Schrecken von der Belagerung Driziparas ab,
marschirte aber bis an die Propontis und an die lange Mauer.
Priskos hatte sich in das nahgelegene Tzurulum geworfen und
hielt hier eine Belagerung aus, bis es ihm gelang, den Chagan
durch die falsche Nachricht vom Anzuge eines grossen Ent
satzheeres in neue Furcht zu setzen, ja selbst in seine Heimat
zurückzuscheuchen. Im nächsten Jahre (593) drang der Kaiser
darauf, dass man die Offensive ergreife. Der Ister müsste
kräftig vertheidigt und die Slaven sollten vom Uebergange
über denselben abgehalten werden. Augenscheinlich hatten die
Slaven, von welchen oben die Rede gewesen, den günstigen
Zeitpunkt benützt und im Rücken des avarischen Heeres ihre
gefürchteten Plünderungen in Moesien und Thrakien wieder unter
nommen. So brach denn Priskos der Strategos von Europa auf,
erreichte von Driziparain fünfzehn Märschen Dorostylon (j. Sili-
stria) an der Donau. Sogleich liess der Chagan seinen Unwillen
über die Verletzung der Verträge auf das Stärkste aussprechen.
Doch vergeblich. Priskos berief sich darauf, dass ein Ileeres-
zug gegen die Slaven mit den avarischen Verträgen nichts
o
1 Tlieopliylact. 89 SaßouVev 3k Mavdö. iov, 248 2aßou)Jvrt KavaXiv.
100
Roe sl e r.
gemein habe und es den liomäern freistehen müsse, die Slaven
zu bekriegen.
Wir lernen aus dieser unvermittelten Erzählung, dass in
dem Momente, als der Krieg gegen die Slaven beschlossen und
eröffnet wurde, Friede mit den Avaren bestand und dass es
dieser Friedensschluss, von dem der ungenaue und unklare
Theophylaktos zu berichten unterliess, gewiss die Ursache ge
wesen ist, dass der Chagan in so auffallender Weise von Tzu-
rulum nach Hause ging, sodann, dass wir es hier mit Slaven
zu thun haben , welche wol die guten Freunde und Helfers
helfer, nicht aber die Unterthanen des Chagans waren. Und
da der Marsch des romäischen Heeres, um die Slaven zu be
kriegen von Drizipara über den östlichen Hämus nach Doro-
stolos ging, vcuwo man über den Ister setzen sollte, so wissen
wir nun auch, dass die Slaven, welche dem Chagan so gute
Dienste leisteten, für die er aber jetzt doch nur seine diplo
matische Intervention wirken liess, in der heutigen Walachei
wohnten.
Die Folge des Berichtes bestätigt diesen Schluss. Zwölf
Tage nachdem Priskos an die Donau gekommen war, hatte er
seine Vorbereitungen beendet und setzte über den Stimm. Eben
war Ardagast zu einem Beutezuge aufgebrochen, den er natür
lich auf romäischem Boden vorhatte. Priskos zwang ihn zur
Flucht, die er Dank seinem schnellen Rosse glücklich voll
brachte. Die Verwüstung von Ardagasts Gebiete und die
Wegschloppung zahlreicher überraschter Slaven schien ein ge
nügendes Ergebniss des glücklichen Vordringens zu bilden.
Doch wenig fehlte, man wäre um den ganzen Slaventransport
gekommen. Am dritten Tagmarsch 1 stürzte sich ein Haufen
slaviseher Krieger zur Befreiung ihrer Brüder herbei und mit
Mühe rettete die Bedeckung ihre Leute, nachdem der feige
römische Offizier Tatimer rasch die Flucht ergriffen hatte.
Da sich der Feind nicht zeigte, liess Priskos den Vor
marsch im walachischen Tioflande fortsetzen, und sein Offizier
Alexandros erhielt Auftrag, über den Fluss Elivakia oder Ili-
vakia zu gehen. Dieser ist kaum ein anderer als die heutige
1 Tlieophylaet. (S. 25G) extt] rjp&ja, doch Theophanes gewiss richtiger rpitrj
ijpifa S. 418.
Zeitpunkt der ülavisclien Ansieulung an der unteren Donau.
101
Jalomita, an welchen die Römer bei geradem Vordringen von
Silistria aus nothwendiger Weise gelangen mussten. Jenseits
des Flusses sah man die Slaven, aber sie zogen sich eilig in
ihre leuchten Wälder zurück und lockten damit die Romäer
nach, welche nun in dringendste Gefahr geriethen, in den
Sümpfen zu versinken. Und auch nachher war die Lage keine
den Ehrgeiz des Alexandros befriedigende; der Versuch, die
Borkenhütten der Slaven anzuzünden, scheiterte wegen der
Nässe des Holzes. Da kam als Helfer in der Notli ein Ge-
pide zum romäischen Anführer und entdeckte ihm die Mittel
zu einem erfolgreichen Vordringen. Der Nutzen war ein un
mittelbarer ; man machte eine ansehnliche Menschenbeute.
Allein auch die ärgsten Martern konnten den standhaften Ge
fangenen keine Angaben über sich und die Verhältnisse des
Landes entreisson. Der gepidische Sklave kannte die Gefangenen
jedoch wol, sei es an Abzeichen, sei es sonstwie und behaup
tete sie seien Unterthanen des ,Königs' Musok J , der 30 Para-
sangen entfernt hause und sie als Recognoscirungscorps aus
gesendet habe, nachdem er vom Unfälle des Ardagast gehört
hatte. Es werde, versicherte er überdies, leicht sein, Musok
durch unvermutheten Angriff zu überwältigen.
Da Alexandros sich einer so wichtigen Sache nicht selbst
unterfangen wollte, zog er sich auf das Hauptheer zurück, wo
der Gepide seinen listigen Plan dom Oberfeldherrn entwickelte.
Priskos ging mit Freuden darauf ein, und während der Ge
pide sich zu Musok begab, marschirte Priskos in der Richtung
auf dessen Herrschaftsbezirk weiter. Unter dem Vorwände,
dass er die ins Unglück gerathenen Unterthanen Ardagasts auf
Kähnen über den Pluss Paspirios schaffen wolle, der die
Grenze von Musoks Land bildete, erlangte der Gepide vom
Häuptling die Erlaubniss, 150 Kähne mit entsprechender Be
mannung zu nehmen. 2 Darauf lief der Gepide nächtlicher
Weile wieder heimlich ins römische Lager und erbat sich von
Priskos 100 Bewaffnete. Priskos schickte 200 unter dem Be-
1 Mouccox Theophylact., Mouooüxio;, AIouooüyioc Theoplian., Musatius Itistoria
miscella.
2 Theophylact. gibt die Bootsbemannung zu dreissig Köpfen an; hier liegt
aber wol ein Irrthum vor, oder es wurden die Kähne remorquirt.
102
Ko esler.
fehl des Taxiarchen Alexander, und sie wurden von dem Ge-
piden in der Nähe des Paspirios in den Hinterhalt gelegt. Ein
Signal wurde verabredet.
Als die Slaven vom Trinken und Singen 1 betäubt im
tiefen Schlafe lagen, fuhr das Schwert der Feinde auf sie ein
und vertilgte alle. Sodann setzte Priskos mit 3000 Mann
auf den Kähnen über und gelangte so in das jenseits des
Paspirios gelegene Land und Musok, der eben erst am Todten-
male für seinen Bruder geschwelgt hatte, wurde, als er im
Rausche da lag, überfallen und gefangen genommen; gegen die
andern wurde in grässlicher Metzelei gewüthet. Beinahe aber
hätten sich die Römer in der Siegesorgie, die sie nach dem
Blutwerke feierten, von einem Trupp Slaven, der sie zu über
fallen kam, dasselbe Los bereiten lassen. Denn da sie die
Sculca 2 versäumt hatten, wurden sie überrascht und retteten
sich mit Mühe (J. 593). Im folgenden Jahre erfolgte ein neuer
Einmarsch in das Slavenland und man konnte grosse Beute
nach Constantinopel entsenden. Diese grossen Erfolge auf dem
,Festlande', wie die Römer das jenseitige Donauland nannten,
gab dem Kaiser Maurikios den Gedanken ein, das siegreiche
Heer dort überwintern zu lassen, um im nächsten Jahre die
Ueberwältigung der Slavenstämme weiter zu fördern oder gar
zu vollenden. Dagegen erhob sich aber in den Truppen der
entschiedenste Widerstand; es sei die Kälte im Lande uner
träglich , die Feinde wehrhaft und ihre Zahl allzugross. 3
Priskos aber verstand es, ihr Widerstreben zu besiegen und
überwinterte wirklich im feindlichen Lande (594).
1 Theophylaet. eti roivuv itöv ßapßapcov jtpoaopiXouvKov tö üjivcd 8f ’Aßapixüiv
a<jp.aTü>v eoioou 6 rjjroci; rff> ’AXsjjavSp« to auvOjj[ra und in der latein. Ueber-
tragung der Hist. misc. quibus etiantum et Abaricis cantilenis consopitis,
Alexandro signum dat. Der von Slaven gepflegte avarische Gesang ist
höchst auffallend.
2 Theopliylact. 260 rr[; Siaopoup«? -/.aT7)|jiX7)<jOT, mtouXxav auvr)0e; rrj
-xtp.'ip ipwvrj [Vopaku; anoxaXetv. Sculca gehört neben der Phrase torna
retorna fratre zu den frühesten Proben der romanischen Volks- und Heer
sprache im romäischen Reiche. Sculca ist Nominal-Bildung aus dem ob
collocare it. colcare coricare. Das walacli. culca vb. setzen, legen, steht
lautlich am nächsten.
s tx te töjv ßapßapiov -XrjOrj a/.xTayfov.aTa. Auch Mauric. Stratog. 278 werden
nachdrücklich Winterfeldzüge gegen die Slaven empfohlen.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung an der unteren Donau.
103
Die unerwarteten Fortschritte der Römer erregten auch
die Besorgnisse des Chagans und er beschloss jetzt einzu
greifen, um weiteres Wachsthum der römischen Macht zu ver
hindern. Schon hatte er seinen Slaven befohlen, den Ueber-
gang über die Donau zu bewerkstelligen. Priskos aber be
schwichtigte seinen Zorn, indem er ihm 5000 von den ge
machten Gefangenen zum Geschenke sandte. 1
Als Priskos sein Commando an Petros, den unfähigen
Bruder des Kaisers, aus Gründen die wir nicht kennen, abgeben
musste, führte er sein Heer aus dem transistrischen Gebiete
zurück (J. 595), ohne Weitere Thaten vollführt zu haben. Dass
aber diese Expeditionen nur vorübergehenden Schrecken ein
jagten und den Slaven die Lust zu Plünderungen im römischen
Reiche nicht verging, zeigte das nächste Jahr, wo dem Ober
feldherrn ein Trupp Slaven in der Stärke von 600 Mann bei
Markianopolis begegnete. Auch von 1000 Mann im Lande
umherziehender Bulgaren ist um dieselbe Zeit die Rede, welche
den Angriff eines römischen Streifcorps nicht nur aushielten,
sondern auch zurückschlugen. Der Chagan bewies die Drei
stigkeit, wegen dieses Angriffs auf Leute, die mitten im Frieden
zwischen den beiden Reichen auf dem Boden des römischen
bewaffnet umherzogen, Klage zu führen.
Der neue Strategos von Europa hatte sich indessen für
einen neuen Angriff auf das jenseitige Festland vorbereitet,
und entsendete aus seiner Stellung bei Asimus 2 Späher über
die Donau. Diese hatten das Unglück, in den Gebüschen,
hinter denen sie sich verbargen, den Slaven in die Hände zu
fallen und verriethen so das Geheimniss der Römer. Sogleich
legte sich der slavische Häuptling Piragast in einem Walde
hart am linken Ufer auf die Lauer und erwartete den Vortrab
1 Theophylact. 250—260. Theophan. 417. 418. Hist. misc. ed. Eyssenhardt 406.
2 Ao7]|j.o; Theophylact. 274 ”A<jr)p.a 325 ’Aar)|j.ou? hei Priscus Panita S. 144.
Die ältere Form ist Asamus, so bei Plin. h. n. 3, 149. So liiess der
wenig östlich vom Utus (j. Vid) eininiindende Fluss (j. Osma). Die Stadt
am Asamus hiess Anasamus und lag IX. M. P. östlich von Utus, noch
heim Geogr. Rav. und in der Not. dign. Asamus, später nannte man sie
wie den Fluss selbst. Sie war nach Errichtung der Dacia Auroliani der
westliche Platz von Moesia secunda. Not. Or. c. 37 S. 102. Die heutige
Lage ist unbestimmt.
104
Roesler.
des römischen Heeres, der sodann niedergemetzelt wurde. Als
Petros dies erfuhr, liess er sein ganzes Heer am rechten Ufer
Stellung nehmen und fing an, die Feinde gegenüber zu be-
schiessen. Diesem Fernangriffe widerstanden die schlechtbe
waffneten Slavcn nicht lange, Piragast selbst fiel und das Ufer
ward alsbald frei. Da die Romäer nach der Landung, die
jetzt unbehelligt von statten ging, die Verfolgung landein fort
setzten, geriethen sie aber in wasserlose Gegenden und litten
so furchtbar am Durste, dass man selbst Harn zu trinken
nicht verschmähte. Die Noth hörte erst auf, als ein Gefan
gener die tröstliche Kunde gab, dass vier Parasangen von
ihnen der Fluss Elivakia sei. Als aber die Verschmachtenden
das Gewässer erreicht hatten, und sich dem Genüsse des Trin
kens hingaben, die einen mit dem Munde, die andern aus
holder Hand schlürfend, ein dritter mit einem Gefässe schöpfend,
und Niemand Schlimmes besorgte, da brauste ein Hagel von
Wurfspiessen auf sie ein und tödtete viele Leute. Und als
man auf Kähnen über den Fluss ging, um die Feinde zu ver
treiben, erlitten die Romäer eine Niederlage gegen die ver
sammelte Heeresmacht der Barbaren. Der vierte Feldzug in
die Walachei endete so mit einem empfindlichen Verluste (597).
Da der Anmarsch des römischen Feldherrn von Marki-
anapolis über Zaldapa, Jatros, (Unter-) Novae, Securisca erfolgt
ist, und als das letzte Hauptcpiartier in Moesien Asimus oder
Anasamus an der Osma genannt wird so kann es nicht zwei
felhaft sein , dass der Uebergang in diesem Feldzuge an der
wichtigen Uebergangsstelle des Stromes gegenüber der Aluta-
einmündung, bei Islasch, oder wenigstens nicht weiter abwärts
als bei Sistov erfolgte. Da sodann die Katastrophe des Heeres
sich am Flusse Ilivakia oder der Jalomita zutrug, so muss
das unbesonnene Vordringen im unwirthlichen Slavenlande
länger gedauert haben, als der chronikenartig dürre Bericht
beim ersten Lesen zu vennuthen anregt. Dass aber das Un
glück der Römer gerade einige Parasangen vor der Erreichung
der Jalomita gesetzt wird, erhöht die ohnedies durch nichts in
Frage gestellte Glaubwürdigkeit der Nachricht, weil wirklich
1 Tkeopkylact. S. 270—279 Tkeoplian., fälscklick zum J. 589, S. 423 Hist,
jnisc. ed. Eyssenkardt S. 408.
Zeitpunkt der slavisclien Antsiedlung an der unteren Donau.
105
der Bezirk südlich vom Unterlauf dieses Flusses wasserarm
und steppenartig' ist.
An Stelle des Petros, der sich so wenig bewährt hatte,
übernahm Priskos wieder das Commando. Dass er nach Er
neuerung des beharrlich fortgeführten Slavenkrieges über die
Donau gesetzt ist, wird bezeugt, wo er es that, bleibt un
gewiss. Von da zog er in westlicher Richtung fort, bis er
gegenüber Novae im oberen Moesien (j. Ram), das nahe an der
Katarakte gelegen war, anlangte. Da dieser Marsch nur vier
Tage gedauert hat, so war er wol bei Taliatis über die Donau
gesetzt. Auffallend erscheint der Durchzug durch das bergige
ungebahnte Gebiet des Banatergebirges und unbekannt bleiben
uns die Absichten, die den Plan eingaben. 1
Als der Chagan davon hörte, drückte er seine Unzu
friedenheit auf das lebhafteste aus; er behauptete, es sei sein
Land, in welches Priskos eingedrungen, und hatte damit auch
Recht. Vergeblich dass sich Priskos auf frühere Besitzrechte
der Römer berief, diese seien, wie der Chagan ihm bedeutete,
durch das Schwert den Römern längst entrissen worden.
Der Marsch durch einen Strich avarischen Bodens selbst
sollte vielleicht die Avaren von Singidon abzielien, das diese
eben damals wieder belagerten. Als Priskos vernahm, dass
die Stadt schon eingenommen sei und die Avaren die Bevöl
kerung hinaustrieben, setzte er sich 30 römische Million von
Singidon unweit Constantiola fest. Eine Conferenz mit dem
hochmüthigen Chagan fühlte wol zu wechselseitigen Vor
würfen, doch nicht zu einem Vergleich; machte der Chagan
seinem Aerger Luft, dass Priskos es gewagt in avarisches Gebiet
einzubrechen, so warf ihm Priskos die Austreibung der Be
wohner von Singidon vor. Es kam zum Kampfe. Priskos
warf die bulgarischen Ansiedler, welche der Chagan in die
Stadt gelegt hatte, wieder hinaus und gab den früheren Ein-
1 Die Geographie ist leider nicht die starke Seite der byzantinischen Ge
schichtschreiber, sie haben fast niemals ein Verständniss des Feldzugs,
von dem sie berichten. So liegt dem Theophylactos Singidunum an den
beiden Flüssen Sau und Drau.
106
Roesler.
wolinern ihre Staclt zurück. So war die Donaugrenze auch
dieses Jahr noch gewahrt 1 (598).
Der Cliagan zog es vor, im nächsten Jahre von der Save
her Dalmatien zu überlaufen, weil Priskos noch immer die
Stellung hei Singidon hielt, doch ward ihm eine Niederlage
zu Theil. Ein günstigeres Geschick erlebte er im J. 600. In
Nieder-Moesien auftretend, belagerte er Cornea 2 , welches
Priskos mit seinem Heere schützte. Ein anderes romäisches
Heer unter Comentiolos sollte indessen eine Diversion an der
Donau machen und dem Chagan die Rückzugslinie gefährden.
Als aber der Chagan solches zu hindern dem Comentiolos zu
Leibe ging, entwich dieser nach einigen Gefechten am Jatrus
(j. Jantra) in schmählicher Weise und floh bis Drizipara in
der Nähe der Mauer des Anastasios, wohin ihm der Chagan
folgte. So erneuerten sich die Scenen der ersten Jahre des
Maurikios. Bajan verbrannte unter andern die Kirche des h.
Alexander in Drizipara, was die Griechen wie es scheint mehr
bekümmerte als alles andere Unglück.
Aber inmitten seiner Sieges- und Verwüstungsfreuden
traf den Avarenherrscher ein herber Schmerz: sieben seiner
Söhne erlagen einer Seuche und sollen an einem Tage ver
schieden sein. Die Frommen schrieben das Unglück seinem
Frevel am Heiligthum des Märtyrers in Drizipara zu. Seinen
Hochmuth aber beugte es nicht; kaum dass er sich herbeiliess,
die Geschenke des Kaisers anzunehmen, während er fort und
fort sich beschwerte, dass die Romäer es waren, die den
Frieden gebrochen, worin ihm übrigens Theophylaktos Recht
gibt. Ueber eine Erhöhung des bisherigen Schosses um
20.000 Goldstücke wurde man endlich einig 3 , allein über die
Loslösungssumme für die Gefangenen nicht. Im Zorne dar
über liess sie der Chagan sämmtlich abschlachten. Der bis
herige Besitzstand sollte übrigens bleiben und die Donau,
1 Theophylact. 281. 282. 288—292. Hist. misc. 410. In der Weise, wie es
im Texte geschah, lassen sich die nicht genau zu einander stimmenden
Nachrichten der beiden eben noch vereinigen.
- Theophylact. S. 293 welches aus dem Cornea der Hist, miscell.,
einem westlicher gelegenen Orte, von Jemand, dem es nicht so bekannt
war wie Tomi, corrigirt sein dürfte.
3 Hist. misc. 412. Theophan. 432.
Zeitpunkt der »Umsehen Ansiedlung an der unteren Donau.
107
wie bis jetzt, die Grenze bilden, es auch dem romäischen
Kaiser freistehen über den Strom zu gehen, wenn er die dor
tigen Slaven bekriegen wolle. 1 Das aber war ein Punkt ge
wesen , über den seit einigen Jahren gestritten wurde und
den der Chagan nicht immer hatte anerkennen wollen. Die
Slovenen auf dem Raume, in dem sie der Kaiser in den Jahren
von 593 — 597 hatte bekriegen lassen, d. i. in der heutigen
Walachei, sollten nicht in den Frieden eingeschlossen sein, und
die Donau von der Katarakte bis zum Meere von den Romäern
jederzeit überschritten werden.
In seltsamer Verkehrung alles Zusammenhangs hat Scha
farik 2 gemeint, den Avaren sei das Recht eingeräumt worden,
die Donau zu überschreiten, um die südlich von ihr wohnenden
Slaven wie einst zu züchtigen. In diesem Irrthum ist ihm leider
Büdinger 3 nachgefolgt. Der Verlauf der Begebenheiten auch
nach der Darstellung so elender Zeitgeschichten, wie die des
gezierten unklaren Theophylaktos, lässt wohl erkennen, dass
Moesien nicht nur staatsrechtlich, sondern auch in Wirklich
keit um 600 zum romäischen Reiche gehörte, und die Donau
1 Theophylact. 293—299 Biop.oXoyEirai os xat ’Aßapot«; 6 "laxpo?
[lEcrfajg, xaxa 8k SxXaßyjvwv £<-oua(a tov rcoTap-ov Btavijl'aaOat. Ungenau Theo-
plian. 432 v.cd tov "lorpov 7uoTap.ov p) Biaßodvsiv o r )p.oXoy7)aav; der Sinn der
Stelle wird klar durch die Worte der Hist. misc. a. a. O. quin et Histrum
flumen non se transiturum professus est (Cliaganus).
2 Slav. Alterthümer 2, 14, 160. Er folgt liiebei seinem Vorgänger Suro-
wiecki (a. a. O. S. 216) auf das genaueste: Lubo nie inamy wyraznych
swiadeetw. a zeby przed polowa 690 wieku ju2 sie przecisneli za Dunaj
do dawnej Pannonij watpid jednak o tdm nie mozna, gdyz Awarowie,
kterzy tarn przybyli okolo r. 569, musieli sie przeprawiac przez te reke
i przez Sawe , zeby podbic Slowianöw zdawna od tych stron napastuja-
cych kraje Cesarstwa. Pozniej gdy ciz Awarowie tedy nachodzili Tracija,
s«a zmianki, ze im Slowianie ulatwiali przeprawy. So viel ich sehe, ist
dies die Quelle aller Irrthümer der Nachfolgenden.
3 Gest. Gesch. 1, 73, besonders die Note. Und doch hatte schon G. Finlay,
Greece under the Romans (J. 146—716), London 1857, S. 369 bereits das
Richtige annähernd erkannt: By this treaty, the Danube was declared the
frontier of the empire, and the Roman officers were allowed to cross
the river, in Order to punish any ravages which the Sclavonians miglit
commit within the Roman territory — a fact which seems to indicate
the declining power of the Avar monarch, and the virtual independence
of the Slavonic tribes, to whom this Provision applied.
vom Saveeinflusse an die stipulirte Grenze desselben gegen
Ävaren und Slaven bildete, lässt erkennen, dass es dem dama
ligen Avarenkönige gar nickt in den Sinn kam, jenseits des
Stroms Eroberungen und dauernde Erwerbungen zu machen,
sondern dass er nur Raubzüge beabsichtigte, um, während der
Staat niemals so erstarken konnte, dass er ihm gefährlich würde,
Gefangene zu machen, Lösegelder zu erpressen, Tributerhöhung
und Geschenke zu erzwingen. Und es ist solche Politik für
einen Räuberkönig auch die natürlichste aller; was hatte der
Erwerb immer neuen Landes für einen Werth für ihn, wenn
dieses Land nichts abwarf, das seiner Habgier gefiel. Wer
sollte ihm die tausende blanker Byzantiner zahlen, die schönen
Schüsseln und Spangen aus Gold und Edelsteinen liefern, wenn
es keine kunstfleissige Bevölkerung und kein römisches Reich
mehr gab, sondern alles zu einer Horde armer, fauler Wilden
geworden war. In der Leidenschaft seines Zornes mag ein
Cliagan dies vergessen, aber die Besinnung kommt ihm bald
zurück. Dies ist der Grund, warum Bajan wol die furcht
barsten Verwüstungen im Romäerreiche vollbringt, stets aber
wieder in sein Land zurückgeht, ohne Provinzen von der
Monarchie abzureissen, stets wieder in seine frühere Grenze
sich einschliesst, wo er Raumes genug hatte. Und auch den Sla
ven kam es damals meist nur auf Streifzüge an, bei welchen sie
Beute holten, denn auch sie besassen Landes genug, seitdem sie
im Laufe eines Jahrhunderts ihre Wohnräume um mehr als
das Doppelte vergrössert hatten. Ohne Vertrag, ist auch gegen
sie, von der Katarakte bis Ivleinskytkien, die Donau ununter
brochen die Grenze, nirgends in der ganzen Periode des Mauri-
kios begegnet man einer Spur von slavischen Niederlassungen in
Moesien und Thrakien; noch stehen diese Feinde am linken
Ufer, man sucht sie daselbst auf, um die ruhelosen frechen Plün
derer einzuschüchtern, vielleicht gar zu vertreiben oder zu unter
werfen. Wie hätte es dem Kaiser einfallen können, die jenseitigen
Slaven zu bekriegen, wenn er mit den diesseitigen zu schaffen
gehabt hätte. Diese sollen freilich, nach einer populär gewor
denen Annahme, in aller Stille dem Ackerbau obgelegen sein,
so dass sie Niemandes Aufmerksamkeit auf sich lenkten. Aber
woher weiss man dies, warum vermuthet man dieses? Die
jenseitigen Slaven dreiste, gefährliche Räuber, die diesseitigen
Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung an der unteren Donau.
109
harmlose fleissige Landleute! Woher dieser auffallende, plötz
liche Wechsel des Charakters ? Aber die Slaven waren bis eben
dahin noch keine Liebhaber des Ackerbaues, die Neigung zu
diesem und dem sesshaften Leben ist nichts als eine allen
Zeugnissen ins Angesicht widersprechende Fiction Schafariks
und derer, die ihm gläubig folgen. Slaven in Moesien, die aut
ihre Faust dahin gekommen waren, hätten ebenso gewüstet
und geplündert, wie die unter Tiberius und diejenigen, welche
in der Walachei standen und alljährlich auf die Gelegenheit
lauerten, über den Fluss zu setzen und über den Balkan zu
stürmen. Ein Kaiser, dem es also darum zu thun war, den
Boden des Reiches zu schirmen, wie Maurikios dies in der
That wollte, würde also vor Allem den Boden Moesiens rein
gefegt haben, ehe er vor die Schwelle des Reiches trat, um
dort den Störefried aufzusuchen.
Maurikios war aber sogar weit entfernt davon, sich mit
dem bisherigen Umfange des Reiches zu begnügen, wie er ihn
vorfand, in vermessenen Augenblicken meinte er, obgleich der
Staat im Osten mehr als hinreichend in Anspruch genommen
war, auch oberhalb des eisernen Thores die Avaren selbst auf
suchen zu dürfen. Die reine Defensive genügte ihm wenig
stens nicht. In diesem Sinne erfolgte der Feldzug vom J. 598.
Noch Grösseres hoffte er 601 1 ausrichten zu können. Wieder
war es der Kaiser, der den eben abgeschlossenen Frieden
zerriss 2 , um die Avaren auf ihrem eigenen Boden aufzusuchen
und sie ihrer Gefährlichkeit zu entkleiden.
Comentiolos sollte zum Heere des Priskos bei Singidon
stossen und beide dann auf das ,Festland' hinübergehen. Die
Vereinigung erfolgte auch wirklich, und sie marschirten dann
aut Viminacium. DerChagan liess den Flussübergang hier durch
vier seiner Söhne decken, und es wurde lange Zeit blutig ge
lochten. Endlich gewannen die Romäer ein entscheidendes
Uebergewicht, die Söhne des Chagans versanken in der Donau,
15.000 Barbaren sollen beim letzten Sturme geblieben sein.
Nichts hinderte weiteres Vorrücken. Binnen einem Monate
stand Priskos an der Theiss im Avarenreiche selbst, und er-
1 Büdinger, Oest. Gesell. 1, 74 irrig ,nocli in demselben Jahre 1 d. i. G00.
2 Theophylact. 315. Hist. mise. 413. Theophan. 434.
110
Bo es ler.
rang auch hier wieder einen Sieg über die neue Armee des
Chagans. Ein Streifcorps der Romäer ging über die Theiss,
wahrscheinlich in der Richtung nach Westen, und überraschte
die Bewohner dreier Gepidendörfer, welche nach einem Fest
mahle schliefen. Die Zahl von 30.000, die sie hier getödtet
haben sollen, muss eine starke Uehertreibung genannt werden,
wahrscheinlich fällt sie aber auf Rechnung des Kriegsberichtes
des Priskos, der so wahrhaft sein mochte wie alle Bulletins
von Ramses bis Troclm. Ein nochmaliger Sieg am Theissflusse
vernichtete das Pleer des Chagans, von dem Viele in den
Pluthen ertranken. An Gefangenen zählten die Römer 3000
Avaren, 8000 Slaven und 6200 andere Barbaren, unter welchen
wahrscheinlich die meisten Gepiden waren.
Wie und warum Priskos wieder zurückging, nach solchen
die Erwartung des Kaisers übersteigenden Thaten, findet sich
nicht berichtet. Dagegen ist uns ein merkwürdiger, viel miss
deuteter Bericht über die Heimkehr des andern Feldherrn zur
Hand. Comentiolos, der einer wahren oder fingirten Krankheit
wegen in Viminacium geblieben war, begab sich am Ende des
Feldzugs, in der Absicht schneller in Byzanz einzutreffen, in
das 36 Mill. von Viminacium entfernte Ober-Novae und hielt
hier Umfrage nach Leuten, die des ,Traianisclien Weges“
kundig wären. Da er sie aber nicht fand und Jedermann er
klärte, er wisse den Weg nicht, wurde er sehr zornig und
verfuhr grausam gegen die Novenser. Endlich gelang es, einen
Greis von 112 Jahren zu gewinnen, der, obgleich ungern und
unter Versicherungen, dass die Strasse seit 90 Jahren nicht
1 tr;V XEyo|j.Evr)V TpaVavou xpißov Theophylact. S. 320. Seine merkwürdige
Mittheilung hat in der Hist. mise. nicht Aufnahme gefunden. Theophan.
S. 436 gibt einen ganz guten Auszug. Für die Sorglosigkeit des Her
ausgebers, der die alte Uebersetzung abdrucken Iiess, auch wenn sie durch
passende Aenderung des Textes unhaltbar geworden war, gibt es hier ein
artiges Beispiel: 6 81 Kop-svuloXos p/lXu ti,'c voaou o:ayEvb(j.Eyo; s^lpysTa:
e1? Nbßa; tjjTÄv öorjyou; xou aoxov xijv oSov TpaVavou xoü ßauiXfcoc
lesen wir im Texte, in der Uebersetzung: Comentiolus — in desert.a
Nomadumloea profectus est, ductores quaerens qui sibi viam a Traiano
olim tritam indicarent. Durch die letzte Wendung, zu welcher kein
Grund vorlag, kommt wieder ein falscher Sinn in die Stelle, die öoo;
TpaVavou ist in Wahrheit wie den Worten nach nicht nur ein Weg, den
Trajan betreten hat, sondern eine von ihm gebaute Strasse.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiodlung an der unteren Donau.
in
mehr sei betreten worden >, sich dazu verstand Führer auf dem
Wege zu sein, vor dem er Comentiolos vergeblich warnte.
Und durch die Ungunst des stürmischen kalten und
nassen Wetters trafen ihn in der That grosse Verluste an
Menschen und sein Heer erreichte in nicht gutem Zustande
die Quartiere in Thrakien 2 . Wo lag nun aber der verhängniss-
volle ,Traianische Weg'? Es ist dies die von Tiberius im
J. 33 auf 34 begonnene, von Traianus im J. 100 fortgesetzte
und vollendete Militärstrasse längs des rechten Donauufers, auf
der engen Stelle der Stromschnellen, wo es vordem keinen
passirbaren Weg gegeben hatte, dieselbe Strasse, welche durch
die bekannte verstümmelte Inschrift 3 gegenüber von Ogradina
im Banate für uns fixirt ist. Von dieser Strasse ist die Strecke
von Novae (j. Rain) bis Poletin das Werk des Tiberius, die
Fortsetzung von Poletin bis Ogradina durch die sogenannte
Klisura das Work Trajans, nach welchem, wie wir aus Theo-
phylaktos ersehen, das Ganze benannt wurde; es ist in der
That auch der ungleich schwerere Theil der Arbeit, den Traia
nus vollführt hat. Comentiolos wählte anstatt der gewöhnlichen
Strasse von Viminacium nach Nai'ssos den östlichen seit lange
vernachlässigten Donauweg Novae Taliata Bononia. Die Berge,
welche die im Flussthal sich windende, aus den Felsen der
Thalwand herausgeschnittene Strasse einschliessen, sind von
bedeutender relativer Höhe, und bilden das wildeste Flussdefile
Europa’s. Ein moderner Reisender von trefflichem Blicke 4
schildert den Weg mit folgenden Worten: Die Römer haben
ihre Schiffe mittelst eines Canals durch das eiserne Thor <re-
schafft, von dort sie aber längs des rechten Donauufers gezogen,
und für diesen Zweck einen Leinpfad angelegt, von dem sich
noch heute die deutlichsten Spuren finden. Er fängt eine Meile
oberhalb Orsova, dem Dorf Jeschelnitza gegenüber an, wo sich
am serbischen Ufer eine Inschrift an der Felswand befindet,
1 ujceivai yap trjv rplßov raÜTrjV aSuijoSeuTov a-b Itwv ewevijxoVTa Theopliylact.
S. 320.
2 Theopliylact. 314—321, Theophan. fälschlich zum J. 593, S. 434.
Gi iselini, Geschichte des Temcser Banates S. 289. Jos. Aschhacli, Trajans
steinerne Donaubrücke S. 4. Johannes Dierauer, Geschichte Trajans S. 73.
(Moltke) Briefe über Zustände und Begebenheiten in der Türkei in den
Jahren 1835 bis 1839. Berlin 1841. S. 430. 431.
112
R o e 81 e r.
die von dem Feuer der Hirten ganz mit Russ überzogen ist. —
Die Stromufer stürzen von liier, hoch und schroff, oft senk
recht, zum Fluss ab, und ein schmaler Gang ist dicht über
dem Niveau des höchsten Wasserstandes in den Fels gemeisselt.
An einigen Stellen aber, wo die Arbeit zu bedeutend gewesen
wäre, sieht man ganz deutlich die viereckigen Löcher, in
welche einst die Balken eingetrieben wurden, welche eine Lauf
brücke längs des Stroms getragen haben. Dieser Weg ist nun
an vielen Stellen sehr ungangbar geworden, obgleich die Be
wohner der nahe liegenden Ortschaften sich seiner immer noch
bedienen. — Der Mangel an Schutz vor dem Unwetter kann
nun allerdings den Soldaten Strapazzen auferlegt haben, wie
sie aber auf der kurzen Strecke sollen arge Verluste erfahren
haben, ist bei dem Mangel genauerer Details über das Ereigniss
nicht zu begreifen. 1
Die endlichen Folgen des ruhmreichen Feldzugs vom
J. 601 sind der grossen Anstrengungen nicht würdig gewesen.
Um die Gründe darf man so armselige Geschichtschreiber wie
Theophylaktos und Theophanes nicht fragen; sie melden die
nackte Thatsache, und diese nicht vollständig, sondern reissen
nach Belieben Stücke davon ab. So viel erkennen wir aber,
dass kein Friedensschluss erfolgt ist. Der Krieg wurde viel
mehr im nächsten Jahre (602) fortgeführt, aber leider wieder
Petros, der Bruder des Kaisers, mit dem Oberbefehle betraut.
Dieser bezog in Palatiolon an der Donau 2 ein verschanztes
Lager und verliess es nur, um nach Dardanien, die Binnen
landschaft zwischen Moesien und Makedonien, zu ziehen, welche
man bedroht glaubte, als der Chagan oberhalb der Katarakte
ein Heer unter Anführung Apsichs zusammenzog. Apsich ver
suchte es, zunächst den Römern die Katarakte zu entreissen,
1 Ich bin über diese Strasse ausführlicher, weil alle Vorgänger die Tra-
ianische Strasse und den Rückzug des Comentiolos in die Landschaft im
Norden der Donau verlegt haben, wol wieder nuF darum, weil die Stellen
ausser Zusammenhang gelesen und beurtheilt wurden.
2 Es war eines der Castelle, welche Justinianus in Moesien hersteilen liess
und lag gegenüber von Zikidiva (Procop. Zzißioa) auf dem ,Festland 1 ,
unterhalb des Flusses Islcos (j. Isker) und des Castells Utus, an der
heutigen Uebergangsstelle von Islasch oberhalb der Alutamiindung. (Pro
cop. de aed. 4, fi). Bei Theophylact. S. 322 u. 324 findet sich die irrige
Schreibung riakotavokov.
Zeitpunkt der slavischen Ansiedlung an der unteren Donau.
113
d. i. wol alle jene Plätze, die als Bollwerke an ihr lagen,
wie Picnus, Cuppae, Novae, Taliata, die in allem Sturm der
Zeiten noch getrotzt hatten, und die Verbindung- der freien
Slovenen in der Walachei mit den Avaren stören mochten.
Doch es kam zu keinem ernstlichen Kampfe. Der Chagan,
der die Gelegenheit nicht günstig sehen mochte, löste sein Heer
auf, und Petros ging sogleich nach Adrianopel zurück. Das hatte
der Chagan wohl gewünscht; neuerdings ging sogleich das Ge
rücht, dass er einen Einfall in das römische Gebiet vorbereite.
Doch scheint Maurikios darauf kein Gewicht gelegt zu haben,
denn er hielt die Gelegenheit für günstig, die Kriege mit den
Slaven jenseits der Donau wieder aufzunehmen. Petros bekam
Befehl, ins Slovenenland einzufallen ', und Gundois, dem die
Barkenflotte übergeben war, vollzog den Auftrag mit entschie
denem Glücke, machte viel Beute und Gefangene und blieb
vorerst im feindlichen Laude. Der kurz zusammengefasste Be
richt macht uns aber mit keinen Einzelnheiten bekannt.
Um für diesen Heereszug gegen seine Freunde Rache zu
nehmen, wollte der Chagan seinen Feldherrn Apsich gegen die
Anten entsenden, welche, wie es scheint, von Osten her den
Angriff der Romäer gegen die Slovenen unterstützten. Doch
der Chagan war es nicht im Stande; die Heerfahrt in ein ent
legenes Land und die Aussicht auf nur geringe Beute moch
ten das avarische Heer verstimmen; viele aus ihm zog-en es
vox-, zu den Romäern übei'zugehen.
Als aber Maui-ikios, seinen Voi'theil benützend, meinte,
das siegreiche Heer sollte wieder einmal im feindlichen Slaven-
lande übex-wintern, da reg-te sich die durch manche unge
schickte Handlung ei-regte, unter der Asche glimmende Unzu
friedenheit des Heeres, welche der ehi-geizige Exarch Phokas
geschickt zu seinen Zwecken benützte. Das Heei-, das er un
ermüdlich aufgereizt hatte, kehi-te, als seinem Willen nicht
entsprochen wurde, eigenmächtig nach Moesien zurück, und
stüimte auf Palatiolon, in dessen Nähe das Hauptquartier des
Peti-os lag. Schon aber war die Aufregung wieder gedämpft,
und das Heer bereit, von Sccui-isca aus in seine Winterquartiere
0
1 ilieophylact. S. 323: IKrp«; /.scra ttjc Sz>.aßr)v(a? -Xr/luoc arpatoKEScUEaOai
7iapEaxEua£ev.
SiUungrfber. d. pliil.-hist. C1.LXXIII Bd. I. Hft K
114
il o e 81 e r.
jenseits der Donau zu rücken, als heftige Regengüsse und der
Eintritt des kalten Wetters, die meuterische Gesinnung neu
anfachten, die nun nicht wieder beschwichtigt werden konnte,
und im raschen Verlaufe den Thron des Maurikios stürzte und
diesen unter seinen Trümmern begrub 1 (602).
Unter Phokas (602 —610), der wie ein zweiter Jehu, das kai
serliche Haus abgeschlachtet hat, muss das Elend des Reiches eine
unerträgliche Höhe erreicht haben. 2 Kein Zeuge meldet genauer
von den Einbrüchen der raubenden Horden, und doch war es
eine Zeit, in der sie sich im Reiche heimischer fühlen mochten
als jemals seit den Tagen Justinus II. Vor allem aber war
es Phokas, der das Avarenthum, an das schon die Axt gelegt
war, vor dem Untergange bewahrte, indem er den Maurikios
im Laufe seiner vielversprechenden Erfolge unterbrach. Er
hat damit auch den Slaven später den Weg nach Moesien ge
bahnt. Die nachfolgenden bedrängten Zeiten haben Iieeres-
ziige wie die des Maurikios zum Schutze des Donaulimes nicht
mehr gesehen.
Bis auf Phokas ist nirgends Raum für eine gewaltsame
Ausbreitung der Slaven auf dem Boden des Reichs; ihre Raub
züge werden zurückgeschlagen, sie selbst auf ihrem eigenen
jüngsterworbenen Boden glücklich bekämpft. Alle Donau
festungen von Singidon bis Dorostylon stehen aufrecht; weiter
nach Osten wird kein Castell mehr genannt, niemals geht ein
Heer in jenem Theile, der Klein-Skytliien hiess, etwa über
dem Hals der Donau ins Tiefland hinüber, daher wir wol
annehmen dürfen, dass es bis zu dem bekannten Walle des
Comes Traianus schon den Slovenen gehörte. • Noch aber be-
sass das Reich in Europa im J. 602 die ganze Halbinsel von
Istrien bis zum westlichen Pontusgestade, das Banner des
Reiches wehte noch in Zara wie in Tomi. Nirgends geschieht
auf dieser ganzen Ausdehnung die leiseste Erwähnung, dass
etwa von Seiten der Regierung selbst eine Ansiedlung sla-
vischer Bevölkerung wäre ins Werk gesetzt worden. Eine
friedliche Ansiedlung wäre aber damals nur unter der Autorität
1 Theophylact. 322—326. Theophanes, irrig zum J. 594, S. 437—449.
2 Theophan. S. 448 bezeugt es mit den Worten ou oiiknze o's Trj'v Pto[j.a(ü)V
ßaatXstav £c- exeivou y.atpou Guarj-/yj[j.aTa 7wOi/.(Xa zz zai e<jafoi.a.
Zeitpunkt der slavisclien Anstellung an der unteren Donau.
115
der Regierung möglich gewesen. Was aber von slavisclien
Haufen feindlich ins Land brach, das hatte kein Verweilen da
selbst, das Kriegsglück kehrte immer wieder zu den romäi-
sclien Waffen zurück.
Diesen Argumentationen, welche auf Grund der darge
stellten Verhältnisse sich erheben, stellt kein einziges Zeugniss
gegenüber, das uns ermächtigte, Slavenansiedelungen im rö
mischen Reiche südlich der Donau vor 602 anzunehmen. Die
Behauptung, welche Schafarik aufgestellt hat, dass unter den
,Städten und festen Orten Moesiens, Thrakiens, Makedoniens,
Illyriens und Epeiros’ bei Prokop (552) schon viele Namen
slavisches Gepräge an sich tragen' 1 legt nur davon Zeugniss
ab, dass Schafarik in Bezug auf Namenforschung im J. 1837
als er dies schrieb, über die ungeheuren etymologischen Träu
mereien, mit welchen er im J. 1828 hervorgetreten 2 , im wesent
lichen nicht hinausgekommen, dass seine Forschung nicht
sicherer und bedächtiger geworden war. Das Slavische im
Prokopios aber soll nocli heute naehgewiesen werden.
Von den Etymologien, an welche bedeutsame Folgerungen
geknüpft worden sind, verdient vielleicht nur die eine, welche
den Namen Justinianus betrifft, hier berührt zu werden. Man
bat nämlich dem Namen Uprauda, wie Justinianus als Jüngling
liiess, den Sinn von Justus beigelegt und slavische Abstammung
für ihn und das Land aus dem er stammte, behauptet. Allein
Justinianus hiess nicht so, weil sein früherer Name Uprauda
den Sinn von Justus hatte, sondern weil ihn sein Onkel Justinus
adoptirte; die Erweiterung des Namens ist in solchen Fällen ge
wöhnlich gewesen und so wurde aus einem Justinus folgerichtig
ein Justinianus. Es müsste .also bezeugt werden, das Justinus
ursprünglich Uprauda hiess; wir wissen aber, dass dieser aus
1 Slav. Altertliiimer 2, 14.
Ueber die Abkunft der Slawen. Ofen 1828. Durch die gewaltsamste Deu
tung aus slavisclien Wurzeln werden Namen, über deren Bedeutung
sonst gar nichts bekannt ist, zu slavisclien gestempelt; der sicheren alten
Form werden junge slavische Umformungen vorgezogen, Gegner, die sich
zur Anerkennung solcher Resultate nicht verstehen wollten, gröblich be
handelt. Auf solche Art werden Rhizinium, Salona, Sardica, TJlpiana,
Horrea (Margi), Gratiana, Drubeta, Almus, Tibiscus u. a. auf der Halb
insel zu Beweisen für altes Slaventhum.
8*
116
R o e s 1 e r.
Bederiana in der Nähe von Justinians Geburtsort stammend
schon in jungen Jahren Justinus genannt wurde und dass seine
Gefährten, die aus derselben Heimat mit ihm zum Waffen
dienst auszogen, die Namen Zimarchos und Ditybistos trugen,
in welchen das alte thrakische Element erkennbar fortlebt. End
lich ist Uprauda gar nicht eine slavische Form, die dem Justus,
geschweige einem Justinus oder Justinianus entspräche, denn
diese lautet pravidivu, pravidinü. Auch führte der Vater Ju
stinians den echt thrakischen Namen Säbatios, seine Mutter
und Schwester aber hiessen Vigiläntia, wofür die vulgären,
aber rein romanischen Formen Viglentia und Vigleniza waren.
Diese Namen bestätigen also nur, was wir sonst von der
Ethnographie des illyrischen und thrakischen Binnenlandes
wissen; über thrakischer Schichte lag eine jüngere Schichte
Römerthum, altnationale und römische Namen liefen darum
neben einander her.
So also war es bis 602, allein unter Phokas und noch
mehr unter Heraklios (610—641), als die ganze Kraft des
Reiches weit mehr als unter Maurikios auf die Abwehr der
östlichen Feinde in Asien, der Perser und Araber gerichtet
war und man gegen die Gefahren, die von Norden einstürmten,
und alles, was jenseits des Haemus vorging, die Augen schloss,
da gewann die slovenische Nation eher Gelegenheit, sich auch
in dem entvölkerten, an lachenden Landschaften reichen Moesien,
Dardanien und Makedonien anzusiedeln und einzuwohnen.
Eben für die nächsten 60 Jahre lässt uns aber die griechische
Geschichtschreibung auf diesem Schauplatz fast völlig in Stich.
Die Aufmerksamkeit ist einzig auf den Orient gerichtet, wo
der Kampf mit furchtbaren Gegnern nicht ausgeht, bis nach
grossartigem Schicksals Wechsel alles verloren geht.
Doch lässt sich so viel entnehmen, dass die Avaren Dal
matien und das westliche Halbinselgebiet, welches durch Boll
werke minder beschützt war, zum Zielpunkt ihrer Verheerungen
machten, ja unter Phokas ist vielleicht nur ein bedeutender
Heereszug nach dein moesisch-thrakischen Gebiete unternommen
worden. 1 Unter Heraklios dagegen ist der Ghagan 618 bis
1 Theophan. S. 461, HpaxXsiog o's 6 ßaaiXeu? ßaaiXeuaa?, eupe ^apaXeXu{j.[j.£va ta T7)$
”oXt“c(a; P(ü{jLa(ü)V 7ipayp.a7a. tijv ts yap Eupw^rjv ot ßapßapo £p7jp.toc7av.
Zeitpunkt der stoischen Ansiedlung n,n der unteren Donau.
117
Consiantinopel vorgedrungen, aber schon im nächsten Jahre
wieder beruhigt worden und es dauerte einige Jahre ein gutes
Verhältniss an, was natürlich nicht hindern konnte, dass freie
Slavenhaufen hie und da einen Einfall unternahmen.
Im J. 026 verband sich der ,König der Könige' Chosru
mit dem Chagan der Avaren zum Verderben Constantinopels,
und sie belagerten die ,kaiserliche Stadt'. Im Heere des Cha-
gans dienten alle Unterthanen desselben, Bulgaren Slaven
und Gepiden; dass ihn auch die freien Slaven dabei unter
stützten, ist sehr wahrscheinlich. Die Unternehmung auf Con-
stantinopel scheiterte ,durch die Fürbitte Marias' und die dar
auffolgende Schwäche des avarischen Reichs hat ohne Zweifel
dem romäischen Reiche längere Ruhe vor ihm verschafft; ver
einzelte Einfälle der transistrischen Slaven aber hat die karge
Geschichtschreibung nicht überliefert, man darf sie aber vor
aussetzen, denn von ihnen gilt in der Zeit das Wort des
Florus: So gross ist ihre Wildheit, dass sie den Frieden gar
nicht begreifen.
Dieses Stillschweigen der Annalen währt bis 657 unter
der Regierung des K. Constans (641 — 668). Er unternahm
einen Feldzug nach Sklavinien, heisst es nun in bedauer
lichem Lakonismus, besiegte es und nahm es in Unterthänig-
koit. 1 Was ist das für ein Land Sklavinien, wo lag es? Noch
unter Maurikios hat man damit das transistrische Slaven-
land gemeint, doch wenn es auch wohl denkbar ist, dass man
unter Constans einen Streifzug in dasselbe Slavenland unter
nahm, so geht es doch nicht an, zu denken, dass man das ent-
Hier ist wegen des folgenden Gegensatzes Asien nicht an die Eparchie
Thrakiens, sondern an den gesammten europäischen Besitzstand zu denken.
Die Hist, raisc. S. 427 (Europain Auares reddidere desertam, Asiarn uero
Persae) gibt dieselbe Nachricht wieder. Dagegen findet sich Theophan.
4 49 eine positive Erwähnung von einer Verheerung Thrakiens unter
Phokas (ot ’AßdpEt? T7)v ©poczrjv onüAeaav). Wahrscheinlich hat aber
Phokas sehr bald mit dem Chagan Frieden geschlossen, und von der
Seite Ruhe gehabt, weil er die Truppen aus Europa nach Asien zog
(Hist. misc. 421).
1 Theophan. 1, 530 fälschlich zum J. 649 Toirap tö stei OTECTpäiEOtjEV o
ßaaiXsu; zaxa ItzXaß enac, zal 7)y |aaXd)T:ei/(Jsv 710XX0U; zai Ütee'tx^ev. Hist,
miseeil. ed Eyssenhardt S. 468: Anno imperii Constantis sexto decimo
exercitum mouit contra Sclaviniam et captiuos duxit plurimos et subegit.
fernte, nicht haltbare Land unterworfen habe, in einer Zeit,
wo die Kräfte des Staates so geschmälert waren. Viel eher em
pfiehlt es sich, anzunehmen, dass sich ein grosser Theil jener
Nord-Donauslaven in den Jahren kurz vor G57 auf das linke
Ufer begeben, und hier ohne Einwilligung der römischen
Regierung ein neues Sklavinien gestiftet habe, in Gauen unter
Gauhäuptern, in losem Verbände wie früher. Der Kaiser aber
besiegte dieselben nicht nur, sondern er legte ihnen auch feste
Tributzahlung auf, so dass sie hinfort Unterthanen des ro-
mäischen Reiches wurden, wie einst andere Barbaren. Aus
treiben durfte er die neue Bevölkerung schon darum nicht,
weil das entblösste Land und sein Heer ihrer bedurfte.
Was uns vor Allem bestimmt, in diesem Sklavinion vom
J. 657 das Land Moesien und in den Slaven desselben die
später sogenannten ,sieben Geschlechter' 1 der Sloveneu zu ver
stehen, ist die vertragsmässig festgestellte Unterthänigkeit, in
welcher auch jene sieben Geschlechter sich befanden, als einige
Jahre später die Bulgaren sich unter ihnen niederliessen. Es
scheint also nichts glaublicher, als dass die Unterwerfung, die
im Jahre 657 vollzogen worden, damals fortdauerte, ja viel
leicht auch, dass seither immer mehr slavische Haufen auf
ähnliche Bedingungen hin im entvölkerten Reiche Aufnahme
fanden. Auch muss noch hinzugefügt werden, dass Theophanes
auch ferner unter Sldavinia oder die Sklavinien schlechthin
das moesische Land begreift. 2
Unter dieser Annahme, die nur nicht zur Strenge eines
Beweises erhoben werden kann, dass Kaiser Constaus im J.
657 unlange zuvor in Moesien eingewanderte Slovenenhaufen
vom ,Eestlande‘ unterwarf und tributpflichtig machte, müssen
wir sagen, dass er in Bezug auf diese östlichen Slaven nur
dasselbe that, was sein Vorfahre Heraklios mit den ungebetenen
1 EK-'cr. «5 ütio 7iäxTü)V ov'ac. Theophan. septem generationes quae sub
pacto erant. Hist. misc. So heissen die Slaven die Tributpflichtigen, die
Unterthanen der Russen, Z/.Xaßoi ol Tca/.Tiwtai aurtov bei Constant. de adm.
imp. c. 9. 30. 32. Ueber das Verhältniss dfer 7ca-/.Tiükai s. E. Kunik, die
Berufung der schwedischen Rodsen. St. Petersb. 1845, 2, 444.
2 So S. 557 tou; te Bo-Ayctpou? xod toc; SxXaßtvla;. S. 755.
Zeitpunkt der slnvisclien Ansiedluuir au der unteren Donau.
119
Gästen Dalmatiens und des Bosnagebietes gethan batte: 1 die
er nicht los werden konnte oder wegen der zunehmenden Ver
ödung und Menschenarmuth des Reiches nicht austreiben
mochte, nahm er in Schirm und Schutz des Reiches.
In diesem Verhältniss von Unterthanen blieb den Slaven
nur das flache Land überlassen, in welchem es herrenlosen
Grund in grosser Menge geben musste. Die Städte und Festun
gen waren nach mehr als zwanzig Jahren noch im Besitze der
römischen Besatzungen, und erst die unternehmenderen Bulgaren
begannen sie zu brechen. 2 Das darüber erhaltene Zeugniss
entspricht auch allem, was wir sonst von den Slaven wissen; als
Festungsbelagerer waren sie noch nirgends mit Glück aufge
treten.
Die Slaven hatten auch noch nirgends bei sich eine
starke Monarchie geschaffen, dem Anfall eines monarchisch
regierten Volkes konnten sie daher nicht widerstehen. Die
sieben Gemeinden verfielen nach 21 Jahren (G78) der Herr
schaft des ugrischen oder, wie Andere wollen, türkischen
Stammes der Bulgaren, mit welcher die Geschichte der Halb
insel eine neue traurige Epoche beginnt.
Ich bin hier an meinem Ziele. Die Slovcnen oder, wie man
später sagte, bulgarischen Slaven sind nach den im Zusammen
hang gelesenen und geprüften Berichten nicht schon im fünften
oder sechsten Jahrhundert in die Gegenden Moesiens einge
wandert, sondern erst im siebenten. 3 Keinesfalls früher als
unter Phokas oder Ileraklios, am wahrscheinlichsten aber kurz
vor 657. Kaiser Constans hat sie in diesem Jahr unterworfen
und zu steuerpflichtigen Unterthanen des Reiches gemacht, in
welcher Lage sie die Bulgaren trafen, mit deren Auftreten die
romäische Herrschaft in Moesien ihr eigentliches Ende nahm.
1 S. darüber Ernst Dümmlers eingehende Untersuchung: Ueber die älteste
Geschichte der Slawen in Dalmatien (549—928) S. 366.
- Theoplian. 1, 449.
3 Nachträglich sehe ich, dass auch Ph. Krug (Forschungen S. 751) doch
ohne nähere Begründung die Ansicht ausspricht, dass die Slaven im ersten
\ ‘ ei ’tel des 7. Jahrhunderts über die Donau nach Bulgarien kamen.
m iiimiii lagPiliF
120 Bo esler.
Die Gleichartigkeit und Gleichzeitigkeit der Aufnahme
grosser Slavenmassen auch im westlichen Theil der Halbinsel,
legt es mir nahe, auch über die serbisch-kroatische Einwan
derung ein Wort zu äussern, obgleich ich mir das Bedenkliche
nicht verhehle, nach grossen Forschern, wie Zeuss und Diimm-
ler, in der Frage noch einmal zu sprechen. Was ich aber zu
sagen habe, betrifft das Land, aus dem die Kroaten (Hrvati,
Hrovati) kamen. Diimmler wenigstens ist nicht der Meinung,
jenes ,Weisskroatien' an der Nordseite der Karpaten zu ver
werfen, da auch später der kroatische Name noch in der Ge
gend von Krakau vorkomme. 1 Die Stellen des Constantinos
über dasselbe verstehe ich aber abweichend von früheren so, dass
die Belochrobaten oder weissen Chrovaten, welche ihre eigenen
Herrscher haben, dabei aber dem Könige Otto dem Grossen
unterworfen sind, Schwägerschaft und Liebesbeweise mit
den Ungarn unterhalten, die an den Bergen, zugleich jen
seits Baiexms und jenseits Ungarns wohnen, und an das Fran
kenreich grenzen — ihr Land aber heisst bei ihnen Boiki —
dass diese noch ungetauften Chrobaten keine anderen sind, als
einige Stämme der slavischen Böhmen, die sowohl südlich als
nördlich des Riesengebirges wohnten und Chrovaten genannt
wurden. Mit andern Worten, es hat nichts Unwahrscheinliches
a i sich, dass die Heimath der Chrovaten, welche in die Halb
insel wanderten, an der bezeichneten Stelle im Norden Böhmens
lag, wo noch später Chrovaten sich linden. Die Mehrzahl des böh
mischen Volkes war, als Constantinos sein Werk von der Ver
waltung des Reiches abfasste, vom Christenthum noch unbe
rührt und widerstrebte ihm, Constantinos konnte die Stämme
Böhmens und somit auch die Chrovaten sehr gut ungetauft
nennen. Ihr Herzog Boleslav unterwarf sich dem deutschen
Herrscher im J. 947, sehr gut konnte also Constantinos um
949 davon melden, dass der Herrscher der ungetauften Chro
vaten dem Könige Otto gehorche. Sie nannten ihr Land Boiki,
d. h. wohl sich selbst als Einwohner des alten Landes der
Bojer; sie gebrauchten damit nur den alten, seit Jahrhunderten
geltenden Namen, denn auch die Markomannen hatten das Land
Bojenland: Bojohaemum genannt; noch im siebenten Jahr-
1 A. a. O. S. 366 — Zeuss S. 609.
Zeitpunkt der slavisclien Ansiedlung au der unteren Donau.
121
hundert wird das Land Boyas vom Kosmographen von Ra
venna erwähnt. 1 Man müsste sich sogar wundern, wenn die
zahlreichen in Bojohaemum neuangesiedelten Slavenstämm;,
denen es an einer gemeinsamen Bezeichnung fehlte, nicht den
alten ihnen überlieferten Bojennamen fortgebraucht hätten.
Damals nun scheint unter dem Gewirre von mancherlei kleinen
Stämmen, die sich im Elbeland niedergesetzt hatten, das Volk
der Chrovaten eine hervorragende Bedeutung in Anspruch ge
nommen zu haben; das Principat der Cecken, die später den
Namen gaben, datirt erst aus späteren Tagen. Der erste, der
unter den Byzantinern den Namen (T^x ot ) kennen lernt, ist
Kinnainos um 1180.
Vor Allem aber ist abzuwehren, dass man, wie selbst
Zeuss thut, behaupte, Constant.inos setze seine Chrovaten an
die Nordseite der Karpaten, da er nur von einem Aneinander
grenzen des Landes Boiki und der Turkoi oder Ungarn spricht,
was für seine Zeit ganz richtig ist, da Böhmen mit Einschluss
des zugehörigen Mährens wirklich an der Bergreihe der
kleinen Karpaten sich begrenzen. Dass er aus seinen Erkun
digungen nicht auch die genaue Lage der Chrovaten erfuhr,
oder besser, dass ihm das was er erfahren nicht immer so klar
vor der Seele stand, um es mit wünschenswerther Genauigkeit
auszusprechen, darf uns bei einem Manne, der im 10. Jahr
hundert in Constantinopel über Gegenden im östlichen Deutsch
land schrieb, nicht wundern. Wundern muss man sich weit
mehr, wie man aus dem klaren Bagibareia, Baiern, ein Babia
göra hat machen können, aus dem Namen eines nothwendiger
1 Ed. Parthey et Pinder S. 213. Die wichtige Stelle bedarf der Reinigung
von störenden Randbemerkungen. Ich lese daher: Item ad partem quasi
meridianam, quomodo a spatiossima dicatur terra, est patria quae dicitur
Albis [Ungani] montuosa per longum, quasi ad Orientem multum exten-
ditur, cuius aliqua pars Boyas dicitnr. — — haec patria habet non mo-
dica flumina, inter cetera fluvius grandis qui dicitur Albis et [Bisigib 1.
Bisurgis] alia sexaginta, quae in Oceano funduntur. Wer diese in den
Text liineingerathenen Ungani sein sollen, belehrt uns die Vergleichung
mit S. 28: cuius ad frontem Alpes vel patria Albis: [Maurungani certis-
sime antiquitus dicebatur]. Die eingeklammerten Worte sind Zusatz eines
Lesers, die Maurungani augenscheinlich die Markomannen, welche in dem
Lande Boyas, nach jüngerer Lautform Baias wohnten. In dem Namen
Baju-varii lebt der Namen unvertilgbar weiter.
122
Ro es 1 er.
Weise Constantinos bekannten Landes, den Namen eines Berges
in den Karpaten *, den ausser den Umwohnern im 10. Jahr
hundert kein Sterblicher auf der Welt wissen konnte, und
man muss fragen, wie hätte denn ein Grieche das Wort Baji-
varia anders schreiben sollen, als wie es Constantinos schrieb;
jede neugriechische Grammatik könnte hierüber den nöthigen
Aufschluss geben.
Doch genug davon. Unter der Annahme, dass die Cliro-
vaten Nordböhmens und Sachsens — denn auch an der Sale
gab es Chrovaten — andern Dialects waren, als die Gesammt-
masse der sogenannten Sorben, welche man eben wegen des
verschiedenen Spraeheharakters mit den Serben des Morawa-
gebietes nicht zusammenbringen darf, so hat die Auswanderung
derselben nach Kroatien und Dalmatien, obgleich wir deren Motive
nicht kennen, gar nichts bedenkliches; ja die Auswanderung
grösserer Volksmengen würde erst erklären, warum der Chrovaten-
name im Norden seine alte Bedeutung völlig einbüsste. Ob bei
diesem Anlasse nicht auch ein Schwarm der Nordserben nach
Süden rückte, und sich hier mit dom sonst von ihm verschie
denen, Gott weiss woher herbeigekommenen Südserbenstamme
vermischend, Anlass gab zu einer Erzählung, alle Serben seien
gleich den Hrvaten aus ihren Sitzen von Norden hergewandert,
wage ich nicht zu behaupten, doch kann auch Niemand das
Gegentheil versichern.
Mit der Einwanderung der Kroato-Serben und der moesi-
schen Slavon in die verödeten Räume der Halbinsel, ist die
slavische Wanderung nach etwa zweihundertjähriger Dauer
zum Abschluss gekommen; die Anordnung, welche im Jahre
657 sich darbietet, blieb im wesentlichen auch für die Folge
an der Elbe wie an der Donau. Verluste des rasch Erwor
benen hat das Slaventhum darauf viele erfahren — man be
ziffert sie allein in Deutschland auf mehr als 3000 Quadrat-
meilcn — eine Erweiterung aber nur nach Süden, bis in die
1 So, der polnischen Schriftsteller gar nicht zu gedenken, u. a. auch
Spruner in seinem Atlas.
Zeitpunkt der alavisohen Ansiedlung an der unteren Donau.
123
Halbinsel Morea, wo sich aber der Aufsaugüngsprocess am
frühesten vollzog. 1
Drei grosse Volker-Wanderungen haben unsern Erdtheil
durch ein Jahrtausend in Anstoss versetzt: die germanische,
slavische und türkisch-ugrische; aus deren wechselseitiger För
derung, Hemmung und Durchdringung ist der gegenwärtige
Stand der Völkergruppirung hervorgegangen. Die bedeutendste
derselben nach Kraft und Wirkung ist die germanische, die
normannische Bewegung bildet nur einen spätem Ausklang
derselben, und so darf man die Eroberung Englands im 11. Jahr
hundert die letzte Welle der grossen Fluth nennen, welche
iin dritten zuerst Dakien verschlang. Die türkisch-ugrische
Wanderung, welche der germanischen in einem entscheidenden
Augenblicke einen mächtig nachwirkenden Impuls gegeben hat,
begann mit dem Einmarsch der Hünen in Europa, und kommt
mit der Aufrichtung eines osmanischen Kaiserthrons auf den
Trümmern des römischen am spätesten zum Abschluss. Augs
burg (955) Liegnitz (1241), Wien (1G83) bezeichnen einige
der Hauptpunkte in dem grossen Stürmen. Von den vielen
Gliedern der ausgebreiteteu Völkerschaar, die wie athemlos
nach Westen drängte, ist es allein den Ungarn und Osmanen
gelungen, Reiche minder vergänglichen Wesens zu stiften. Am
raschesten, am ruhigsten verlief die slavische Wanderung.
Während ein Zug der Energie und des Heldenthums die ger
manische Wanderung auszeichnet, eine fanatische Wildheit,
ein bewusster Gegensatz gegen alle sesshafte Cultur die ugri-
sche und türkische Bewegung charakterisirt, so treffen wir
nichts von alledem bei den Slaven. Sie wollen nicht die Krieger
sein, welche mit tapferem Arm die Cultur des mit Scheu be
trachteten Weltreichs vertheidigen, sie wollen auch nicht, wie
1 ürken und Ungarn, so weit ihr flüchtiges Ross sie trägt, alles
was Menschen geschaffen austilgen, und verstehen es nicht,
1 Allen was von Slaven freiwillig oder gezwungen in Kleinasion und Syrien
sich ansiedelte, ist spurlos in anderem Volksthum uutergegangen. Solche
Ansiedlungen werden erwähnt 056 in Apamea (Theopliau. 532) in der
Zahl von 5000; 680 nach Kleinasien rcoXXa jrXjjOrj (Theophan. 557). Der
Kaiser hob drei Jahre später aus ihnen 30.000 streitbare Männer aus;
noch später wurden alle nach Leukate bei Nicomedia in Bithynien ver
pflanzt (Theophan. S. 559 u. 561).
mit der Geissei über Völker zu herrschen, die sie mit dem
krummen Säbel und mit den Pfeilen sich unterwarfen. Ihre Wan
derung' ist ein Hinausströmen überreichen Menschensegens in
leergewordene Räume, ohne Aufregung, ohne Heldenthum, ohne
Schwung thatenkühner Kraft. Der Germane lebt sich in die
staatlichen Ordnungen ein, welche er auf den eroberten Cultur-
räumen vorfindet, der Türke schafft aus dem Nichts, das seine
Zerstörung hervorruft, 1 eine neue kräftige Ordnung, der Slave
bewahrt auf der Tabula rasa, die er fast aller 'Orten schon
trifft, die alten aus der Heimath gebrachten Zustände weiter.
Die Wanderung kittet seine Schaaren nicht fester zusammen,
sie schafft keine Heerkönige, keine Schwertreiche. Kaum dass
im Zusammenstosse mit der römischen Welt in kleinen Raub
gängen, die keine Helden bildeten, die Namen Ardagast,
Musok, Piragast sich hervorheben, Namen, an die man die
germanischen Ermanarich, Alarich, Tlieodorich, Alboin, Clod-
wig zu halten braucht, um den Unterschied auf das grellste
zu bezeichnen. Daher gibt es auch eine liunische, eine osma-
nische Eroberungs-Sage, ein germanisches Epos aus der Völ
kerwanderungszeit, aber keine slavische Völkerwanderungssage;
erst die späteren Tage ernsten Kampfes um Boden und Frei
heit haben bei Russen und Serben das Heldenlied gezeitigt.
Die ausgewanderten Zweige der Slaven haben keine Er
innerung an das Mutterland am Dnieper bewahrt und im Mutter
lande ist eben so wenig ein Andenken zurückgeblieben an die
Aussendung so vieler Söhne nach Süd und West. Kein Zu
sammenhang verband die beiden hinfort mit einander. Dem
Geschichtschreiber, der zuerst unter den Slaven hervortrat,
drängte sich das Bedürfniss einer Erklärung auf, woher alle
die sprachlich sich so nahe stehenden Stämme ihren Ausgang
1 A. Jaubert ('Journal asiatique 12, 485) eharakterisirt dies in kräftigen
Worten: Ce n’etait pas tant tambur du pillage que l’ardeur de la destruction
qui les (les peuples de race mong’ole) dirigeait. S’ils n’eussent etd que con-
qinhants, ils auraient songe ä,conserver; si le patriotisme, l’amour de la
gloire eussent ete leurs mobiles, ils auraient voulu perpetubs, par des
etablissements durables, le Souvenir de leurs succes; mais un sentiment
de vengeance (teile est l’expression dont se servent les auteurs turks)
aveugle, imprevoyante, une soif inextinguible de sang et de carnage, un
instinct malheureux qui les portait h ne se complaire qu’au milieu des
ruiues, telles furent leurs passions. —
Zeitpunkt der slawischen Ansieilhing au der unteren Donau.
125
genommen und er vertrat eine Hypothese, die wir bei ihm natür
lich finden müssen, die aber doch im Widerspruche mit der
Wahrheit ist, etwa wie der Versuch, die Jonier in Hellas von
den jonischen Colonien am Rande Kleinasiens, oder alle Ger
manen von der Insel Scandza abzuleiten. Nestor nahm die
Hypothese übrigens nicht aus sich, sondern empfing sie vom
Süden her, dem Ausgangspunkte der Cultur für die nordöst
lichen Slaven, wo sie bei Serben und Slovenen längst in Um
lauf gesetzt war, von den Priestern, die sie ersonnen. Hier
nach wanderte das Slavenvolk, sich an der Donau im Mittel
punkt fühlend, von da nach der Weichsel und der Wolga, an
den Strymon und an die Elbe. 1
Durch das Ausströmen des kräftigsten Theils der Bevöl
kerung muss die Volkszahl im Mutterlande sehr verringert
worden sein, und es bedurfte gewiss vieler Jahrhunderte, bis
sie sich wieder auf den früheren Stand erhob. Eine politische
Verbindung zu einem grossen Ganzen erlangte diese Masse
erst durch das Eindringen des derben, thatkräftigen Elements
der germanischen Warägen aus Schweden, der sogenannten
Ros. Aus den halt- und zusammenhanglosen, von auswärtigen
Feinden misshandelten Slavengauen erwuchs das russische Volk,
jetzt das grösste der Slavenvülker, wie es einst vor den Tagen
des Auszugs das einzige Slavenvolk gewesen. Mit der durch
germanischen Impuls erworbenen Kraft starker politischer
Organisation, mit der Zuversicht eines aus den Siegen gegen
das Ausland erwachten Nationalgefühls, und mit dem Drange
eines ausbreitungslustigen Glaubens wurde das russische Volk
bald kräftig genug, das zersplitterte schlaffe Element der finni
schen Völker in sich zu absorbiren, sich völlig zu assimiliren.
Unterwerfung, Bekehrung, Slavisirung folgten sich rasch auf
einander. Das Russenthum slavisirte nach und nach den
grössten Tlieil der Völker von den Wolga- und Donquellen
bis zum Eismeere, und gestaltete aus ihnen eine uniforme
Masse. So entstand durch Colonisation Verpflanzung und all-
mälige Slavisirung das sogenannte grossrussische Volk, in
1 Es genügt liier auf Zeuss zu verweisen, S. 597.
dem das finnische Blut einen wahrscheinlich sehr beträchtlichen
Procentantheil bildet.
Ueber dieses Finnenthum der Russen sind in neuerer Zeit
unter dem Einflüsse politischen Nationalhasses polnischer Schrift
steller Uebertreibungen in Umlauf gesetzt worden, welche auch
in deutschen wissenschaftlichen Werken Wiederhall gefunden
haben. Nach ihnen sind die wenigsten Grossrussen echte Slaven,
in den meisten fliesse finnisches oder tatarisches Blut, allein
wenn man alle störende Politik und die Leidenschaften derer,
welchen ein Finne oder Tatare und Mongole ein verabscheu ungs-
würdiges Wesen ist', so dass die Vermischung eines Slaven
mit demselben die traurigsten Folgen nach sich ziehen muss, aus
den Augen setzt, so lässt sich doch nur sagen, dass der Slavis-
mus des russischen Volks von Norden nach Süden zunimmt, in
umgekehrter Richtung dagegen, so wie in der nach Osten ab
nimmt und in dem Grade die Mischung mit fremden, meist
turanischen Bcstandtheilen intensiver wird. Genaue Unter
suchungen der ethnischen Mischung von Gouvernement zu
Gouvernement, wie sie nothwendig wären, um ein sicheres Ur-
theil im einzelnen zu fällen, sind aber bisher nicht angestellt
worden. Trotz mancher angestrengter Versuche derer, welche
in die Ethnologie ihren Plass einfliessen lassen, die Unter
schiede zwischen den Kleinrussen, ,den echten Slaven', und
den Grossrussen, ,den Turaniern und Asiaten', recht grell zu
zeichnen, ist der Unterschied zwischen den beiden Stämmen
heute nicht grösser als etwa der zwischen Schwaben und
Preussen. Im Volke von Ost-Deutschland rollt manches Tröpf
chen Slavenblut, doch hat das germanische Wesen obgesiegt,
ebenso hat in Russland das Slavischo alles Fremde des Finnen
thums völlig überwunden.
1 Quatrefages’ Erfindung der race prussienne als eines finnischen Volkes,
ist das beste Seitenstück zu den Declamationen gegen das turanisebe
Russenvolk, welche u. a. 6. Kinkel in Deutschland verbreiten half.
III. SITZUNG VOM 15. JANUAR 1873.
Der Secretär legt eine Note des k. und k. Ministeriums
des Aeussern vor, worin dasselbe den Bericht des General-
Consuls in Barcelona über das in Valencia erschienene Werk
,Cat,alogo de la Biblioteca de Salva’ der Akademie mittheilt.
Die Aufnahme der von Herrn Dr. Ernst von Bergmann
Custos am Münz- und Antiken-Cabinet, eingereichten Abhand
lung ,Beiträge zur muhamedanischen Numismatik', in die
Sitzungsberichte wird genehmigt.
Der von Herrn Regierungsrath Zimmer mann vorgelegte
Entwurf der Ausschreibung des Grillparzer - Stiftungspreises
wird von der Classe approbirt und sodann zur Wahl des von
der Classe zu bestellenden Preisrichters geschritten.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academia Olimpica di Vicenza: Atti. 1° Semestre 1872. 8°.
Bibliothfeque de l’Ecole des Chartes. XXXIII. Amide 1872, 3 e — 6» u-
vraisons. Paris; 8°.
Goussemaker, E. de. Oeuvres complfetes du Trouvere Adam de la Halle.
Paris, 1872; kl. 4°.
128
Gesellschaft für Salzburger Landeskunde: Mittheilungen. XII. Vereins-
jahr 1872. Salzburg; 8«.
Institute, The Anthropological, of Great Britain andlreland: Journal. Vol.
II, Nr. 2. London, 1872; 8°. — List of the Members. March 1872. 8°.
,Revue politique et litteraire 1 et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 II“ Annee, 2 e Serie. Nr. 28. Paris, 1873; 4°.
Socidte des Antiquaires de France: Memoires. Nouvelle Serie. Tome XX.
(1850); Tomes XXI - XXVI (.3= Serie, Tomes I — VI.) 1852 — 1859;
Tomes XXVIII — XXX. (3 e Serie, Tomes VIII — X.) 1865 — 1868;
Tome XXXI (4° Serie, Tome I er ) 1869. Paris; 8°. — Annuaire. Annees
1854 & 1855. Paris; 12».
Society; The Royal Geographical, of London: Proceedings. Vol. XVr, Nrs.
3—4. London, 1872; 8».
— The American Oriental: Journal. X th Volume, Nr. 1. New Haven, New
York & London, 1872; 8°.
Verein, histor., von Oberpfalz und Regensburg: Verhandlungen. XXVIII. Bd.
(N. F. XX. Bd.) Stadtamhof, 1872; 8°.
ß ergmann Beiträge zur mnhairmiedariiscliGii Münzkunde.
129
Beiträge zur muhammedinischen Münzkunde.
Von
Dr. E. von Bergmann,
Custos am lc. k. Münz- und Antiken-Cabinete.
Der Schatz, welcher für Kenntniss der Geschichte und
Geographie des Orients in den muhammedanischen Münzen
uns erhalten ist, hat nicht'verfehlt, seit geraumer Zeit die
Aufmerksamkeit der Orientalisten auf sich zu lenken und mit
Eifer und Erfolg ist dieses Fehl der Münzkunde bebaut
worden. Es genüge hier der Hinweis auf die Thatsachc, dass
wir gegenwärtig Geldprägen von mehr als 120 muhammedani-
schen Dynastien kennen, unter welchen zahlreiche, deren Ge
schichte und Genealogie erst durch die Numismatik ihre volle
und richtige Beleuchtung gefunden haben. Trotz einer so ge
waltigen Ausbeute ist das vorhandene Münzmaterial aber noch
lange nicht erschöpft; in jeder grösseren Sammlung befinden
sich Stücke, die ihrer Bestimmung noch harren und nament
lich dürfte die leider so verzögerte Publication der inediten
Münzen der Cabinote von Paris und London unserer Disciplin
eine ausserordentliche Bereicherung zuführen.
Was die Sammlung mohammedanischer Münzen des kais.
Cabinetes betrifft, deren Schwerpunkt übrigens in den be
kannten Prägen der neueren Zeit liegt, so ist der weitaus
grössere Theil der seltenen Stücke bereits publicirt worden.
Unter den nicht veröffentlichten befinden sich aber einige sein-
merkwürdige und erlesene Denkmäler, deren Bestimmung und
Erklärung erst neuerlich durch die Herausgabe einer Anzahl
Sitzuugsber. d. pMl.-hist. CI. LXXIII. Bd. I. Hft. 9
130
Bergmann.
von Quellenschriften ermöglicht wurde. Ihre Bekanntmachung'
haben sich die folgenden Zeilen zur Aufgabe gesetzt.
Nicht mit Unrecht glaube ich an die Spitze dieser Inedita
eine numismatische Reliquie stellen zu dürfen, welche sich an
fänglich als ganz räthselhaftes Product der arabischen Geld
präge darstellt. Das in Rede stehende Stück ist ein Dinar
von der Grösse und dem Gewichte dieses Nominals mit fol
genden Legenden in geperlter, roher und zum Theile unvoll
ständiger Schrift:
Avers.
sic
sda^aJUt
Randschrift:.. ■ • .gisuJ alw^l alt!
Sure IX. 33.
Revers. |»Lobt|
A+ä 1
aJÜ!
7 rujt
alt
Randschrift: .... ^..oAil tAs° alt!
Gewicht 4'12 Gr. Grösse 5.
Vgl. Nr. 1 der Tafel.
Wer ist dieser Muhammed Ibn al-Fath oder der Imam
asch-Schäkir lillah, deren Namen man in den Handbüchern
der arabischen Geschichte vergebens suchen würde? Nach län
gerem Bemühen ist mir die Lösung dieses numismatischen
Problems gelungen, welche durch die Verstümmelung der Jahres
zahl und die fehlende Angabe des Prägeortes sehr erschwert wird.
Sie zeigt, dass unsere Münze eine merkwürdige Erscheinung in
der an politisch-religiösen Kämpfen so reichen Geschichte Nord-
westafrika’s in höchst eigenthümlicher Weise, die geschichtlichen
Nachrichten bestätigend und zugleich erweiternd, illustrirt.
Mit nicht geringerer Schnelligkeit als über die Länder
Vorderasiens, verbreitete sich der Islam über Nordafrika. Die
Beiträge zur muhammedanisclien Münzkunde.
131
Bewohner dieses weiten, von der Natur wenig begünstigten
Gebietes, die Berber besassen keinen entwickelten nationalen
Cult, der einen mächtigen Damm der neuen Religion ent
gegengesetzt hätte. Schon unter der Regierung Umar II.
gab es, wie ein alter Chronist sagt, kaum einen Berber, der
nicht bereits den Islam angenommen hatte b So wenig aber
als vorher das Christen- und Judenthum 2 , fasste der neue
Glauben tiefere Wurzel. Bezeichnend isthiefür die Aeusserung des
arabischen Generals Ukba Ibn Nafi, der vor allen den Character
der Berber am schärfsten erfasste, dass, wenn ein Imam den
Boden Afrika’s beträte, sie den Islam festhalten, wenn er aber
den Rücken kehrte, ein jeder von ihnen von der Religion
Gottes wieder abfallen würde 3 . Nicht dass die Berber über
haupt einer religiösen Begeisterung unfähig waren, vielmehr
sind sie nie auf dem Schauplatz der Geschichte aufgetreten,
ausser wenn sie von einem Priester für eine religiöse Idee
in Bewegung gesetzt wurden, wie das Erscheinen der Almo-
raviden und Almohaden zeigt, aber der Islam in der Form,
wie sie die mit dem Umaijaden zur Herrschaft gelangte ortho
doxe Pai’tei vertrat und durch landaussaugende Statthalter nur
wenig empfahl, fand bloss äusserliche und wenig enthusiastische
Bekenner. Desto grösseren Beifall wurde den von flüchtigen
Charidschiten gepredigten demokratischen Doctrinen zu Theil.
Die Lehren der Sifriten und Ibädhiten 1 mit der von ihnen
angestrebten vollständigen Gleichheit aller Religionsgenossen
und der Souveränität des Volkes waren weit volksthtunlicher,
als die starre Orthodoxie mit ihrem leeren Formelwesen. In
unmittelbarer Folge der Verbreitung charidscliitischer Grund-
1 Weil, .Geschichte der Chalifen I. 583.
2 Einige Berberstämme, wie die Dschawära, Nafflsa etc., bekannten sich
zum Judenthume, vgl. Ibn Chaldun, hist, des Berberes ed. Slone I.
P- (ff.
3 Description de l’Afrique ed. von Kremer, p. 4 vgl. .1. Asiat. 1841. p. 117.
4 lieber diese Secten ist wenig bekannt. Sie verwarfen die Autorität
des Chalifen und betrachteten alle andern Muslimen als Ungläubige,
ebenso wie Ali und die meisten Anhänger des Propheten. Die Sifriten
stimmten mit den Ibädhiten, einige Lehrsätze ausgenommen, überein.
Vgl. Journ. Asiat. 1841, II. p. 442 Note. Dass aber einige Fractionen
dieser Secte die Wallfahrt nicht unterliessen, sagt al-Jaqubi, Descriptioal
Maghribi ed. Goije p. 44. Weil, Gesell. 1. p. 691. Schahrastani p. 100.
9*
132
Bergmann.
sätze brach ein allgemeiner Aufstand gegen die omaijadischen
Statthalter aus , an dessen Spitze der Berber Maisarah trat,
der sich sogar zum Chalifen erklärte. Erst nach 30jährigem
Kampfe gelang die blutige Unterdrückung der Empörung,
welcher einzelne Erhebungen fortwährend in grösseren oder
kleineren Pausen folgten.
Während so die charidschitischen Lehren frühzeitig auf
afrikanischem Boden Verbreitung und grossen Anhang fanden,
tritt der Schiitismus hier erst am Ende des 3. Jahrhunderts
als bedeutsamer geschichtlicher Factor auf 1 . Aus geringen
Anfängen heraus gelangte er in kurzer Zeit zu übermächtiger
Stärke, dank der geschickten und vom Glück begünstigten
Politik der Fathimiden. Diese, welche den natürlichen und
unversöhnlichen Gegensatz zwischen Schiitismus und Charid-
schitismus sehr wohl erkannten, suchten nach ihrem Empor
kommen letzteren mit aller Macht zu unterdrücken. So wüthete
der fathimidische General Abu’l ITamid Dawäs Ibn Lülät, der
den Befehl über Tähart erhalten hatte, so lange gegen die um
wohnenden Stämme der Lamäja, Azdäscliah, Lawätah, Miknä-
sah und Mathmätha, die alle Ibadkiten waren 2 , bis sie sich
zum Schiitismus bekehrten.
Der mit Gewalt octroyirte neue Glauben zählte daher
wenig aufrichtige Anhänger unter den Berbern, und sobald
nur eine günstige Gelegenheit sich bot, erfolgten Erhebungen,
an deren Spitze sich kühne Männer stellten, welche entweder
als Propheten oder als Vertheidiger der nationalen Unabhän
gigkeit auftraten und die demokratischen Principien des Charid-
schitismus zu verfechten vorgaben, die sie ihren Zwecken oder
den Verhältnissen entsprechend mehr minder umformten. Ein
solchei' eingeborner Prophet erhob sich aus dem Ghumärah-
Stamme. Er nannte sich Hamim Ibn mann allah mit dem
Laqab al-Muktadi; aber schon im J. 315 wurde er bei Mas-
1 Ausser den Idrisiden bestanden nach Jaqubi 1. c. in al-Maghrib eine Reihe
kleiner alidischer Dynastien, wie die Banu’l Hasan Ibn Sulaiman, west
lich von az-Zäb, die Banu Mnhammed Ibn Sulaiman etc., die aber keine
bedeutende politische Rolle spielten.
2 Ibn Chaldun, hist, des Berb. I. p.
Boiträge zur muhammedanischen Münzkunde.
133
mudali as-Sähil 1 getödtet. Einen mehr politischen Charakter
hatte dagegen die Empörung Abu’l Jazid Machlad’s, genannt
Sahib al-Himär, ,der Herr des Esels', aus dem Zenätah-Stamme.
Seine volksthümlichen Lehren 2 verschafften ihm grossen Zu
lauf und er konnte sogar Kairawän einnehmen. In der Folge
aber verlor er wegen seiner autokratischen Gelüste einen
grossen Theil seiner Popularität und ward schliesslich nach
einer schweren Niederlage genöthigt, in das Ketämah-Gebirge
zu fliehen, wo er nach heftigem Widerstande gefangen und im
J. 336 qualvoll hingerichtet wurde.
Erst nach Niederwerfung dieser charidschitischen Erhe
bungen konnte der fathimidische Chalif al-Muizz (341—365)
eine kräftigere Politik nach aussen verfolgen. Aber nicht
blosse Eroberungslust, sondern wesentlich Motive politischer
Natur gaben hiezu den Anstoss. Schon lange und mit Erfolg
hatten die spanischen Umaijaden Verbindungen in Afrika an
zuknüpfen gewusst. So anerkannte Musa Ibn Abi Atia, der
Tasül, Taza etc. besass, die Oberherrschaft des Chalifen An-
Nasir und liess dessen Namen von allen Kanzeln verlesen, und
seine Nachfolger al-Buri (f 345) und al-Mansur thaten das
selbe 3 . Auch hatte al-Muizz zu eben dieser Zeit Nachricht
erlangt, dass Jala Ibn Muhammed, der Häuptling der Banu
Jafran einen Briefwechsel mit den spanischen Umaijaden unter
halte 4 , und Ibn Chaldun sagt sogar, dass derselbe von Abdar-
rahman III. mit der Statthalterschaft al-Maghrib’s belehnt
wurde. Bereits früher hatte es nicht an Reibungen gefehlt.
Im J. 344 entstanden Zwistigkeiten . zwischen al-Muizz und
dem spanischen Chalifen, wegen eines sicilischen, von den An-
dalusiern geplünderten Fahrzeuges. Die fathimidischen Schiffe
1 al Bekri in den Notices et Extraits des Manuscr. du Roi, XII. 550.
2 Ibn Chaldun 1. c. I. p. Seine Lehre, die er in einer Art Koran in
berberischer Sprache verkündete, empfahl sieh durch ihre laxen Vor
schriften den Stammgenossen; vgl. Hammer, in den Sitzungsb. VIII.
491. Kremer Ideen p. 371.
3 Ibn Chaldun, 1. c.
4 Journal Asiat. 1836 t. II. 405. Dass aber der Name Jala und nicht Jali,
wie am angeführten Orte zu lesen, lehrt Ibn Kuteiba ed. Wiistenfeld,
P- (1°.
5 1 o. p. IaP.
134
Borgraa nn.
landeten unter der Führung; Hasan Ihn Ali’s, des Statthalters
von Sicilien bei Almeria und plünderten die Küste, während
eine spanische nach Africa entsendete Flotte von al-Muizz
zurückgesehlagen wurde '. Es war daher Aufgabe einer klugen
und weitsichtigen Politik, dem Herübergreifen des omaijadischen
Einflusses im Beginne entgegenzutreten und denselben unschäd
lich zu machen. Aber noch ein anderes Moment musste für
das aggressive Vorgehen al-Muizz’ entscheidend sein. Ein
abermaliger Ausbruch einer nationalen Erhebung war zu be
fürchten und diesem konnte nur durch Unterwerfung der noch
unabhängig und selbstständig gebliebenen Reste der Berber
stämme, von welchen bereits die Mehrzahl nach Dämpfung
von Machlad’s Aufstande bezwungen worden, vorgebeugt werden.
Noch bestand eine Anzahl kleinerer einheimischer Dynastien,
die sich durch die aufstrebende Macht der Fathimiden in ihrer
Existenz bedroht und durch das Gebot der Selbsterhaltung
sich genöthigt sahen, die nationalen Bestrebungen zu begün
stigen und in diesen ihre Stütze zu suchen. Sie besassen für
diese Politik einen mächtigen Hebel in dom noch fortbeste
henden Gegensätze zwischen Schiitismus und Charidschitismus,
auf welchen sie alle sich stützen, mit einer merkwürdigen
Ausnahme, die unsere Aufmerksamkeit wohl verdient.
Zu den einheimischen Dynastien, welche zur angegebenen
Zeit ihr Dasein noch fristeten, gehört auch jene der Banu
Wäsul oder Banu Midrär 2 . Ihre Geschichte im Umrisse zu
geben ist für unsere Zwecke nöthig und um so weniger über
flüssig, als sie überhaupt noch nicht zusammengestellt wurde 3 .
Die Bevölkerung des Gebietes, auf welchem später die
Stadt Sidschilmäsa stand, zählte zu dem grossen Stamme der
Miknäsa. Bereits kurze Zeit nach Verkündigung des Islands
1 1. c. vgl. Abulfedae Annal. II. 462.
2 Hammer, Sitzungsb. d. k. Akad. VIII. 499 irrt, wenn er diese als zwei
verschiedene Dynastien unterscheidet.
3 Hauptquellen sind: Ibn Chaldun, histoire des Bcrberes ed. Slane, I.
p. |‘(v. al-Bekri übersetzt von Quatremere in den Not, et Extr. des Ma-
nuscrits du Roi t. XII. p. 602 ff. und Ibn Adsäry, ed. Dozy t. I. p. (»ff
u. f| ff. Einige Daten bei Ibn al-Athir VIII. 392. Abulfedae Annales
II. 314; Ibn Badrun ed. Dozy p. und Mirchond Manusc. der k. k.
Hofbibi. A. E. 28 fol. 41.
Beitrage zur muhammedanißcben Münzkunde.
135
bekannte sie sich zur Seete der Sifriten, deren Satzungen von
flüchtigen Arabern ihr gebracht wurden. Bald breitete sie sich
über die benachbarten Landstriche aus, und unterstützte Mai
sarah in seinem Aufstande. Eine Schaar von 40 Häuptlingen,
die der neuen Lehre beigetreten waren, sagte dem Chalifen
den Gehorsam auf und erhob den Isa al-Aswad zu ihrem
Führer, der im J. 140 die Stadt Sidschilmäsa gründete '. Auch
die übrigen umwohnenden Angehörigen des Stammes bekehrten
sich zum Sifritismus, aber unzufrieden mit ihrem Emir, setzten
sie. denselben im J. 158 gebunden auf einer Bergspitze aus,
bis er verschmachtete. Ihre Wahl fiel jetzt auf Abu’l Käsim
Samkü Ihn Wasul 2 Ibn Maslan 3 Ihn Abu Jazul, dessen Vater
zum Zwecke wissenschaftlicher Ausbildung nach Medina ge
reist war und daselbst unter Ikrima, einem Clienten des Ibn
Abbässtudirt hatte. Besitzer zahlreicher Heerden, war er
der erste, welcher dem Isa Ibn Jazid gehuldigt und dessen An
erkennung bei den Stammgenossen erwirkt hatte. Samkü Ihn
Wasul blieb im Genüsse der Herrschaft bis zu seinem plötz
lichen Tode im J. 167. Er gehörte, wie 'gesagt, der Secte
der Sifri-Ibadliiten an, was ihn aber nicht hinderte, aus poli
tischen Motiven die Chuthba für die Chalifen al-Mansur und
al-Mahdi zu halten. Ihm folgte sein Sohn al-Jäs, genannt al-
Wazir 5 , der durch Empörung im J. 174 den Thron verlor,
welchen sein Bruder Abu’l Muntasir 11 Alisa Ibn Abu’l Kasirn
bestieg. Dieser, gleichfalls Sifri-Ibadhi, umgab Sidschilmäsa
1 Nach al-Bekri 1. c. wurde der Bau der Stadt schon im J. 104 begonnen,
die 2 Meilen entfernte Stadt Bera aber in der Folge verlassen. Es
scheint dass der Platz, auf welchem Sidschilmasa sich erhob, früher den
Berbern als Jahrmarkt diente. Midrar, der Urahn unserer Dynastie, s[o
seine Waare (er war Schmied) dahin zum Verkaufe gebracht haben. ■*
2 Im arabischen Texte Ibn Chaldun’s irrig Sakmu; bei Ibn Adsari Samghün.
:i Nicht Fazlan wie bei al-Bekri.
4 Dieser ist Abdallah Ibn Abbäs, Vetter Muhammeds; vgl. Ibn Chaldun 1.
c- p. IM.
5 Bei Ibn Adsari Abu’l Wazir.
6 Es scheint, dass Alisa zwei Kunia, Abu’l Mansur und dann Abu’l Muntasir,
geführt habe, denn erstere findet sich bei al-Bekri und Ibn Chaldun,
letztere bei Ibn Adsari p. br. 16.
136
Bergmann.
im 34. Jahre seiner Regierung mit einer Mauer 1 ; unter ihm
erlebte die Stadt ihre Bliithe, indem er sie ausbaute, Gebäude
und Befestigungen anlegte und sie zur definitiven Residenz er
hob. Auch das Wüstengebiet wurde unterworfen und ein
Fünftel der Ausbeute von den Bergwerken zu Dara einge
hoben. Durch Verschwägerung mit Abdar-Rahman Ibn Rüstern 2 ,
dem Herrn von Tahart, dessen Tochter Arna mit dem Sohne
Alisa’s, Midrar, sich vermählte, befestigte sich seine Stellung.
Nach seinem Tode im J. 207 3 folgte Midrar mit dem Laqab
al-Muntasir, 4 der lange regierte. Er hatte zwei Söhne, von
denen jeder Maimun liiess, den einen
daher auch Ibn Rustemija 5 genannt, den andern von der
Baghija 6 , die um die Nachfolge in der Regierung stritten. Der
Sohn Arwa’s, welchen der Vater begünstigte, vertrieb nach
dreijährigem Kriege seinen Bruder, zögerte aber nicht alsbald
durch Absetzung des Vaters sich der Herrschaft zu bemäch
tigen. Dem Volke verhasst, ward er gezwungen, nach Dara
zu flüchten, worauf Midrar wieder auf den Thron berufen
1 So Ibn Chaldun. Nach al-Bekri im J. 199. Nacli Ibn Adsari lebte Alisa
34 Jahre zu Sidschilmäsa, was das Richtige nach dem Folgenden zu sein
scheint.
2 Angeblich ein Enkel jenes Rüstern, welcher die sasanidische Armee in
der Schlacht von Kadesia im J. 15 d. H. befehligte; über diese ver-
muthlich erfundene Abstammung und über diese Dynastie vgl. al-Jaqubi,
descriptio al-Maghribi ed. Goeje p. 101.
3 Wie Weil in der Besprechung der Ausgabe des Ibn Adsari (Heidelb.
Jahrb. 1849 p. 89) und später auch Dozy mit Recht bemerken, wider
spricht sich dieser Autor. Nach p. starb Alisa im J. 207, nach p. |..
aber im J. 208. Ob, wie Weil vermuthet, dieser Widerspruch so zu er
klären ist, dass Midrar sofort seinem Vater folgte, das Volk sich aber
gegen ihn empörte und den entthronten Al-Jas wieder wählte (vgl. Ibn
Adsari p. a<|), der nach kurzer Zeit seinem Neffen Midrar weichen
musste, Midrar aber seine Regierungsjahre erst von da ab zählte , muss
dahin gestellt bleiben.
1 Wie Alisa, der Vater Midrar’s, die Kunia Abu’l Mansur und dann Abu’l
Muntasir angenommen zu haben scheint, so dürfte entsprechend Midrar
die Namen Al-Mansur (vgl. Ibn Adsari I. 99) und später al-Muntasir ge
führt haben. Vgl. Ibn Badrun ed. Dozy p. (“flü
6 Al-Bekri 1. c. p. 604.
6 So nach Ibn Adsari. Die Schreibung bei Ibn Chaldun schwankt zwischen
at-Taki, Albagliy, bei al-Bekri Baghija.
Beiträge zur muhammedanischen Münzkunde.
137
wurde, indem sein anderer Sohn Maimun die Uebernahme der
Regierung- auf Kosten des Vaters verweigert hatte h Aber die
Vorliebe Midrar’s zu seinem Sohne Maimun Ihn Arwa, dem
er gegen den Willen der Bevölkerung wieder die Regierung in
die Hände zu spielen suchte, führte seine Absetzung herbei
und jetzt erst wurde Maimun Ibn Baghija, genannt al-Amir 2
zum Oberhaupte erwählt. Midrar starb bald darauf im J. 253,
dem 45. Jahre seiner Thronbesteigung. Dem Sohne Maimun’s
(f 263), Muhammed (f 270), 3 einem eifrigen Ibädhi, folgte
Alisa 4 . Zu dieser Zeit kam Ubeid-Allah der Gründer der
fathimidischen Dynastie, mit seinem Sohne Abu’l Kasim flüch
tend vor den Nachstellungen der Abbasiden und Aghlabiden,
als Kaufmann verkleidet von Tripolis nach Sidschilmäsa. Aber
ein Schreiben des Chalifen al-Mutadhid, dessen Souverainität
Alisa anerkannte, unterrichtete letzteren von dem wirklichen
Charakter und den Absichten der beiden Reisenden. Sie
wurden ergriffen und gefangen gehalten, bis Abu Abdallah
asch-Schii nach Besiegung des Aghlabiden Ziädat-allah und
Eroberung Raqqädä’s gegen Sidschilmäsa zog, um den Mahdi
und dessen Sohn zu befreien. Alisa zog ihm entgegen, wurde
jedoch geschlagen und nach der Einnahme der Stadt im Dsu’l
Hiddscha d. J. 296 getödtet. 5 Der aus dem Gefängniss her-
1 So nach Ibn Adsäri uncl al-Bekri.
2 Variante al-Amin.
3 Dieser wird von Ibn Adsäri übergangen.
4 Nach Ibn Adsari I. p. mit dem Laqab al-Muntasir, ,den einer seiner
Vorfahren geführt hatte*. Ibn Chaldun nennt ihn irrig ,Alisa, Sohn al-
MuntasirV. Es ist dies offenbar der von Ibn Badrun p. p<Jp erwähnte
,Midrar Ibn Alisa*, genannt al-Muntasir, der den Titel eines Amir al-
Muminin geführt haben und von der berberischen Tribus der Bann Chälid
nach Ifrikija an Abdallah asch-Schii ausgeliefert worden sein soll.
5 Makrizi in der (Chrestomathie arabe cd. Sacy II. p. 115, vgl. p. 135) erzählt,
dass Alisa auf der Flucht ergriffen und nach seiner Auspeitschung ge
tödtet wurde. Einige Quellen setzen den Tod Alisa’s in das J. 207,
vgl. Ibn Adsäri p. und al-Bekri 1. c. p. 604. Ubeid-Allah wurde
von Abu Abdallah im Triumphe herumgeführt unter dem Rufe: ,dies ist
Euer Herr*. Descr. de l’Afrique ed. Kremer. p. 7. Die Angabe Abulfeda’s,
die auch in Flügers Geschichte der Araber (2. Aufl.) p. 262 Erwähnung
gefunden, dass mit Alisa die Dynastie der Midräriden nach 130jähriger
Dauer aufhörte, ist gänzlich irrig.
138
Bergmann.
vorgeholte Ubeid-Allah setzte den Ibrahim Ibn Ghälib 1 al-
Maghäti aus dem Ketama-Stamme zum Statthalter ein und be
gab sich hierauf nach Ifriqija. Die Bevölkerung Sidschilmäsa’s
hing jedoch ihrem angestammten Fürstengeschlechte treu an
und tödtete im J. 298 Ibrahim und seine Leute, worauf al-
Fath Ibn Maimun al-Amir, ein Enkel Midrar’s mit dem Bei
namen Wäsul, am 1. Rabia 2 zur Regierung berufen wurde.
Dieser, ein eifriger Ibadhite, starb jedoch bereits im Anfänge
d. J. 300 3 . Sein Bruder Ahmed 4 behauptete sich in der Re
gierung, bis Masälali Ibn Habbüs mit einer Anzahl von Leuten
aus dem Stamme der Ketama und Miknäsah im Muharrem d.
J. 309 sich Fäs und Sidschilmäsa’s bemächtigte und die Auto
rität Ubeid Allah’s wieder herstellte. Ahmed Ibn Maimun fiel
in seine Hände und an dessen Stelle ward sein Vetter al-Muttaqy 5
Ibn Muhammed Ibn Bassädir als fathimidischer Statthalter
eingesetzt, dem es in Bälde gelang, sich völlig unabhängig zu
machen. Er starb im J. 321 kurz vor Ubeid-Allah. Sein Sohn
und Nachfolger Abu’l Muntasir Muhammed regierte 10 Jahre,
und hierauf der unmündige al-Muntasir Samku 6 unter der
Vormundschaft seiner Grossmutter 2 Monate. Diese Verhält
nisse benützend bemächtigte sich ein Vetter Samku’s, Muham
med Ibn al-Fath Ibn Maimun al-Amir Sidschilmäsa’s, während
die Fathimiden durch den Aufstand des Ibn Abu’l Aliali und
Taharts, und die darauf folgende gefährliche Empörung Abu
Jezid’s ganz in Anspruch genommen waren. Muhammed, im
Besitze der Herrschaft, entsagte der charidschitischen Lehre
und bekannte sich zur Sunna 7 , indem er anfänglich zum Scheine
das Kanzelgebet für den abbasidischen Chalifen verrichten liess. 8 '
1 Bei Ibn Chaldun irrig Aghlab.
2 So al-Bekri p. 604.
3 Nach al-Bekri im Redscheb.
4 Bei Ibn Adsari Ahmed Ibn al-Amin.
5 Nach al-Belcri Mughir Ibn Muhammed.
0 Nach al-Bekri Abu’l Muntasir Samku, ein Knabe von t3 Jahren, bei Ibn
Adsari p. | J Abu’l Mansur Samghü’l Ibn al-Mutazz.
7 Und zwar zufolge al-Bekri’s zur malikitischen Lehre.
8 Die Stelle bei Ibn Chaldun, hist, des Berberes I. p. IV. lautet:
UjJL JUvJIäJ ^_äJt Lecks
Beitrage zur muliammeclauischen Münzkunde.
139
Sobald er aber den Augenblick für gekommen hielt die
Maske fallen zu lassen und mit seinen wahren Absichten offen
aufzutreten ; nahm er im J. 342 *, wie die Quellen überein
stimmend melden, mit dem Laqab ascli-Schäkir lillah den Titel
eines Emir al-Muminin 2 an. Zugleich liess er mit seinem
Namen und Laqab Gold- und Silbermünzen schlagen, von
welchen letztere bei Ibn Hazm als ad-därähim asch-Schäkirije
ausdrücklich genannt werden.
Mit diesen Quellennachrichten ist die Bestimmung unseres
Dinar’s gegeben. Auf dessen Vorderseite finden wir den
Namen Muhammed Ibn al-Fath, auf dessen Rückseite das
Laqab asch-Schäkir lillah und so die Angabe Ibn Chaldun’s
bestätigt, dass beide auf die Stempel gesetzt wurden. Aber
ausserdem lesen wir auf dem Reverse zu oberst ,al - Imam',
während der Titel Emir al-Muminin, welchen gerade die Quellen
anführen, fehlt. Mit dem Imamate wird die gesetzliche Nach
folge im Chalifate und die davon untrennbare weltliche
Souveränität bezeichnet. Dieser Titel stand in Afrika seit
jeher und besonders seit dem Auftreten des Schiitismus in
Folge der ihm eigenthümlichen Lehre des Imamates im höch
sten Ansehen und bezeichnend ist die Aeusserung des Chalifen
al-Muizz zu einigen Häuptlingen der Ketamah - Berber: ,Ich
unterscheide mich von Euch nur durch einige Praerogative,
welche meinem Range anhaften und durch den Imamtitel', den
Gott mir verliehen hat' 3 . Daher unterliessen die Fathimiden
nicht auf den Revers ihrer Münzen zu oberst den Titel Imam
zu setzen 1 und erst in zweiter Stelle den eines Emir al-Muminin.
Das von ihnen gegebene Beispiel fand im Westen alsbald
Nachahmung; während die Abbasiden bis auf an-Näsir herab
nur in wenigen seltenen Fällen sich auf ihren Stempeln Iiname
nannten, und die spanischen Umaijaden sogar bis zum J. 316
gar keinen Titel sich beilegten, nahm im ebengenannten Jahre
Abd ar-Rahman III. das Laqab an-Nasir lidin allah mit dem
Titel eines Imam’s und Amir’s al-Muminin an. Ein ähnlicher
1 So al-Bekri und Ibn Adsari. Das Datura fehlt bei Ibn Clialdun.
2 Ibn Clialdun I. IV. al-Bekri. Ibn Adsari 1. Ibn al-Atliir VIII.
392. Mirchond Manuscr. d. Hof bibi. Nr. 029, Fol. 41.
3 Journ. Asiat. 1830 p. 419.
4 Auf einigen Münzen al-Mamun’s, al-Wäthiq’s, al-Mutamid’s und ar-ßadlii’s.
140
Bergmann.
Vox-gang ereignete sich nun auch im äussersten Süden al-
Maghribs. Muhammed Ihn al-Fath arrogirte sich die Würde
des Imamates und die Kenntniss dieses Factums verdanken
wir unserem Dinar.
Fs ist beachtenswerth, dass die Quellen die Annahme des
Amir al-Muminin-Titels durch asch-Schäkii hervoi-heben und
den bedeutungsvolleren übergehen, obwohl gerade durch die
Usurpation des Imamtitel’s die Absichten des Midi-ariden illu-
strirt werden, und sich hieraus unzweifelhaft ergibt, dass der
selbe eine fremde Oberherrlichkeit, sei es politischer, sei es
religiöser Natur nicht anerkannte. Wenn nun Ihn Chaldun
bemerkt, dass Muhammed zum Scheine für die Abbasiden das
Kanzelgebet verrichten liess, so kann diese Angabe nur bis
zum J. 342 auf Richtigkeit Anspruch haben, in welchem er die
Maske abwarf und sich als weltliches und geistliches Oberhaupt
proclamirte. Welche Motive Muhammed zur Annahme des
Sunnitismus und zur äusserlichen Anerkennung des Abbasi-
dischen Chalifats bewogen, dies erfahren wir aus den Quellen
nicht, und es fällt schwer, sie in den damaligen politischen
Verhältnissen nachzuwoisen. Der Charidschitismus an sich war
kein unübersteigliches Hinderniss, sich mit dem orthodoxen
Chalifate auf gutem Fusse zu stellen, wenn der Vortheil oder
das Gebot der NotliWendigkeit es erheischte, und man kann
in dieser Hinsicht auf die der ibädhitischen Lehre so eifrig
ergebene Dynastie der Midi-ariden selbst hinweisen, deren Stifter
Samku Ibn Wäsul die Chuthba für die Chalifen al-Mansur und
al-Mahdi halten liess und weiter auf Alisa, der über Auf
forderung al-Mutadhids Ubeidallah sammt Sohn festnahm. Aber
im 4. Jahrhunderte waren die Macht und der Einfluss des
Chalifates zu Baghdäd schon so gesunken, dass, zumal im
äussersten Westen Afrika’s, seine Anerkennung keinerlei prak
tische Bedeutung haben konnte. Wenn Muhammed trotzdem
zum Sunnitismus übertrat und dies, wie aus den Berichten
hervorgeht, keineswegs aus religiöser Ueberzeugung, sondern
in eigennütziger Absicht that, so müssen wir diese Apostasie
mit der Existenz eines numerisch nicht unbedeutenden, der
Sunna ergebenen Bruehthciles der Bevölkerung Sidschilmäsa’s
und der umwohnenden Berberstäminc erklären. Die Quellen
schweigen aber nicht bloss hierüber, sondern hinsichtlich des
Beiträge zur muhammedanisclien Münzkunde.
141
nicht unwichtigen Umstandes, ob Muhammed, indem er sich
zum Amir al-Muminin proclamirte, dem Sunnitismus treu blieb
oder zum Charidschitismus zurückkehrte. Nach der sunni
tischen Lehre durfte das Imamat nur ein Abkömmling- der
Familie Koreisch bekleiden; 1 asch-Schäkir konnte daher in
den Augen der Sunniten als legitimes Oberhaupt nicht gelten
und indem er die geistliche und weltliche Souverainität in
seiner Person vereinigte, ohne hierauf gesetzlichen Anspruch
zu haben, stellte er sich wieder auf den Boden des Charidschi
tismus. Augenscheinlich ging seine Absicht dahin, sich zum
Mittelpunkte einer nationalen Bewegung zu machen, die er zu
seinen ehrgeizigen Plänen benützen wollte. Hätte er zunächst
nur die Sicherstellung seiner Herrschaft gewünscht, so wäre
die Anerkennung Abd-ar-Rahman III. als Schutzherrn, die zu
eben dieser Zeit von Seite mehrerer kleinen Dynasten erfolgte,
sehr naheliegend gewesen.
Nicht lange sollte asch-Schäkir seines usurpirten Ima-
mates sich erfreuen. Bereits Eingangs sind die Motive her
vorgehoben worden, welche den Chalifen al-Muizz zur Aus
rüstung einer Expedition bewogen, die ganz Maghrib in seine
Gewalt bringen sollte, dessen damalige politischen Verhältnisse
sich folgendermassen darstellen.
Das fathimidische Reich erstreckte sich von Ifkan, 2 3 Tage
reisen über Tähart hinausgelegen bis nach Rammada; Tähart :i
und Ifkan gehörten dem Jala Ihn Muhammod Jaferni; Aschir
und sein Gebiet unterstanden dem Z iri Ibn Manäd von dem
Stamme der Sinhädsclia; in al-Masila führte der Spanier
Dschäfar Ibn Ali; in Bägliäia der Slavonier Kaisar, in Fäs
endlich Ahmed Ibn Bekr al-Dschudsäni die Regierung 4 .
Dei - Mann, welchen al-Muizz zu dieser schwierigen Unter
nehmung auserwählt hatte, war al-IIasan Dschauhar, genannt
1 Vgl. Kremor, Ideen p. 426.
2 Geschrieben
3 Audi Taihart genannt, früher die Hauptstadt von Maghrib, von Abdar-
Raliman Ibn Rüstern, einem Oberhaupte der Ibadhiten, im J. 144 ge
gründet. Ibn Chaldun, hist. d. Berb&res I. p.
4 Ibn Chaldun, allgemeine Geschichte IV. Bd. p. 40 der Bulaqer Ausgabe,
deren Benützung mir durch die Gefälligkeit des Herrn Hofrathes von
Kremer ermöglicht wurde.
142
B e r g m a n n.
al-Kätib. 1 Im J. 347 erhielt letzterer den Rang' eines Wezir’s
und im Safar desselben Jahres stellte ihn der Chalif an die
Spitze einer zahlreichen Armee, bei welcher sich der Sin-
hadschite Ziri Ibn Manäd und andere Tribuschefs befanden
und die 20000 Reiter aus den Ketäma, Zanäta etc. zählte.
Dschauhar 1 sollte bis an die äusserste Grenze al-Maghrib’s Vor
dringen und alle Plätze unterwerfen, welche die Autorität der
Fathimiden noch nicht anerkannt hatten. Die Armee rückte
zuerst vor Tahart, dessen Herr Jala Ibn Muhammed ihr
entgegenkam; ein Tumult jedoch, der zwischen dem Nachtrabe
und den Banu Jafran entstand, bewog Dschauhar Jala fest
nehmen zu lassen, welcher sofort von Ketamah-Berbern getödtet
wurde. Eine Anzahl von Berberstämmen ward hierauf unter
worfen und eine grosse Zahl von Plätzen eingenommen. Dann
wandte sich Dschauhar gegen Fäs, das dem Ahmed Ibn Bekr
gehörte und vor ihm die Thore schloss. Da aber der Wezir
trotz längerer Belagerung die Stadt nicht einnehmen konnte,
so unternahm er über Aufforderung Ahmed’s einen Feldzug
gegen Sidschilmäsa. Auf die Nachricht von dem Herannahen
der fathimidischen Truppen verliess al-Schäkir, der zum Wider
stande zu schwach war, seine Residenz in Begleitung seiner
Familie und der treuesten Anhänger und floh nach Tasferakt, 2
einem befestigten, 12 Meilen von Sidschilmäsa entfernten Orte,
wo er einige Zeit verweilte. Um den Stand der Dinge per
sönlich kennen zu lernen, wagte er sich in Verkleidung in die
Stadt, wurde jedoch von einem Manne aus der Tribus der
Mathgliara erkannt und an Dschauhar verrathen. Die Eroberung
Sidschilmäsa’s hatte nur kurze Zeit in Anspruch genommen,
und jetzt drang der Wezir unaufhaltsam bis zum atlantischen
Ocean vor, aus welchem er Fische fangen liess, die in Wasser-
1 Die Berichte über die ersten Unternehmungen Dschauhar’s differiren. Die
gegebene Darstellung folgt Ibn Clialdun. Nach Ibn al-Athir VIII. 392
empörte sich Jala erst später gegen Dschauhar, der ihn festnahm und
das eroberte Ifkan naeli allgemeiner Plünderung niederbrennen liess.
Jala’s unmündiger Sohn Jaddu Ibn Jala wurde gefangen genommen;
vgl. aucli die Version im J. asiat. 1836 t. II. p. 405 und Ibn Adsari I.
p. 230.
2 Der Name des Ortes wird verschieden geschrieben. Bei al-Ilekri p. 605
Tüsferäkt, bei Slane Täsdschedält; vgl. Jacut, Merasid IV. p. 449. Täs-
fedält bei Mustaghanim, gegenüber v. Dehia al-Bekri p. 526.
Boiträge zur imiliainmedanisclien Münzkunde.
143
gefässen mit Seepflanzen an al-Muizz gesendet wurden. Auf
dem Rückwege erschien er ein zweites Mal vor Fas, welches
am 21. Ramadhan des J. 348 mit Sturm eingenommen wurde.
Ahmed Ihn Bekr fiel in die Hände Dschauhar’s der allerorten
fathimidische Statthalter einsetzte und schliesslich nach glän
zender Erfüllung seiner Mission im Triumphe nach Mansuriah
zog, seine beiden Gefangenen asch-Sehäkir lillah und Ahmed
in zwei eisernen Käfigen mit sich führend. Die Quellen
schweigen über das weitere Schicksal asch-Scliäkir’s, der viel
leicht im Gefängnisse starb; jedenfalls war es ein rühmloses
Ende, das den Midrariden, der die Arrogirung des Imamates
gewagt hatte, ereilte.
Muhammed Ibn al-Fath war jedoch nicht der letzte seines
Geschlechtes, der in Sidschilmäsa herrschte. Zu derselben Zeit,
als der grössere Theil al-Maghribs den Fathimiden wieder den
Gehorsam aufkündigte und zumeist den spanischen Omaijaden
huldigte, warf sich ein Sohn asch-Schäkir’s zum Herrn von
Sidschilmäsa unter dem Namen al-Muntasir billah auf. Er ward
jedoch im J. 352 getödtet von seinem Bruder Abu Muhammed,
der als al-Mutazz billah den Thron bestieg, aber bereits im
J. 366 im Kampfe gegen den Häuptling der Maghrawah, 1
Chazerun Ibn Fulful sein Leben verlor. Der Sieger bemächtigte
sich des Landes und der Schätze und sandte den Kopf al-
Mutazz mit der Siegesbotschaft nach Cordova, worauf der
Hädschib al-Mansur Ibn Abi Amir im Namen al-Hisehäm’s
ihn zum Statthalter von Sidschilmäsa ernannte. Die Banu
Midrär und mit ihnen der Stamm der Miknasa verschwinden
von jetzt an aus der Geschichte al-Maghribs; die Erben ihrer
Macht waren die Maghrawa und Banu Jafran.
Zum Schlüsse noch einige Worte über unseren Dinar,
der wohl unzweifelhaft in Sidschilmäsa, der Residenz ascli-
Schähir’s geschlagen wurde. Sein ganzer Typus gleicht völlig
jenem der Goldprägen aus den ersten Regierungsjahren al-
Muizz, deren das kais. Cabinet zwei besitzt. Wir finden auf
diesen denselben rohen, schwerfälligen Schriftzug und die gleiche
Anordnung der Aufschriften, welche, ausser in den Namen, nur
durch den Titel eines Emir al-Muminin, den al-Muizz auf-
1 Die Mayouprjßoi dea Ptolemaeus vgl. Abulfcdc, Geogr. ed. Reinaud II. 177.
144
B e r g in a n n.
nahm, sich unterscheiden. So ist es nicht zu bezweifeln, dass
die Goldpräge des fathimidischen Chalifen dem Midi-ariden zum
Muster diente, eine Ansicht, die noch durch einen anderen
Umstand wesentlich gestützt wird. Auf dem Revers unseres
Dinar’s zeigt sich nämlich ein bogenförmig gekrümmter ziem
lich dicker Strich im Felde der Münze, dessen Bedeutung oder
Zweck zunächst nicht abzusehen ist, der jedoch in ganz gleicher
Form auf den erwähnten Münzen al-Muizz’ sich wiederfindet,
und folgendermaßen zu erklären sein dürfte. Auf anderen
Prägen findet sich an derselben Stelle in der Umschrift häufig
das Wort i das zurückgebogene Schwänzchen des Buch
staben Ja tritt aber oft in das Miinzfeld und erscheint, für
sich angesehen, genau so wie der in Rede stehende bogen
förmige Strich unseres Dinar’s. Ich glaube daher nicht mit
der Yermuthung zu irren, dass dieser unverbunden und
selbständig auftretende Bogen auf dem Goldstücke ascli-
Schäkirs ebenso wie jener auf den Dinaren al-Muizz’ nichts
anderes ist als jenes Schwänzchen des Ja, jdas vom Stempel
schneider missverstanden und am Unrechten Orte sinnlos
wiedergegeben wurde. 1 — Noch verdient in Betreff des Re
verses bemerkt zu werden, dass über dein Namen al-Fath an der
in der Abbildung ersichtlichen Stelle ein Punkt so nahe an
der Verbindungslinie sich befindet, dass er beinahe wie die
Zacke eines Buchstabens erscheint.
Hat durch einen jener glücklichen Zufälle, an denen die
muhammedanische Numismatik nicht arm ist, das merkwür
dige Goldstück des kais. Cabinctes seine Existenz bis auf die
Gegenwart gerettet, so dürfen wir ohne Kühnheit die Hoffnung
aussprechen, dereinst in authentischester Weise die Nachricht
Ihn Chaldun’s 2 in dessen Geschichte der Fathimiden bestätigt
zu sehen, dass asch-Schäkir auch Münzen mit seinem Namen
1 Auf dem Dinar asch-Schäkir’s reicht der Buchstabe Ja im Worte Huda
nicht unter die Schriftlinie hinab.
2 Allgem. Geschichte t,. IV. p. (Buläq). Die betreffende ziemlich ver
worrene und auch fehlerhafte Stelle lautet:
xXwJI X-i.L-CuJ I Lj
— xJJ!
Beiträge zur muhammedanisclien Münzkunde.
145
und den Worten: ,taqaddasat izzat allall' (,geheiligt sei die
Macht Gottes') schlagen Hess.
Hasanweikide.
Die Kurden, die Gordysei oder Carduchi der Alten treten
in der Geschichte des Islams erst im 4. Jahrhunderte hervor.
Ein streitbares Volk, das wegen seiner Raub- und Plünderungs
lust von Alters her übel beleumundet war, nahmen sie stets
gerne Kriegsdienste an und bei den fortwährenden inneren und
äusseren Kämpfen des Chalifats fehlte es ihnen nicht an Be
schäftigung. Aber erst zum bezeichncten Zeitpunkte gelang es
einer Anzahl kurdischer Häuptlinge, den Verfall des Chalifats
benützend, eine Reihe mehr minder unabhängiger Herrschaften
zu gründen. So finden wir Alusch in Antiochien (f 358), 1 den
Stammherrn der kurdischen Dynastie der Marwaniden, Bädu,
der im J. 380 im Kampfe gegen die Söhne Nasir ad-daula’s
fiel, die Bann Annäz al-Kurdi in Hülwan und Qarmisin. Am
mächtigsten aber tritt zu dieser Zeit das kurdische Geschlecht
der Hasanweilüden hervor, dessen Geschichte bisher keinen
Bearbeiter gefunden hat. 2
Der Begründer dieser Dynastie, nach welchem sie benannt
wird, war Hasanweih Ibn al-Husein 3 al-Barzikäni, der eine
Truppe seiner Tribus befehligte, bis er die Besitzungen seiner
Oheime mütterlicherseits, Wandäd und Ghänim, Söhnen des
Ahmad Ibn Ali, die Dinawar, Hamadan, Nihawend, Samaghän
und einige Thcile Adserbeidschans bis Schahrzur besassen,
erhielt. Da die Bujiden zu dieser Zeit anderweitig beschäftigt
waren, benützte Hasan weih diesen günstigen Umstand zur Ver-
grösserung seiner Macht, indem er zugleich Schutzgeld von
den Kaufleuten und Handelszügen einhob. Itukn ad-daula Hess
1 Zeitsehr. der deutsch-morgcnl. Gesellschaft Bd. XI. p. 213, 230.
5 Diese Zeilen sind vor dem Erscheinen des im Numismatic Chroniele 1871
p. 259 erschienenen Aufsatzes Rogers über einen Ilasanweihiden Dirhem
geschrieben. TTebrigcns findet sich daselbst, nur eine sehr unvollständige
Benützung der Quellen.
3 So Ibn Chaldun in der allgemeinen Geschichte (Bulfiqer Ausgabe) und
das Scharafname (Barb in den Sitzungsber. der kais. Akademie der
Wissenschaften Bd. XXVIII. p. 6). Bei Ibn al-Athir (ed. Tornberg)
Ilasan.
Sitzungsbor, ü phil.-hist. CI.LXKtH. lid.I. llft.
10
146
Bergmann.
ihn gewähren und wusste ihm sogar Dank 1 für den Schutz,
welchen er den Dailemiten gegen die chorasanischen Truppen
bot, bis Sahlan lbn Musäfir von Hasanweih geschlagen und
mit seinen Leuten gefangen genommen wurde 2 . Auf die Nach
richt hievon sandte Rukn ad-daula im J. 359 den Vezir Abu’l
Fath lbn al-Amid, welchen sein gleichnamiger ungerathener
Sohn begleitete, gegen den Kurden; der Wezir starb aber
unterwegs an der Gicht zu Hamadan und sein Sohn, der an
des Vaters Stelle trat, schloss gegen Zahlung einer Geldsumme
Frieden und kehrte nach Rei zurück.
Einige Jahre später verband sich Hasanweih mit Amran
lbn Schähin Abu Taghlib lbn Hamdän und dem Bujiden
Fachrad-daula zur Unterstützung Bachtjars gegen Adhad-ad-
daula, der im J. 366 selbst nach Iräq aufbrach. Bachtjar,
von seinen Bundesgenossen verlassen, zog trotzdem auf den
Rath seines Vezir’s lbn Baqija 3 nach Ahwaz, unterlag aber
dem aus Fars entgegenrückenden Adhad ad-daula durch Ver-
ratli eines Truppentheils. Schon hatte er von Baghdäd, wohin
er sich zurückgezogen, Friedensunterhandlungen eingeleitet, als
das Eintreffen zweier Söhne Hasanweih’s, Abd-ar-Razzäq und
Badr, mit ungefähr 1000 Reitern, die Fortsetzung des Krieges
entschied. Aber auch jetzt ward Bachtjar von seinen Ver
bündeten, die zu ihrem Vater zurückkehrten, im Stiche ge
lassen 4 . — Hasanweih starb bald darauf am 3. Rabiul awwal
1 Im Texte bei lbn Chaldun heisst es p. 445:
viL!ö«J
2 Wandäd starb im J. 349; sein Sohn und Nachfolger Abu’l G-hanäim Abd-
al-Wahhäb wurde von den Schadenschan gefangen genommen und an
Hasanweih ausgeliefert, der sich seiner Burg und Schätze bemächtigte.
Ghanim starb im J. 350. Sein Sohn Abu Salim Deisam ward durch
Abu’l Fath Ihn al-Amid seiner Herrschaft verlustig. Ihn Chaldun t. IV.
p. 454 u. 512.
Ihn Baqija wurde im J. 3G2 Wezir Bachtjar’s. Ihn al-Athir VIII. 4G2.
Er erhielt vom Chalifen al-Muti das Laqab an-Näsih und von at-Täji
ein anderes Nasir ad-daula. Ihn Challikan (ed. Wüstenfeld) VIII. 47.
4 Ihn al-Athir VIII. 493. Ihn Chaldun 1. c. p. 452. Die Mudhariten in
Basra sclilossen sicli an Adhad-ad-daula, die Rabiiten an Bachtjar an.
Ersterer vermittelte einen Frieden nacli 120jäliriger Stamines-Fehde.
Beitrage zur muliammeclanisclien Münzkunde.
147
des J. 369 1 in Sarmädsch, woselbst er ein Dschami und ein
Schloss aus massivem Stein hatte erbauen lassen.
Nach seinem Tode trennten sich die Söhne; ein Theil
wandte sich zu Fachr ad-daula, nach Hamadan, ein anderer
zu Adhad-ad-daula. Sermädsch mit den hier aufgehäuften
Schätzen fiel Bachtjar 2 zu. Die guten Beziehungen, in denen
dieser anfänglich zu Adhad-ad-daula stand, verkehrten sich aber
bald in’s Gegentheil und letzterer entsandte ein Heer, das
einige kurdische Burgen wegnahm. Aber erst nach der Be
siegung Fachr ad-daula’s, der liamadan und Rei 3 verlor und
zu Qabus Ibn Waschmegir fliehen musste, konnte Adhad-ad-
daula das ganze Gebiet Hasanweihs mit Nihawend, Dinawar
und Sermädsch erobern, wobei drei Söhne desselben, Abd-ar-
Razzäq, Abul Ala und Abu Adnan, in seine Hände fielen. Der
bereits genannte Sohn Hasanweih’s, ßadr, ward jetzt vom Sieger
in den Besitz der Länder seines Vaters eingesetzt. Die Be
vorzugung Badr’s erregte jedoch den Neid seiner Brüder Asim
und Abd-al-Malik. Asim stellte sich an die Spitze eines Auf
standes, ward aber von Truppen Adhad-ad-daula’s geschlagen
und gefangen genommen. 4 Auch die übrigen Söhne Hasanweihs
fielen in verschiedenen Kämpfen 5 .
Badr wusste in Bälde seine Herrschaft zu befestigen und
man bewarb sich bereits um seinen Beistand, wie Fachr ad-
daula, dessen Heer zweimal von dem Rebellen Muhammed Ibn
Ghanim, einem Vetter Badr’s, im Gebiete von Qum im J. 373
geschlagen wurde, bis Badr den Frieden (Anfang d. J. 374)
vermittelte 6 ; das gute Einvernehmen des letzteren mit Fachr ad-
daula beunruhigte aber Scharaf-ad-daula, der aus dieser Ursache
im J. 377 gegen Ibn Hasanweih eine Armee unter Qarategin
schickte, welcher jedoch nach anfänglichem Erfolge durch
Kriegslist getäuscht bei Qarmisin aufs Haupt geschlagen, nach
1 Scliarafname; dasselbe gibt den Samstag als Wochentag an; der .3. ßabi
war aber ein Freitag.
2 Vgl. die Stammtafel.
3 Diese erhielt Muwajjid ad-daula.
1 Auf einem Kamel nach liamadan gebracht, verscholl er.
3 Ibn Chaldun 1. c. Ibn al-Athir IX. 4.
|J Im .1. 375 erneuerte sich der Krieg, bis Muhammed verwundet gefangen
genommen wurde und an seiner Ijlessur starb. Ibn Chaldun 1. c. 457.
10*
148
Bergmann.
Baghdäd zurückkehren musste, worauf Badr sich des Dschabals
bemächtigte
Nach dem Tode Scharaf-ad-daula’s im J. 379 beschloss
Fachr ad-daula vorzüglicli auf Betreiben des Sahib Ibn Ibäd,
einen Zug nach Iraq um Baghdäd zu erobern. In Hamadan
vereinigte sich Badr mit dem Bujiden und es ward beschlossen,
dass Ismail Ibn Ibad und Badr auf der Strasse nach
Baghdäd Vordringen sollten, während Fachr ad-daula den Weg
durch Chuzistan einschlug. Die Unternehmung misslang aber
gänzlich, da der Austritt des Flusses von Ahwaz, den die
Soldaten für künstlich hervorgorufcn hielten, eine allgemeine
Panik herbeiführte. 2 Auch Baha ad-daula erbat sich den Beistand
Badr’s, als er im J. 388 auf Veranlassung des Abu Ali Ismail
einen Zug gegen Abu Muhammed Ibn Mukram unternommen
hatte und in die Enge gerathen war, erhielt ihn aber nur in
geringem Masse 3 .
In dieser Zeit hatte die Macht und das Ansehen Badr’s
ihren Höhepunkt erreicht; vom Chalifen mit dem Ehrentitel
Nash- ad-din wad-daula ausgezeichnet, entfaltete er eine segens
reiche friedliche Thätigkeit, spendete reiche Gaben für die
beiden heiligen Städte und erkaufte den freien Durchzug der
Pilger von den beutegierigen Beduinen, indem er gleichzeitig
die Wegelagerei der Kurden unterdrückte 4 .
Wie unabhängig die Stellung Badr’s zu den Bujiden war, zeigt
der Vorfall,dass der Sohn Bächtjar’s,Abu’l Kasim, vor Baha ad-daula
im J. 3S9 und später im J. 393 derWczir Madsch ad-daula’s, Abu’l
Abbäs ad-Dhabbi sich auf sein Gebiet flüchteten und hier den
gesuchten Schutz fanden 5 . Auch in den Verwickelungen, welche
nach dem Tode Fachr ad-daula’s in Persien entstanden, er
scheint Badr als durchaus selbständiger Herrscher. Als nämlich
im J. 397 Madsch ad-daula auf Antrieb des Wezir’s al-Chatir
1 Ilm Chaldun 1. c. p. 4G1. Ibn al-Athir 1. c. p. 3G.
2 Mircliond. Gesell, der Bujiden ed. Wilken p. 78. Ilm Chaldun IV. 402.
2 Ilm al-Athir IX. 100. Der Tod Samsam ad-daula’s bewog Baha ad-daula,
Frieden zu sch Hessen.
4 Ibn Chaldun t. IV. 514. Ibn al-Athir 1. c. p. 112. Scharafname p. 7.
5 Ibn Chaldun IV. p. 4G7. Ibn al-Athir IX. 107 u. 126. Der Wezir, eines
Giftmordes verdächtigt, floh von Rei nach Barudschard und starb daselbst
im J. 398, 1. c. p. 147.
Beiträge zur mufrainmedanischen Münzkunde.
149
Abu Ali Ibn Ali der Vormundschaft seiner Mutter Saida sich
zu entziehen versuchte, begab sich Saida nach der Veste
Thabarak 1 und entfloh von hier nach Chuzistan. Badr, dem
diese Provinz unterstand, nahm die Flüchtige freundlich auf
und führte sie im Vereine mit Fachr ad-daula’s anderem Sohne
Schams ad-daula als Regentin nach Rei zurück, nachdem Madsch-
ad-daula gefangen genommen und eingekerkert worden war 2 .
Die Beziehungen Badr’s zu Baha-ad-daula jedoch ver
schlechterten sich immer mehr. Abu Dschafar al-Haddschadsch,
der Stellvertreter (Naib) Baha-ad-daula’s in Iraq, ward abge
setzt und an seine Stelle Abu Ali Ibn Abu Dschafar Ustads
Hurmuz mit dem Laqab Amid al-Dschujusch ernannt worden.
Ersterer aber bekämpfte seinen Nachfolger im Gebiete von
Kufa, während Baha ad-daula gegen Abu’l Abbäs Ibn Wäsil,
der sich gegen Muhadsdsib ad-daula in Batiha empört hatte,
im Felde lag. Abu Dschafar hatte sich mit Qilid sch, in dessen
Händen die Strasse von Chorasan war i_/.=*Lo)
verbunden; Qilidsch starb jedoch im J. 397. An seine Stelle
ernannte Amid al-Dschujusch den Abu’l Fath Muhammed Ibn
Annäz, der Hulwan besass und ein persönlicher Feind Badr’s
war, welcher sieh auf diese Kunde mit Abu Dschafar und einer
Anzahl Häuptlingen, wie Hindi Ibn Suda Abu Isa
Schädi Ibn Muhammed etc., gegen Baha ad-daula vereinigte.
Die Alliirten, denen sich auch Ali Ibn Mazjad angeschlossen
hatte, marschirten gegen Baghdäd, das von Abu’l Fath Ibn
Annäz vertheidigt wurde, und blieben vor der Stadt in der
Entfernung von nur einer Parasange durch einen Monat stehen.
Auf die Nachricht von der Besiegung des Abu’l Abbäs 3 löste
sich jedoch die Coalition auf und Abu Dschafar, der mit Abu
1 Bei Rei gelegen, vgl. Cazwini (ecl. Wüstenfeld) III. 251.
2 Mirchond 1. c. p. 88. Saida starb nach Ibn al-Athir (IX. 260), der sie
mit Namen nicht kennt, im J. 419. Ein nachdrückliches Eingreifen Badr’s
in die späteren Ereignisse verhinderte die Empörung Hiläl’s v. Ibn al-
Athir p. 144.
3 Badr schickte dem Abu’l Abbäs 3000 Reiter. Als dieser schliesslich
unterlag, wollte er zu Badr flüchten. Er kam auf dem Wege von Baghdäd
nach Hamadan bis Chanikin, das Dschafar Ibn al-Awwäm, der Badr unter
stand, gehörte. Durch Ermüdung an der Weiterreise gehindert, ward er
von Abu’l Fath aufgegriffen und in Baghdäd auf Befehl Baha-ad-daula’s
enthauptet. Ibn al-Athir 1. c. p. 137.
150
Bergmann.
Isa sich nach Hulwan gewendet hatte, beeilte sich, mit Baha
ad-daula Frieden zu schliessen.
Abu’l Fath Ihn Annäz, der Hulwan und Qirmisin ver
loren hatte, suchte Zuflucht bei Rafia Ibn Muhammed Ibn
Maqn. Badr verlangte mit Berufung auf seine alte freund
schaftliche Verbindung dessen Entfernung, und als diese nicht
erfolgte, sandte er ein Heer in das Gebiet Rafia’s welches
dessen Residenz niederbrannte und die Veste al-Baradan 1 ein
nahm. Der flüchtige Abu’l Fath erhielt in Baghdäd von Amid
al-Dschujusch die Zusicherung seiner Hilfe und in der That
befahl Baha ad-daula der gegen Badr wegen dessen Verbindung
mit Abu’l Abbas Ibn Wasil sehr erzürnt war, dem Wezir, mit
einem Heere aufzubrechen. Badr wusste jedoch den Feind,
der bis Dschondeisabür vorgedrungen war, durch den Hinweis
auf die zweifelhaften Chancen des Krieges und die Schwierig
keit des Sieges, gegen Bezahlung der gehabten Kriegskosten
zur Umkehr zu bewegen 2 .
Die letzten Jahre Badr’s wurden durch sein unglückliches
Verhältniss zu seinem Sohne Ililäl getrübt, dessen Mutter aus
der Tribus der Schadenschän ihn nach der Trennung von
ihrem Gatten geboren hatte, so dass der Sohn ferne vom Vater
und ihm entfremdet aufwuchs, dessen Liebe sich auch einem
anderen Kinde, Abu Isa, zuwandte. Badr, der Ililäl bearg
wöhnte, verwies den Sohn aus seiner Nähe und gab ihm
Sämaghän. Kaum war aber Hiläl sein eigener Herr, als er
mit Ibn al-Mädhi, dem damaligen Herrn von Scliahrzur, in
Zwistigkeiten gerieth. Badr untersagte seinem Sohne jede
Feindseligkeit, doch dieser, das Verbot nicht beachtend, sam
melte ein Heer, welches Scliahrzur einnahm, wobei Ibn al-
Mädhi und die Besatzung getödtet wurden. Da zudem Hiläl
die Truppen seines Vaters, der in Folge seines Geizes be
ständig an Anhang verlor, durch Bestechung zu gewinnen wusste,
kam es zum Kampfe; die beiden Heere stiessen bei Bab-ad-
Dinawar aufeinander und Badr, dessen Truppen zum Theil zu
1 Vgl. Jacut, Maräsid T. IV. p. 297.
2 Iba Chaldun IV. 514. Ibn al-Athir IX. 136. Abu’l Fath, der Gründer
der Dynastie der 13anu Annäz, starb im J. 401 zu Hulwan; ihm folgte
sein Sohn Abu’sch Schauk; v. Scharafname p. 8. Ibn al-Athir IX. 158.
Beiträge zur muhammedauisclien Münzkunde.
151
Hiläl übergingen, ward gefangen. Obwohl man Hilft! rieth,
seinen Vater zu tödten, da nach dem Vorgefallenen Schonung
gefährlich sei, so schreckte er doch vor solcher Unthat zurück
und bezeigte vielmehr kindliche Ehrerbietung seinem Ge
fangenen, der durch die geheuchelte Absicht sich gänzlich einer
ungestörten religiösen Beschaulichkeit hingeben zu wollen, seinen
Sohn zur Uebergabe eines Schlosses bewog. Kaum hatte aber
Badr in dessen Besitz sich gesetzt, so legte er neue Be
festigungen an und beschickte den Abu’l Fath Annäz und Abu
Isa Schädsi Ibn Muhammed in Asadabad mit der Aufforderung,
in das Gebiet Hiläls einzufallen. Abu’l Fath zog gegen Qarmisin,
das er einnahm; Abu Isa wandte sich zuerst gegen Sabur
Chwast und dann nach Nihawand zu Abu Bakr Ibn Rafia;
Hiläl der ihm dahin folgte, schlug die Deileniiten bis zur Ver
nichtung. Abu Isa, der zu Ibn Rafia floh, ward ausgeliefert,
aber vom Sieger begnadigt. Jetzt bat Badr Baha-ad-daula um
Hilfe, der seinen Wezir Faclir al-Mulk 1 mit Truppen ihm
sendete. Hiläl, der den zum Frieden rathenden Abu Isa ge-
tödtet und einen vergeblichen nächtlichen Ueberfall versucht
hatte, suchte nun eine friedliche Verständigung, welche jedoch
vom Wezir in Folge der Einsprache Badr’s zurückgewiesen
wurde. Nach kurzem Kampfe fiel Hiläl in Gefangenschaft,
erhielt jedoch auf seine Bitte die Zusicherung, seinem Vater
nicht ausgeliefert zu werden. Das Schloss, in welchem seine
Mutter und die Schätze sich befanden, wurde an Faclir al-
Mulk übergeben und von diesem dann an Badr überlassen
(im J. 400) 2 .
Fünf Jahre später fand Badr auf einem Zuge gegen den
Kurden al-Huscin Ibn Masud bei der Belagerung des Schlosses
Küsdsche den Tod. Seine Truppen, durch den Einbruch des
Winters unmuthig gemacht, überfielen Badr, der nicht ab-
ziehen wollte und alle Warnungen unbeachtet liess, in seinem
Zelte und ermordeten ihn. Al-IIusein fand den Leichnam in
1 Dieser wurde im J. 406 von Sultan ad-daula hingerichtet. Ibn al-Athir
IX. p. 182.
2 Nach der irrigen Angabe des Scharafname im J. 405. Man fand in der
Burg 40.000 Badre an Dirhemen und 4000 Badre an Dinaren. Mahjar
Ibn Marzuje besang dieses Ereigniss. Vgl. über diesen Ibn Challikan
VIII. 51, IX. 53. Ibn al-Athir IX. 231 u. 265.
152
Bergmann.
dem ausgeplünderten Lager und liess ihn in Maschliad Ali
begraben.
So endete Badr Ibn Hasanweih, den die Quellen einen
gerechten, edlen Mann von wohlthätiger Sinnesart nennen.
Seine Herrschaft erstreckte sich von Dinawar über Nihawand
und Barudsehard bis gegen al-Ahwäz, mit Einschluss der
Schlösser etc. die in diesem Gebiete lagen 1 .
Auf die Kunde vom Tode Badr’s trat Zähir Ibn Hiläl
auf um das herrenlose Land in Besitz zu nehmen. Bereits im
J. 404 hatte derselbe, der nicht weniger unternehmungslustig
als sein Vater gewesen zu sein scheint, einen Zug gegen
Schahrzur unternommen, die Veste erobert und die von Fachr
al-Mulk hineingelegte Besatzung zum Tlieil getödtet, zum Theil
auf Reclamation des Wezirs freigegeben. Sein Versuch, sich des
ganzen grossväterlichen Gebietes zu bemächtigen, scheiterte
aber; von Schams ad-daula geschlagen, wurde Zähir gefangen
nach Idamadän gebracht, während dem Sieger der Besitz
Badr’s zuiiel.
Hiläl Ibn Badr ward zu dieser Zeit von Sultan ad-daula,
dem Sohne Baha-ad-daula’s in Gefangenschaft gehalten 2 . Die
Besorgniss jedoch vor dem Machtzuwachse Schams ad-daula’s
bewog den Bujiden, seinen Gefangenen in Freiheit zu setzen
und ihn zur Eroberung seines väterlichen Erbes mit einem
Heere auszurüsten. Im Dsu’l Kaada 3 des J. 405 kam es zur
Schlacht, welche Hiläl verlor. Er selbst wurde getödtet, während
seine Truppen sich auflösten und der Sieger verblieb im Be
sitze der weiten Gebiete Badr‘s.
Der Enkel Badr’s sollte den Sturz seines Geschlechtes
nicht lange überleben. Von Schanis ad-daula, der ihn jetzt für
ungefährlich halten mochte, im J. 406 freigegeben, bekriegte
er sofort Abu’sch Schank, dessen Bruder Suda ( l £d.iuu) ge-
■tödtet wurde, und besiegte ihn zweimal, so dass er nach Ilulwan
1 Scharafname 1. c. Ibn al-Athir IX. 173 u. 229. Dieser nennt Badr auch
Amir al-Dschabal.
2 Hiläl ward noch auf Befehl Baha-ad-daula’s gefangen genommen; da die
Quellen bis zum J. 405, wo er als Gefangener Sultän ad-daula’s genannt
wird, seiner nicht erwähnen, so dürfte er in fortwährendem Gewahrsam
gehalten worden sein.
3 So Ibn al-Athir; nach dom Scharafname im Dsu’l Hiddscha.
Beiträge zur mulianmiedauiBchen Münzkunde.
153
•/Ai fliehen genöthigt war. Die Vermählung Zäbir’s mit einer
Schwester Abu’sch-Schauk’s führte den Frieden herbei, der aber
von letzterem durch den plötzlichen Ueberfall und die Er
mordung Zähir’s gebrochen wurde. Der Leichnam ward in
Bab at-Tibn beerdigt 1 .
Stammtafel der Hasanweihiden.
Al-Husein
I
Hasanweih
f 369
Abu’l Ala Abdar- Abu’l ’Asim Abu Bachtjar ’Abdal-melik
razzäq Nadschm ’Adnan
Badr f 405
Abu Isa Hilal f 405
I
Zäbir f 406.
Mit Zähir erlosch nach kurzer Blütlie die Dynastie der
Hasanweihiden; denn die Angabe des Scharafname, dass ein
Sohn Zähir’s, Namens Badr, im J. 488 von Ibrahim Najal
zum Statthalter von Dinawar und Chumusch eingesetzt wurde,
erscheint schon deshalb als unglaubwürdig, weil Badr im be-
zeichneten Jahre wenigstens 82 Jahre alt gewesen sein müsste.
So hervorragend die Macht und politische Bedeutung der
Hasanweihiden war, so ist bisher doch eine Münze dieser
Dynastie nicht bekannt geworden. Ein Dirliem des kais. Ka-
binetes von leider ziemlich defecter Erhaltung führt sie endlich
in die muhammedanische Numismatik ein.
////jdJLjjOläJI
mit Stempelrutschung.
' Ibn al-Athir IX. 182. Bab at-Tibn ist ein Ort in der Nähe von Maschhad
Musa Ibn Dschafar.
154
Bergmann.
Rev. aAJI
üjSs- aJJI
äJ^jdl jjlla-Lu/
.... -W^A jLL4.il *
Grösse 7. Gewicht 4'75 Gr.
s. Nr. 2 der Tafel.
Obwohl nur die Aufschriften im Felde erhalten sind
(die Rundschriften fehlen), so ist doch die Zeit der Prägung
nach den vorstehend gegebenen Daten durch den Namen Sultan
ad-daula’s bestimmt, der seinem Vater Balia ad-daula im
J. 403 in der Regierung folgte. Da Badr im J. 405 getödtet
wurde, so wurde unser Dirhem nothwendig in den Jahren
403—405 geschlagen.
Die Vergleichung des im Numismatic Chronicle (a. 1871
p. 259) publicirten Dinars Badr’s vom J. 397 und des Dirhems
des kais. Cabinetes gibt einen interessanten Einblick in die
Beziehungen des kurdischen Fürsten zu dem Bujiden. Fachr
ad-daula, der nach dem Tode des Muwajjid ad-daula (a. 373)
aus Chorasan zurückgerufen und zum Herrscher über dessen
Länder erwählt wurde, stand mit Badr im guten Einvernehmen
und als Verbündete versuchten beide die Eroberung Baghdäd’s.
Nach dem Tode Fachr ad-daula’s im J. 387 dauerte das freund
schaftliche Verhältniss mit der Regentin Saida fort und Badr
erkannte den noch unmündigen Madschd-ad-daula als Oberherrn
an. In demselben Jahre, in welchem der bezogene Dinar ge
schlagen wurde, suchte jedoch Madsch-ad-daula die Vormund
schaft seiner Mutter abzuschütteln, die zu Badr entfloh und
von diesem und Schams ad-daula nach Rei zurückgeführt
wurde. Da letzterer hierauf zum Herrn von Rei und Ispahan
erwählt ward (Madschd-ad-daula gelangte erst später wieder
auf den Thron), so fällt die Prägung des Dinars unmittelbar
vor diese Vorfälle. Die in der Folge eintretende Verrückung
der Machtverhältnisse der verschiedenen bujidischen Linien
und die späteren Beziehungen Badr’s zu diesen spiegeln sich
in den Aufschriften des vorstehend beschriebenen Dirhems
wieder; der Enkel Adhad ad-daula’s, Sultan ad-daula, der, was
nicht zu übersehen, den unruhigen Hiläl in Gewahrsam hielt,
ward jetzt von Badr als Oberherr anerkannt.
Beiträge zur muliimimedanisclien Münzkunde.
155
Das Gewicht des in Rede stehenden Dirhem’s beträgt
4'75 Gr. Rechnet man das Normalgewicht des gewöhnlichen
Dirhem’s zu 2.97 Gr v so erscheint weder die Bestimmung un
serer Münze als Doppeldirhem (Normalgewicht 5'94 Gr.), noch
als 1 */ 2 Dirhem (Normalge'wicht 4'44 Gr.) als zutreffend, letz
teres um so weniger, als der Gewichtsverlust durch die Äb-
wetzung der Münzfläche und die Beschädigung des Randes
nicht unbeträchtlich ist, und hieraus eine enorme, ganz unan
nehmbare Uebermiinzung resultiren würde. Aber auch der
Deutung unseres Stückes als Doppeldirhem, welche in Anbe
tracht der erwähnten Defecte und einer zulässigen Untermün-
zung nicht unberechtigt sein könnte, widerspricht ein Moment,
das ich hier hervorheben will, da es der Aufmerksamkeit der
Numismatiker entgangen zu sein scheint.
Aus den Münz-Wägungen ergibt sich nämlich als ausser
Zweifel stehend, dass im Laufe des 4. Jahrlnindertes ein No
minal in der Silberpräge auftritt, das, vom normalen Dirhem
verschieden, diesen innerhalb gewisser Münzreihen fast gänz
lich verdrängt. Ich wage nicht, dieses Nominal geradezu als
neues zu bezeichnen, da bereits in dem 3. Jahrhunderte ein
zelne Dirheme ihm zu entsprechen scheinen, wohl aber kann
es in dem Sinne so genannt werden, als es später die Münz
einheit der Silberpräge gewisser Dynastien darstellt und nicht
als Ausnahme, sondern als Regel auftritt. Der Versuch, den
Ursprung dieses Nominals, welches von 3'40 Gr. — 4'75 Gr.
schwankt, nachzuweisen, wird so lange als verfrüht betrachtet
werden müssen, bis das Normalgewicht desselben mit an
nähernder Sicherheit bestimmt ist. Diese Bestimmung wird
aber nur durch Beibringung einer genügenden Zahl von
Wägungen, an denen es jetzt gänzlich mangelt, ermöglicht.
Die Serie der bujidischcn Dirheme speciell eignet sich zu
dieser Untersuchung ganz vorzüglich, sowohl wegen der ver-
hältnissmässigen Reichhaltigkeit des in den Museen vorliegen
den Münzmateriales, als auch in Anbetracht der historischen
Bedeutsamkeit dieser Dynastie und der Länder, welche sie
beherrscht hat. Die Reihe der Bujiden-Dirheme des kais.
Cabinetes ist leider nicht beträchtlich und auch die Erhaltung
der meisten Stücke unvollkommen. Wenn ich nichtsdesto
weniger eine Uebersicht derselben mit den beigesetzten Wä-
156
Bergmann.
gungen folgen lasse, so geschieht es mehr, um meinen guten
Willen zu documentiren, als in der Ueberzeugung, einen dan
kenswerten Beitrag zur Lösung der beregten Frage zu geben b
Imad ad-daula.
Schiräz a. 327 — 3‘41 Gr.
„ a. 333 — 2'85 „ (beschnitten)
Amol a. ? — 3'71 „ (verwetzt).
Rukn ad-daula mit Adhad-ad-daula.
Schiräz a. 341 — 2’5
„ a. 351 — 2-91
? a. 36 - 4-1.5 „
Schiraf a? — 3'75 Gr. (verwetzt)
„ a ? — 3'65 Gr. (mittelm. erhalten).
Adhad -ad-daula.
Amol. a. 369 — 4 - 61 (mittelm. erb.)
Ramhormuz a. 36 ? — 4'51 (verwetzt)
Arradschan a. 371 3'75 (do.).
Muwajid ad-daula.
Arnold, a. 372 — 3’9 Gr. (mittelm. erb.).
Die vorstehenden Wägungen zeigen wie sehr die einzelnen
Stücke dem Gewichte nach differiren und wie gewagt es sein
würde, auf dieser Grundlage eine Bestimmung auch nur des
beiläufigen Normalgewichtes des bujidischen Dirheins zu ver
suchen. Sollten etwa die Bujiden, welche es liebten, sich als
Abkömmlinge der alten Perserkönige auszugeben, die sasani-
dische Drachme von 4’25 Gr. als Münzeinheit für ihre Silber
präge wieder aufgenommen haben? Ich gestehe, eine Zeitlang
diese Hypothese für plausibel gehalten zu haben, gegenwärtig
aber habe ich sie fallen gelassen. Es scheint vielmehr, dass
mit dem Verfall des Chalifates und der Reichseinheit auch im
Münzwesen separatistische Bestrebungen auftraten, und an
Gr.
beschnitten
Vgl. Lindberg, Essai sur les moimaies des Boujides in den Memoircs de
la societe royale des antiquairos du Nord, Copenhägue 1840—1844, p. 193 ff.
welcher eine Anzahl Wägungen beibringt.
Beiträge zur muliammedanisclien Münzkunde.
157
Stelle des alten Münzfusses provinziale oder locale Währungen
zur Geltung kamen. Erst durch die Publication der Wägungen
des betreffenden Münzmateriales grösserer Sammlungen wird
die Basis weiterer Untersuchung gegeben sein.
Von hohem numismatischen Interesse sind auch die Be
nennungen verschiedener Münzsorten dieser Periode, die ge
legentlich in den Quellen erwähnt werden und bisher zu wenig
Beachtung fanden. So werden wiederholt iLöLwli' ge
nannt, z. B. von Ihn al-Athir Bd. IX. p. 216 unter dem J.
416: ,das Kurr Waizen wurde um 200 qasanische Dinare ver
kauft' ; ferner 1. c. p. 308 unter dem J. 427 : ,Im Safar dieses
J. befahl al-Käim biam allah, sich im Handelsverkehre der
magrebinischen (fathimidischen) Dinare nicht mehr zu bedienen
und beauftragte die Notare, die Verkaufs- und anderen Ur
kunden, in welchen dieser Geldsorten Erwähnung geschah,
nicht zu legalisiren; zugleich verwies er die Leute auf die
Kadirije, Saburije und Qasanije 4 . Die Kadirije sind offenbar
die mit dem Namen des Chalifen al-Kadir versehenen Gold
stücke, während die Saburije ihren Namen von der Stadt Sabur
führen, welche eine sehr thätige Münzstätte gehabt haben muss '.
Schwierig jedoch ist die Bestimmung der Qasanije; dieselben
mit der jenseits des Oxus gelegenen Stadt Qasan, welche im
4. Jahrhunderte weder politische noch commerziello Bedeutung
besass und als Münzstätte überhaupt noch nicht nachgewiesen
ist, in Verbindung zu bringen, ist unzulässig; aus der Nen
nung der Dinare Qasanije in einer Reihe mit den saburischen
ergibt sich vielmehr der locale Zusammenhang beider Münz
sorten. Dadurch ist die Vermuthung nahegelegt, dass der
Name Qasanije corrumpirt ist. Vielleicht ist statt Qasanije
Qaschanije zu lesen; denn Qaschan erscheint auch später als
Münzstätte der Hulaguiden, allerdings ein Ort nur von gerin
gerer Bedeutung. An Käschän (^LilS’) zu denken, ist wegen
der paläographiscli nicht zu erklärenden Verwechslung von
i j' und dJ nicht gestattet.
1 Als Abu Kalidscliar mit dem Chalifen al-Kadir wegen seiner Anerkennung
und seines Titels unterhandelte, gab er sieli endlich mit dem Ehren
namen ,Malik ad-danla‘ zufrieden, und sandte dom Chalifen nebst reichen
Geschenken eine Million saburischer Dinare. Ihn al-Athir IX. 313. Vgl.
Kreiser, Ideen p. 418.
Bergmann.
158
Eine andere Münzsorte nennt Ihn al-Äthir Bd. IX. p. 71
unter dem J. 383: ,In Irak wurde das Kurr Waizen um 6600
ghaiatsische Dirheme verkauft.' Hiermit sind wold jene Dir-
heme Balia ad-daula’s gemeint, auf welchen derselbe mit den
pompösen Titeln äLoNI x-bJI Lpo erscheint 1 , denn kein
anderer Herrscher dieser Zeit führte ein mit dem Worte
Ghaiats zusammengesetztes Laqab.
Schliesslich sei noch der im Anfänge des 5. Jahrhunderts
der II. cursircnden Dirheme Seifije gedacht, welche nach Abu
Sinan Gliarib Ihn Muhammed Ibn Maqn mit dem Beinamen
Seif ad-daula, der im J. 425 in Karch Samarra starb, genannt
wurden 2 .
Fathimide.
7R
Av. xJJI
M. T. xl.lt sd.lt stillet sJlit
M. II. J-.& Ss.j2.1aJ ^tX.g.jb x.Lu.^1 sJJt 2X4.2?
sd.5^ ^.JtkJt
Rev. |»LoiH
M. I. ^XÄ/O^.+JI sA/1 «All ^.job^JaÄÄ+ll |VAuLüll y~ 1
M. II. ^J.2 y-w..C^ (JJJs4-2>. ^0^2 |V^^A.1I ttX'ö idJt 4-.W.J
X2 L4.AW.4.
Gew. 3 Gr. Vgl. Nr. 3 der Tafel.
Gehören fathimidische Silbermünzen überhaupt zu den
Seltenheiten der muhammedanischen Numismatik, so darf
speciell der vorstehend beschriebene Dirhem als eine der
interessantesten Münzen dieser Dynastie, welche bisher ver
öffentlicht wurden, bezeichnet werden. Obwohl, wie aus der
Randschrift des Reverses erhellt, zu Misr, also in der Haupt-
1 M6moires de la sociÄte imperiale d’Archeologie, Petersbourg, T. V. p. 64,
zwei Dirheme aus den J. 885 u. 386, beide aus Basra und ein Dirhem
Kiwam-ad-daula’s ans Baghdad vom J. 398 mit demselben Titel Balia
ad-daula’s finden sich in den Nov. Suppl. p. 255.
2 Ibn al-Athir IX. p. 298.
Beiträge zur muliaminedanischen Münzkunde.
159
stadt des fathimidischen Reiches geprägt, lassen die Aufschriften
dennoch den Namen des Regenten vermissen und diese Anor
malität wird noch durch den Umstand gesteigert, dass hier
zum ersten Male der Name des 12. Imam’s auf einer Münze
erscheint, die dadurch zu einer ungewöhnlichen Bedeutung
gelangt.
Der eigenthümliche Charakter des in Rede stehenden
Dirhems lässt sofort auf ganz exceptionelle Verhältnisse
schliessen, die seine Prägung veranlassten. Und in der Thal
haben wir den stummen und doch beredten Zeugen einer
interessanten Episode aus der letzten Zeit der fatbimidischen
Herrschaft vor uns, welcher durch Ihn Chaldun 1 seine volle
Beleuchtung und Beglaubigung findet.
Der seinen Vergnügungen ergebene Chalif al-Amir war
nach 29 Vojähriger Regierung im J. 524 bei einem Ritte nach
dem Lustschlosse Dschize auf einer Brücke unter den Dolchen
der Assasinen verblutet, ohne einen Thronerben zu hinter
lassen. Zwei seiner vertrautesten Mamluken, Barghasch al-
Adil und Baraward Hazir 2 , waren jetzt bemüht, Maimun Abd-
al-Madschid, den Sohn des Abu’l Kasim Ihn al-Mustansir, der
dem Alter nach zunächst zur Regierung berufen, auf den Thron
zu setzen. Zu diesem Zwecke gaben sie vor, dass al-Amir
eine Frau seines Harem’s nach einem Traumgesichte als von
ihm mit einer männlichen Frucht schwanger erklärt habe.
Dieses nachgeborne Kind solle im Chalifate folgen, Abd-al-
Madschid jedoch einstweilen die Regentschaft führen 3 . In der
That wurde letzterer als Vormund mit dem Namen al-Hafiz
lidin allah bestellt; Hazir aber nach einer angeblich testamen
tarischen Verfügung al-Amir’s Wezir und as-Said Bas, ein
Client des früheren Wezirs al-Afdhal, Oberstkämmerer. Das
Heer widersetzte sich jedoch dem Hazir und die Mehrheit
wählte an dessen Stelle den Ridhwän Ibn Wanhasch. Barghasch,
der Hazir beneidete, bewog jetzt den im Schlosse anwesenden
1 Ibn Chaldun, allgemeine Geschichte t. IV. p. 71 (ed. ßuläq).
2 Die Eigennamen sind in der genannten Ausgabe Ibn Chaldun’s häufig
so verstümmelt, dass die Richtigkeit dieser Namen dahingestellt bleiben
muss.
3 Vgl. Sacy’s Chrestomathie t. II. p. 234; nacli einer daselbst gelegent
lich citirten Stelle meldet Abu’l mahasin dasselbe.
160
Bergmann.
Abu Ali Ibn al-Afdhal, sich öffentlich zu zeigen, wozu er ihm
die Möglichkeit verschaffte. In der That schloss sich diesem
das Heer mit dem Rufe: ,Das ist der Wezir, der Sohn des
Wezirs' sofort an und schlug dem Erwählten trotz seiner Ab
lehnung 1 ein Zelt zwischen den beiden Schlössern auf. Da die
Thore geschlossen waren, erstiegen die Truppen die Mauern
und drangen in das Innere des Castells ein, so dass al-Hafiz
gezwungen war, Hazir zu entsetzen, welcher später hinge
richtet wurde, und Abu Ali Ihn al-Afdhal zum Wezir zu
ernennen. In kurzer Zeit bemächtigte sich dieser der Regierung
und erlangte unbeschränkten Einfluss auf den Regenten, ja
ging so weit, die öffentlichen Gelder aus dem Schlosse in sein
Haus bringen zu lassen. Am bezeichnendsten jedoch für die
damalige Stellung Ibn al-Afdhal’s ist seine über Verlangen der
Imami, deren Lehre er eifrig ergeben war, erlassene Ver
fügung, das öffentliche Gebet für al-Kaim al-Muntazar zu ver
richten. Zugleich Hess er nach Ibn Chaldun, Dirheme, mit
Ausschluss von Dinaren, mit den Aufschriften : ,Gott (ist) der
Ewige' und ,der Imam Muhammed' prägen und verbot die
Nennung des Namens Ismail’s und al-IIafiz’ auf den Kanzeln,
sowie den Gebetruf ,Auf zum Besten der Werke'. Er selbst
legte sich eine lange Reihe von pompösen Beinamen bei 2 ,
welche die Prediger vorlesen mussten, und zuletzt hielt er al-
Hafiz, dessen beabsichtigte Ermordung als Sühne für die Hin
richtung der Brüder al-Afdlial’s durch al-Amir sich nicht in’s
Werk setzen liess, in förmlichem Gewahrsam. Die schiitischcn
Emire und die chalifischen Mamluken, welche sich vor Ibn
al-Afdhal nicht sicher fühlten, beschlossen schliesslich, ihn zu
tödten. Eine Anzahl ihrer Leute, die dem Wezir auf lauerten,
überfielen ihn während er mit seinem Gefolge zu Pferde am
Ballspiel sich ergötzte, und ein Mamluk, Franke von Geburt,
tödtete Ibn al-Afdhal, dessen Haupt abgetrennt wurde. Al-
Hafiz, aus dem Gefängnisse hervorgeholt, empfing die Hui-
1 Der Text Ibn Chaldun’s lautet:
JÜ J !yL.£j|vli J-O-Oj ßjfJI tA£* IjJUj
2 Vgl. Ibn al-Atbir X. p. 473.
Beiträge zur muhammeclanisclien Münzkunde.
161
digung, das Haus des Ermordeten aber wurde geplündert und
die daselbst Vorgefundenen Schätze in’s Schloss gebracht.
Zu jenen oben erwähnten Dirhemen, welche Abu Ali
Ahmed Ihn al-Afdhal während der kurzen Dauer seines Ve-
zirates prägen Hess, und die, vermuthlich in geringer Zahl
ausgebracht, alsbald wieder aus dem Verkehre nach dessen
Sturze gezogen wurden, gehört die Silbermünze des kais. Ca-
binetes. Ihre Aufschriften bestätigen die Angaben Ibn Chaldun’s,
indem in der That in der Mitte des Averses und Reverses die
Worte: ,Gott (ist) der Ewige* und ,der Imam Muhammed* sich
befinden, sie ergänzen aber auch diese durch die beim ge
nannten Autor nicht angeführte so bemerkenswerthe innere
Umschrift, welche den Namen des 12. Imam's mit dem Titel
eines Amir al-Muminin enthält. Es ist bekannt, dass die Secte
der Imami in zwei Gruppen zerfällt, in jene der Ithna-ascharia
und der Ismailia *; erstere zählt 12 Imame (daher ihr Name),
deren letzter Muhammed al-Madhi Ibn Ilasan-al-Askeri nach
ihrer Lehre fortwährend lebt, aber unsichtbar ist, und eine
Reihe von Namen führt, wie al-Käim, Sahib az-zamän, al
Muntazar 2 etc. Letztere anerkennt an Stelle des Musa al-
Kadim Ibn Dschafar as-Sadiq' den Ismail Ibn Dschafar as-
Sadiq als 7. Imam und lehrt die Verborgenheit der späteren
Imame (daher al-Bathania genannt). Der Secte der Imami
gehörte auch Abu Ali Ahmed Ibn al-Afdhal an und desswegen
liess er den Namen des 12. Imams Muhammed al-Madhi auf
die Münzen setzen. Dieser letzte Imam führt hier die Kunia
Abu’l Kasim, die er erhielt, um ihm mit dem Propheten, der
sich eben so nannte, eine Art Namensgleichheit zu geben,
denn al-Madhi, der im Alter von 12 Jahren starb, hatte
keinen Sohn.
Es verdient auch hervorgehoben zu werden, dass Abu
Ali durch sein Vorgehen sich in schroffer Weise als Gegner
der officiellen Religion zur Zeit der Fathimiden erklärte. Diese
hatten auf die Lehre des verborgenen Imamates ihr Reich ge
gründet, und der Stiftei' ihrer Dynastie, Obeidallah, wurde von
1 Vgl. Ibn Chaldun in Histoire des Herberes trad. par Slaue t. II. p. 501.
2 Reinaud, Description des monuments Musulmans etc. du cabinet de M.
le Duc de Blacas t. I. p. 380.
Sitzungeber. d.phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. I. Bft. 11
162
Bergmann.
den Tsmailia als 11. Imam anerkannt. Hiedurch sowohl als
durch die Gefangenhaltung al-Hafiz’ verrieth der Wezir, dass
er den Sturz des herrschenden Geschlechtes und die höchste
Würde im Staate für sich anstrebe, und dieser Ehrgeiz, welche
die alte Ismailitische Partei bedrohte und ihre bisherige Macht
gefährden musste, brachte ihm den Untergang durch Mörderhand.
Saruchane.
Chidhr Ibn Ishaq.
iE. Av. (jl^l
ij-?
Rev. jÜJI AXi.
xXXo Grösse 3V 2 . vgl ■ Nr. 4 der Tafel.
Das vorliegende Kupferstück ist die erste bisher publi-
cirte Münze der Saruchane, welche rein arabische liegenden
trägt. Jener merkwürdige von Friedländer 1 vor geraumer Zeit
beschriebene Gigliato Saruchan’s zeigte nämlich ebenso wie
die älteren Münzen der Fürsten von Aidin die Nachprägung
occidentalischer Münztypen, eine Uebereinstimmung, die in dem
wahrscheinlich gleichzeitigen Beginne der Münzthätigkeit beider
Dynastien um 1327, nachdem Urchan hierin vorangegangen
sich wiederholt. Hatten aber die jüngst bekannt gewordenen 2
aus dem J. (748) 1347 datirenden kleinen Silbermünzen Isa’s,
des Herrn von Aidin, mit arabischen Legenden vermuthen
lassen, dass auch die Saruchane eine gleiche Veränderung ihrer
Geldpräge Vornahmen, so wird jetzt diese Vermuthung durch die
Kupfermünze des kais. Cabinetes, welche in drei Exemplaren
vorhanden, zur vollen Gewissheit.
Die Richtigkeit der vorstehenden Zutheilung nämlich,
welche nach den von Friedländer im bezogenen Aufsatze zu
sammengestellten byzantinischen Quellennachrichten in Folge
der Unzulänglichkeit der letzteren als fraglich erscheinen könnte,
wird durch die türkischen Chronisten ausser Zweifel gesetzt.
1 Beiträge zur älteren Münzkunde, Berlin 1861, p. 52 ff.
2 Numismatische Zeitschrift, 2. Bd. p. 525.
Beiträge zur muliammedanischen Münzkunde.
163
Ist gleich die historische Ausbeute aus diesen nicht so be
deutend, als man wohl vermuthen könnte, so glaube ich doch
im Folgenden die Geschichte der bisher so wenig bekannten
Dynastie der Saruchane, welche bei Hammer und Zinkeisen
eine sehr unvollständige und ungenügende Darstellung gefunden,
in helleres Licht gesetzt zu haben.
Saruchan, der Gründer unserer Dynastie, dessen lange
Regierungszeit mit zahlreichen Kriegen gegen die Christen
ausgefüllt war 1 , bemächtigte sich Magnesia’s im ,T. 1313 2 . Ob
wohl einer der bedeutendsten der Zehnfürsten, findet sich
doch sein Sterbejahr weder bei Muneddschimbaschi noch hei
Dschenabi 3 angegeben und wir wissen nur, dass im J. 1345
(746) seiner zum letztenmale Erwähnung geschieht. Auf
Saruchan folgte sein Sohn Elias Beg und diesem sein Sohn
Ishäq Beg, die beide von den Byzantinern und von Hammer
und Zinkeisen nicht genannt werden. Vater und Sohn führten
nach Muneddschimbaschi eine friedliche und dem öffentlichen
Wohle gewidmete Regierung. Ishäq zumal suchte den Umgang
gelehrter oder durch Frömmigkeit ausgezeichneter Personen
und erbaute in Magnesia dem Derwischorden der Mewlewi ein
Ordenshaus, das anfänglich ein für die Armen der Mewlewi
errichtetes Chankäh (Kloster) war.
Ishäq starb nach derselben Q.uelle im J. 790 (1388), eine
Angabe, die bedeutende Verwirrung anzurichten geeignet ist.
Im Verfolge seines Berichtes nämlich sagt Muneddschimbaschi,
dass der Sohn und Nachfolger Ishäq’s, Chidhr Schah, seinem
Vater sehr unähnlich war und durch seine Liebe zu verbo
tenen Spielen und anderen unerlaubten Dingen den Hass seiner
Unterthanen auf sich zog. Die Unzufriedenheit der Bevölkerung
hätte Bajazid I. nach der Eroberung von Alaschehr (Phila
delphia), der letzten griechischen Besitzung in Kleinasien, den
1 Vgl. die byzantinischen Quellen bei Friedländer.
2 Wiener Jährb. der Literatur Bd. 57. p. 4 nach dem Dschihannuma. In
der von Norberg verfassten lateinischen Uebersetzung des Werkes konnte
ich diese Angabe nicht finden.
3 Mannscripte der k. k. Hofbibliothek. Die Uebersetzung der citirten
Stellen Muneddschimbasclii’s und des Nucbbet et-tewärfcli verdanke ich
der des Türkischen nicht mächtig, der Gefälligkeit meines Freundes Dr.
Karabacek.
11*
164
Bergmann.
erwünschten Anlass gegeben, Cliidhr Schah der hierauf zu Timur
floh, im J. 1390 (792) seiner Herrschaft zu entsetzen. Diese
Erzählung scheint durch Ducas (cap. IV.) ihre Bestätigung zu
finden, der ,Chedr, den Sohn SarchanV, als den von Bajazid
nach der Eroberung der Gebiete von Kermian, Aidin und
Mentesche entthronten Fürsten Lydien’s und Aeolis nennt. Er
fügt aber hinzu, dass Jildirim Chidhr, der sich fügsam unter
warf, ehrenvoll aufnahm, mit seiner Schwester vermählte und
nach Brusa sandte, wo er bald hernach durch Gift auf die
Seite geschafft wurde. Ducas widerspricht sich bezüglich des
letzten Theiles seiner Darstellung aber später (cap. XVI.)
selbst, indem er bei Schilderung der Schlacht von Angora sagt,
dass die ehemaligen Truppen der Fürsten von Aidin, Saruchan,
Mentesche und Kermian, die in der Schlachtreihe Bajazid’s
kämpften, auf den Anruf und das Heranrücken ihrer ehe
maligen Herren zu den Mongolen übergingen und weiter (cap.
XVIII.), dass Sarchan (i. e. Chidhr) die Herrschaft über
Lydien von Timur wieder erhielt.
Noch verwirrter ist der kurze Bericht Dschenabi’s, der
geradezu sagt, dass Ishäq, durch Bajazid entthront, seine Ret
tung in der Flucht suchte und hiemit seine Notiz über die
Saruchane schliesst.
Wie man sieht, berichtet jede der drei citirten Quellen
anders. Muneddschimbaschi wie Ducas melden die Entthronung
Chidhr’s durch Bajazid, aber der zweitgenannte Autor spricht
auch von der Vergiftung des gefangenen lydischen Fürsten,
die wir nicht ohne weiters als erfunden abzuweisen berechtigt
sind, während Dschanabi mit Isliaq die Dynastie endigen lässt.
Welche Darstellung ist die richtige, welche die falsche?
Die Antwort wäre schwierig, ja wohl unmöglich, wenn nicht
zwei andere türkische Chronisten, der durch sein Alter glaub
würdige Neschri und Muhammed Edirnewi im Nuchbet et-
tewärich 1 die definitive Entscheidung allerdings in mehr in-
directer als directer Weise enthielten. Neschri 2 sagt nämlich
1 Manusc. der k. k. Hofbibliotliek H. O. 3. Bl. 792.
2 Zeitsehr. der deutsch-morgenl. Gesellschaft Bd. XV. p. 335. Isa Beg'
verlegte seinen Sitz zunächst nach Tire, bis er nach Nicsea gebracht
Wurde. Neschri nennt keinen der beiden Pürsten mit Namen.
Beiträge zur niuhammedanischen Münzkunde.
165
nach dem Berichte über die Depossedirung des Fürsten von
Aidin (Isa Beg), der sich des Münzrechtes und des Kanzel
gebetes zu Gunsten Jildirim’s begeben und seine bisherige Re
sidenz Ephesus (Aja Soluk) demselben abtreten musste, sowie
des Herrn von Saruchan: ,beide Fürsten verschieden in kurzer
Zeit'; das Nuchbet et-tewärich ferner bemerkt unter d. J. 792
(1390) nach der Erzählung von der Eroberung Aidin’s und
Saruchan’s: ,in dieser Zeit starben Aidinoghlu (Aidin’s Sohn)
und Saruchanoghlu (Saruchan’s Sohn), worauf Bajazid deren
Länder gänzlich im Besitze hatte, indem die Kinder dieser
beiden Fürsten bei Kötüfüm Bajazid Zuflucht suchten'. Nach
diesen Angaben kann es nicht zweifelhaft sein, dass Ishäq Beg,
der von Bajazid entthronte und hierauf nach Brusa gebrachte
Fürst Saruchan’s ist. Ein ähnliches Schicksal hatte nach Ducas
(cap. IV.) den Fürsten von Aidin getroffen, welcher nach
Nicsea geschickt wurde, wo er bald starb. 1
Die eroberten Fürstenthümer gab Bajazid seinen Söhnen
zu Lehen. Der erstgeborne Sohn Ertoghrul erhielt Aidin als
Sandschak, der zweitgeborne Suleiman Saruchan mit dem be
nachbarten Karasi. 2 Chidhr der Sohn Ishäq’s, entfloh zu Kötiirüm
Bajazid nach Kastemuni, zu welchem sich auch die Söhne der
Herren von Kermian, Mentesche und Aidin retteten 3 . Zu
Tiinur aber begab er sich, ebenso wie der Prinz von Mentesche
(Neschri 1. c. p. 345) vermuthlich erst, als im J. 795 Kastemuni
in die Hände Bajazid Jildirim’s gefallen war und verweilte
bei dem Mongolenherrscher so lange, bis die Niederlage der
Osmanen in der Schlacht von Angora ihm und den anderen
depossedirten Fürsten im J. 1402 den Besitz der väterlichen
Reiche brachte. 1 Nicht lange jedoch sollte sich Chidhr des
1 Auch Hammer und Zinkeisen vermeiden eine Namensnennung.
2 So das Nuclibet. Neschri 1. c. p. 335 wolii unrichtig: Bajazid vereinigte
Saruchan’s Land mit Karasi’s Land und gab es Ertoghrul. Vgl. dagegen
p. 362, woselbst Suleiman als Lehenträger von Saruchan und Karasi ge
nannt wird.
3 Neschri 1. c. p. 356 beschreibt die Verkleidungen, unter welchen es den
Herren von Karmian, Mentesclie und Aidin gelang, zu entkommen, lieber
Chidhr aber schweigt er.
4 Ein mongolisches Corps unter Emir Schah war nach der Schlacht von
Angora in Saruchan, Aidin und Mentesche eingebrochen, und hatte da
selbst die grössten Greuel verübt. Zinkeisen I. p. 391. Sclierf-ed-din
166
Bergmann.
wiedergewonnenen Thrones erfreuen. Isa Tschelebi Ihn Bajazid,
welcher hei der Dreitheilung des osmanischen Reiches nach
Bajazid’s Gefangennahme Brusa erhalten hatte und, von seinem
Bruder Muhammed geschlagen, zu Suleiman nach Europa ge
flohen war, kehrte mit dessen Unterstützung nach Asien zurück,
um sein Reich wieder zu gewinnen. 1 Nach einem vergeblichen
Angriffe auf Brusa sah sich Isa genöthigt, zu Isfendiar nach
Kastemuni und nach einer abermaligen Niederlage durch
Muhammed zu Dschuneid, dem Herrn von Smyrna, zu fliehen,
der sich eines Theiles von Aidin bemächtigt hatte. Von Isa
gewonnen brachte Dschuneid ein Bündniss der Fürsten von
Aidin, Saruchan, Tekhe und Mentesche zu Stande 2 . Ihr
vereinigtes Herr in der Stärke von 20.000 Mann, das die
Umgebung von Brusa besetzt hatte, wurde aber von Muhammed
geschlagen und aufgerieben. Isa entfloh nach Karamanien, wo
er verscholl, Chidhr Schah aber, der sich sorglos zu Magnesia
im Bade schwelgerischem Genüsse überliess, wurde ergriffen
und hingerichtet, nachdem er die Zusicherung empfangen, dass
er an der Vorfahren Seite bestattet und seine und ihre Stif
tungen erhalten bleiben würden.
Muneddschimbaschi, der vorstehende Details von Chidhr’s
Ende berichtet, setzt dasselbe in das Jahr 813 (1410). Dieses
Datum ist aber unbedingt falsch und viel zu hoch gegriffen.
Das Nuchbet et-tewärich hingegen sagt nur in Kürze, dass
Chidhr im J. 805 nach dem Tode Bajazids (14. Schaban 805 =
8. März 1403) dem Isa Tschelebi gegen Muhammed beistand
und hierbei seinen Untergang fand 3 . Einen Fingerzeig zur
Feststellung des Todesjahres Chidhr’s gibt die Nachricht, dass
der Fürst von Aidin unter den mit Isa und Dschuneid ver
bündeten Fürsten sich befand. Diese Angabe scheint sich aber
(histoire de Timur lieg trad. par Petis de la Croix Delf 1723 t. IV.
p. 42, 59, berichtet, dass der Enkel Timur’s, Mirza Muhammed Sultan)
den Winter d. J. 1402 in Magnesia zrrbrachte.
1 Nach Seadeddin strömte das Volk aus Saruchan und Aidin nach dem
Siege Muhammed’s herbei, um Schutz gegen die Bedrücker ihres Landes
zu erflehen. Hierauf dürfte die oben erwähnte Nachricht Muneddschim-
baschi’s zurückzuführen zu sein.
2 Vgl. Zinkeisen nach Seaded-din.
3 Bei Hammer und Zinkeisen findet sich kein Datum.
Beiträge zur muhammedanischen Münzkunde.
167
auf Umur, den Sohn Isa Beg’s, zu beziehen, der im J. 1403
eines plötzlichen Todes starb, worauf Dschuneid sich zum
Herrn von ganz Aidin machte, aber schon im J. 1404 von
Suleiman angegriffen wurde. Auch diesmal also enthält das
Nuchbet et-tewärich das Richtige.
Ergibt sich einerseits die Richtigkeit der unserem Fels
gegebenen Zutheilung aus den türkischen Quellen, so wird
dieselbe auch von äusserlichen Kriterien gestützt. Sein Typus
gleicht nämlich völlig jenem der osmanischen Kupferprägen
aus dem Ende des 14. und dem Beginne des 15. Jahrhundertes;
hier wie dort erscheinen übereinstimmend die quer über das
Münzfeld gezogenen Doppellinien und jene Schriftform, welche
für diese Periode charakteristisch. Bemerkenswerth aber in
doppelter Beziehung ist die Kürze und Einfachheit der Auf
schriften. Der Name Timur’s, dessen Oberherrlichkeit die von
ihm eingesetzten Fürsten gewiss anfänglich anerkannten, fehlt
und dieser Umstand deutet darauf hin, dass die Prägung unseres
Stückes höchst wahrscheinlich nach dem Abzüge der Mongolen
aus Kleinasien stattfand. Auch ist in zweiter Reihe nicht zu
übersehen, dass Chidhr mit der blossen Nennung seines Namens
ohne Beifügung des Sultautitels sich begnügte oder begnügen
musste, und nicht einmal das Epitheton ornans, ,Schalk, welches
von den Chronisten seinem Namen gewöhnlich beigefügt wird,
auf seine Stempel setzte.
Karamanen.
Ibrahim Ihn Muhammed.
Zu den bedeutendsten Dynastien des im 14. Jahrhunderte
in so viele Fürstenthümer getheilten Kleinasien zählt das Ge
schlecht der Karamanen, der Nachkommen Nur Sufi’s, welche,
aus altem königlichen Geschlechte entsprossen, auf den Trüm
mern des Seldschukischen Thrones ein Reich errichteten, das
durch längere Zeit an Macht mit dem osmanischen rivalisirte,
bis in der Schlacht auf der Ebene von Ikonium im J. 1385,
dem ersten Zusammenstosse beider Gegner, die Osmanen den
Sieg und das bleibende Uebergewicht erlangten. Trotz dieser
hervorragenden geschichtlichen Bedeutung sind die Karamanen
168
B ergmann.
eigentümlicherweise in der mnhaminedanischen Numismatik
bisher nicht vertreten gewesen, obwol es keinem Zweifel untere
liegen konnte, dass sie ebenso wie die Osmanen, die Saruchane
und die Fürsten von Aidin als völlig unabhängige Herrscher
das Münzrecht ausübten.
In der reichen Suite türkischer Münzen des kais. Ca-
binetes fiel mir ein kleines Silberstück in die Augen, das ein
flüchtiger Beschauer unter Murad I. eingereiht hatte. Es ge
hört aber Ibrahim Ihn Muhammed Ibn Karaman zu und führt,
wie die Aufschriften ausser Frage stellen, die genannte Dynastie
in die Numismatik ein.
^Loty;
zu beiden Seiten in zwei Lünetten: Al) — §/ .
Rev.
durchbohrt Gew: vgl. Nr. 5 d. Tafel.
Da von anderer Seite in Bälde die Publication einer
ganzen Reihe von Prägen der Karamanen zu erwarten ist, die
gewiss neues Licht über deren so vielfach noch unaufgehellte
Geschichte verbreiten werden, so bescheide ich mich, nur ein
paar Worte über den genannten Ibrahim Ibn Muhammed hier
anzuschliessen.
Muhammed fiel, bei der Belagerung Antalia’s, von einer
Kanonenkugel getroffen, im Kriege gegen Murad II. im Jafar
des J. 826 (1423)' . Ibrahim, der mit des Vaters Leiche ent
flohen war, erhielt von Murad die Belehnung mit Karaman
und ein Hilfscorps, welches seinen Oheim Ali Beg vertreiben
half, während sein Bruder Isa mit einem europäischen Statt
halterposten entschädigt wurde.
Durch die Lage seines Landes inmitten des osmanischen
Staates und der syrischen Provinzen Egyptens, aber auch durch
die eigene unruhige und eroberungslustige Politik gerieth
Ibrahim in mehrfache Conflicte mit den genannten Mächten.
So führte er vier Kriege gegen die Osmanen; den ersten im
J. 1432 (?) in Folge der Besetzung der Landschaft Hamid und
1 Uebor dieses Datum vgl. Weil, Gesch. der Chalifen Bd. V. 197.
Beiträge zur rauhammedanischen Münzkunde.
169
eines dem Suleiman Beg geraubten Pferdes, der durch seine
Gemalin einer Schwester Murad’s II. beigelegt wurde, den zweiten
bald beendeten im J. 840 (1436)', den dritten im J. 848 (1444)
als Murad durch den ungarischen Krieg vollauf beschäftigt
schien, der jedoch durch den Verlust Ikonium’s, Larenda’s und
anderer Plätze einen schlimmen Verlauf nahm, bis die Schwester
Murad’s wieder den Frieden vermittelte, den vierten endlich
im J. 855 (1451) nach der Thronbesteigung des jugendlichen
Muhammed II.
Zu Egypten trat Ibrahim während der Regierung des
Sultan Bursbai im J. 838 in nähere Beziehungen, als er die
Rückeroberung Kaisarias von Muhammed Ibn Dsulghadir be
absichtigte. Obwohl Sultan Bursbai die zugesicherte Unter
stützung nicht eintreten liess, gelang es Ibrahim doch sich der
Stadt zu bemächtigen. So erfolglos die Kriege gegen die Os-
maneu waren, so wenig glücklich war Ibrahim im J. 860 (1456)
als er die egyptischen Statthalter aus Tarsus und Adanali ver
trieb. Die Egypter verwüsteten in barbarischer Weise das offene
Land, ohne die festen Plätze anzugreifen, bis Proviantmangel
sie zum Rückzuge zwang. Erst im J. 862 (1458) kam ein
Friede zu Stande, dessen Bedingungen unbekannt sind.
Von besonderem Interesse sind schliesslich die Beziehungen
Ibrahim’s zum Königreiche Cypern, welche neuerlich durch die
Veröffentlichung einer Reihe von Actenstücken in der Geschichte
Cyperns von Mas Latrie Bd. III. p. 3 ff. genauer bekannt ge
worden. So ist es erklärlich, dass weder Hammer noch Zink
eisen derselben gedenken, von Weil zu geschweigen, der in
seiner Chalifengeschichte hierauf keine Rücksicht zu nehmen
hatte. Die einzige Eroberung Peter I., welche Cypern noch
verblieben, war Ghorighos in Cilicien. Um diesen Platz zu
behaupten, bemühten sich die Könige aus dem Hause Lunignan,
ein gutes Einvernehmen mit den Fürsten von Karaman zu
pflogen, und auch Johann II. sandte bei seiner Thronbesteigung
im J. 1432 eine Gesandtschaft au Ibrahim, welche Freund-
1 Im J. 839 erhielt Ibrahim vom Timuriden Schah Ruch Ehrenkleider zu
gesendet, welche er anzog. Weil 1. c. p. 202.
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170 Bergmann. Beiträge zur muhammedauischen Münzkunde.
schaftsversicherungen aussprach 1 . Im J. 1448 aber rüstete
Ibrahim zur Belagerung von Ghorigos ' l , die Intercession Jean
von Lastic, des Grossmeisters der Hospitaliter, und die Ent
sendung des Commandeur von Troyes nach Ikonium blieb er
folglos und Ghorighos fiel durch den Verrath Jacob von Bo-
logna’s, der das Schloss angeblich wegen Proviantmangels,
übergab, in die Hände der Karamanen 3 .
1 In dem Berichte des Bertrandon de la Brocquiere über diese Gesandt
schaft findet sich folgende für die Miinzwerthe damaliger Zeit beachtens
werte Stelle: Et aprez lcdit roy (Ibrahim) cnvoya de l’argont audit
ambaxadeur pour despendre, car leur coustume est teile, c’est assavoir
L aspres qui est la monnage du pais; et ledit ainsne fil du roy lui eil
envoya XXX de quoy ung ducat venissien en vaut L. Mas la Latrie,
histoire de Chypre t. III. p. 7.
2 Nacli Sanudo konnte der Fürst von Karaman 30.000 Heiter aufbringen,
Cypern höchstens 1000, 1. c. p. 54.
3 Der Hilferuf, welchen der Grossmeister am 20. November 144S nach der
Eroberung Ghorighos an Melik az-Zahir Dschaqmaq richtete, verhallte un-
gehört.
i
Jfoieluek.se..
171
IY. SITZUNG VOM 29. JANUAR 1873.
Der Secretär verliest ein Schreiben des w. M. Herrn
Prof. Dr. Huber in Innsbruck, worin derselbe ankündigt, dass
er in der diesjährigen feierlichen Sitzung über Rudolph von
Habsburg einen Vortrag zu halten beabsichtige.
Der Secretär tlieilt ferner mit, dass Herr Prof. Dr. Reif
ferscheid in Breslau das Manuscript zum IV. vol. des
Corpus s criptorum ecclesiasticorum latinorum (den
Arno bi us enthaltend) eingesendet habe.
Der Referent der histor. Commission Herr kais. Rath
Fiedler legt eine für das Archiv bestimmte Abhandlung des
w. M. Herrn Prof. Albert Jaeger in Innsbruck vor ,über den
Streit der Tiroler Landschaft mit Kaiser Friedrich III. wegen
der Vormundschaft über Herzog Sigmund'.
Sodann legt der Secretär vor ,kritische Untersuchungen
über die Cillier Chronik', welche Herr Prof. Dr. Franz Krön es
in Graz mit dem Gesuch um Aufnahme derselben in das
Archiv für östeiTeichische Geschichte eingesendet hat.
172
Das w. M. Herr Prof. Julius Ficker in Innsbruck sendet
eine Untersuchung über die Entstehungsverliilltnisse der Con-
stitutio de expeditione Romana.
Das w. M. Herr Prof. Conze legt eine zweite Abhand
lung vor ,zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Accademia, Reale, della Crusca: Vocabulario. Vol. II. Sign. 43 — 110,
ed Aggiunte, pag. I — VIII. 4°.
Akademie der Wissenschaften und Künste, Siidslavische: Rad. Knjiga XXI.
U Zagrebu, 1872; 8°.—Starine. Knjiga IV. U Zagrebu, 1872; 8°. —
Stari pisci lirvatski. Kujiga IV. U Zagrebu, 1872; 8°.
König! Preuss., zu Berlin: Monatsbericht. Septemberu. October 1872.
Berlin; 8°.
— — König! Bayer., zu München: Sitzungsberichte der philos.-philolog. und
histor. Classe. 1872. Heft 2—3. München; 8°. — Inhaltsverzeichnis zu
Jahrgang 1860 —1870 der Sitzungsberichte der k. b. Akad. d. Wiss.
München, 1872; 8«.
American Journal of Science and Arts. Third Series. Vo! IV, Nrs. 19 —
24. New Ilaven, 1872; 8°.
Central-Commission, k. k. statistische: Mittheilungen. XIX. Jahrgang,
4. Heft. Wien, 1872; 40.
Kasan, Universität: Bulletin et Memoires. 1869, Heft V — VI; 1870, Heft
I — IV ; 1871, Heft I — IV. Kasan; 80.
Mariette - Bey, Auguste, Les Papyrus Egyptiens du Musee de Boulaq.
Tome I er , Papyrus Nrs. 1— 9. Paris, 1871; Folio.
Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Er
haltung der Baudenkmale. XVII Jahrgang. November — December 1872.
Wien; 4°.
— aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. Jahrgang 1872. Ergänzungsheft
Nr. 34. Gotha; 4°.
,Revue politique et littdraire“ et ,Revue scientifique de la France et de
letranger. 1 II 0 Annee, 2 e Serie, Nrs. 29—30. Paris, 1873; 4°.
Society, The Royal Geographical, of London: Journal. Vol. XLI. 1871.
London; 8°. — Classified Catalogue of the Library of the R. Geogr. Soc.,
to December, 1870. London, 1871; 8°.
Tübingen, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1871.
40 u. 8°.
Ueber die Entsteliungsverhältnisse der C.onstitutio de expeditione Romana.
173
Ueber die Entsteliungsverhältnisse der Gonstitutio
de expeditione Romana.
Von
Julius Picker.
Das angebliche Gesetz Karls des Grossen über die Lei
stungen, welche den Herren beim Römerzuge von ihren Vasallen,
Ministerialen und bäuerlichen Hintersassen zukommen, bietet
ein auffallendes Beispiel dafür, wie die entschiedensten Fäl
schungen dennoch überaus wichtige Quellen geschichtlicher
Erkenntniss sein können. Aeussere wie innere Gründe sprechen
mit solcher Bestimmtheit gegen die Echtheit der Urkunde,
so wie sie vorliegt, dass dieselben von vornherein jeden Ver
such verbieten müssen, sie irgendwie mit dem angeblichen
Urheber in Verbindung zu bringen. Andererseits aber ist die
Uebereinstimmung ihrer Angaben mit dem, was uns über die
bezüglichen Zustände des eilften und zwölften Jahrhunderts
aus anderen Zeugnissen bekannt ist, so allgemein anerkannt,
dass wir sie für die Verhältnisse dieser Zeit unbedenklich als
glaubwürdige Quellen benutzen dürfen; wir sind gewohnt, ihren
Angaben da fast dasselbe Gewicht beizulegen, als ob es sich
um ein Gesetz eines der Herrscher dieser Zeit handeln würde.
Im allgemeinen gewiss mit Recht. Wiesen mich Unter
suchungen über die Verpflichtung der Fürsten zur Reichsheer
fahrt kürzlich auf genauere Vergleichung der Constitutio mit
andern Zeugnissen hin, so konnte diese das günstige Vorurtheil
nur bestärken. Aber bei der eingehenderen Untersuchung ein
zelner Bestimmungen macht sich der Umstand, dass wir eine
anerkannte Fälschung vor uns haben, doch in sehr hindernder
Weise geltend. Hat mindestens bei Angabe des Ausstellers und
174
Ficker.
bei der Datirung ein Fälscher die Hand im Spiele gehabt, so
kann auch sonst dieses und jenes in die Urkunde hineinge-
kominen sein, was nicht dem geltenden Rechte, wohl aber dem
Interesse des Fälschers entsprach. Sehen wir aber auch davon
ab, nehmen wir an, für das Einzelne des Inhaltes falle jener
Umstand nicht hindernd ins Gewicht, so ist es doch misslich,
dass die eigentliche Bedeutung des Schriftstückes nicht fest
steht ; diese wird eine wesentlich verschiedene sein, jenachdem
wir mit den einen annehmen, es handle sich wirklich um ein
königliches Gesetz, das nur dem unrichtigen Herrscher, der
unrichtigen Zeit zugeschrieben sei, oder aber mit andern, es
liege uns lediglich die Arbeit eines Privaten vor, der das zu
seiner Zeit thatsächlich geltende Recht gewissenhaft aufge
zeichnet und in die Form eines altern Gesetzes eingekleidet
habe. Misslicher noch ist die Ungewissheit über die Entstehungs
zeit. Für manche Zwecke mag die Angabe, dass es sich hier
um die Zustände des eilften und zwölften Jahrhunderts handle,
immerhin genügen, da sehr weitgreifende Aenderungen des
Reichskriegswesens während dieser Periode allerdings nicht
anzunehmen sind. Aber in Einzelfällen macht es sich doch
recht fühlbar, dass dieselbe zwei Jahrhunderte umfasst, dass wir
nicht wissen, ob die hier vorliegenden Bestimmungen etwa die
Zustände in den frühem Zeiten des eilften oder aber in den
spätem Zeiten des zwölften Jahrhunderts im Auge haben.
Denn über die genauere Zeitbestimmung wenigstens innerhalb
jener Periode liegt eine Einigung der Ansichten noch in keiner
Weise vor.
Als beseitigt kann allerdings die früher von Freher auf
gestellte Annahme gelten, es handle sich um ein Gesetz, zwar
nicht von Karl dem Grossen, aber von Karl dem Dicken her
rührend. Zuletzt wurde sie meines Wissens einfach aufrecht
erhalten in den Anmerkungen zum Abdrucke der Constitutio
in den Monumenta Boica 31 a, 108. Den Hauptanhaltspunkt
dafür gab der Umstand, dass die Recognition durch einen
Notar Hernusf in Vertretung des Kanzler Liutward sich in Ur
kunden K. Karls vom J. 878 findet; mit der Annahme, der
anstössige Titel und die bestimmt auf Karl den Grossen wei
sende Datirung seien spätere Interpolation, glaubte man alle
Schwierigkeiten genügend beseitigt zu haben. Eichhorn schloss
lieber die Entstehungsverhältnisse der Constitutio de expeditione Romana. 175
sich in den frühem Ansgaben seiner Rechtsgesehichte dieser
Ansicht in so weit an ; als auch er in der Constitutio ein ur
sprüngliches Gesetz Karls des Dicken sah, das aber nach Mass-
gabe innerer Kennzeichen wesentliche Aenderungen erlitten
haben müsse. In der neuesten Ausgabe tritt er dann überhaupt
für diese Ansicht nicht mehr ein, führt wohl noch manches
an, wodurch sie sich stützen lasse, weist aber auch um so be
stimmter darauf hin, wie sie dem ganzen Inhalte nach als un
haltbar erscheinen müsse; vgl. R. G. §. 223 N. g.; §. 294
Anm. 1. Es wird nicht nöthig sein, jene Annahme noch zu
beachten; ist niemand mehr für sie eingetreten, so würde die
folgende Erörterung ohnehin weitere Gründe gegen ihre Zu
lässigkeit ergeben, wenn es deren noch bedürfte.
Als noch nicht beseitigt muss dagegen die Ansicht gelten,
wonach die Constitutio im eilften Jahrhunderte, und zwar in
den früheren Zeiten desselben entstanden sei. Unter den altern
Herausgebern vertrat diese insbesondere Senkenberg in der
Weise, dass er annahm, die Constitution sei ein Gesetz eines
der sächsischen oder fränkischen Könige, am wahrscheinlichsten
K. Konrads II.; ein erster Abschreiber werde, wie das ja oft
geschah, den ursprünglichen Schluss fortgelassen und den Namen
des Herrschers nur mit C angedeutet haben; das habe einen
spätem Abschreiber dann um so eher veranlassen können, das
Gesetz Karl dem Grossen zuzulegen, die Sigle mit Carolus auf
zulösen und einen entsprechenden Schluss willkürlich zuzu
fügen. Eichhorn hält in seiner späteren Erörterung einen
solchen Hergang wenigstens für möglich, nimmt aber jedenfalls
als bestimmtes Evgebniss an, dass der uns in einer um 1190
geschriebenen Handschrift erhaltene Text wenigstens hundert
bis anderthalbhundert Jahre früher entstanden sein müsse und
dass der erste Verfasser nicht die Absicht gehabt habe, den
wirklich geltenden Bestimmungen andere unterzuschieben, son
dern dass die absichtliche Verfälschung nur darin bestanden
haben könne, für karolingische Verfassung auszugeben, was
weit späteren Ursprungs war. Auch Dönniges, Deutsches Staats
recht 567, hält Entstehung unter K. Konrad II. für das wahr
scheinlichste. Hat diese Ansicht weiterhin wenig Anhänger
mehr gewonnen, so wird sie doch auch nicht als genügend
beseitigt betrachtet werden können, wenn noch ein in manchen
176
Ficker.
der einschlagenden Fragen so besonders bewanderter Forscher,
wie Nitzsch, Ministerialität und Bürgerthum 46, sich dahin er
klärte, dass die Constitutio vor oder spätestens in dieselbe Zeit
mit Konrad’s II. Weissenburger Dienstrecht gehört, ohne dass
meines Wissens seine Gründe ausdrücklich widerlegt wurden.
Ueberwiegend wird allerdings jetzt Entstehung im zwölften
Jahrhunderte angenommen. Homeyer, System des Lehnrechts
382, drückt sich mit Zurückhaltung dahin aus, dass er die Ab
fassungszeit eher ins zwölfte, als ins eilfte Jahrhundert setzen
möchte. Massgebend für die jetzt am meisten verbreitete An
sicht sind insbesondere die Bemerkungen geworden, mit welchen
Pertz die Ausgabe in den Monumenta Germaniae L. 2 b, 2
einleitete; er spricht sich bestimmter für Entstehung in den
spätem Zeiten des Jahrhunderts unter K. Friedrich I. aus. Die
neuern Darstellungen der deutschen Rechtsgeschichte schliessen
sich seiner Meinung durchweg an. Ebenso Stobbe in der Ge
schichte der deutschen Rechtsquellen 1, 474, der auch nur die
Benutzung einer bereits im eilften Jahrhunderte vorhandenen
Urkunde für unwahrscheinlich hält. Beaclitenswerth dürfte ins
besondere sein, dass auch Weiland auf Grundlage sehr einge
hender Forschungen über die Reichsheerfahrt im zwölften Jahr
hundert sich für jene Ansicht ausspricht und es zugleich ver
sucht, die Entstehungszeit noch genauer zu bestimmen, indem
er die Vermuthung begründet, die Constitutio dürfe unter Ein
wirkung des Aufgebotes zur Romfahrt im J. 1189 fabricirt
sein; vgl. Forschungen zur deutschen Gesch. 7, 130. 134.
Versuchen wir es nun, den sich hier bietenden Fragen
näher nachzugehen, so bietet der äussere Bestand der Ueber-
liefcrung uns wesentlich nur den einen Haltpunkt, dass die
Constitutio zu Ende des zwölften Jahrhunderts bereits vorhan
den war. Von den drei erhaltenen Handschriften fällt nur die
älteste ins Gewicht, da die beiden andern wahrscheinlich un
mittelbar aus derselben geflossen sind, jedenfalls nur so unbe
deutende Abweichungen zeigen, dass sie, falls jenes auch nicht
zutreffen sollte, wenigstens auf eine nächstliegende gemeinsame
Vorlage zurückgehen müssen, so dass das Vorhandensein meh
rerer Handschriften keineswegs nöthigt, uns die Constitutio
selbst längere Zeit vor der ältesten Handschrift entstanden zu
denken. Diese findet sich in einem Codex aus Chiemsee, der
lieber die EntstelmugsVerhältnisse der Constitutio de expeditione Romana.
177
in der spätem Ausgabe der Monumenta Boica 31a, 108 in
das Ende des eilften oder den Anfang des zwölften Jahrhunderts
gesetzt wird. Das bezieht sich aber nach dem bei dem früheren
Abdrucke Mon. Boica 2, 375 Bemerkten wohl nur auf den
Codex überhaupt, nicht auf die Constitutio, welche auf dem
letzten Blatte von anderer Hand zugeschrieben ist. Für die
Bestimmung des Alters dieser aber ergibt sich ein genauerer
Haltpunkt daraus, dass es sich um dieselbe Hand bandelt,
welche mit derselben Tinte im Codex traditionum des Klosters
die Traditionen bis zum J. 1190 eingetragen hat. Auf diesen
Grund hin, den auch Pertz als stichhaltig anerkannt hat, wird
demnach die Entstehung der ältesten Handschrift um 1190 als
gesichert betrachtet werden können.
Pertz scheint nun aber weitergehend auch geneigt, im
Schreiber dieser ältesten Handschrift zugleich den Fälscher zu
erblicken, oder diesen wenigstens in dom Kloster, dem jene
angehört, zu suchen, indem er die Vermuthung ausspricht, die
Fälschung sei zu dem Zwecke gemacht, um irgend welchen
Streit zu Gunsten des Abtes von Chiemsee zu entscheiden.
Dagegen nun scheinen mir die gewichtigsten Gründe zu spre
chen. Eine solche Fälschung konnte, sei es im Interesse des
Her rn, sei es im Interesse seiner Mannen, zweifellos nur da
einen Zweck haben, wo für den Herrn und die Mannen eine
Verpflichtung zur Theilnahme an der Reichsheerfahrt bestand.
Das war in Herrenchiemsee, woher die Handschrift stammt,
unbedingt in der hier in Frage kommenden Zeit nicht der
Fall. Früher Reichsabtei, wurde es 891 den Erzbischöfen von
Salzburg geschenkt, bei denen es verblieb und von denen es
um 1140 in eine Probstei regulirter Chorherren verwandelt
wurde. Wollte man an Frauenchiemsee denken, so blieb dieses
allerdings bis 1201 Reichsabtei. Aber einmal ist es durchaus
unwahrscheinlich, dass Aebtissinnen auch nur durch Stellung
von Mannschaft zur Reichsheerfahrt verpflichtet waren. Weiter
waren alle baierisehen Abteien zweifellos überhaupt von der
Heerfahrt befreit. Wie das uns erhaltene Aufgebot von 980
(Jaffe Bibi. 5, 471) keinen baierisehen Abt nennt, so ist auch
später nie ein solcher auf den Heerfahrten nachzuweisen. Als
Grund der Befreiung ist uns die umfassende Einziehung des
Gutes der baierisehen Klöster durch Herzog Arnulf bekannt,
Sitzungsber. d. phil.-liist. CI. 1AXIII liil. 1. Hft. 12
■
178
Ficker.
derentwegen sie auch noch in späteren Jahrhunderten von den
meisten Reichslasten befreit blieben. Weder zu Chiemsee, noch
in einer andern baierischen Abtei wird die Fälschung ihren
Ursprung haben. Ist sie erst ganz kurz vor der uns erhaltenen
ältesten Handschrift entstanden, so würde das Vorkommen
dieser in einem baierischen Kloster allerdings für Entstehung
in Baiern sprechen können; es wäre dann wohl zunächst an
Salzburg oder eine der andern bischöflichen Kirchen zu denken.
War das Stück selbst schon einige Zeit früher vorhanden, so
kann es natürlich blosser Zufall sein, dass es uns gerade in
einem baierischen Kloster erhalten ist.
Untersuchen wir das Protokoll und das allgemeine For
mular der Urkunde, so gewinnen wir da insbesondere für die
Zeitfrage keine bestimmtem Haltpunkte. Schwerlich wird sich
da irgend etwas nachweisen lassen, was erst im zwölften Jahr
hunderte aufgekommen eine frühere Entstehung ausschliessen
würde. Findet sich andererseits manches, was in früheren
Zeiten üblich, in der K. Friedrichs I. ausser Gebrauch ge
kommen war, wie etwa die Erwähnung des annulus statt des
sigillum in der Corroborationsformel, das Fehlen des ego bei
der Recognition, der Gebrauch von data und actum in der Da-
tirungsformel, so wird das nicht etwa umgekehrt frühere Ent
stehung erweisen müssen. Denn der Fälscher hat zweifellos
eine oder andere ältere Urkunde zur Hand gehabt. Die Recog
nition kann wohl nur einer echten Urkunde Karls des Dicken
entnommen sein. Das Monogramm, so überaus ungeschickt es
auch gezeichnet sein mag, zeigt doch bestimmt, dass dem
Fälscher die Hauptform desselben aus einer Urkunde Karls
des Dicken, oder auch Karls des Grossen bekannt sein musste.
Stimmen Incarnationsjahr, Regierungsjahr und Ort, sind auch
Tag und Ort wenigstens nach dem uns zu Gebote stehenden
Material nicht unvereinbar, fehlt die erst nach der Kaiser
krönung üblich werdende Angabe der Indiction, so dürften
auch diese Umstände sich am einfachsten aus Benutzung einer
Urkunde Karls des Grossen erklären. Allerdings müsste einer
solchen die Angabe des Incarnationsjahres gefehlt haben; und
bei dem sonstigen Ungeschick des Fälschers könnte die An
nahme bedenklich erscheinen, er habe dasselbe selbstständig
und richtig hinzugefügt. Aber die Annahme einer Benutzung
lieber die Entstehungsverhältnisse der Constitutio de expeditione Romana. 179
von Annalen, auf welche wir dann wohl hingewiesen wären,
würde zu noch grösseren Schwierigkeiten führen, da es daun
fast unbegreiflich wäre, dass der Fälscher nicht gewusst haben
sollte, dass 790 von einem Römerzuge nicht die Rede war.
Eine echte Urkunde Karls von 790 würde weiter den Titel
rex Francorum et Langobardorum ac patricius Romanorum ge
habt haben (vgl. Sickel Acta Carol. 1, 259); und aus Benutzung
einer solchen Hesse sich demnach der in seiner genauen .Fassung
überhaupt sonst nicht nachweisbare Titel der Constitutio rex
Francorum et Romanorum wohl am leichtesten erklären; min
destens eben so leicht, als aus den Titeln K. Heinrichs II., auf
welche Eichhorn hinweist.
Scheint nun der Fälscher auch ein oder andere Karo
lingerurkunde zur Hand gehabt zu haben, so hat er sich doch
sichtlich an keine derselben so genau gehalten, als das auch
bei völliger Verschiedenheit des Inhaltes möglich gewesen wäre.
Eben so wenig wird aber diesen Bestandtheilen der Urkunde
gegenüber die Ansicht aufrecht zu erhalten sein, der Fälscher
habe an einer echten Urkunde eines spätem Herrschers, zu
nächst Konrads II., nur den Namen geändert und etwa den in
einer Abschrift fehlenden Schluss hinzugefügt. Konrad führt
bis zur Kaiserkrönung lediglich den Titel rex. Sind Ausdrücke,
wie universorum experientia, decreti auctoritas, in seinen erhal
tenen Urkunden nicht nachweisbar, wird anmdus nur noch ver
einzelt aus älteren Vorlagen wiederholt (vgl. Bresslau Kanzlei
K. Konrads II., 32. 51. 52), so möchte ich darauf weniger Ge
wicht legen. Ich denke, man wird weitergehend behaupten
können, dass die Formeln so, wie sie hier vorliegen, überhaupt
nicht der Kanzlei irgendwelchen Herrschers angehüren können.
Für die Corroborationsformel diente wohl eine karolingische
als Muster; aber nicht allein, dass es dort wahrscheinlich incon-
vulsam statt incorrupt.am, firmitatem statt emunitatem, annuli
impressione statt signo hiess; der Fälscher hat sichtlich ganz
ungehörige Einschiebungen gemacht; das in dei nomine findet
sich zuweilen in spätem Karolingerurkunden; aber die Bezie
hung der Corroboration auf die Nachfolger des Königs, statt
auf alle Getreue, die Einschiebung der Beistimmung der Fürsten
an diesem Orte sind Dinge, von denen nicht leicht jemand
annehmen wird, dass sie aus einer echten Königsurkunde
12*
180
Picker.
übernommen wurden. Dasselbe wird von der Arenga: Si prae-
decessorum nostrorum morem sequimur, non solum praesentibus,
sed et succedentibus subvenire nitimur, gelten müssen. Sie ist
keine der geistreichsten, man sollte bei der Wichtigkeit des
Gegenstandes etwas mehr Beredtsamkeit erwarten; aber an und
für sich könnte sie uns auch in einer echten Urkunde nicht
auffallen; würde es sich etwa um Bestätigung von Verfügungen
der Vorgänger zu Gunsten eines Klosters handeln, so möchte
sie ihre Dienste thuen. Was soll aber diese Berufung auf die
Vorgänger als Eingang zu gesetzlichen Bestimmungen, wenn
weiterhin als Motiv für den Erlass derselben der Umstand
ausdrücklich betont wird, dass es an bezüglichen Bestimmungen
der Vorgänger fehle? Ein Fälscher mochte sich an die Arenga
irgendwelcher ihm vorliegender Urkunden halten, ohne zu be
achten, ob sie dem besondern Gegenstände entsprach; der
Reichskanzlei werden wir das schwerlich Zutrauen dürfen.
Wir haben damit das Ergebniss gewonnen, dass die Fäl
schung sich nicht etwa auf falsche Auflösung der Sigle des
Herrschernamens und Hinzufügung eines entsprechenden Schlusses
beschränkt haben kann. Ausser dem gesammten Protokoll
kommen mindestens auch noch Eingang und Bekräftigungs-
formel auf Rechnung des Fälschers, der dabei karolingische
Vorlagen mit grosser Willkür benutzte. Die Möglichkeit, dass
der zwischenliegende Plaupttext der Urkunde eines spätem
Herrschers entnommen sei, ist damit allerdings nicht beseitigt;
aber mindestens wird damit solcher Sachverhalt höchst unwahr
scheinlich. Für die Zeitfragc gewinnen wir keinen Anhalts
punkt ; solche Fälschung konnte im eilften, wie im zwölften
Jahrhunderte vorgenommen werden.
Gehen wir zur Prüfung des Haupttextes über, so wird
kaum zu läugnen sein, dass manches für Entstehung erst im
zwölften Jahrhunderte zu sprechen scheint. Einige der dafür
geltend gemachten Umstände dürften freilich als massgebend
nicht anzuerkennen sein. Ilomeyer betont in dieser Richtung
insbesondere den Gebrauch des Ausdruckes feodum neben
beneficium. Weist Dönniges dem gegenüber darauf hin, dass
der Ausdruck feudum schon in Lehnsgesetzen K. Konrads II.
und K. Heinrichs III. gebraucht sei, so ist das allerdings sehr
unsicher; denn II. Feud. 40 wird von K. Konrad III. als
Ueber dio Entötehungbverhältiiisse der Constifcutio de expeditione Roroana. IST
Gegenkönig erlassen sein; von V. F. 3 ist es nickt sicher,
welchem Heinrich es angehört, während zugleich bei der Art
der Ueberlieferung der Ausdruck erst später geändert sein
könnte. Aber feiidum ist schon nachweisbar in Urkunden
der Erzbischöfe von Trier um 1010 und 1030 und des Pfalz
grafen Hezil von 1033 (Beyer Urk.-B. 1, 339. 354; Lacomblot
Urk.-B. 1, 106). Darnach wird der Ausdruck zuerst in Loth
ringen von Frankreich her aufgenommen sein und sein Vor
kommen in einer Urkunde K. Konrads II. müsste immerhin
auffallen; aber als unzulässig würde man es doch kaum be
zeichnen können; noch weniger in späteren Zeiten des eilften
Jahrhunderts.
Es hat weiter Weiland betont, dass die sich in den Rechts-
büclxern wiederfindende Angabe, der Römerzug müsse ein Jahr
und sechs Wochen vorher angesagt werden, zuerst in der Con-
stitutio auftrete. Da sich nun erg-iebt, dass dieser Termin im
allgemeinen nicht eingehalton, dagegen allerdings 1189 die
Romfahrt K. Heinrichs VI. wirklich genau auf ein Jahr und
sechs Wochen ungesagt wurde, so vermuthet er, die Consti-
tutio sei unter der Einwirkung dieses bestimmten Falles
fabricirt. Dem gegenüber wird vor allem darauf hinzuweisen
sein, dass sich schon in dem in die früheren Zeiten des Jahr
hunderts gehörenden älteren Kölner Dienstrechte (Fürth Mini
sterialen 512) die Bestimmung findet, dass die Romfahrt ante
annuui et dieni anzusagen sei. Nichts wird der Annahme im
Wege stehen, dass eine solche Bestimmung auch schon im
eilften Jahrhunderte bestand. Es war ja nicht nöthig, dass sie
immer eingehalten wurde. Die Berechtigten konnten zu Gunsten
des Königs auf ihr strenges Recht verzichten. Oder der König
nahm mit geringeren Leistungen vorlieb, als ihm bei Einhaltung
des Termins gebührt hätten. Auf einen solchen Unterschied
scheint das jüngere Kölner Dienstrecht (Fürth 520) ausdrück
lich hinzuweisen: dat sal der buschof deme dienztmanne doch
iair und dach zu vorens sagen, dan sal hie zu reichte dienen;
so loe sich dan da ane versoumt, die sal siner renten vortme
darven; ivirt id eme ever binnen iare und dage gesaicht, so lief,
an sinen willen, of hie dienen wille, of hie mach id bewisen an
dat halfschiet siner iairgulten. Der Unterschied liegt liier darin,
dass der Manu bei zeitiger Ansage sich überhaupt nicht lösen
182
Ficker.
kann, sondern entsprechend sonstigen Zeugnissen sein Lehen
verliert, wenn er nicht mitzieht; wird aber der Termin nicht
eingehalten, so steht es in seiner Wald, oh er mitziehen oder
ob er die Hälfte der Jahreseinkünfte als Heersteuer zahlen
will. Ein für die Zeitfrage massgebender Halt wird sich zweifel
los jener Bestimmung nicht entnehmen lassen.
Pertz weist einmal darauf hin, dass die Urkunde zu der
Zeit entstanden sein dürfte, als unter K. Friedrich I. die
häufigen Züge nach Italien den Deutschen besonders lästig
wurden. Dagegen ist schon anderweitig bemerkt, dass sich das
aus der Urkunde keineswegs mit Nothwendigkeit ergiebt; als
Grund, der genauere Bestimmungen nöthig mache, wird nicht
ein Widerstreben gegen solche Züge überhaupt angegeben,
sondern ein Streit zwischen Fürsten und Vasallen über die
Anzahl der zu stellenden Mannschaft; zu einem solchen Streite
konnte jeder Zug Anslass bieten. Weiter aber bezieht sich
Pertz darauf, dass die Redeweise an die Urkunden des zwölften
Jahrhunderts erinnere, ohne freilich irgendwelche Einzelnheiten
hervorzuheben. Im allgemeinen möchte ich auch kaum zugeben,
dass die Redeweise dem zwölften Jahrhunderte entspreche.
Dagegen glaube ich allerdings, dass sich einzelne Ausdrücke
finden, welche weniger an und für sich, als durch die beson
dere Bedeutung, in der sie in der Constitutio gebraucht sind,
für die Entstehung derselben im zwölften Jahrhunderte und
wohl erst in den späteren Zeiten desselben mit ziemlicher Be
stimmtheit sprechen.
Dahin rechne ich einmal, dass in der Constitutio sechs
mal der Ausdruck Principes gebraucht wird, während kein
anderer gleichbedeutender Ausdruck vorkommt. Das deutet
auf eine Zeit, wo sich der Gebrauch festgestellt hatte, die erste
Classe der Grossen des Reichs regelmässig mit gerade diesem
Ausdrucke zu bezeichnen. Das war nach Untersuchungen, welche
ich früher über den Gebrauch des Ausdruckes anstellte (vgl.
Reichsfürstenstand §.21 ff.), erst im zwölften Jahrhunderte der
Fall. Allerdings wurde der Ausdruck in solcher Bedeutung
auch schon im eilften Jahrhunderte verwandt. Häufiger ist da
aber doch nur schlechtweg von den Ficleles des Königs die
Rede, wodurch sich freilich in der Constitutio nur in ein oder
andern Falle der enger begrenzte Ausdruck würde ersetzen
Heber die Entstehuugsverbältnisse der Constitntio de expeditione Komana. 183
lassen; eher wäre zu erwarten, dass der König- von den Epis-
copi, duces et comites redete, oder dass der Ausdruck Principes
wenigstens mit den gleichbedeutenden Proceres, Primates oder
Optimates wechselte. In echten Urkunden K. Konrads II.
kommen nur diese vor, ist von Principes in dieser Bedeutung
noch nie die Rede; vgl. Bresslau a. a. 0. 40. Der ausschliess
liche Gebrauch gerade nur des einen Ausdruckes, wie er dem
zwölften Jahrhunderte durchaus entspricht, müsste in Urkunden
aus den früheren Zeiten des eilften mindestens im höchsten
Grade auffallen, wenn ich ihn auch nicht als schlechtweg un
zulässig bezeichnen will.
Mehr Gewicht möchte ich darauf legen, dass der Aus
druck in Beziehungen gebraucht ist, w eiche erst dem Zustande
in späteren Zeiten des zwölften Jahrhunderts zu entsprechen
scheinen. In der Zeit K. Konrads II. und noch lange nachher
bezeichnen uns die Principes oft überhaupt keine scliarfabge-
grenzte Personenclasse; es sind die Grossen des Reichs in
unbestimmter Ausdehnung nach untenhin; zeigt sich eine be
stimmtere Grenze, so ist diese weit gezogen; mindestens die
Grafen werden noch den Pürsten zugezählt (vgl. Reichsfürsten
stand §. 33 ff.). In der Constitutio scheint mir da schon der
enger begrenzte Begriff des neuern Reichsfürstenstandes vor
zuliegen, wie er erst in den letzten Jahrzehnten des zwölften
Jahrhunderts bestimmter hervortritt. Zunächst werden Principes
und Milites so in Gegensatz gebracht, dass wir sichtlich
unter jenen die unmittelbaren Reichsvasallen, unter diesen die
Reichsaftervasallen zu verstehen haben. Gerade für den neuern
Fürstenstand aber ist die unmittelbare Belehnung durch den
König das vorzugsweise massgebende Moment, während sich,
von Sachsen etwa abgesehen, in keiner Weise ergiebt, dass
auf den früheren weitergreifenden Gebrauch des Aus
druckes Principes lehenrechtliche Momente von irgendwelchem
Einflüsse waren. Scheint mir der Ausdruck in dieser Ver
bindung zunächst dem neuern Fürstenstande zu entsprechen,
so will ich freilich nicht läugnen, dass kaum etwas im Wege
stand, ihn auch früher zur Bezeichnung der unmittelbaren
Reichsvasallen zu gebrauchen; die Stelle des Wippo, in welcher
auf die pnncipes die milites primi und gregarii folgen, scheint
sogar bestimmter für einen solchen Gebrauch zu sprechen, ob
wohl da auch andere Erklärungen nicht fehlen würden.
Zu beachten ist weiter, dass die Constitutio besonderes
G-ewicht auf die Zustimmung der Fürsten legt; sie wird erlassen
ex consensu derselben; die Bekräftigung erfolgt cunctis prin-
cipibus astipulcmtibus. Das Zustimmungsrecht der Fürsten ge
winnt erst seit K. Heinrich IV. in den Urkunden bestimmteren
Ausdruck. Handelt der König früher auf Einschreiten, Bitten
oder nacli Rath der Fürsten überhaupt, häufiger einzelner
Fürsten, so ist nur sehr vereinzelt von einem Consens der
Fürsten die Rede. Ausschlaggebend kann auch das freilich
nicht sein, da einzelne Beispiele früher nicht fehlen und bei
Bestimmungen, welche für die Fürsten von besonderem Interesse
waren, die nachdrücklichere Betonung ihrer Zustimmung nahe
liegen konnte.
Entscheidendes Gewicht möchte ich aber in dieser Richtung
auf die Bestimmung der Constitutio legen, dass die einzelnen
Principes die vier Hofbeamten mit sich führen sollen. Im drei
zehnten Jahrhunderte treffen wir sehr häufig auf die Anschauung,
dass die Fürsten, und nur diese, die vier Hofbeamten haben
sollen; es erscheint das als ein wesentliches Kennzeichen des
Fürstenstandes. In der Fortsetzung meiner Untersuchungen
über den Reichsfürstenstand werde ich nachweisen, dass sich
das insofern durchaus bewährt, als zwar auch Grafen und
andere Magnaten ein oder zwei, selten drei Hofämter besetzt
haben, dagegen nur bei Fürsten in der späteren Bedeutung
des Wortes die Vierzahl vorkommt. Wo nun diese in so be
stimmter Beziehung zum Fürstenstande erscheint, wie in der
Constitutio, in welcher nicht, wie das ihrem sonstigen Sprach-
gebrauche entsprechen würde, von den Hofbeamten der Domini
überhaupt, sondern von den vieren der Principes die Rede ist,
da kann es meiner Ansicht nach keinem Zweifel unterliegen,
dass nur der engerbegrenzte neuere Fürsten stand gemeint sein
kann, wie er erst unter K. Friedrich I. hervortritt.
Auf dieselbe Zeit scheint mir nun weiter zu deuten, dass
die Vasallen als solche bezeichnet sind, qui per hominium, sive
Liberi sive famuli, dominis suis adhaeserint. Eichhorn versteht
liier unter den Liberi die Grafen und Herren, unter famuli die
Bannerherren; eine Unterscheidung, für welche es nach dem,
lieber die EntstelinngsverlikltnisBe der Constitutio de expeditione Romana. 185
was uns sonst über die Standesverliältnisse jener Jahrhunderte
bekannt ist, an jedem genügenden Haltpunkte zu fehlen scheint.
Weist Walter, deutsche Rechtsgeschichte §. 250, das zurück,
so denkt er selbst an den Unterschied von Rittern und Knappen.
Aber auch das ist unzulässig. Die im dreizehnten Jahrhunderte
üblich werdende Scheidung der Ritterbürtigen in Milites und
Famuli ist der Urkundensprache des zwölften noch durchaus
fremd. Aber auch davon abgesehen, würde uns doch nichts
berechtigen, in diesem Sinne Liberi und Milites zu identiticiren,
da der Unterschied zwischen Rittern und Knappen ausser aller
Beziehung zu Freiheit und Unfreiheit steht, diesen Gegensatz
zuweilen so gründlich zurücktreten lässt, dass dienstmännische
Milites den Vorrang vor einem freien Herren, der nur Famulus
ist, behaupten (z. B. Wilmans Westfäl. Urk.-B. 3, 669),
Wo so, wie hier, die Vasallen in Liberi und Famuli geschieden
werden, weiter aber Liber einen Freien bezeichnen muss,
Famulus den Unfreien bezeichnen kann und wenigstens in
dieser Zeit durchwegs wirklich bezeichnet, da kann es sich
nur um den Unterschied freier und unfreier Vasallen handeln.
Die unfreien Vasallen können aber weiter nur zu den Mini
sterialen gehören, als der einzigen lehensfähigen Classe von
Unfreien. Wenn Eichhorn sich gegen die Auffassung der
Famuli als Ministerialen erklärt, weil von diesen später be
sonders die Rede sei und weil sie nicht wegen des Hominium
dienen, so würde das nur zutreffend sein, wenn es sich schon
hier um die Verpflichtung gegen ihren Dienstherrn handelte;
von dieser ist später die Rede und diese ist allerdings zunächst
nicht durch das Hominium begründet. Aber einem fremden
Herrn kann auch der Dienstmann durch das Hominium ver
pflichtet sein, kann Mannlehen von ihm haben, hat ihm davon
als Vasall nach Lehenrecht, nicht nach Dienstrecht zu dienen;
cs kommt weiter vor, dass er dem eigenen Herrn zunächst
nach Dienstrecht, ausserdem aber auch für Mannlehen ver
pflichtet ist. Wenigstens in den späteren Zeiten K. Friedrichs I.
hat dieses Verhältniss schon sehr weite Ausdehnung gewonnen;
es mag genügen, daran zu erinnern, dass das spätestens 1190
gefertigte Verzeichniss der Lehen des Reichsministerialen
Werner von Boland ausser dem Dienstherren, dem Reiche,
über vierzig Lehensherren desselben aufführt. Ist die Constitutio
186
Ficker.
in dieser Zeit entstanden, so kann es in keiner Weise auffallen,
wenn sie von freien und unfreien Vasallen spricht.
Dagegen wird nun von vornherein nicht zu bezweifeln
sein, dass es sich hei diesem Verhältnisse um das Ergebniss
einer späteren Entwicklung handeln muss; es setzt doch schon
eine gewisse Lockerung der strengen persönlichen Abhängig
keit des Dienstmannes vom Dienstherrn voraus. Ich habe es
nun bereits früher versucht, dieses Verhältniss möglichst weit
in den Urkunden zurückzuverfolgen (vgl. Heerschild 176 ff.);
das Ergebniss war, dass kein Haltpunkt über die Mitte des
zwölften Jahrhunderts zurückführte. Auch seitdem ist mir nur
ein einziges Zeugniss bekannt geworden, wonach ein solches
Verhältniss weiter zurückzureichen scheint. Friedrich von
Bitsch, Bruder des Herzogs von Lothringen, bekundet 1172,
dass einer seiner Ministerialen ihm ein Gut resignirt habe,
welches derselbe liiere ac cum omni iusticia iure feodi per
Uneam proavorum suorum besass (Schöpflin Alsatia dipl. 1, 259).
Die Ausdrücke scheinen bestimmt ein Mannlehen zu bezeichnen,
dessen Vererbung als solches durch das ganze Jahrhundert zu
rückreichen mag. Aber es ist ein Mannlehen vom eigenen
Herrn; ausnahmsweise Verleihungen heimgefallener Mannlehen
an eigene Ministerialen, statt an freie Vasallen, mögen die
allgemeine Lehensfähigkeit der Ministerialen zuerst angebahnt
haben. So lange es aber nicht gelingt, auch nur vereinzelte
Fälle mit Sicherheit über das zwölfte Jahrhundert zurückzu
verfolgen, so lange wird sich gewiss mit Fug behaupten lassen,
dass ein Schriftstück, welches schlechtweg von freien und un
freien Vasallen redet, in der Stellung der letzteren nichts
Unregelmässiges zu sehen scheint, nicht schon im eilften Jahr
hunderte, am wenigsten in früheren Zeiten desselben entstanden
sein kann, dass solche Redeweise selbst unter den nächsten Vor
gängern K. Friedrichs I. nur schwer zulässig erscheinen könnte.
Für die Entstehung im zwölften Jahrhunderte scheint mir
endlich der Gebrauch des Ausdrucks Ministerialen zu sprechen.
Es ist die Rede von den ecclesiarum filiis vel domesticis, id est
mihisterialibus. Wird der Ausdruck hier verwandt, um einen
anderen zu erläutern, sc ist gewiss anzunehmen, dass das in
einer Zeit geschah, wo er selbst eine ganz feststehende, all
gemein bekannte Bedeutung hatte. Im zwölften Jahrhunderte
Ueber die Entsteliungsverhältiiisse der Coustitutio de expeditioue Eomana.
187
war das der Fall; die Classe ritterlicher Unfreien, welche die
Constitutio im Auge hat, wurde im ganzen Reiche regelmässig
mit diesem Ausdrucke bezeichnet, neben dem andere gleich
bedeutende nur noch vereinzelt gebraucht wurden. Im eilften
Jahrhunderte war das noch nicht der Fall. Die Sache selbst
war allerdings auch da schon vorhanden; mochte sich die
spätere günstige Stellung der Dienstmannen noch nicht voll
ständig entwickelt haben, mochte die Grenze nach untenhin
noch nicht immer scharf gezogen sein, so linden wir doch
überall eine bevorzugte Classe von Unfreien erwähnt, welche
sich in den späteren Ministerialen fortsetzt. Aber dieser Aus
druck selbst ist noch keineswegs allgemein oder auch nur vor
wiegend für sie im Gebrauche. Ein allgemein gütiger Aus
druck ist überhaupt noch nicht gefunden, die Bezeichnungen
sind noch durchaus schwankend. Heissen sie am häufigsten
servientes oder servitores, familia, ministri, so kommen auch
andere Ausdrücke vor. In derselben Urkunde werden nicht
selten verschiedene gebraucht; im Weissenburger Dienstrecht
von 1029 heisst es neben clientes auch servitores; in Urkunden
von 1064 erscheinen die ministri von Einsiedeln und die servien
tes von St. Gallen als gleichgestellte Personenclassen; oder es
heisst 1098 zu Trier familiäres, qui archiepiscopales servientes
dicuntur (Böhmer Acta 59; Beyer Urk.-B. 1, 452). Und diese
Ausdrücke waren noch keine scharf bezeichnende, da sie auch
für andere Classen von Unfreien in Gebrauch waren; hatte
sich da nicht wenigstens an der einzelnen Kirche ein be
stimmter Sprachgebrauch bereits festgestellt oder schloss nicht
die besondere Art der Verwendung Missdeutung des Ausdruckes
aus, so musste noch ein Beiwort hinzukommen, welches den
Unterschied von den Unfreien schlechtweg hervorhob ; es heisst
etwa nobiles servientes, meliores de familia, honorabiles ministri
(vgl. Fürth Ministerialen 59).
Was den Ausdruck ministeriales betrifft, so bezeichnet
dieser wenigstens in Einzelfällen noch bis in das zwölfte Jahr
hundert hinein im Anschlüsse an den älteren Brauch etwas
ganz anderes, nämlich Beamte (vgl. Fürth 40). Daneben frei
lich auch schon in früheren Zeiten bevorzugte Unfreie. Ist in
kaiserlicher Urkunde von 975 für Fulda von den ministeriales
ecclesie, quibus iure debentur bona ecclesie pro defensione loci,
188
Ficker.
die Rede, so würde das freilich ganz der späteren Bedeutung
entsprechen; aber die Urkunde ist zweifellos interpolirt (vgl.
Stumpf Reichskanzler 1, 20), während in einer anderen Kaiser
urkunde für Fulda von 982 unter den Ministerialen Beamte
zu verstehen sein werden (Dronke Cod. Fühl. 335. 337). Um
bevorzugte Unfreie handelt es sich jedenfalls schon, wenn der
König 1005 bestimmt, dass die ministerielles fassalli eines an
Bamberg geschenkten Klosters denen des Bisthums gleichstehen
sollen (Wirtemb. Urk.-B. 1, 242). Vier an Fulda geschenkte
Truchsesse und Marschälle scheidet der Kaiser 1015 als seine
Ministerialen von andern Unfreien (Dronke 345). Als Unfreie,
bevorzugter, wenn auch nicht gerade ritterlicher Stellung er
scheinen die Ministerialen in Wirzburger Urkunde von 1036
(Mon. Boica 37, 21). Ganz in der späteren Weise gebraucht,
erscheint der Ausdruck in dem nicht vor 1057 aufgezeichneten
Bamberger Dienstrecht (Jaffe Bibi. 5, 51). Im Allgemeinen
ist in den früheren Zeiten des Jahrhunderts die Verwendung
des Ausdrucks in späterer Bedeutung eine so vereinzelte, dass
sie Bedenken gegen die Echtheit bezüglicher Urkunden erregen
muss (vgl. z. B. Wirtemb. Urk.-B. 1, 249). Der Ausdruck
kommt hier früher, dort später in Gebrauch, ist selbst zu Ende
des Jahrhunderts noch kaum als der allgemein übliche zu be
zeichnen. In der Reihe der Trierer Urkunden tinde icli den
Ausdruck zuerst 1084 (Beyer Urk.-B. 1, 438), während er
aber auch von da ab noch lange mit anderen wechselt. In
den zahlreichen Urkunden von Freising wird erst ] 120 der
früher übliche Ausdruck de familia durch ministerielles ersetzt
(Meiclielbeck Hist. Fris. 1, 531). Allerdings liesse sich geltend
machen, dass schon in der Beschwörung des Gottesfriedens
von 1085 (Mon. Germ. L. 2, 58) wiederholt von Ministerialen
die Rede ist, woraus man scliliessen sollte, dass der Ausdruck
damals schon im ganzen Reiche als der üblichste, als der die
Sache am genauesten bezeichnende betrachtet worden sei.
Dabei wird aber doch zu beachten sein, dass hier die Be
schlüsse einer Kölner Synode von 1083 wörtlich wiederholt
sind, uns also zunächst nur ein Zeugniss für den Kölner
Sprachgebrauch vorliegt; gerade zu Köln aber wird der Aus
druck ziendich früh, mindestens seit 1061 (Lacomblet Urk.-B. 1,
126. 137) gebraucht, allerdings auch hier noch längere Zeit
Ueber die Entstehungs verbal tnisse der Constitutio de expeditione Romana. 189
mit gleichbedeutenden wechselnd. Nach diesen Haltpunkten
dürfte sich doch behaupten lassen, dass ein Schriftstück, in
welchem der Ausdruck Ministeriales anderen als erläuternder,
also doch wohl allgemein üblichster zugefügt ist, schwerlich
vor dem zwölften, jedenfalls nicht in früheren Zeiten des eilften
Jahrhunderts entstanden sein kann.
Wir treffen demnach in der Constitutio mehrere Aus
drücke, welche wenigstens in der hier vorliegenden Bedeutung
und Verbindung dem Sprachgebrauche des eilften Jahrhunderts
noch fremd sind, welche, sollte sich das bezüglich des einen
oder anderen noch bestreiten lassen, wenigstens in ihrer Ge-
sammtheit mit genügender Sicherheit die Entstehung im
zwölften Jahrhunderte erweisen dürften, während einzelne auch
noch in den früheren Zeiten dieses unzulässig scheinen, be
stimmter auf die Regierung K. Friedrichs I. als früheste Ent
stehungszeit hinweisen. Damit erscheint diese denn über
haupt ziemlich eng begrenzt, da die Entstehungszeit der ältesten
Handschrift wahrscheinlich mit dem Ende dieser Regierung
zusammenfällt, dasselbe jedenfalls nicht weit überschreitet.
Muss nun damit wenigstens für denjenigen, der meinen
Gründen zustimmt, die Zeitfrage bezüglich des Stückes, wie
es jetzt vorliegt, als gelöst erscheinen, so wird andererseits auch
kaum zu verkennen sein, dass es Ausdrücke und Angaben
enthält, welche dom zwölften Jahrhunderte in keiner Weise
entsprechen, welche an und für sich auf’s bestimmteste auf
Entstehung im eilften Jahrhunderte hindcuten müssten.
Allerdings möchte ich auch hier nicht alle von den Ver-
theidigern der Entstehung unter K. Konrad II. oder doch im
eilften Jahrhunderte geltend gemachten Gründe als massge
bende anerkennen. Werden die Bestimmungen der Constitutio
an einen Streit der Herren und Mannen angeknüpft, wissen
wir anderweitig, dass gerade K. Konrad II. mehrfach regelnd
in solche Streitigkeiten eingriff, so könnte das allerdings die
Entstehung unter ihm wenigstens wahrscheinlich machen, so
bald anderweitig bereits festgestcllt wäre, dass es sich um
Satzungen aus den früheren Zeiten des eilften Jahrhunderts
handle; aber es ist das natürlich kein Grund, welcher an und
für sich die Entstehung unter irgendwelchem anderen Herrscher
ausschliessen würde.
Picker.
Süül»üsi
190
Beachtenswerther scheint der von Eichhorn vorzugsweise
betonte Grund, dass der Ausdruck Milites in der Constitutio
in einer Weise gebraucht sei, nämlich zur Bezeichnung der
Vasallen der Fürsten, welche den Verhältnissen des eilften
Jahrhunderts entspreche, im zwölften aber nicht mehr zulässig
erscheinen würde. Der Gebrauch des Ausdruckes Milites in
der Urkundensprache hat sich wirklich während zweier Jahr
hunderte in so überaus auffallender Weise verschoben, dass er
an und für sich besonders geeignet erscheinen kann, um bei
solchen Fragen als Haltpunkt zu dienen. Da wo der Aus
druck nicht etwa die Ritterwürde im Auge hat oder alle ritter
lichen Classen zusammenfasst, wird er im dreizehnten Jahr
hundert regelmässig gebraucht, um die niedrigste Classe der
ritterlichen Mannen zu bezeichnen, die Ritter schlechtweg,
welche keinem der bevorzugten ritterlichen Stände angehören.
So ist es sehr üblich, die Ministerialen als Milites von den
freien Vasallen, den Nobiles oder Liberi, zu scheiden. In
manchen Gegenden, wie ich an anderem Orte näher nachweisen
werde, wird der Ausdruck sogar regelmässig gebraucht, um
eine unter den Ministerialen der Fürsten stehende Classe zu
bezeichnen, nämlich die ritterlichen Eigennamen niederer
Herren. Gehen wir dagegen um zwei Jahrhunderte zurück,
so bezeichnet der Ausdruck regelmässig die höchststehende
Classe ritterlicher Mannen, die freien Vasallen; im eilften
Jahrhunderte wird Milites im Gegensätze zu Servientes oder
Ministri ganz ebenso gebraucht, wie im zwölften Jahrhunderte
Liberi oder Nobiles im Gegensätze zu Ministerielles. Konnte
eine so gründliche. Verschiebung des Sprachgebrauches nur
allmälig erfolgen, so weist schon das darauf hin, dass in dem
zwischenliegenden zwölften Jahrhunderte der Ausdruck Milites
kaum noch geeignet sein konnte, gerade die freien Vasallen
im Gegensätze zu den Ministerialen zu bezeichnen. Das
bestätigen die Urkunden; nur sehr vereinzelt reicht der
alte Sprachgebrauch in das zwölfte Jahrhundert hinein (vgl.
Heerschild 180).
Die Beweisführung Eichhorn’s würde demnach allerdings
als stichhaltig anzuerkennen sein, wenn der Ausdruck in der
Constitutio wirklich nur den freien Vasallen im Gegensätze
zum Ministerialen bezeichnen würde. Das aber möchte ich
Ueher die Entstolningsverhaltnisse der Constitutio de expeditione Romana. X91
wenigstens mit dei’ Bestimmtheit nicht zugeben, wie sie er
forderlich wäre, um massgebende Schlüsse darauf zu bauen.
Der Ausdruck kommt zweimal vor. Nach der ersten Stelle,
welche Eichhorn vorzugsweise betont, wurde die Constitutio
veranlasst durch einen Streit der principes cum militibus über
die Zahl der von den letzteren von ihren Benefizien zu stel
lenden Halsbergen. Da nun die folgenden Bestimmungen nicht
blos die Verpflichtungen der Vasallen, sondern auch der Mini
sterialen regeln, und zwar auf Grundlage ihrer Benefizien, so
liegt doch nichts näher, als die Annahme, dass hier absichtlich
der Ausdruck Milites gewählt wurde, um beide Classen zu
sammenzufassen. Der Ausdrucksweise des zwölften Jahrhunderts
würde das durchaus entsprechen. Nur das Hesse sich etwa
geltend machen, dass die Milites hier als solche erscheinen,
welche Halsbergen stellen, wie davon auch später bei den Va
sallen, nicht aber bei den Ministerialen die Rede ist, welchen
vielmehr Halsbergen von den Herren geliefert werden. Doch
würden sich auch da noch Erklärungen finden lassen, welche
trotzdem die Miteinbeziehung der Ministerialen unter den Aus
druck Milites zulässig erscheinen lassen würden; es wird nicht
nöthig sein, darauf weiter einzugehen. Bestimmter weist die
zweite Stelle auf das Vasallenverhältniss hin, da sic von dem
Falle redet, dass Milites mehrere Herren haben. Aber auch
das würde doch nur entscheidend sein, wenn hier nothwendig
an freie Vasallen, nicht an Vasallen überhaupt zu denken wäre;
denn, wie schon früher erörtert wurde, lässt sich im zwölften
Jahrhunderte nicht allein die Lebensfähigkeit der Ministerialen
überhaupt nachweisen, sondern auch die Constitutio selbst hat
ausdrücklich auf dieselbe Rücksicht genommen. Wenigstens ein
zwingender Beweis scheint mir hier nicht vorzuliegen; kann man
zugeben, dass die Wahl dieses Ausdruckes wohl zunächst an
das eilfte Jahrhundert denken lässt, so wird sich auch kaum
behaupten lassen, dass jene Stellen unmöglich im zwölften
Jahrhunderte zuerst so niedergeschrieben sein könnten.
Die beachtenswerthesten Gründe scheinen mir die von
Nitzsch beigebrachten, welcher für die Annahme der Ent
stehung in früheren Zeiten des eilften Jahrhunderts sich auf
die Angabe über die Bewaffnung und die Stellung der Mini
sterialen im Kriegswesen stützt. Und es scheint mir, dass sich
192
Ficker.
in dieser Richtung noch weitere Haltpunkte gewinnen lassen.
Handelt es sich da zum Theil um Verhältnisse, welchen ich
früher keine grössere Aufmerksamkeit zuwandte, auf welche
mich erst diese Untersuchung führte, so ist es möglich, dass
ich da in Einzelnem fehlgreife, aber doch kaum so weit, dass
die Beweisführung damit überhaupt ihr Gewicht verlieren würde.
So weit ich sehe, fällt, von Specialwaffen, wie etwa
Schützen, abgesehen, für die Heerfahrten des zwölften Jahr
hunderts nur noch der schwergewaffnete Reiter, der gepanzerte
Miles oder Loricatus ins Gewicht. Wie viel leichtgewaffnete
Diener dieser mit sich führte, war seine Sache, hatte für den
Herrn keine grössere Bedeutung, da die Zahl derselben für
die kriegerische Entscheidung nicht in Betracht kam. Schon
das Bamberger Dienstrecht um 1060 berücksichtigt nur die
Lorica, das Kölner Dienstrecht nur den Miles; seine Servi
werden allerdings beiläufig erwähnt; aber es ist keine Rede
davon, dass er sie in bestimmter Zahl zu stellen hat. Nach
dem Lehensvertrage der Herren von Dorstadt mit dem Bischöfe
von Hildesheim 1110 haben dieselben fünfzehn milites armati
zu stellen (Sudendorf Braunschw. Urk.-B. 2, 229). Der Her
zog von Zähringen verspricht 1152 dem Könige zum Zuge nach
Italien fünfhundert loricatos equites nebst fünfzig Schützen zu
stellen; der Kaiser 1176 denen von Cremona cum mitte mittti-
bus ultramontanis zu Hülfe zu kommen (Mon. Germ. L. 2, 91;
Böhmer Acta 127). Werden bei solchen und ähnlichen Ueber-
einkommen leichtbewaffnete Reiter gar nicht erwähnt, so scheint
sich doch zu ergeben, dass auf sie gar kein Gewicht mehr
gelegt wird.
Dem gegenüber muss es auffallen, dass die Constitutio
auch die Zahl der zu stellenden Scutarii fest bestimmt, beim
Vasallen zwei, beim Ministerialen einen auf die Brünne; und
wenigstens bei jenen wird das Stipendium nicht nur für die
Brünne, sondern auch für den Scutarius besonders bestimmt,
was doch anzudeuten scheint, dass derselbe nicht blos als
Diener des gepanzerten Ritters in Betracht kommt, eine selbst
ständigere Stellung einnimmt. Beides deutet darauf, dass der
ausser dem Schilde keine Schutzwaffe führende Leichtbewaffnete
noch für die kriegerische Entscheidung selbst von Bedeutung
war. Bereits Nitzsch, Ministerialität 41, hat nachgewiesen, dass
Ueber die Entsteliungsverhältnisse der Constitutio de expeditione Romana. 193
das deutsche Heer noch zu Anfang des eilften Jahrhunderts
keineswegs nur aus gepanzerten Streitern bestand. Einzelne
Ausdrücke der Urkunden lassen schliessen, dass wohl noch
später auch die blossen Schildträger ins Gewicht fielen. Der
Graf von Arlon verpflichtet sich 1052, dem Erzbischöfe von
Trier vierzig scutatos diesseits, zwanzig jenseits der Alpen zu
stellen (Beyer Urk.-B. 1, 393). Solche Ausdrücke wurden doch
zweifellos nicht ohne Absicht gewählt. So weit die Mannen
des Grafen schwerere Rüstung besassen oder vom Herrn er
hielten, erschienen sie natürlich in eigenem Interesse schwer
bewaffnet; aber wenn der Graf nur Leichtbewaffnete stellte,
so genügte er seiner Verpflichtung, und es müssen demnach doch
auch diese selbstständigen Werth für die Kriegführung gehabt
haben. Dasselbe ergibt sich, wenn um 1045 ein Edelherr mit
dem Abte von Hersfeld den Vertrag eingeht, ut ipsius abbatis
miles sit et quinque scutatos ad orientales partes in expeditionem
mittat, et Ins eciam abbas victus necessaria prebeat (Wenk
Hess. L. G. 3, 53). Ich möchte das nicht mit Nitzsch dahin
verstehen, dass der Miles mit fünf Schildträgern auszurücken
habe; der Edelherr soll Vasall des Abtes sein und genügt
meiner Ansicht nach seiner Verpflichtung, wenn er fünf Leicht
bewaffnete zur Heerfahrt stellt. Die Betonung des Scutarius
entspricht demnach durchaus den früheren Zeiten des eilften
Jahrhunderts, nicht aber den Zeiten K. Friedrichs I.
Zur Bezeichnung des Schwerbewaffneten dienen die
Brünne und die Halsberge. Ist zwischen beiden überhaupt
schärfer zu scheiden, so bezeichnet jene die ältere, diese die
neuaufkommende und kostbarere Schutzwaffe (vgl. v. Sacken,
Ambraser Samml. 1, 58 ff.). Heisst es in der Constitutio zuerst,
dass Streit über die Zahl der zu stellenden Halsbergen ent
standen sei, dann, dass der Vasall von zehn Mansen eine
Brünne und zwei Schildträger zu stellen habe, und weiter, dass
er für die Halsberge drei, für jeden Schildträger eine Mark
erhalte, so sind beide Ausdrücke sichtlich wesentlich .gleichbe
deutend für den Schwerbewaffneten überhaupt gebraucht. Da
mit wird vereinbar bleiben, dass man zwischen den Waffen
stücken selbst dennoch bestimmter schied. Der freie Vasall
hat für seine Ausrüstung auschliesslieh selbst zu sorgen; werden
ihm das seine Mittel durchwegs erlaubt haben, so wird er schon
Sitzungsber. <1. hist.-philos. Cl. LXXill. Bd. I. Heft. 13
194
Ficker,
im eigenen Interesse die vollständigere Rüstung angescliafft
haben; die Constitutio scheint vorauszusetzen, dass thatsächlich
die Vasallen durchweg in Halsbergen ausrücken, während es
dem Herrn auch genügen musste, wenn der eine oder andere
in der althergebrachten Brünne erschien. Lag es nicht in der
Absicht, dem Herrn ein ausdrückliches Recht darauf zuzu
sprechen, dass die Vasallen Halsbergen haben mussten, so hat
der Wechsel der Ausdrücke kaum etwas Auffallendes, auch
wenn man sich des Unterschiedes vollständig bewusst war.
Und das scheint sich aus den Angaben über die Ministerialen be
stimmt zu ergehen, auf welche Nitzsch in dieser Richtung auf
merksam macht. Der Ministerial hat eine Brünne zu stellen; die
Halsberge wird bei ihm nicht vorausgesetzt, sondern es heisst,
dass es vom Ermessen des Herren abhängt, ob er ihm etwa
eine solche verleihen will. Der Ministerial ist nicht mehr
blosser Scutatus; aber auf seine eigenen Mittel beschränkt, ist
er im allgemeinen auch noch nicht im Besitze des kostbareren
Waffenstückes; es erscheint nur wünschenswerth, dass auch er
damit ausgerüstet sei, und der Herr greift da mit seinen Vor-
räthen ein, so weit diese reichen.
Das deutet auf eine frühere Zeit, wo der Ministerial wohl
auf dem Wege war, ebenso schworgewaffnet, als der freie
Ritter in’s Feld zu rücken, das aber noch nicht erreicht hatte.
Den Verhältnissen des zwölften Jahrhunderts entspricht das
nicht mehr. Ein Unterschied zwischen leichterer und schwererer
Panzerung wird da, so weit ich sehe, nicht mehr gemacht; es
ist schlechtweg von der Lorica die Rede; wenigstens aus
nächstliegenden Hülfsmitteln weiss ich den Ausdruck Brunia
überhaupt nicht mehr nachzuweisen. Insbesondere scheint mir
auch nichts mehr darauf zu deuten, dass die Ministerialen
anders gerüstet ausrückten, als die Vasallen; zwischen freien
und unfreien Milites wird in dieser Richtung kein Unterschied
gemacht. Die Dienstrechte stellen denn auch keine besonderen
Forderungen bezüglich der Bewaffnung; der Ausdruck Miles
oder Loricatus genügt in dieser Richtung für alles, was zu
sagen ist.
Besonders beachtenswerth erscheint nun aber weiter die
Angabe der Constitutio, dass die Ministerialen fünf Pfund
Stipendium erhalten, et duo equi, unus currens alter ambulans,
Ueber die Entstelmngsverhältnisse der Constitutio de expeditione Romana. 195
addantur, ac duobus sociis soumarius victilibus bene on&ratus
committatur, qui ab ipsis ad opus dominorum diligenter custodia-
tur. Der Ministerial scheint hier noch weiter zurück zu sein,
als das selbst die Dienstrechte des eilftcn Jahrhunderts ergeben.
Er ist aus eigenen Mitteln nicht so schwer beritten, dass das
für eine Heerfahrt genügte; es muss da der Herr eingreifen.
Ein Pferd wird allerdings auch im Bamberger Dienstrechte
noch gestellt, das aber nur für seinen Diener bestimmt sein
mag, da im Weissenburger Dienstrechte bei der Fahrt über
Berg ausdrücklich nur von zwei Pferden für die beiden Diener
die Rede ist, bei anderen Fahrten nur von einem Pferde schlecht
weg, das darnach doch auch als Pferd des Dieners zu fassen
sein wird. Im Kölner Dienstrechte ist dann überhaupt von
Stellung von Pferden durch den Herrn nicht mehr die Rede.
Bezeichnender noch scheint mir die Bestimmung über das
Saumthier zu sein. Die beiden Socii sind sichtlich nicht Diener
eines Ministerialen, sondern je zwei Ministerialen wird ein be
packtes Saumthier anvertraut; würde mir das an und für sich
nicht zweifelhaft sein, so heisst cs überdies im Kölner Dienst
rechte ausdrücklich, dass duobus militibus ein Saumthier zu
stellen sei. Dieses aber ist nach der Constitutio nicht für sie
selbst bestimmt; es ist ab ipsis (wie gegenüber dem ad ipsis
der Mon. Germ, nach beiden Abdrücken der Mon. Boica zu
lesen ist) ad, opus dominorum zu bewachen. Da erscheint der
Ministerial, mag in der Schlacht seine Aufgabe auch schon eine
andere sein, doch auf dem Marsche noch wesentlich als Train
soldat, in voller Uebereinstimmung mit dem, was Nitzsch be
züglich des Zurückgehens des Ministerialen auf den Scararius
und Caballarius nachgewiesen hat. Davon tritt schon im
Weissenburger Dienstrechte nichts mehr hervor; hat der Herr
jedem Ministerialen ein mit allem Notlügen bepacktes Maul
thier zu stellen, so ist das hier sichtlich nur eine Vergünstigung
für den Dienstmann, dem überdies zwei Diener gestellt werden,
denen die Sorge für das Lastthier obliegt. Aehnlich ist auch
im Kölner Dienstrechte einfach davon die Rede, dass der Erz
bischof je zwei Rittern 'ein Saumthier mit Zubehör zu stellen
hat; auch hier findet sich nicht mehr die geringste Andeutung,
dass sie dasselbe nur im Interesse des Herrn zu überwachen
haben. Andererseits ist der engste Zusammenhang mit der
13*
196
Ficker.
Bestimmung' der Constitutio nicht zu verkennen; was hier noch
wesentlich als Verpflichtung des Mannes gegen den Herrn er
scheint, hat auf einer späteren Stufe der Entwicklung die Be
deutung einer Verpflichtung des Herren gegen den Mann
gewonnen.
Ist das Kölner Dienstrecht jedenfalls vor 1176 entstanden
(vgl. Nitzseh Ministerialität 16), so wird der Sprachgebrauch
die Annahme einer Entstehung schon im eilften Jahrhunderte
kaum gestatten. Dagegen liegt uns das Recht der Weissen-
burger Reichsdienstmannen in einer Aufzeichnung von 1029
vor. Die Echtheit der Urkunde ist insbesondere von Bresslau,
Kanzlei K. Konrad’s II. 129, in Zweifel gezogen. Dass sie
uns nicht durchaus in der ursprünglichen Form vorliegt, wird
zweifellos zuzugeben sein; sie ist uns in der 1125 entstandenen
Sammlung Udalrich’s von Bamberg erhalten, der auch sonst
die von ihm benutzten Stücke nicht immer mit voller Ge
nauigkeit wiedergibt (vgl. Jaffe Bibi. 5, 2). Will man weiter
gehen und annehmen, dass auch ihm schon eine Ueberarbeitung
der Urkunde Vorgelegen habe, so würde dieselbe doch späte
stens in den Beginn des zwölften Jahrhunderts gehören; deuten
Bestimmungen der Constitutio auf eine frühere Entwicklung,
so würden diese auch dann noch immer gegen Entstehung im
zwölften Jahrhunderte sprechen. Bestimmtere Haltpunkte aber
dafür, dass gerade die Bestimmungen über die Rechte der
Dienstmannen gefälscht seien, scheinen durchaus zu fehlen;
gegen die Zulässigkeit der Datirung an und für sich ist kein
Einwand zu erheben. Unter diesen Verhältnissen wird es doch
gerechtfertigt sein, zunächst daran festzuhalten, es sei uns hier
das Dienstrecht so überliefert, wie es 1029 gestaltet war.
Zeigt nun die Constitutio die Dienstmannen noch in einer
ungünstigeren Stellung, so muss das den Schluss nahe legen,
dass ihre bezüglichen Bestimmungen einer früheren Zeit an
gehören. In eine erheblich frühere Zeit würden wir freilich
keinesfalls zurückgreifen dürfen. Fangen die Romfahrten der
Deutschen im zehnten Jahrhunderte an, so musste einige Zeit
vergehen, ehe sich bezüglich derselben ein bestimmteres Her
kommen ausgebildet haben konnte, wie dasselbe doch auch in
der Constitutio vorausgesetzt wird, da die Mannen sich auf
ihr Recht berufen. Die äusserste Grenze dürfte da wohl der
Ueber die Entstehungeverhiiltnisse der Constitutio de expeditione Romana. 197
Römerzug K. Otto’s III. 996 bezeichnen, während gewiss Ent
stehung unter einem seiner Nachfolger von diesem Gesichts
punkte aus wahrscheinlicher sein muss, wie dafür insbesondere
auch der Gebrauch des Ausdruckes Feodum, wenn wir den
selben hier in Anschlag bringen dürfen, sprechen muss. Und
jenes Yerhältniss zum Weissenburger Dienstrechte scheint mir
auch die Annahme gleichzeitiger und selbst etwas späterer
Entstehung nicht gerade auszuschliessen. Die Entwicklung der
günstigeren Stellung der Ministerialen hielt keineswegs überall
gleichen Schritt. Erfahren wir aus dem um 1150 aufgezeichneten
Dienstrecht von Ahr (Lacomblet Urk.-B. 4, 774), dass bis
dahin die Dienstmannen noch verpflichtet waren, mit ihren
Pflügen die Aecker des Grafen bestellen zu lassen, so wird
das nicht für die Stellung der Ministerialen dieser Zeit im
Allgemeinen massgebend sein dürfen. Eher freilich werden
wir bei der Constitutio, die sich auf das ganze Reich bezieht,
anzunehmen haben, dass sie nicht gerade die noch am un
günstigsten gestellten Ministerialen im Auge hat; wir werden
da etwa Beachtung der Durchschnittsstellung erwarten dürfen.
Das schlicsst aber andererseits nicht aus, dass gerade die
Weissenburger Dienstmannen schon günstiger standen, als die
Durchschnittsstellung zu jener Zeit war. Darauf lässt von
vornherein schliessen, dass das hier aufgezcichnete Recht ein
von ihnen beim Uebergange an das Reich erbetenes war. Es
bestätigt sich das weiter dadurch, dass einzelne Bestimmungen
wesentlich günstiger sind, als die jüngerer Dienstrechte. Ins
besondere die bezüglich des Stipendium bei Zügen nach
Italien. Dieses beträgt hier zehn, oder mit Zurechnung dessen,
was die Diener erhalten, sogar zwölf Talente, unter denen wir
doch Pfunde zu verstehen haben. Bestimmt da die Constitutio
fünf Pfund, so könnte das an und für sich wieder auf früheren
Ursprung deuten. Aber noch im Kölner Dienstrechte finden
wir den wohl entsprechenden Satz von zehn Mark, und im
Bamberger Dienstrechte sogar nur drei Pfund. Weisen die
erörterten Verhältnisse die bezüglichen Bestimmungen der
Constitutio ziemlich sicher in die erste Hälfte des eilften Jahr
hunderts, so wird daraus eine Entstehung vor 1029 wenigstens
nicht nothwendig zu folgern sein.
198
Ficker.
Gegen Entstehung im zwölften Jahrhunderte müsste an
und für sich zweifellos auch sprechen die Art und Weise, wie
die Ministerialen bezeichnet werden. Es heisst: de ecclesiarum
filiis vei domesticis, id est ministerialibus, vel quorumcunque prin-
cipum clientela, qui cottidie ad serviendwm parati esse debent.
Allerdings haben wir gerade den Ausdruck Ministeriales für
die Entstehung im zwölften Jahrhunderte geltend gemacht.
Aber ein Schreiber des zwölften Jahrhunderts, der in seiner
Ausdrucksweise durch nichts gehemmt war, würde sich da
zweifellos mit dem Ausdrucke Ministerialen begnügt haben,
der ganz genau die Mannen 1 , sowohl der Kirchen, als der
Laienfürsten bezeichnete, von denen hier die Rede sein sollte.
Nehmen wir aber etwa an, der Ausdruck Ministerialen sei
erst später hinzugekommen, so erhalten wir eine Ausdrucks
weise , welche den Verhältnissen des eilften Jahrhunderts
durchaus entspricht, wo es für diese Personenclassc noch keinen
feststehenden Namen gab, wo sie noch wenig einheitlich ge
staltet war, wo es nahe liegen konnte, sie zur Unterscheidung
von den Vasallen als die immer zum Dienste Verpflichteten
zu bezeichnen. Findet sich der Ausdruck Domestici noch im
Kölner und Ahrer Dienstrechte, so erinnert der selten vor
kommende Ausdruck Clientela an die Clientes des Weissen-
burger Dienstrechtes.
Glaube ich nachgewiesen zu haben, dass das Stück, wie
es vorliegt, späteren Zeiten des zwölften Jahrhunderts ange
hören muss, dass andererseits manche Stellen an und für sich
bestimmt auf Abfassung im eilften Jahrhunderte deuten, so
sind wir damit unmittelbar auf die Annahme verwiesen, dass
hier ein älterer Text später überarbeitet ist, ohne doch überall
genügend den Verhältnissen der späteren Zeit angepasst zu
sein. Dafür finden sich denn auch sonst genügende Halt
punkte. Das bereits besprochene id est ministerialibus erklärt
sich dann leicht als Erläuterung des Ueberarbeiters. Heisst
es: ad curiam Gallorum, hoc est in campum, qui vulgo Rungalle
dicitur, so wird dasselbe Verhältnis gar nicht zu bezweifeln
sein; dem ungewöhnlichen Namen, den er vorfindet, setzt der
Ueberarbciter den gebräuchlichen zu; fühlte er sich da nicht
durch eine Vorlage gehemmt, so ist nicht abzusehen, wesshalb
er sich nicht auf Angabe des letzteren beschränkte. Schwer
Ueber die Entutehimgävei-bältnisse der Coustitutio de expeditione Romana. 199
erklärlich würde es mir auch sein, wie man bei der Annahme
ganz selbstständiger Fassung auf die Angabe: quando pro
corona nostra vel aliqua regni utilitate aut lionore Romana ex
peditio prae.parc.tur, gekommen sein sollte. Expeditio Romana
ist der feststehende Ausdruck für den Krönungszug nach
Rom; selbst dem Wortsinno nach könnte er doch nur eine
Heerfahrt bezeichnen, deren Ziel Rom war. Für die mehrfach
gcäusserte Behauptung, dass mit der Zeit jeder Zug nach
Italien so bezeichnet wurde, sehe ich mich vergeblich nach
einem Zeugnisse um, wenn von der Constitutio selbst abge
sehen wird. Allerdings ist in den urkundlichen Quellen sehr
häutig' von den Zügen nach Italien schlechtweg, von der Fahrt
über Berg, die Rede; dann finden wir aber auch allgemeinere
Ausdrücke, es heisst expeditio Italica, häufiger expeditio Irans
Alpes oder ultra montes. Wo aber ausdrücklich von der ex
peditio Romana die Rede ist, da ergibt sich auch, dass mau
nur den Krönungszug nach Rom im Auge hatte. In der Con
stitutio, wie sie vorliegt, ist das sichtlich nicht der Fall, da
sie ausdrücklich auch von anderen Heerfahrten spricht, für
welche doch der Ausdruck Expeditio Romana unangemessen
ist, wenn man nicht annehmen will, sie habe ausser den
Krönungszügen nur die seltenen sonstigen Züge berücksichtigen
wollen, bei welchen gerade Rom von vorneherein der Ziel
punkt war. Wenn die Constitutio nicht in nächstliegender und
allgemein üblicher Weise von der Fahrt über Berg redet, so
scheint mir das zweifellos daraus zu erklären zu sein, dass die
Vorlage wirklich nur die Romfahrt im engeren Sinne im Auge
hatte, dass der Ucberarbeiter die auch andere Züge einbe
ziehenden Worte einschob, trotzdem aber den Ausdruck Ex
peditio Romana aus der Vorlage boibehielt.
Es wird nicht nöthig sein, noch weitere Stellen aufzu
suchen, in welchen die Ueberarbeitung eines älteren Textes,
auf welche innere Gründe hinweisen, sich auch in den Aeusser-
lichkeiten der Fassung noch bemerklich macht; ein ganz
ausschlaggebender Haltpunkt wird ohnehin noch zur Sprache
kommen. Dann aber wird nach dem früher Erörterten auch
die Zeitfrage als wesentlich gelöst betrachtet werden müssen;
die ältere Vorlage wird den früheren Zeiten des eilften, die
200
Ficker.
Ueberarbeitung den späteren Zeiten des zwölften Jahrhunderts
angehören.
Ungelöst erscheint noch die Frage nach dem Charakter
der älteren Vorlage. Hatte der Ueberarbeiter ein echtes, etwa
von K. Konrad II. erlassenes Gesetz vor sich? Ist die jeden
falls gefälschte Beziehung auf Karl den Grossen erst sein
Werk oder gehörte sie schon der Vorlage an?
Für die Entscheidung dieser Frage wird vor allem der
Umstand zu beachten sein, dass die gesetzlichen Bestimmungen
der Constitutio durchweg in Reimen gefasst sind. Handelte es
sich um eine andere Zeit, so dürfte der Hinweis darauf genügen,
um die Annahme zu beseitigen, es könne die Vorlage eine
echte Königsurkunde gewesen sein. Fanden wir uns aber auf
eine Vorlage aus dem eilften Jahrhunderte hingewiesen, so ist
das nicht in gleicher Weise der Fall. Die Reimprosa, wie wir
sie in Geschichtswerken der Zeit, so in der Vita Mathiklis,
bei Wippo, in den Quedlinburger und Altaicher Annalen, finden,
ist auch in den Urkundenstil eingedrungen. Beispiele dafür
sind mir schon in den späteren Zeiten des zehnten Jahrhunderts
aufgefallen (z. B. Beyer Urk.-B. 1, n. 252. 258. 260), wie sie
sich andererseits auch in der ersten Hälfte des zwölften noch
nachweisen lassen (z. B. Lacomblet Urk.-B. 1, n. 314, 341;
Mon Boica 28 b, 95). Besonders häufig zeigt die Arenga Reime,
was freilich da, wo dieselbe nur aus zwei Satztheilen besteht,
als blosser Zufall erscheinen kann; heisst es aber etwa 989:
Cum praesens liaec vita transecet,, \ nihilque in sese certitudinis
Imbeat, | necesse est unusquisque pro posse bonis studeat, \ quibus
ad certitudinem perveniat | (Beyer Urk.-B. 1, n. 260), so ist
doch zweifellos der Reim absichtlich gesucht. Wie dann hier
der weitere Text keinen Reim mehr zeigt, so tritt dieser auch
sonst wohl nur in einem einzelnen Bestandtheile der Urkunde
auf. So in einem päbstlichcn Privileg von 1066 lediglich in
der Schlussformel: Si quis igitur huius nostri privilegii temere
violator extiterit, | et monitus canonice emendare contempserit, |
perpetui anathematis vinculis se innodandum noverit, \ nisi forte
resipiscens digne satisfecerit,; \ qui vero pia devotione observator
esse studuerit, \ precibus apostolorum principum Petri et Pauli
peccatorum suorum omnium ab omnipotenti deo consequatur
veniam, | et eterne beatitudinis mereatur gloriam (Lacomblet
Ueber die Entstehungsverhältnisse der Constitutio de expeditione Eomana. 201
Urk.-B. 1, n. 206J. Solche Stücke mögen aus Formularien
entnommen sein. Aber man sieht doch, wie auch bei den
Concipienten des besonderen Inhaltes der Urkunden die all
gemeine Freude der Zeit am Reime zum Durchbruch kommt.
Bald geschieht das nur ganz vereinzelt; es zeigen sich hie und
da einzelne Reimpaare, bei welchen die Grenze zwischen Ab
sicht und Zufall oft schwer zu ziehen ist. Häufig zeigen sich
aber ganze Reihen von Reimen, die dann freilich wohl wieder
durch lange Absätze unterbrochen werden, denen jeder Reim
fehlt (z. B. Lacomblet Urk.-B. 1, n. 341); am weitesten durch
geführt finde ich die Manier in Urkunde des Erzbischofs von
Trier von 1036 (Beyer Urk.-B. 1, n. 307), welche fast ihrem
ganzen Umfange nach gereimt erscheint.
Dieser Brauch hat nun vereinzelt auch in der Reichs
kanzlei Eingang gefunden. Auf eine bezügliche Urkunde
K. Heinrich’s III. von 1140 hat bereits Bresslau, Kanzlei
K. Konrad’s II. S. 35, aufmerksam gemacht. Noch weiter
durchgeführt ist das in einer Urkunde desselben Königs von
1045: Si locis deo dicatis quiddam beneficii iuxta peticiones dei
servorum ex nostrae liberalitatis munere conferimus, \ id nobis
profuturum liquido credimus, \ et ad mortalem vitam tempora-
liter transigendam \ et ad eternam feliciter obtinendam. | Weiter
ist die Narratio durchweg gereimt: — monuit, — petiit, —
anteriores, —- imperatores, ■—■ delegaverunt, — confirmaverunt,
— renovare, — confirmare, — consentientes, — decernentes. In
der Dispositio hat der Schreiber das dann im Allgemeinen nicht
mehr durchzuführen gewusst; doch zeigen auch da consistencia
und clementia, audeat und presumat, invenerat und adquesiverat,
dass er das Reimwort bevorzugt, wo er es leicht zu finden
weiss. Endlich aber ist insbesondere bei der Corroboratio des
Reimes willen ganz von den gebräuchlichen Formeln abge
sehen : Hoc et quiequid de prefate rebus ecclesie laudavimus,
nostri auctoritate scripti firmavimus; \ quod ut presenti et futuro
tempore verius credatur \ nostrisque successoribus diligentms cu-
stodiatur, \ id manu propria confirmavimus, \ nostrique impres-
sione sigilli signari iussimus \ (Beyer Urk.-B. 1, n. 322). Noch
bei einer anderen Urkunde desselben Jahres zeigt sich ausser
einer gereimten Arenga und einzelnen Reimen im Texte ein
solches Abweichen von den üblichen Schlussformeln des Reimes
202
Ficker,
willen: Haec omnia — regio decreto confirmamus, \ nee non
successoribus nostris mandamus, | ut et ipsi inconvulsi teneant | et
alios quidquam contrarietatis inferre molientes teuere cogant; \ et
— manu propria signavimus \ et sigilli nostri impressione in-
signiri iussimus; [ in einer die Vorlage wörtlich wiederholenden
Bestätigungsurkunde von 1067 linden sich denn auch alle Reime
wieder, nur dass am Schlüsse die üblichere Wortstellung iussi-
mus muniri wieder licrgestellt ist (Böhmer Acta 53; Stumpf
Acta 76). Einzelne Stellen in Reimprosa linden sich auch
sonst wohl in Königsurkunden dieser Zeit, z. B. Antick.
Estensi 1, 93; Remling Urk.-B. 1, 35. Dagegen ist, so weit
ich sehe, von Arengen und vereinzelten Reimpaaren, wie sie
sich auch mehr zufällig ergeben konnten, abgesehen, diese
Manier sowohl der Kanzlei K. Konrad’s II., als der K. Hein-
rich’s IV. fremd; erst 1101, gegen Ende der Regierung des
letzteren, ist mir wieder eine Urkunde aufgefallen, in welcher
die Reimprosa deutlich hervortritt (Stumpf Acta 89).
An und für sich sind demnach die Reime in der Con-
stitutio kein Beweis dagegen, dass sie Ueberarbeitung einer
echten königlichen Urkunde sein könne. Fanden wir Beispiele
für Reimprosa in Königsurkunden gerade im J. 1045, hat
weiter K. Heinrich III. gerade im folgenden Jahre seinen
Römerzug angetreten, so liegt gewiss nichts näher, als der
Gedanke, es handle sich um ein mit nächster Rücksicht auf
diesen erlassenes Gesetz. Und damit würde ja das, was sich
bezüglich der Zeitverhältnisse ergab, immerhin vereinbar sein.
Dennoch glaube ich, dass wir von der Annahme ganz absehen
müssen, dass eine Urkunde K. Heinrich’s III. oder eines an
deren Herrschers dieser Zeit zu Grunde liegen könne.
Zunächst ist nicht wohl abzusehen, was den Ueberarbeiter,
wenn ihm eine solche vorlag, veranlassen konnte, sie in eine
Urkunde Karl’s des Grossen umzuwandeln. Das deutet doch
au und für sich auf eine Vorlage, der die Form einer könig
lichen Urkunde, die Beziehung auf einen bestimmten Herrscher
fehlte. War das der Fall, so ist es allerdings erklärlich, wenn
der Ueberarbeiter gerade auf Karl verfiel, in dem man ja
überhaupt vorzugsweise den Gesetzgeber und den Begründer
des später geltenden Rechtes sah.
Ueber die Entatehungsverhältnisse der Constitutio de oxpeditione Komana. 203
Wenn wir nun aber auch annehmen wollen, der Ueber-
arbeiter habe irgendwelchen besonderen Grund gehabt, das
Gesetz eines späteren Königs auf Karl zu übertragen, so wäre
doch zu erwarten, dass er sich mit Aenderung des Namens
und der Zeitangaben begnügt hätte; es müssten dann im
übrigen die urkundlichen Formen dem eilften Jahrhunderte
entsprechen. Dass das nicht der Fall ist, wurde schon früher
bemerkt. In der vorliegenden Gestalt entsprechen sie der
Kanzlei keines Herrschers; so weit sie aber nicht überhaupt
auf Willkür beruhen, ergibt sich Benutzung karolingischer Ur
kunden. Das weist doch bestimmt darauf hin, dass der Vor
lage aus dom eilften Jahrhunderte die urkundliche Einkleidung
noch fehlte, dass diese überhaupt erst bei der Ueberarbeitung
hinzukam.
Ein anderer Umstand bestätigt das. Durch die gesummten
gesetzlichen Bestimmungen ziehen sich die Reime, von dem
preparetur, detur, indicetur u. s. w. der ersten, bis zum im-
pendant, concedant, perducant, suppleant der letzten; es ist kein
Zweifel, dass bei der Vorlage auf die Reime grosses Gewicht
gelegt wurde und wir dieselbe nur so weit reichend denken
dürfen, als sich die Reime nachweisen lassen. Lag eine Königs
urkunde vor, die sich überhaupt in Reimprosa bewegte, so
ergeben die angeführten Beispiele, dass man dann auch in den
Eingangs- und Schlussformeln den Reim anwandte, während
gerade die Dispositio ihn am wenigsten zeigt. Hier dagegen
würde nur diese entschieden gereimt sein. Denn auf den Reim
der Arenga: Si predecessorum nostrorum morem sequinmr, | non
solum presentibus, sed et succedentibus subvenire nitimur, \ wird
in dieser Richtung nicht das geringste Gewicht zu legen sein.
Heisst es, abgesehen von den zahllosen Arengen aus den ver
schiedensten Zeiten, welche, wie die obige, nur aus zwei mit
Reimworten schliessendon Satzthcilen bestehen, in Urkunden
K. Ludwig’s des Frommen: Si locis deo dicatis quiddam honoris
confenmus | et deo in eis famulantium pacis et tranquillitatis
curam gerimus | et ad Ministerium suum liberius exsequendum
opern ferimus, \ hoc nobis — profuturum esse confidimus, | oder:
Irnperialis excellentiae magnitudineni decet ßdeliter sibi devote-
que famulantes condignis muneribus midtiplicibusque liononbus
sublimare | atque excellentiori ceteris honore dignissime ditare I
204
Ficker.
immo regie munificentiae liberalitatis honorare ; | (Mon. Boica 28,
26. 33), so wird niemand läugnen, dass auch die Arenga der
Constitutio, die ohnehin zum Inhalte nicht passt, trotz ihres
Reims einer Karolingerurkunde entnommen sein kann; die an
geführten Beispiele beweisen genügend, wie leicht sich gerade
in der Arenga auch ungesuchte Reime bilden konnten, wenn
man nicht weitergehend annehmen will, schon die Karolinger
zeit habe sich wenigstens für diesen Theil der Urkunde in
absichtlich gesuchten Reimen gefallen.
Fanden wir in den bezüglichen Urkunden K. Heinrich’s III.
den Reim auch auf die Corroboratio ausgedehnt, so ergibt sich
davon hier keine Spur; sind fremdartige Zuthaten in dieselbe
aufgenommen, so ist dafür doch sichtlich nirgends das Streben
massgebend gewesen, einen Reim herzustellen. Dasselbe wird
aber auch von der Narratio gelten müssen, einem Theile der
Urkunde, in welchem wir nach Massgabe andei’er Fälle zu
schliessen, vorzugsweise Reime zu erwarten hätten, wenn solche
überhaupt erstrebt wurden. Aber trotz ihrer bedeutenden Aus
dehnung finden sich nur ganz vereinzelte Ausdrücke, bei deren
Wahl vielleicht die Rücksicht auf den Reim hätte massgebend
sein können. Es Hesse sich da etwa hinweisen auf consecra-
tione | coroneque perceptione. | Finden sich dann weiter die
Reimworte confirmare und exstirpare, so spricht ihre Verwendung
geradezu gegen die Absicht, dass Reime gesucht wurden; durch
die Wortstellung exstirpare decrevimus statt des nächstliegen den
decrevimus exstirpare ist der sich bietende Reim unbenutzt
geblieben. Endlich gehen contendere und ducere, daun im-
poneremus und concederemus am Schlüsse gewiss nicht über
das hinaus, was man bei einer Sprache, in welcher dieselben
Endungen so häufig wiederkehren, wie in der lateinischen, auf
Rechnung des Zufalls zu setzen berechtigt sein würde. Wir
werden mit Sicherheit sagen dürfen, dass die Narratio so, wie
sie vorliegt, nicht schon einer Vorlage angehört haben kann,
welche ein so auffallendes Streben nach dem Reim zeigt, wie
die Dispositio. Wollen wir aber in Anschlag bringen, dass es
sich um eine Ueberarbeitung handelt, so wird man sagen
müssen, dass die gex-eimte Vorlage, welcher die Hauptmasse
des Inhaltes der Dispositio so sichtlich entnommen sein muss,
Ueber die EntsteliungeVerhältnisse dev Constitutio de expeditione Roraana. 205
auf die jetzige Gestaltung der Narratio höchstens einen ganz
untergeordneten Einfluss ausgeübt haben kann.
Nach allem Gesagten kann keine Urkunde K. Eleiu-
rich’s III. oder eines anderen Herrschers des eilften Jahr
hunderts zu Grunde liegen. Der Vorlage muss die urkundliche
Einkleidung noch gefehlt haben, dieselbe wird durchaus auf
Rechnung des späteren Ueberarbeiters zu setzen sein.
Suchen wir uns nun die wahrscheinliche Gestaltung der
Vorlage bestimmter zu vergegenwärtigen, so möchte icli
wenigstens die Möglichkeit nicht bestreiten, dass der grösste
Theil der Dispositio in der noch jetzt vorliegenden Fassung
ungeändert aus der Vorlage entnommen sei, der Ueberarbeiter
da nur einige wenige, zum Theil schon erwähnte Zusätze ge
macht habe. Allerdings würde dann zuweilen der Reim ganz
fehlen; es würden die sich reimenden Satztheile von ganz
ungleicher Länge sein. Aber das findet sich auch in anderen
Denkmalen der Zeit, wo doch das Streben nach dem Reim
deutlich hervortritt; es gibt für die Reimprosa keinerlei be
stimmte Regel; das Gefallen am Reim macht sich da in ver
schiedenster Abstufung geltend. Bald nimmt man ihn nur
gelegentlich auf, wo er sich ohne alle Mühe darbietet; bald
sieht man, dass die Fassung wesentlich durch das Suchen nach
Reimen beeinflusst war, ohne dass das ausschliesst, dass man
an einzelnen Stellen, wo der Reim schwerer zu finden war,
ganz von ihm absah; oft finden sich von den zusammenge-
hörenden Reimwörtern die einen fast unmittelbar neben ein
ander, während ein anderes durch einen langgezogenen Satztheil
von ihnen getrennt erst später nachhinkt. Das noch so deutliche
Hervortreten des Reimes an einzelnen Stellen wird uns nicht
berechtigen dürfen, ihn als ursprünglich überall vorhanden
anzunehmen und da, wo er fehlt, an Uebcrarbeitung oder
Corruption zu denken; oder auch etwa da noch absichtliche
Reime anzunehmen, wo sicli in längeren Stellen etwa nur noch
ein blosses Zurückgreifen auf den Vocal der entsprechenden
Endsilbe und zwar ohne alle Rücksicht auf die Betonung er
geben würde, und auch das nur dann, wenn die Reime nicht,
wie das in der Reimprosa durchweg der Fall ist, nur am
Ende der Satztheile, sondern ganz unabhängig von der Glie
derung des Satzes gesucht werden. Ich denke, dass dieser
206
Ficker.
Gesichtspunkt insbesondere auch für die Beurtheilung eines
Rechtsdenkmales, dessen Vergleichung hier besonders nahe liegt,
wird massgebend sein müssen, des Auctor vetus de benefic-iis
nämlich. Liegt uns das Werk, wie doch wahrscheinlich ist, im
wesentlichen in seiner ursprünglichen Form vor, so wird schwer
lich mit dem letzten Herausgeber (vgl. Homeyer Sachsensp. II.
2, 13) anzunehmen sein, der Verfasser habe durchaus in Reimen
schreiben wollen; er scheint den Reim nur da verwandt zu
haben, wo er sich leicht darbot, und war insbesondere wohl
bestrebt, die einzelnen Abschnitte oder längeren Sätze mit
einem Reime zu schliessen. Mehr scheint sich nicht zu ergeben,
selbst wenn man berücksichtigt, dass vielfach auch in solchen
Werken jener Zeit, bei welchen der Reim sichtlich überall
erstrebt wurde, ein blosses Anklingen den vollen Reim ersetzt.
Der bezügliche Theil der Constitutio ergibt überwiegend
vollere und reinere Reime, und der blosse Umstand, dass der
Reim zuweilen fehlt und die Reimzeilen von sehr ungleicher
Länge sind, würde nach dem Gesagten die Annahme nicht
hindern, der Ueberarbeiter habe den ihm vorliegenden Text
im wesentlichen ungeändert belassen. Dann aber würde auch
die weitere Folgerung nicht abzuweisen sein, dass die Vorlage,
obwohl wir nachwiesen, dass sie keine königliche Urkunde
gewesen sein kann, dennoch bereits die Form einer Verkün T
digung gesetzlicher Bestimmungen durch den König selbst
gehabt haben müsse; in der uns vorliegenden Fassung ist es
überall der König, welcher spricht. Denkbar wäre das auch
bei einer nicht urkundlichen Vorlage allerdings; auch wenn
jemand nur das zu seiner Zeit thatsächlich geltende Recht
darstellen wollte, konnte er leicht darauf verfallen, dasselbe in
die Form einer königlichen Willensäusscrung einzukleiden; es
konnte dazu eine kurze Einleitung genügen, in der es etwa
hiess, der König schlechtweg oder auch König Karl habe be
züglich der Römerfahrt Folgendes bestimmt, an welche sieh
dann das Uebrige in directer Rede ankniipfen Hess. Anderer
seits ist nicht zu verkennen, dass die Annahme, es habe der
Vorlage zwar die urkundliche Einkleidung noch gefehlt, ihr
Text aber sei trotzdem so beschaffen gewesen, dass er sich
unmittelbar in die spätere urkundliche Fassung übernehmen
Hess, etwas Bedenkliches hat. Und wenn weiter die Reimprosa
lieber die Entstehnngs Verhältnisse der Öonstitutio de expeditione Romana. 207
im allgemeinen auch auf Gleichmässigkeit der Länge der
gereimten Satztheile kein Gewicht legt, so liebt sie es doch
sichtlich nicht, dieselben durch Einschiebung von Nebensätzen
zu unterbrechen, wie das hier bei der Annahme ungeänderter
Wiedergabe häufig der Fall sein würde. Zudem lassen sich
hier manche Stellen so leicht in ziemlich gleichmässige, selbst
einer gewissen rhytmischen Bewegung nicht entbehrende Reim-
zcilen auf lösen, dass es doch auffallen muss, wenn die Vor
lage an anderen auf jedes Ebenmass verzichtet haben sollte.
Kommt nun noch hinzu, dass wir bereits ganz unabhängig
von diesen Verhältnissen den uns vorliegenden Text als einen
überarbeiteten, insbesondere auch durch spätere Einschiebungen
erweiterten, nachwiesen, so muss doch der Gedanke sehr nahe
liegen, dass eine ursprünglich viel gleichmässiger gestaltete
Vorlage erst durch die Ueberarbeitung den Charakter gewonnen
hat, der uns auch bei der Annahme möglichst regelloser Reim
prosa Bedenken erregen muss. Wenn es etwa heisst: si ad
curiam Gallorum, (hoc ent in campum, qui vulgo Rungalle dici-
tur,) dominum suum non comitctur, \ et ibi cum militari appdratu
non representetur, | feodo (preter lws, qui cum gratia dominorum
suorum remanserint, in conspectu nostro) absque spe recupera-
tionis privetur, | so gibt von den vermutheten Zusätzen des
Ueberarbeiters der erste sich auch ohne alle Rücksichtnahme
auf die Gestaltung der Vorlage als solchen zu erkennen. Und
dann empfiehlt sich gewiss um so mehr die Annahme auch
des zweiten. Durch einfache Auslassung der bezüglichen
Worte ergeben sich gleichmässige Reimzeilen, während das
beseitigt wird, was wir oben als anstössig bezeichneten; ein
mal die Fassung als Willensäusserung des Königs; dann die
auch bei regelloserer Reimprosa nicht übliche Einschiebung
eines Relativsatzes.
Es ergibt sich nun wirklich, dass sich für längere Stellen
durch blosse Auslassungen, aber ohne Umstellung oder Aen-
derung auch nur eines einzigen Wortes, ein zusammen
hängender gereimter Text mit genügend gleichmässigen Reim
zeilen gewinnen lässt, bei welchem alle Beziehungen auf den
in erster Person redenden König ausgelassen werden konnten
ohne dass das irgendwie den Zusammenhang störte. So gleich
am Beginne der Bestimmungen :
208
Ficker.
quando — Romana expeditio — preparetur,
— annus cum sex ebdomcidibus pro induciis detur,
et taliter per totum regnum — indicetur ;
cuicumque — eadem expeditio imperetur,
si ad curiam Gallorum — dominum — non comitetur,
et ibi cum militari apparatu non representetur,
feodo — absque spe recuperationis privetur.
Oder in dem Abschnitte über die Ministerialen, wo dann
allerdings der uns vorliegende Text für eine nicht auszuschei
dende Zeile den Reim vermissen lässt:
ipsis — quinque libre — in Stipendium tribuantur,
et duo equi, unus currens, alter ambulans addantur,
ac duobus sociis soumarius — committatur,
qui — ad opus dominorum diligenter custodiatur;
— in dominorum tamdiu vivant procuratione,
quanuliu in incepta vadant expeditione;
et quicquid — pugnando acquisierint,
partes duas ad dominos deferant,
tertiam — pro consolatione retineant;
quos autem non pascunt domini,
— reportent terciam partem — acquisiti.
Auch an anderen Stellen genügen blosse Auslassungen,
hie und da leichte Aenderungen, um einen ähnlichen Text
herzustellen. Es ist dabei allerdings der Willkür ziemlich
freier Spielraum gelassen, es mögen Worte ausgelassen sein,
welche dem ursprünglichen Texte angehörten und umgekehrt.
Im Allgemeinen spricht aber doch die Wahrscheinlichkeit da
für, dass der so gewonnene Text von dem der Vorlage sich
kaum sehr weit entfernen dürfte, dass demnach in dieser aut
Durchführung des Reims und Gleichmässigkeit der gereimten
Satztheile doch mehr öewicht gelegt sein wird, als das bei
der mehr regellosen Reimprosa dieser Zeit der Fall zu sein
pflegte. Wogegen sich dann freilich auch wieder einzelne
Stollen finden, welche dafür sprechen könnten, dass der Ver
fasser auf die grössere Freiheit der Behandlung, welche die
Reimprosa gestattete, nicht verzichtete. In einer Zeit, deren
Literatur uns die mannigfachsten Uebergänge von einer den
Reim nur gelegentlich aufgreifenden Prosa bis zu Gedichten
lieber die Entstehungsverhältnisse der Cönstitutio de expeditione Romana. 209
zeigt, welche den Reim mit regelrecht gebauten Versen ver
binden, kann eine scharfe Grenze zwischen gebundener und
ungebundener Rede überhaupt kaum aufgestellt werden. Um
so schwerer wird sich bezüglich eines Textes, dessen ursprüng
liche Form durch spätere Ueberarbeitung vielfach verwischt
ist, mit einiger Sicherheit darüber urtheilen lassen, in wie
weit der Verfasser sich an eine bestimmte Regel binden wollte.
Aber auch dann, wenn wir es ganz dahingestellt lassen,
ob der Verfasser auf entsprechende Länge der Reimzeilen
grösseres Gewicht legte, muss die Leichtigkeit, mit der sich
die in der ersten der verkürzten Stellen besonders häufig vor
kommenden Beziehungen auf die erste Person ausAverfen lassen,
ohne dass der Zusammenhang des Textes irgend dadurch ge
stört wird, sehr dafür sprechen, dass der Vorlage die Form
einer königlichen Willensäusserung noch fremd Avar. Weiter
scheint auch die Stelle: nisi aliqiii (a nobis vel) a regno sini
inbeneficiati, bestimmter darauf hinzudeuten, dass es ursprüng
lich nicht der König ist, welcher spricht. Will man nicht
ctAva annehmen, es sei hier der Unterschied z\A 7 ischen könig
lichen Lehen aus Hausgut und Reichsgut beachtet, Avas doch
unwahrscheinlich ist, so deutet die überflüssige Bezeichnung
ein und derselben Sache durch zwei verschiedene Ausdrücke
darauf hin, dass einer von diesen später zugefügt wurde.
Dann aber ist zweifellos das a regno das ursprüngliche. Fand
der Ueberarbeiter das a nobis vor, so hatte er keinerlei Grund,
ein vel a regno hinzuzufügen; wohl aber umgekehrt für die
Hinzufügung des a nobis, da er fühlen mochte, dass das blosse
a regno in eine Königsurkunde kaum passe.
Ueberall freilich ist in dieser Richtung mit blossen Aus
lassungen nicht auszureichen. Heisst es: hi si nobiscum va-
dant, | nolumus, ut feodurn amittant, \ so ist die Bestimmung
selbst Avegen des Reims zAveifcllos auf die Vorlage zurückzu
führen. Aber solchen Stellen gegenüber wird] doch zu beachten
sein, dass nach unserer Annahme der Ueberarbeiter die Auf
gabe hatte, die ihm vorliegende Aufzeichnung in die Form
einer königlichen Willensäusserung zu bringen; dass, Avenn er
das anscheinend vorwiegend durch blosse Einschiebung bezüg
licher Ausdrücke zu erreichen suchte, uns nichts zu der An
nahme nöthigt, dass er ausschliesslich diesen AVeg einschlug;
Sitzungsber. der pliil.-liißt. CI. LXXIII. Bd. I. Hft. 14
210
Ficker.
dass es in keiner Weise auffallen kann, wenn er seinen Zweck
an anderen Stellen durch leichte Aenderungen der Vorlage zu
erreichen suchte. So mag es an jener Stelle ursprünglich
etwa geheissen haben: lii si cum rege vadant, \ feodum non
amittant. \
Gegen unsere Annahme könnten nur solche Fälle ent
scheidend sein, in welchen die Rücksicht auf den Reim für
einen Ausdruck der ersten Person ergäbe, dass er schon der
Vorlage angehört haben müsse. Kein Gewicht wird in dieser
Richtung auf das imponeremus und concederemus am Ende der
Narratio zu legen sein. Denn abgesehen davon, dass es über
haupt zweifelhaft sein kann, ob die Vorlage auch auf die
Narratio eingewirkt hat, wird ein Reimpaar erster Person da
nichts erweisen müssen; beide Ausdrücke können vom Ueber-
arbeiter herrühren und sich der Reim zufällig ergeben haben.
Ausschlaggebend würden nur Fälle sein können, in welchen
von zwei oder mehreren Reimworten nur das eine sich auf
die erste Person beziehen würde. Wollten wir dieses auch in
solchen Fällen der Vorlage absprechen, so würden wir auf die
ganz unwahrscheinliche Annahme geführt, der Ueberarbeiter
habe seinen Zwecken gemäss eines der Reimworte durch einen
anderen Ausdruck ersetzt und es habe sich dabei zufällig der
selbe Reim wiederhergestellt; denn Absicht des Ueberai’beiters
wäre da schwerlich anzunehmen, da seiner Aufgabe an und für
sich das Verwischen der Reime näher gelegen hätte.
Nur an einer einzigen Stelle bietet sich Veranlassung, an
das Vorhandensein eines solchen Verhältnisses zu denken: Ut
autem nostrum Imperium | ab' Omnibus liabeat supplementum, \ hoc
constituimus et firmiter precipimus, | ut singuli buringi decem
cum XII. funibus | de canapo solidos dominis suis impendant,
et insuper soumarium cum capistro concedant. | Das nostrum
würde sich immerhin beseitigen lassen; und wollten wir auf
das Reimen von constituimus und precipimus überhaupt Gewicht
legen, so würde davon das vorhin Gesagte zu gelten haben.
Dagegen scheint nun die Annahme, es sei das Reimen von
precipimus und funibus ein beabsichtigtes und demnach preci
pimus für ursprünglich zu halten, eine sehr gewichtige Stütze
zu erhalten durch die sonderbare, das zusammengehörige decem
solidos trennende Stellung des funibus. Es liegt doch am
lieber die Entstelmngsverhältnisse der Constitntio de expeditione Römana. 211
nächsten anzunehmen, dass es diese dem Umstande verdankt,
dass man es als Reimwort benutzen wollte, und demnach auch
das Wort, auf welches es reimt, schon in der Vorlage vor
handen sein musste.
So sehr mich dieses Zusammentreffen anfangs in meiner
Ansicht irre machte, so scheint mir doch auch hier die An
nahme eines anderen Sachverhaltes nicht bloss zulässig, sondern
bei Berücksichtigung aller Umstände berechtigter zu sein. Die
Annahme, dass bei funibus ein Reim beabsichtigt war, wird an
und für sich dadurch bedenklich, dass das der einzige Fall
sein würde, in welchen der Reim nicht mit dem Ende eines
Satztheiles zusammenfallen und diesen überdies so zerschneiden
würde, dass die nächstzusammengehörenden Ausdrücke getrennt
wären. Dann aber tritt in dem ganzen Stücke sichtlich das
Streben hervor, nicht blos einzelne Reimpaare, sondern mög
lichst lange Reihen von Reimen zu bilden. Finden sich nun
in dem nächstvorhergehenden Satze die Ausgänge valeant,
possideant, persolvant, hier aber impendant, concedant, perdu-
cant, suppleant, so liegt doch der Gedanke sehr nahe, dass
diese ursprünglich eine zusammenhängende Reihe bildeten.
Nehmen wir an, der an und für sich Bedenken unterliegende
Reim von Imperium und supplementum habe sich zufällig ge
bildet, der ganze Eingang des Satzes sei vom Ueberarbeiter
nur zugefügt, um wieder einmal daran zu erinnern, dass es
sich um Befehl des Königs handelt, von dem lange vorher
nicht mehr die Rede war, so ergibt sich jener Zusammenhang
ganz ungezwungen. Durch blosse Auslassungen, eine leichte
Aenderung der ersten Zeile und eine schon durch frühere ent
sprechende Stellen nahegelegte Einschiebung in der dritten,
lässt sich dann auch hier ein Text gewinnen, der wesentlich
den früheren Beispielen entspricht:
Isti vero si, ut remaneant,
apud dominos impetrare valeant,
quot mansos (in beneficio) possideant,
tot libras — pro stipendio persolvant.
— Burinqi decem — solidos dominis — impendant,
et insuper soumarium cum capistro concedant,
quem — ad primam navalem aquam usque perducant.
14*
212
Ficker.
Eine genügende Erklärung, wesshalb der Ueberarbeiter
auf die Zufügung der Hanfstricke Werth gelegt haben sollte,
oder wesshalb sie, falls sie bei Annahme geringerer Gleicli-
mässigkeit der Zeilen schon der Vorlage angehören sollten,
gerade zu dieser Stellung gelangt sein sollten, ist mir freilich
nicht zur Hand. Wie denn auch bei dem nachfolgenden, mit
suppleant schliessenden und demnach zweifellos zu jener Reihe
gehörenden ungewöhnlich langen Satztheile alle Versuche, ihn
durch näherliegende Aenderungen den anderen gleichmässiger
zu gestalten oder in mehrere aufzulösen, auf Schwierigkeiten
stossen. Die Vorlage mag vielfach unregelmässiger gestaltet
gewesen sein, als das nach jenen Herstellungsversuchen, bei
welchen allerdings der Willkür grosser Spielraum bleibt, zu
erwarten wäre. Daran aber glaube ich festhalten zu dürfen,
dass der Vorlage die Form einer königlichen Willensäusserung
noch fremd war. Ist das von vornherein gewiss das Wahr
scheinlichere, so scheint die Einzeluntersuchung das genügend
zu bestätigen.
Damit entfällt denn auch jede Veranlassung, hier einen
bestimmten Herrscher ins Auge zu fassen. Ist es aus anderen
Gründen nicht unwahrscheinlich, dass die Vorlage in die Zeiten
K. Konrad’s II. gehört, so wird doch dem dafür geltend ge
machten Grunde, dass gerade Konrad bemüht war, die Ver
hältnisse zwischen Herren und Vasallen gesetzlich zu regeln,
kein Gewicht mehr beizulegen sein. In ähnlicher Weise, wie
der Auctor vetus das geltende Lehenrecht darstellt, wird der
Verfasser der Vorlage sich die Aufgabe gestellt haben, anzu
geben, was nach dem geltenden Rechte seiner Zeit beim Römer
zuge den Herren von den verschiedenen Classen ihrer Unter
gebenen geleistet werden solle. Es ist möglich, ohne dass sich
dafür freilich bestimmtere Haltpunkte ergäben, dass es sich
bei der Vorlage um eine umfassendere Darstellung geltenden
Rechtes handelte, aus welcher der Ueberarbeiter dann nur das
Stück berücksichtigte, welches für seinen nächsten Zweck in
Betracht kam.
Haben wir es so versucht, uns die Gestalt der Vorlage
bestimmter zu vergegenwärtigen, so muss es naheliegen, darauf
hin nun die früher ganz unabhängig davon gewonnenen Er
gebnisse bezüglich ihrer Stichhaltigkeit nochmals zu prüfen.
Uebcr die Eiitstehmigsverliältiiisse der Constitutio de expeditione Romana. 213
Dass es sich zunächst überhaupt um Ueberarbeitung einer
älteren Vorlage handelt, kann natürlich nach den weiteren
Haltpunkten, welche die Beachtung der Reime bietet, keinem
Zweifel mehr unterliegen. Nahmen wir nach anderen Halt
punkten Entstehung der Vorlage im eilften Jahrhunderte an,
so stimmt damit, dass das die Zeit war, in welcher überhaupt
die Reimprosa die ausgedehnteste Anwendung fand; und ohne
die Bedenken zu verkennen, welche solcher Annahme im Wege
stehen, dürfte doch vielleicht zu erwägen sein, oh nicht der
selbe Umstand in Verbindung mit der auffallenden Vermeidung
des Ausdruckes Feodum auch heim Auctor vetus für eine
frühere Entstehungszeit oder doch für Ueberarbeitung einer
älteren Vorlage sprechen muss.
Weiter ergibt sich, dass gerade bei solchen Angaben, auf
welche wir die Annahme einer älteren Vorlage vorzugsweise
stützten, die Beachtung des Reims für die Ursprünglichkeit
spricht. Legten wir besonderes Gewicht auf die Verpflichtung
der Ministerialen, die Saumthiere für die Herren zu bewachen,
und auf den Umstand, dass sie vom Herrn beritten zu machen
sind, so fallen diese Angaben in den früher versuchsweise
wiederhergestellten Text der Vorlage; es ist das eine der
Stellen, wo eine irgend erhebliche Aenderung derselben am
unwahrscheinlichsten sein muss. Heisst es weiter, dass es im
Belieben der Herrn liege, quos ducant, | a quibus stipendia acci-
piant, | quibus etiam balspergas concedant, | so ist nicht zu be
zweifeln, dass auch von dem früher betonten Verleihen der
Halsbergen durch den Herrn schon in der gereimten Vorlage
die Rede war. Wäre auch bei der weitschweifigen Bezeichnung
der Ministerialen, welche auf eine frühere Zeit hinweist, zu
erwarten, dass sich nach Ausscheidung dessen, was später
zugefügt sein dürfte, die Reimzeilen wiederherstellen würden,
so ist das allerdings nicht der Fall. Aber nach Massgabe
unserer früheren Ergebnisse, nach welchen das statuimus und
die dadurch bedingte Fassung der Vorlage fremd gewesen sein
müssen, ist die Stelle zweifellos eine der stärker überarbeiteten,
so dass sich der Reim verwischt haben wird.
Grösseres Gewicht ist darauf zu legen, dass sich um
gekehrt ergibt, wie alles, was bestimmter auf das zwölfte
Jahrhundert zu deuten schien oder aus anderen Gründen als
214
Ficker.
eingeschoben bezeichnet wurde, ausfallen kann, ohne den Reim
zu stören. So die erklärende Bezeichnung der Dienstmannen
als Ministei’ialen; so die die Lebensfähigkeit derselben voraus
setzenden Worte sive liberi sive famuli. Ebenso die Worte,
welche den Begriff des Römerzuges ausser dem Krönungszuge
auch auf andere Züge ausdehnen; wollen wir ausser dem Reim
auch eine gewisse Gleiclimässigkeit in der Länge der Reim
zeilen annehmen, so würde das noch bestimmter gegen die
Ursprünglichkeit jener Worte sprechen. Ich betonte weiter
insbesondere den häufigen und ausschliesslichen Gebrauch des
Ausdruckes Principes. Da fällt nun die Mehrzahl der Er
wähnungen in die Narratio und Corroboratio, also in Theile
der Urkunde, auf welche die gereimte Vorlage überhaupt keinen
oder doch nur ganz untergeordneten Einfluss genommen hat.
Nur zwei treffen die Dispositio. Bei dem vel quorumcumque
(principum) clientela kann das Wort ausfallen, ohne den Reim
oder den Zusammenhang zu stören; doch würde auch der
Annahme seiner Ursprünglichkeit nichts im Wege stehen, da
ja auch für das eilfte Jahrhundert nicht der Ausdruck über
haupt, sondern nur die ausschliessliche Verwendung beanstandet
wurde. Dann die ihm an einzelnen Stellen unterzulegende
besondere Bedeutung; und das traf insbesondere die zweite
Erwähnung in der Dispositio, wo die Vierzahl der Hofbeamten
in bestimmte Beziehung zum Fürstenstande gebracht wird.
Nun ist aber gerade der ganze Abschnitt über die Hofbeamten
der einzige, bei welchem es überhaupt zweifelhaft sein könnte,
ob die Vorlage auf ihn eingewirkt hat, da der Reim hier ganz
zurücktritt. Allerdings glaube ich nicht, dass die ganze Stelle
vom Ueberarbeiter eingeschoben ist. Die ganz ungewöhnliche
Form ofßcinarius schliesst sich eng anderen ungewöhnlichen
Ausdrücken gleicher Endung an, welche aus der Vorlage ent
nommen sein müssen. Schliessen zwei Satztheile mit laboraturi
und honorandi, so mag die ursprüngliche Fassung statt des
letzteren honoraturi ermöglicht haben. Die Ausdrücke tribu-
antur und addatur werden in einer früheren Stelle, wo der
Reim sie als ursprünglich erweist, genau in derselben Weise
verwandt. Endlich scheint wenigstens am Schlüsse das Streben
nach dem Reime zum Ausdrucke zu gelangen. Demnach
möchte ich nicht bezweifeln, dass schon die Vorlage eine
Ueber die Entstelmngsverliältnisse der Constitutio de expeditione Romana. 215
entsprechende Stelle enthalten hat. Diese muss aber stärker
geändert sein, als irgend eine andere; und zwar vermuthlich
aus sachlichem Grunde, da das Streben, die Vorlage in die
Form von königlichen Verfügungen zu bringen, hier für die
Aenderung nicht massgebend gewesen sein kann. Unsere An
nahme, dass die enge Verbindung, in der hier die Fürsten und
die Vierzahl der Hofbeamten erscheinen, erst den späteren
Zeiten des zwölften Jahrhunderts entspricht, erhält damit er
wünschte Unterstützung. Die bestimmteren Haltpunkte, welche
die Beachtung des Reimes bietet, erregen demnach nirgends
ein Bedenken gegen die Stichhaltigkeit der früher bezüglich
der Zeitfrage gewonnenen Ergebnisse.
Für einen Versuch, den Entstehungsort der Vorlage ge
nauer zu bestimmen, kann wohl nur der Sprachgebrauch An
haltspunkte bieten. Für diesen wird vor allem die Entscheidung
der Frage ins Gewicht fallen müssen, oh der Gebrauch des
Ausdruckes feodum neben beneficium schon auf die Vorlage
zurückzuführen ist. In der Stelle: quod mansos possideant, | tot
libras (sucie monetae vel toturn fructum feodi in Mo anno) pro
stipendio persolvant, \ dürfte er wahrscheinlich erst der Ueber-
arbeitung angehören. In der früheren Stelle aber: — reprae-
sentetur, | feodo — privetur, | weiter: — cognoscant, \ vel —
feodum amittant, | und: — vadant, \ nolumus, ut feodum
amittant, | sind die bezüglichen Zeitwörter gewiss ursprünglich
und demnach auch das sachlich nothwendig zu ihnen ge
hörende feodum; wir müssten sonst annehmen, der Ueber-
arbeiter habe es statt des ursprünglichen beneficium gesetzt,
was ganz unwahrscheinlich sein muss, da dieser Ausdruck an
anderen Stellen von ihm belassen oder zuerst gebraucht ist.
Wusste ich nun die neuere Bezeichnung in der ersten Hälfte
des eilften Jahrhunderts nur vereinzelt und zwar ausschliesslich
links vom Rheine nachzuweisen, so muss das sehr bestimmt
auf Entstehung der Vorlage in den lothringischen Reichs-
theilen deuten.
Andere Ausdrücke unterstützen diese Annahme, indem
sie entweder Lothringen eigenthümlicb zu sein scheinen oder
einen näheren Anschluss an den französischen, auch für feodum
massgebenden Sprachgebrauch ergeben, wie er hier natürlich
eher, als in anderen Reichsländern zu erwarten ist. Nur wird
216
Ficker.
da freilich schwer dafür einzustehen sein, dass sie nicht auch
rechts vom Rheine im Gebrauch waren, wenn man solche
Ausdrücke, wie das bei feodum allerdings der Fall war, nicht
schon länger im Auge hatte. Unter diesem Vorbehalte wird
sich für Lothringen zunächst geltend machen lassen die Be
zeichnung der Ministerialen als domestici, die sich auch im
Kölner und Ahrer Dienstrechte findet, während mir der Aus
druck in dieser Bedeutung sonst nicht aufgefallen ist. Die
Constitutio bietet weiter eine Reihe ungewöhnlicher Wortformen.
Für einzelne derselben, wie officinarius, bunngus, absarius
scheint überhaupt kein anderer Beleg bekannt zu sein (vgl.
Ducange-Henschel Glossarium). Aber auch bei diesen dürfte
doch beachtenswerth sein, dass die gewisse Personenclassen
bezeichnenden Ausdrücke in der Constitutio durchwegs mit
— arins enden. Eine Reihe der gebräuchlicheren Ausdrücke
dieser Endung findet sich freilich in den Urkunden aller
deutschen Länder, wie etwa das auch hier vorkommende man-
sionarius. Aber nach nächstliegenden Hülfsmitteln scheint die
Endung doch links vom Rheine besonders gebräuchlich ge
wesen zu sein; sie findet sich insbesondere angewandt bei
solchen Wertformen, welche, wie etwa balcarias, fascicularius,
sadunarius, scararius (vgl. Beyer Urk.-B. Wortregister), Loth
ringen überhaupt eigenthümlich gewesen zu sein scheinen, oder
welche es mit dem französischen Sprachgebrauche theilt. Für
einzelne dieser Ausdrücke lassen sich dann wohl noch be
stimmtere Haltpunkte gewinnen. In deutschen Urkunden ist
mir neben scutifer und scutatus die Form scutarius nicht auf
gefallen, während sie in Frankreich sehr gebräuchlich ist.
Was den absarius betrifft, so kommt das zu Grunde liegende
mansus absus auch in anderen deutschen Ländern vor (vgl.
Maurer Fronhöfe 1, 345); aber für die Anwendung des Aus
druckes auf Personen scheinen die absi homines und abse
femine im Güterverzeichnisse der lothringischen Abtei Prüm
(Beyer Urk.-B. 1, 170) den einzigen Beleg zu bilden. Be
stimmter scheint weiter der bunuarius auf Lothringen zu deuten;
ist der Ausdruck zur Bezeichnung von Personen sonst kaum
üblich, so findet sich bonnarium für ein Grundstück bestimmter
Grösse häufig in Frankreich, aber auch in Lothringen (vgl.
Ducange Gloss.); zu Trier findet sich 853 die genau über-
lieber die Entstehnngeverhiiltnifiso der Constitntio de expeditione Romana. 217
einstimmende Form bunuarium (Beyer Urk.-B. 1, 90); dagegen
scheint der Ausdruck rechts vom Rheine nie in Gebrauch
gewesen zu sein. Neben dem Sprachgebrauche Hesse sich für
den lothringischen Ursprung vielleicht noch geltend machen
manche sachliche Uebereinstimmung gerade mit dem Kölner
Dienstrechte, die jedenfalls grösser ist, als bei irgend einem
der uns sonst bekannten Dienstrechte; doch zeigen sich da
neben auch manche Abweichungen, so dass ich ein irgend
ausschlaggebendes Moment darin nicht erkennen möchte. Es
war weiter die Reimprosa so allgemein üblich, dass der Um
stand, dass sie im Urkundenstil sich wohl nirgends so häufig
findet, als in Lothringen, nur dann beachtenswertli sein würde,
wenn wir schon in der Vorlage eine Urkunde zu sehen hätten,
was wohl zweifellos nicht zulässig ist.
Für den Entstehungsort der Ueberarbeitung wird der der
Vorlage nicht massgebend sein müssen. Andererseits wurde
bereits erörtert, dass die Fertigung der ältesten uns bekannten
Handschrift im Kloster Chiemsee keinen Beweis dafür gibt,
dass die Ueberarbeitung gerade dort oder überhaupt in Baiern
entstanden sei. In dieser Richtung scheint mir nur ein Umstand
einen nicht gerade ausschlaggebenden, aber doch beachtens-
werthen Halt zu geben. Die Recognition kann wohl nur einer
echten Urkunde K. Karl’s des Dicken vom J. 878 oder 879
entnommen sein. Der Fälscher wird demnach an einem Orte
zu vermuthen sein, wo ihm eine solche zur Hand war, also
an einem Orte, der in jenen Jahren der Herrschaft Karl’s
unterstand. Dieser aber war damals weder Herrscher in Baiern,
noch in Lothringen, sondern nur in Allemannien. Wollen wir
nicht den Zufall annehmen, dass eine Urkunde Karl’s oder eine
Abschrift derselben an einen Ort gekommen war, wo sie ur
sprünglich nicht hingchörte und auch später kaum Interesse
haben konnte, so sind wir damit auf Entstehung in Schwaben
oder Eisass hingewiesen, wo zugleich die Verarbeitung einer
lothringischen Vorlage weniger auffallend sein würde, als in Baiern.
Für ein Urtheil über den etwaigen Zweck der Fälschung
werden uns nur solche Angaben massgebend sein können,
218
Ficker.
welche sich sicher oder wahrscheinlich als Zusätze des lieber-
arbeiters ergeben. Im Allgemeinen gewinnt man da den
Eindruck, dass derselbe sachlich kaum viel geändert haben
wird; die Verpflichtungen der Herren und Mannen dürften
wesentlich in der Vorlage ebenso bestimmt gewesen sein. Am
zweifelhaftesten möchte das bei der Bestimmung über die
günstigere Stellung der Hof beamten sein, welche auch sonst
in älteren Dienstrechten nicht betont wird; der Abschnitt
scheint, wie schon bemerkt wurde, am stärksten geändert zu
sein, obwohl dazu gerade hier die Umformung der Vorlage in
eine königliche Willensäusserung den Anlass nicht geboten
haben kanu. Es wäre möglich, dass bei der Fälschung ein
Privatinteresse in dieser Richtung sich geltend machte. Be-
achtenswerth wäre weiter die wohl zweifellos dem Ueberarbeiter
angehörende Stelle, wonach die Verpflichtung sich nicht allein
auf den Krönungszug, sondern auch auf andere Züge nach
Italien bezieht. Es scheint mir das, worauf ich an anderem
Orte zurückkommen werde, ein Punkt zu sein, der gerade zur
Zeit K. Friedrich’s I. streitig gewesen sein dürfte. Hatte das
Einfluss auf die Fälschung, so muss dieselbe deshalb nicht
gerade im unmittelbaren Interesse des Kaisers erfolgt sein; es
handelt sich dabei nicht blos um die Verpflichtung der Fürsten
gegen den Kaiser; der Fürst konnte willig sein, aber seine
Mannen mochten bestreiten, dass er das Recht habe, sie auch
zu anderen Zügen nach Italien aufzubieten. Uebrigens möchte
ich mit einiger Sicherheit kaum behaupten, dass der eine oder
der andere der betonten Umstände für die Fälschung mass
gebend gewesen sein müsse. Wenigstens die Möglichkeit
scheint mir nicht ausgeschlossen, dass der Ueberarbeiter über
haupt keine bestimmten praktischen Zwecke im Auge hatte,
dass er unbefangen die ihm vorliegende Aufzeichnung mit
einigen Zuthaten in eine andere Form brachte; wobei es dann
in keiner Weise auffallen könnte, dass er gerade auf die
Form eines Gesetzes Karl’s des Grossen verfiel, den man ja so
allgemein als den Begründer des thatsächlich geltenden Rechtes
betrachtete.
Ueber die EntBtehungsTerbältniöse der Coustitutio de expeditione Romana. 219
Fassen wir alles Gesagte zusammen, so dürfte sich als
Ergebniss etwa festhalten lassen: Der Constitutio de expedi
tione Romana liegt eine gereimte Vorlage zu Grunde, welche
höchst wahrscheinlich noch nicht die Form einer königlichen
Willensäusserung über das, was fortan Rechtens sein solle,
hatte, sondern das thatsächlich geltende Recht verzeichnete.
Sie wird in Lothringen in der ersten Hälfte des eilften Jahr
hunderts entstanden sein. Scheinen einzelne Umstände darauf
zu deuten, dass sie älter sei, als das Weissenburger Dienst
recht vom J. 1029, so würden dieselben doch auch bei der
Annahme gleichzeitiger oder selbst etwas späterer Entstehung
ihre Erklärung finden. Mit dem Nachweise, dass der Con
stitutio überhaupt keine königliche Urkunde zu Grunde liegt,
verlieren die Haltpunkte ihr Gewicht, welche bisher dafür
geltend gemacht wurden, dass sie Ueberarbeitung eines Ge
setzes K. Konrad’s II. sei. Handelt es sich aber nur um eine
ungefähre Bestimmung der Zeit, so mag der Hinweis gerade
auf die Regierung K. Konrad’s II. sich auch fortan insoweit
rechtfertigen, als die Vorlage jedenfalls nicht viel früher oder
später entstanden sein wird.
Diese Vorlage wurde dann zur Zeit K. Friedrich’s I.,
vermuthlich in Schwaben oder Eisass überarbeitet und in die
Form eines Gesetzes Karl’s des Grossen gebracht. Für die
urkundliche Einkleidung wurde dabei eine oder die andere Karo
lingerurkunde benutzt, aber in sehr oberflächlicher Weise und
mit willkürlichen Aenderungen. Die erzählende Einleitung
mag Werk des Ueberarbeiters sein. Bei den gesetzlichen
Bestimmungen wird er sich durchweg an die Angaben der
Vorlage gehalten haben, welche vielfach sogar in ungeän-
derter Fassung beibehalten sein müssen; der Ueberarbeiter
scheint sich meistens auf sachlich bedeutungslose Erweiterungen,
erklärende Einschiebungen, und Aenderungen, wie sie die
von ihm gewählte Form erforderte, beschränkt zu haben, ohne
auch nur entschieden antiquirte Angaben zu beseitigen, so
dass das Schriftstück auch in der uns vorliegenden Gestalt
in erster Reihe als Zeugniss für die Zustände des eilften Jahr-
220 Ficker. Heber die Entstelmngsverliiiltuisse der Couslitutio de expeditione Eomana.
Hunderts zu betrachten sein wird. Sind einzelne Stellen, welche
nur der Ueberarbeitung anzugehören scheinen, nicht ohne sach
liche Bedeutung, so ist es möglich, dass in ihnen die Veran
lassung zur fälschenden Ueberarbeitung zu suchen ist; aber
mit Sicherheit wird sich kaum behaupten lassen, dass die
Fälschung überhaupt durch ein sachliches Interesse veran
lasst wurde.
C o n z e. Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
221
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
Von
A. C o n z e.
II.
Ich sehe mich veranlasst, noch ein Mal auf das Thema
eines Aufsatzes zurückzukommen, welcher im Februarhefte
dieser Sitzungsberichte vom Jahre 1870 (S. 505 ff.) gedruckt
wurde. In demselben war schärfer als bisher, trotz der richtigen
Blicke Burgon’s und Semper’s und der Ordner der Vasensamm
lungen im brittischen Museum, zu Leyden und zu Kopenhagen,
meistens geschah, eine Klasse von bemalten griechischen Thon-
gefässen nachgewiesen und charakterisirt, deren einzelne Exem
plare ich besonders in den Vasensammlungen des brittischen
Museums, des Museums der Alterthümer zu Leyden, des Louvre
und der Porzellanmanufactur zu Sbvres, auch in der Antiken
sammlung zu Kopenhagen und in Würzburg hatte ausfindig
machen können. Auf eine grosse Anzahl von Gelassen ver
wandter Art, welche, aus kyprischen Ausgrabungen hervor
gegangen, in verschiedene Sammlungen übergegangen sind,
deren Zahl sich noch stets vermehrt, wurde als auf besonderer
Behandlung bedürftige, verwandte Stücke wenigstens hin
gewiesen. Die Resultate meiner mehrjährigen Sammlungen,
Vergleichungen und Ueberlegungen liefen auf Zweierlei hinaus,
einmal, dass die in ihren constanten Eigentümlichkeiten sich
zu einer besonderen Classe absondernden Vasen der Art nacli
älter als die bisher meistens an den ersten Anfang griechischer
Keramik gesetzten, sogenannten orientalisirenden Vasen seien,
und zweitens, dass diese nunmehr für uns älteste Classe von
222
C o n z e.
Vasen in ihrer eigenthümlichen Ornamentik, um es jetzt ein
mal, nicht ohne Absicht, etwas allgemein, aber doch kurz so
zu nennen, alteuropäisch seien. Zur Erläuterung dieses zweiten
Punktes kann man auch sagen, dass etwa dieselbe Bedeutung,
welche für das Verständniss der sogenannten orientalisirenden
griechischen Vasen und damit einer ganzen Epoche der grie
chischen Kunst anerkanntermassen assyrische und denen ver
wandte vorderasiatische Bildwerke haben, für das Verständniss
dieser noch älteren Vasen und damit wiederum einer ganzen
Epoche der griechischen Cultur und Kunst, beispielsweise die
dänischen Fundstücke aus der sogenannten jüngeren Bronze
zeit und alle diesen verwandte Kunstarbeiten beanspruchen
müssen. Hat sich nun längst unzweifelhaft ergeben, dass in
den sogenannten orientalisirenden Vasen uns Hauptbelege für
den auch sonst freilich genugsam festgestellten, eine Zeit lang
überwältigend starken Einfluss vorderasiatischer Weise auf
griechische Kunst vorliegen, so stellte sich mir in der Orna
mentik der noch älteren Burgonschen Vasen ein Ausfluss der
Kunstweise dar, über welche die Völker von ganz Europa nie
hinausgekommen sind, bevor sie durch Einwirkung vom mittel
ländischen Meere aus nach und nach auf eine neue Culturstufe
gebracht und mit einer neuen Welt von Kunstformen beschenkt
wurden, ein geschichtlicher Process, der erst mit der Roma-
nisirung und Christianisirung der Hauptsache nach zum Ab
schlüsse kam. Ich musste in der Ornamentik der besprochenen
Vasenclasse eine sehr bestimmt beschränkte, aber auch in
sehr bestimmter Weise durchgebildete Formensprache, einen
Kunststil sehen, dessen - die Einwohner Griechenlands mächtig
waren, ehe sie in ihrer Cultur und Kunst in diejenige Abhängig
keit von Vorderasien geriethen, mit deren Nachweise die grie
chische Kunstgeschichte in unserm Jahrhundert einen so grossen
Fortschritt gemacht hat, zugleich aber auch den Kunststil, den
die Griechen von ihrer Einwanderung her mit ihren indoger
manischen Verwandten in Europa theilten, den sie wenigstens
in grossen Hauptzügen fixirt bei ihrer Einwanderung in die
Balkanhalbinsel und in ihre übrigen Sitze am Mittelmeere be
reits mitbrachten. Dass eine vorherrschende Formeigenthüm-
liclikeit dieses Stils, die lineare, gradlinige und eckige Zeich
nung, auf Ursprung aus der Technik der Weberei und der
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
223
verwandten Künste des Stickens, Flechtens zurückgehen (Sem
per), dass, wie ich als etwas ebenfalls Wichtiges hätte hinzu-
fügen sollen, die auffallend dazwischen gemischten kreisrunden
Formen ebenso bestimmt ihren Ursprung aus der Metallarbeit 1
herleiten lassen, das stimmt beides sehr gut damit überein, dass
die eine wie die andere Kunstübung, Weberei und alle ver
wandte Hantirung wie Metallarbeit, als den indogermanischen
Völkern gemeinsam von der Sprachwissenschaft erwiesen ist.
Diese in der angeführten Abhandlung vom Februar 1870
einigermassen weiter ausgeführten, aber bei Weitem nicht bis
zum Abschlüsse gebrachten Sätze haben inzwischen ihre Schick
sale gehabt und ich bin denselben begreiflicherweise mit dem
Bewusstsein der Verantwortlichkeit gefolgt. Es darf das jetzt
nicht ferner stillschweigend geschehen. Wenn ich mich mancher
Zustimmung 2 zu erfreuen hatte, so hat es auch an Widerspruch
nicht gefehlt; wichtiger aber als Beides ist ein grosser, in
zwischen erlangter Zuwachs an Material, welches zur neuen
Prüfung auffordert, zur Zurücknahme oder zur Weiterführung
aufgestellter Behauptungen nöthigen kann. Eine Weiterführung
der Untersuchung, nämlich die Ausdehnung derselben auf ita
lischen Boden, hatte ich ganz besonders in der ersten Abhand
lung als möglich angezeigt. Nach dieser Seite einen kleinen
Schritt wenigstens weiter zu thun, ist es jetzt nach drei Jahren
wohl an der Zeit, wenn anders die mir gemachten Einwürfe,
das neugewonnene Material und inzwischen besonders auf
einigen Reisen erweiterte eigene Beobachtung mir erlauben,
auf dem eingeschlagenen Wege vorsichtig weiterzugehen. Hier
mit ist die Aufgabe dieser zweiten Abhandlung bezeichnet.
1 In der getriebenen Metallarbeit, und das ist die älteste Weise, ist das
einfachste Formelement, welches aus dem technischen Verfahren hervor
gellt, welches erst Darstellungsmittel ist, dann Ornament wird, der runde
herausgetriebene Buckel, grösser, kleiner, in Reihen gestellt u. s. w. Auch
die Niete zur Verbindung der einzelnen Metallbleche führen die Kreisform
ein. Auch dieses ist zumal nach Sempers Vorgänge nichts Neues mein'.
2 Brunn, Probleme in der Geschichte der Vasenmalerei. Abh. der K. bayer.
Ak. d. W. 1871, S. 106 f. Bursian im literar. Centralblatt 1871, S. 591 f.
Eugen Petersen krit. Bemerkungen zur ältesten Gesell, der griech. Kunst.
Programm des Gymnasiums zu Ploen 1871, S. 1. Lützow in den Mit
theilungen des k. k. österr. Museums für Kunst und Industrie VII, 1S72,
S. 214.
224
C o n 7. e.
Den ersten Widerspruch erfuhr meine Arbeit in England,
von Seiten zweier Kritiker, Churchill Babington und Sidney
Colvin. 1 Alle Freundlichkeit, mit der sie sich mir gegenüber
aussprechen, der meine volle Sympathie für meinen wieder
holten Arbeitsplatz in England und für englische Fachgenossen
entspricht, ändert Nichts daran, dass sie meinen Versuch, in
die Geschichte der Anfänge griechischer Kunst weiter einzu
dringen, für gänzlich verfehlt halten. Im Ganzen hege ich die
Hoffnung, dass die beiden Kritiker hiervon bei mehr reiflicher
Ueberlegung etwas zurückkommen können. So finden sie gleich
den Titel ,Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst' zu
umfassend, da meine Abhandlung doch nur eine Monographie
über eine besondere Eintheilung ältestgriechischer Vasen sei;
die soeben wiederholten Hauptsätze meiner Abhandlung zeigen
aber, wie, wenn ich recht sehe, damit eine ganze Periode für
unsere Erkenntniss der Geschichte der griechischen Kunst ge
wonnen wird und dafür dürfte der Titel also nicht zu um
fassend sein. Die Kritik ist vielleicht etwas zu eilig geschrieben.
Daraus würde sich auch erklären, dass mir in derselben einige
Einwürfe gemacht werden, denen in meiner Arbeit schon aus
drücklich oder stillschweigend begegnet war. Ich erfahre in
der Kritik, dass der Mäander, welcher in der Ornamentik der
fraglichen Vasenklasse und in der nordeuropäischen Ornamen
tik vorkommt, auch bei Japanesen, Peruvianern vorkomme,
dass eine andere Einzelform, ähnlich wie auf meinen Vasen,
auch auf einer in Jerusalem gefundenen Scherbe vorkomme,
dass eine dritte Einzelform wie auf den griechischen Vasen
der, wie die Kritiker zuzugeben scheinen, allerältesten Classe,
so auch auf den entschieden orientalisirenden griechischen
Vasen vorkomme — deshalb sei also eine specielle IJeber-
einstimmung gerade mit nordischem Ornamentstile nicht vor
handen und andrerseits keine Verschiedenheit von vorderasiati
scher Weise. Diesem Einwande ist ausdrücklich auf Seite 526 f.
(22 f. des Einzelabdrucks) meiner Abhandlung bereits begegnet.
,Nicht das willkürliche Spiel mit Gleichheit und Aehnlich-
keit einzelner ureinfacher Formen, die sich überall wiederfinden/
heisst es da, wollte ich treiben. Wer kommt denn darauf zu
In der Zeitschrift The Academy 1871, S. 170 f.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
225
sagen, die griechische und lateinische Sprache seien deshalb
verwandt, weil in beiden der A- und der O-Laut, weil in beiden
so und so viele einzelne gleichklingende Wörter sich wieder
holen? Auf diesem Wege wäre ja Alles zusammenzubringen.
Erst Uebereinstimmung mehl' im Ganzen, Uebereinstimmung
nicht nur einzelner Formen, sondern ganzer Formenreihen, der
Formenbehandlung, z. B. Uebereinstimmung der Zahlwörter,
der Declination u. s. w. erlauben den Schluss, auf die engere Zu
sammengehörigkeit, auf gemeinsame Abstammung zweier Spra
chen. Dem entsprechend betonte ich, dass das ,Gesammtsystem
der verzierenden Bildnerei, sozusagen ihre Syntaxis, ihr ganzes
Gerüst mit einer eigenthümliclien Art der Fügung, innerhalb
derselben erst beachtenswert!) dieselben Einzelformen und na
mentlich auch dieselbe Ausschliessung bestimmter Formen/
charakterisirend für Zusammenhang und Verschiedenheit sei,
bei jenen griechischen Gefässen also für Zusammenhang nach
Alteuropa, Verschiedenheit nach Vorderasien hin. Dass ein
Dreieck auf jenen griechischen Vasen und einer altpalästinischen
Scherbe sich ähnlich wiederholt, bedeutet schon an sich Nichts,
verschwindet aber vollends als Argument der Zusammengehörig
keit gegenüber dem einen Scheidungsmale der auf vorder
asiatischen Werken dominirenden, auf jenen griechischen Tlion-
gefässen wie in der ganzen alteuropäischen Ornamentik völlig
fehlenden stilisirten Pflanzenform.
Als ein anderes Merkmal der Scheidung zwischen der
neuen Vasenclasse und den orientalisirenden, weiter gegriffen
zwischen der alteuropäischen und der vorderasiatischen Kunst
weise hatte ich in dem Vorherrschen einerseits und Fehlen
andrerseits gewisser Thiergestalten gesehen. In Vorderasien
und auf denjenigen griechischen Vasen, welche von dort her
ihr System der Decoration tragen, herrschen Löwen und Tiger,
seit lange her zu festen Schemata ausgebildet, 1 vor, auf der
von mir neuerlich behandelten Classe von Vasen fehlen diese
Tliiere gänzlich, wie auch in der übrigen alteuropäischen Kunst;
ich fand das begreiflich, weil sie im Norden nicht wie in Vorder-
1 Conze, Reise auf den Inseln des thrakischen Meeres, 8. 9, Anm. 3. Die
Löwen von Mykenai mögen, lim als Scbreckbilder zu wirken, in der
That doch eine Ausnahme bilden, wie die Löwen auf dem Sarkophage aus
Kameiros im brittischen Museum (Arch. Zeit. 1864, Anzeiger S. 162 *).
Sitzuugsber. d. pliil.-liist. CI. LXXII1 Bd. 1. Hft. 15
226
C o n z e
asien bekannt sein konnten. Dagegen bemerken Babington
und Colvin Zweierlei, erstens sei der Löwe ja in Griechenland
voi’gekommen, worauf zu erwidern ist, dass nach meiner An
nahme dieser deshalb von mir als indogermanisch bezeichnete
Stil auch nicht in Griechenland sich bildete, sondern bei der
Einwanderung der hellenischen Stämme mitgebracht wurde,
zweitens, dass Löwen in den griechischen Sagen vorkämen,
was erst nach Untersuchung des Alters und der Herkunft dieser
mythischen Thiere als Argument gebraucht werden könnte,
ferner dass Löwen dargestellt seien am Thore von Mykenai und
auf altgriechischen Münzen, auf Münzen, deren Prägung be
kanntlich erst von Kleinasien aus sich verbreitete, in Mykenai,
das man stets als einen der Hauptzielpunkte vorderasiatischen
Einflusses angesehen hat. Da, auf Münzen und in Mykenai
freilich können doch Löwenbilder auch nach meiner Auffassung
ihres Vorkommens und Nichtvorkoramens nicht auffallen, so
wenig wie die Rolle dieses Thieres, um noch einmal den Mythos
zu berühren, in der mit vorderasiatischen Bestandtheilen stark
versetzten Heraklessage.
Hiermit habe ich die von Babington und Colvin gegen
mich beigebrachten Gründe bereits alle genannt und verhält-
nissmässig vielleicht zu umständlich beleuchtet. Ihnen gegen
über bin ich genöthigt, besonders die Verschiedenheit der vom
griechischen Standpunkte aus etwa pelasgisch zu benennenden
Vasen und der orientalisirenden, den Mangel jeder Spur von
Einfluss vorderasiatischer Kunst bei diesen allerältesten grie
chischen Vasen festzuhalten.
Anderer Widerspruch gegen diesen Theil meiner Abhand
lung ist mir nicht bekannt geworden, vielmehr, wie gesagt,
mehrfach ausdrückliche Zustimmung.
Hatte ich aber nach dieser Seite hin eine Trennung vor
genommen, so wurde ich andrerseits zur Vergleichung mit
nordeuropäischen Fundstücken und durch die Vergleichung zur
Behauptung des Zusammenhangs zwischen der ältestgriechischen
Vasenornamentik und der alteuropäischen, namentlich im höchsten
Norden lange unvermiseht bewahrten Verzierungsweise geführt.
Diesen Zusammenhang konnte ich mir aber historisch nicht so
denken, wie den Zusammenhang z. B. frühromanischer Formen
etwa im Rheinlande und spätrömischer in Italien, wo der Stil
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
227
vom Süden nacli dem Norden seinen Weg gemacht hatte, viel
mehr vermochte ich die Erscheinung der nordischen Formen
auf ältestgriechischen Gefässen nur so mir zu erklären, dass
in diesem Falle umgekehrt vom Norden nach dem Süden und
zwar hier mit der Wanderung der Völker der Stil seinen Weg
gemacht haben müsse, also etwa wie später einmal, zwar nicht
gerade durch Völkerwanderung, der gothische Stil sich ver
breitete; denn nach dem, was uns die Sprachwissenschaft lehrt,
haben die hellenischen Einwanderer in ihre späteren Sitze die
Kunst des Webens und der Metallarbeit, damit nothwendiger-
weise auch irgend eine höchst einfache, aus diesen zwei Tech
niken resultirende Decorationsweise bereits mitgebracht; eine
solche Decorationsweise liegt aber liier vor. Das führte mich
also endlich auf die Benennung einer indogermanischen oder
arischen Weise. Dabei lag mir fern, an eine ganz scharfe Be
schränkung der Handhabung eines solchen Decorationsstiles nur
auf Völker indogermanischen Stammes zu denken; abgesehen
davon, dass einzelne gleiche Stilelemente überall wiederkehrend
sich bilden, wo Weberei und Metallarbeit geübt werden, so be
darf es ja kaum besonderen Aussprechens, dass Kunststile sich
noch weit weniger als Sprachen auf wirklich stammverwandte
Völker ausschliesslich beschränken, dass sie nicht immer Ver
wandtschaft, sondern sehr oft nur Verkehr und Culturgemein-
schaft der Völker, denen sie gemeinsam sind, beweisen. Auch
vergass ich dabei nicht, dass, um den Ausdruck indogermanisch
in voller Analogie mit seiner sprachwissenschaftlichen Bedeu
tung anzuwenden, die Beobachtungen über die Ausbreitung des
fraglichen Ornamentstils über Europa hinaus noch so gut wie
völlig fehlen. Ich hatte nur die beiden, in unserer ganzen
älteren Culturgeschichte als zwei sich verschiedenartig gegen
überstehende, aber fruchtbar zusammenwirkende Völkergebiete
im Auge, Vorderasien mit dem davon untrennbaren Aegypten
und die europäische Halbinsel, in welcher letzteren die indo
germanischen Stämme, wie sonst in der uns geschichtlich er
kennbarsten Zeit die vorherrschenden, so auch die vornehmsten
Träger desjenigen Kunststils gewesen sein müssen, den ich am
Anfänge alles griechischen Kunstschaffens klarer noch als Sem
per nachgewiesen zu haben glaube. Wenn ich daher Mis-
deutungen gegenüber, die Benennung alteuropäisch für diesen
15*
228
Coiize
Stil gebrauche, so lasse ich damit ausdrücklicher als bisher es
dahingestellt sein, ob er geographisch noch weiter zu ver
folgen ist, nur das als den Cardinalpunkt festhaltend, dass dieser
Stil positiv und negativ, so wie ich ihn bis zu einem gewissen
Grade wenigstens kenntlich charakterisirt habe, verschieden
war von jenem, welcher bereits im vierten Jahrtausend in
Aegypten, mindestens im zweiten ebenfalls vor unserer Zeit
rechnung in Vorderasien, besonders im Euphrat- und Tigris
lande sich ausgebildet hatte. Hieraus ergibt sich weiter und
ich will nicht unterlassen, es jetzt ausdrücklicher als bisher
hervorzuheben, dass dasjenige, was ich für ein jedes dieser
beiden grossen völkergeschichtlichen Gebiete als einen Stil in
der Kunstübung bezeichne, richtiger als eine Gruppe, eine Fa
milie von unter sich sogar so stark, wie z. B. der ägyptische
und assyrische, wieder unterschiedenen Stilen zu fassen ist,
als Etwas, das also dem grossen Ganzen eines Sprachstammes,
in dem es wieder einzelne Sprachen gibt, entspricht.
So weit meine Kenntniss reicht, sind sämmtliehe alteuro
päische Kunstweisen, ist also diese ganze Stilgruppe niemals
über einen aus der Technik der Weberei, Flechterei, ferner
der Metallarbeit und zwar des Treibens in Metallblechen her
vorgehenden Formenvorrath mit Hinzunahme nur einer sehr
primitiven Nachahmung von lebendigen Gestalten, namentlich
bestimmter Thiere, wie wir sehen werden, aber auch Menschen,
also lebendig sich bewegender und so das Auge besonders leicht
beschäftigender und die Nachbildung anregender Gestalten
hinausgekommen und auch auf die Stilisirung dieser lebendigen
Formen hat das technische Verfahren einen weitgehenden Ein
fluss geübt; so gut wie vollkommen unverwerthet aber blieb
dabei die im ersten Anfänge zur Nachahmung offenbar nicht
so wie die lebendigen animalischen Bildungen anreizende
Pflanzenwelt. Dem gegenüber ist in der vorderasiatisch-
ägyptischen Stilgruppe, so weit wir zurücksehen können, bereits
eine viel höhere Entwicklungsstufe erreicht, auf der die Kunst
form nicht mehr so fast ausschliesslich von der technischen
Procedur und zwar von einigen wenigen, nämlich zwei Arten
technischer Procedur abhängig ist, wo die Nachahmung leben
diger Form sich zu einer ganz andern Meisterschaft erhoben
hat und dann als Ergebniss einer offenbar langen unserem
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
229
Blicke entzogenen Vorgeschichte die vegetabilischen Formen
nicht einfach nachgebildet, sondern bereits in etwas ganz Neues,
in ein schematisches Ornament verwandelt sind. Sobald diese
beiden, ihrer Entwicklungsstufe nach so sehr ungleichen Kunst
weisen einander berührten, musste stets die eine vor der andern,
wie die Indianerstämme Amerikas vor den Europäern, ver
schwinden. Ich skizzirte in meiner früheren Abhandlung in
einigen Hauptzügen den Gang dieses für den ganzen Umfang
Europas erst im Verlaufe von Jahrtausenden sich vollziehenden
Processes der Bewältigung der alteuropäischen Weise durch die
vorderasiatische und ihre Abkömmlinge, besonders leicht er
kennbar in der begleitenden, auch kunstgeschichtlich hoch
wichtigen Einzelerscheinung der Ausbreitung des phönizischen
Alphabets und seiner Abkömmlinge über Europa. Theilweise
handelt es sich hierbei um recht bekannte Dinge; es war eigent
lich nur der Beginn dieses grossen geschichtlichen Processes,
welcher erst auf Grund der von mir im Anschlüsse an Burgon
und Semper nachgewiesenen und behandelten ältestgriecliisehen
Thongefässe sich erkennen liess. Sie repräsentiren die süd
östlichste Verzweigung der alteuropäischen und (a potiori) indo
germanischen Kunstweise, die hier, Vorderasien zuallernächst-
tretend, zuerst vor dessen höher entwickelter Art weichen
musste, jedenfalls schon im zweiten Jahrtausend v. Chr. Unter
den bemalten Thongefässen, die uns schon so Vieles gelehrt
haben, konnten wir aber die Belege für den Hergang sogar
auch noch in mancherlei Uebergangsformen, Vermischungen der
älteren einheimischen und der neuen Art zusammenbringen.
Noch reichlicher werden sich mit der Zeit die Belege für
den Fortgang dieses Kampfes derselben Kunstformen in Italien
sammeln lassen, wo die Entscheidung desselben bei der grösseren
Entfernung von Vorderasien, der westwärts statt wie auf der
Balkanhalbinsel ostwärts gewandten Culturseite der Apenninen-
halbinsel weniger rasch erfolgt sein muss, wo namentlich die
Etrusker lange viel von der alteuropäischen Weise festgehalten
zu haben scheinen, während ihnen gegenüber die Hellenen hier
schon durchaus als die Träger des nun freilich von ihnen in
eine ganz neue Form gebrachten vorderasiatischen Einflusses
auftraten. Aber auch die Etrusker werden dann allmälig zu
solchen Trägern derselben nun weiter nordwärts in den Körper
230
C o n z e
Europa’s hinaufdringenden fremden Weise. Höchst lehrreich
hierfür sind viele in den ihrer Natur nach das Alte liehen dem
Neuen zähe bewahrenden Alpenländern gemachte Funde, auf
welche ich weiter unten noch zuriickkommen werde, höchst
lehrreich ferner die weit nach dem Norden hinauf, zumal an
der Rheinstrasse entlang, versprengten, unverkennbar etrus
kischen Kunstfabrikate. Aber erst mit der Romanisirung und
endlich der Christianisirung geht die alteuropäisclie Kunstweise
auch bis in den äussersten Norden zu Ende, auf dessen Halb
inseln und Inseln sie deshalb ihre längste Dauer gehabt hat.
Als eines der letzten Glieder in der Kette von Belegstücken,
deren erstes die ältestgriechisclien von mir behandelten Vasen
bilden, erscheinen liier, wie ich in der ersten Abhandlung nur
andeutete (S. 533, 29 des Separatabdrucks), die irischen Manu-
scripte 1 mit ihrer neben der schon lateinischen Schrift so höchst
seltsamen Initialornamentik, die noch immer in der alten Be
schränkung eiii nun auf das Künstlichste verfeinertes, ich sagte,
zopfig gewordenes Linearornament mit eingemischten, höchst
primitiven oder in ein lineares Schema übersetzten animalischen,
darunter auch menschlichen, Figuren bei Vermeidung von
Pflanzenornament aufweisen. Das keltische Irland 2 in seiner
Europa abgewandten Lage, von Römern nie besetzt, hat be
kanntlich auch sonst altheidnisches Wesen lange zähe bewahrt;
dasselbe vermischte sich mit der irisch-christlichen Kirche, die
nicht von Rom aus gegründet wurde, sich vielmehr eigenthüm-
lich dem Nationalcharakter entsprechend und in Isolirung ge
staltete und aus deren Schoosse dann eine Zeit lang gewaltige
Anregungen und Missionen nach dem Contincnt ausgingen.
Dort trat ihnen die römische Kirche von Germanen getragen
und ihnen den Garaus machend entgegen. Zu dem altnational-
keltisch-einheimisch-heidnischen dieser Kirche gehörte u. A.
auch jene eigenthiimliche, die einheimisch-heidnische, in letztem
Roste alteuropäische Weise fortführende Kunstart, welche, uns
zumal in den Bücherminiaturen noch vorliegend, mit der Kirche
dann endlich doch der römischen, das ist, auf das Grosse des
1 Waagen in Eggers deutschem Kunstblatte 1850, S. 83 f. F. W. Ungei'
in der Revue celtique I, S. 9 ff.
2 Vergl. Pauli, Aufsätze zur englischen Geschichte. Leipzig 1869, S. 187 ff.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
231
kunstgeschichtlichen Gangäs gesehen, der freilich sehr gründ
lich zumal durch die Hellenen umgestalteten, ihrem ersten Ur
sprünge nach vorderasiatischen Weise, erlag. Der Abschluss
der Betrachtung erfordert es bis zu einem solchen Stücke spä
testen Lebens des alteuropäischen, a potiori indogermanischen
Kunststils, dessen Jahrtausende frühere, letzte Spuren in Grie
chenland wir nach wiesen, selbst, wenn wir nur dieses Griechische
recht verstehen wollen, vorzudringen. Solche letzte Lebens
regungen, welche also, geschichtlich angesehen, den Zickzack-
ornainenten zwischen der orientalisirenden Ornamentik der me-
lischen Thongefässe trotz alles Abstandes der Zeiten gleich
bedeutend sindj zeigen sich sonst noch in der Zuthat einer
eigenthümlichen Linearornamentik zwischen den sonst schon
ganz vorherrschenden römischen, romanischen Kunstformen auch
sonst im frühen Mittelalter mehrfach; ich nannte früher nur
die Zickzackverzierungen an normannischen Kirchenbauten;
das Schnitzwerk am mittelalterlichen Holzbau Skandinaviens,
die Zierrathen fränkischer Schmucksachen, die der sonst rein
römischen Kunstform durchaus fremde Linienornamentik longo-
bardischer Bauten in Cividale liefern weitere Beispiele. Einem
derartigen Nachklingen einer im Ganzen überwundenen Kunst
weise lässt sich in der mittelalterlichen Kunst noch vielfach
nachspüren, ja vielleicht ist ein letztes gewaltiges Aufleuchten
derselben beim gothischen Stile mitbethoiligt. Bei Völker
schaften aber und in manchen einzelnen Gegenden, die vom
ganzen Gange moderner Culturentwicklung bis heute wenig
berührt wurden, hat sich die alte Weise oder doch etwas ihr
sehr Analoges in oft überraschender Reinheit auch bis heute
lebendig erhalten.
Als für das lebendige Verstäudniss der hier besprochenen
kunstgeschichtlichen Vorgänge recht lehrreich mache ich auf
einen Bericht von Frauborger über die Kunstindustrie am
weissen Meere 1 aufmerksam; namentlich ist da das Einmischen
einzelner fremder Formen in eine traditionell geübte Technik
der Stickerei manchen in der gegenwärtigen Auseinandersetzung
berührten Erscheinungen analog. Bei den meisten Arbeiten,
1 Mittheilungen des k. k. österreichischen Museums für Kunst und Industrie
VI, 1871, S. 459 ff.
232
C o n z e
sagt Frauberger, sind die Formen der Ornamentation geo
metrische, verschiedene Liniengefüge, theils willkürliche, theils
Quadrate, Sterne, Dreiecke, Kreuze und dergleichen; daneben
— und das ist das Fremde — erscheint, was Frauberger sti-
lisirtes Ornament nennt, Blumen, Löwen, Pfauen, Adler und
Herzen. Frauberger meint, dass die in diesen Gegenden nie
mals vorkommenden Löwen und Pfauen sammt den Adlern als
griechisch-katholische Kunstformen herübergebracht worden
seien. Es gehe das auch aus der Art ihrer Stilisirung hervor.
Sobald diese Stickereien, fährt Frauberger fort, das vorwiegend
geometrische Ornament vex-lasseu und naturalistisch werden
wollen, so verfallen sie augenblicklich in die krasseste Ge
schmacklosigkeit. Die tüchtigeren Arbeiterinnen, heisst es,
sähen das dann aber auch meist bald ein und kehrten zu dem
zurück, was Tradition und Instinkt zu ihrem Arbeitsfelde ihnen
angewiesen hätten.
Wenn ich auch Manches von dem hier weiter Ausgeführten
in meiner ersten Abhandlung nur andeutend berührte, so war
ich doch schon damals genöthigt, über das Gebiet des classi-
schen Alterthums hinaus, auf dem ich bisher allein litterarisch
thätig gewesen bin, bis tief in das Gebiet namentlich der nor
dischen Alterthumskunde vorzugehen. Hier begegne ich nun
einer Anzahl von Forschern, welche auf diesem Felde den
Schwerpunkt ihrer Thätigkeit und ihres Wissens mit jedenfalls
überwiegender Kenntniss mancher Details haben. Niemand
kann sich leicht freier von Geringschätzung solcher für die
gegenwärtige Untersuchung gewichtiger Kenntniss wissen, als
ich und doch ist mir in ziemlich heftigen Ausdrücken solche
Geringschätzung von Lindenschmit 1 auf Anlass meiner Ab
handlung vorgeworfen, zunächst deshalb, weil ich die von
Lindenschmit vertheidigte Zurückführung der grossen Masse 2
nordischer Bronzearbeiten und des gesammten Stils ihres Or
naments auf etruskischen Ursprung allerdings nur für unrichtig
halten kann. Ob aber solche Arbeiten für etruskisch gelten
können, darüber muss sich doch derjenige einigermassen ein
1 Die Alterthiüner unserer heidnischen Vorzeit III. Band, 1871, Beilage
S. 37 ff.
2 Lindenschmit stellt mit Recht in Ahrede, dass er alle nordischen Bronzen
aus Etrurien hergekommen sein lasse.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
233
Urtheil erlauben dürfen, der beim Studium der classischen
Archäologie immer aufs Neue genötliigt war, sich von etrus
kischer Kunst eine möglichst genaue Kenntniss zu erwerben.
Was für etruskische Arbeiten unter, den nordischen Funden
unverkennbar sind, das habe ich mit beispielsweise!’ Nennung
einer Anzahl von Funden (Grächwyl, Dürkheim, Nidda, für
einen sehr geringen Theil seiner Fundstücke auch Hallstadt)
in meiner ersten Abhandlung ausdrücklich anerkannt. Darüber
geht aber Lindensclimit sehr weit hinaus und küsst in der That
nur das allerschlechteste Fabrikat, das dann auch doch wieder
wenigstens indirect seine Weise von der etrurischen Quelle
herleiten soll, als einheimisches Product des europäischen Nor
dens übrig. Es handelt sich bei der Differenz unserer An
sichten nicht um ein einzelnes oder einige einzelne Stücke,
die, im Norden gefunden, für etruskisch zu halten sind, mehr
oder weniger, sondern Lindenschmit sieht in den Tausenden
von Bronzefunden des transalpinischen Nordeuropa vorwiegend
etruskische oder von etruskischen Vorbildern angeregte Arbei
ten, während ich, sollte es auch gelingen, selbst einige Hunderte
von im transalpinischen Norden gefundenen Bronzearbeiten
aufzuweisen, die auch ich für direct oder indirect etruskisch
anerkennen würde, dennoch die überwiegende Menge für etwas
in Material, Technik und Formengebung nicht von der Kunst
weise der Mittelmeerländer und ihrer Culturvölker, seien es
Phönicier, Griechen, Etrusker oder Römer, Abhängiges halten
muss. Es ist überhaupt der Stil, nicht sind es die einzelnen
Fabrikate, um den sich der Streit dreht.
Um die geläufigsten Formelemente der nach den Fund
orten und, meiner Ansicht nach, auch dem Ursprünge nach
nordischen und a potiori indogermanischen Ornamentik den
hiermit vielleicht weniger vertrauten Archäologen, für welche
ich zunächst zu schreiben glaubte, in einer kurzen Zusammen
stellung nachzuweisen, führte ich ein verdienstliches Handbuch
von Sacken an, dessen Absicht gerade ist, das Geläufigste
dieser Dinge zusammenzufassen. Solchen Sinn eines Citates
hat Lindenschmit verkannt, wenn er zu seiner ,Erheiterung'
(einem Wohlwollenderen wäre es vielleicht eher betrübend ge
wesen) daraus glaubt schliessen zu dürfen, dass meine eigene
Kenntniss nur auf dem genannten Handbuche beruhe; das wäre
234
C o n z e
freilich, was er mir vorwirft, ,Mangel an Sachkenntnisse Da
kann ich denn aus Nothwehr nicht anders, als davon kurz
sprechen, dass auch mir die nordischen Altertliümer die hei-
mathliohon sind und dass ich schon als Schüler und Student
am Arbeitsplätze des niedersächsischen Vereins und unter un
mittelbarer persönlicher Anregung von Männern wie C. L. Grote-
fend und Kemble mich mit den einheimischen Funden einiger-
massen vertraut zu machen suchte und dass ich seitdem keine
Gelegenheit versäumte, die bedeutendsten Sammlungen von
Landesalterthümern in Deutschland, Frankreich, England und
kürzlich auch die hochwichtigen und vortrefflichen in Dänemark
zu durchmustern, so wie der Litteratur über dieselben nachzu
gehen. Nicht dem Versuche, allen feineren Unterscheidungen
nach Orten und Zeiten gerecht zu werden, halte ich mich da
nach gewachsen, aber wohl glaube ich im Stande zu sein, das
Generelle, allgemein Durchgehende zu beurtheilen, auf das es
ja bei der gegenwärtigen Untersuchung zumeist ankommt; ich
habe es ja zunächst mehr mit der viele Formsprachen und
-dialekte umfassenden grossen Stilgruppe zu thun, als mit den
einzelnen Formsprachen und -dialekten.
Von dem Wunsche gegenseitiger Verständigung geleitet,
lasse ich noch einige Punkte der Lindensclimit’schen Verurthei-
lung meiner Ansichten nicht unberührt.
Mein Gegner sagt (auf Seite 37): ,wir hätten nach Conze’s
Behauptungen anzunehmen, dass die urheimathliche Mitgift der
indogermanischen Völker an Ornamentmotiven, welche in
Griechenland auf Thongefässen zur Verwendung gelangten, im
Norden (vermuthlich weil es dort an Thon und Farben fehlte)
auf Erz übertragen würde; dass man im Süden einen Stoff
benutzte, der überall vorhanden ist, im Norden dagegen ein
Material vorzog, das im Lande selbst gar nicht oder nur durch
weitreichende Handelsverbindungen zu erhalten war.' Ich denke
mir die Sache so und finde nichts Auffallendes daran, dass die
alteuropäischen Völker, namentlich die indogermanischen, welche
nach Zeügniss ihrer Sprachen Weberei und Metallarbeit von
Alters her kannten, vornehmlich nach Massgabo der Technik
der Weberei und der getriebenen Metallarbeit eine Ornamentik
entwickelten, welche ihr ganzes Kunstvermögen repräsentirte
und überall zur Anwendung kam, wo ein Zierrath geschaffen
Zur Geschichte der Au fange griechischer Kunst.
235
wurde, mochte ihn nun der Britte auf seinen nackten Leib
tättowiren, 1 mochte man ihn ein wehen oder flechten, mochte
man ihn überall, und das geschah im Norden nachweislich so
gut wie in Griechenland, auf Thongefässen, wenn auch hier
durch Einritzen, da durch Aufmalen anbringen, mochte man
ihn in Holz schnitzen oder ihn in Bronze oder andern Metallen
darstellen. Es ist nur Zufall, dass wir dergleichen Metall
arbeiten aus Griechenland bis jetzt nicht kannten; ein Gold
streifen mit der Ornamentik der Vasen ist jetzt bereits unter
dem gleich zu besprechenden Hirschfeld’sclien Funde (Aunali
dell’ inst. 1872, S. 155, n. 3). Ob aber wirklich das Material
zur Bronzearbeit, ob Kupfer und Zinn, im Norden gar nicht
oder nur unerreichbar vorkam, darf man doch wohl nur einfach
als Frage hinstellen; war doch vielmehr umgekehrt theilweise
hierfür der Süden auf den Norden angewiesen. Freilich, das
weiss ich, ist viel über diesen Punkt für und wider verhandelt. 2
Auf die längere Expectoration Lindenschmits (auf S. 38)
über das ihn Befremdende in der Annahme einer von etrus
kischer Importation unabhängigen, grossen Geschicklichkeit der
nordeuropäischen Völker in der Metallarbeit in den Zeiten vor
ihrer Romanisirung und Ghristianisirung, kann ich nur so weit
eingehen, als ich sehr wohl zu sehen bekenne, dass wer ein
mal das eine oben Genannte annimmt, allerdings auch bei aller
Beschränktheit des Zierformensystems sogar hohe Meisterschaft
in Herstellung getriebener Bronzearbeit denselben Völkern zu
erkennen und von der vollendeten Technik vieler Stücke einen
Rückschritt in der Zeit der Romanisirung und Christianisirung
zugeben muss. Eine Culturform wurde durch die andere, zwar
höhere, abgelöst; dabei ist irgendwo häufig ein Verlust, nur im
Ganzen nicht. Das Morlakenweib wird gewiss nicht mehr so
bewundernswürdige Webereien liefern, wie heutzutage, wenn cs
einmal gelingt, den letzten Bergwinkel Dalmatiens zu civili-
siren. Solche durch die Civilisation verloren gehende Vorzüge
1 Herodian III, 14, 7.
2 Entscheidende Gründe gegen die Möglichkeit der Verarbeitung von
Bronze im Norden Europas haben sich nicht ergeben. S. Cohausen im
Archiv für Anthropologie I, S. 321 ff., der, wie wiederholt schon Andere,
es betont, dass bei der Untersuchung nicht das Material, sondern die
,Form und die im Ornament potenzirte Form* uns leiten müsse.
236
C o n z e
primitiver Kunstübung lenken ja heutzutage clie kunstindustriel
len Studien z. B. auf südslavische Webereien zurück.
Wenn nun aber im Verfolge seiner Auseinandersetzung
Lindenschmit, um sieh damit zugleich meiner Resultate zu er
wehren, so weit geht, mit grosser Unbefangenheit von der
,neugeschaffcnen’ Mythe einer Wanderung arischer Völker nach
dem Westen und der aus ihr entwickelten Vorstellung einer
indogermanischen Cultur*, welche auch die ,Kreise der anti
quarischen Forschung nicht ungestört* hätte lassen können,
wegwerfend zu sprechen, so mag er dafür, was sie zwar kaum
verlangen werden, den Sprachforschern Rede stehen, von denen
diese ,störenden* Vorstellungen ausgehen, nicht mir.
Ich habe nur noch einen, aber einen Cardinalpunkt in
der Differenz mit Lindensclnnit übrig gelassen.
Ebenso mangelhaft, wie nämlich Lindenschmit um eines
vorher seiner Bedeutung nach wohl zur Genüge aufgeklärten
Citates willen meine Sachkenntniss im Gebiete der nordischen
Archäologie findet, ebenso auffälligen Mangel findet er wiederum
auf meiner Seite in Bezug auf italische Denkmälerkunde. Hier
mit kommen wir auf das Feld, auf welchem, so viel ich sehe,
der Kampf um die Lösung des ganzen kunsthistorischen Pro
blems, um das es sich handelt, zunächst besonders weiter ge
führt werden wird. Es sind zwei Thatsachen, deren Unkennt-
niss er mir glaubt vorwerfen zu dürfen; es handelt sich dabei
um das^Vorkommen und Nichtvoi'kommen des Pflanzenorna
ments. Ich wisse nicht, das ist die erste Thatsache, dass das
selbe an nordischen Fundstücken erscheine. Diesen Punkt
halte ich nach allen bisherigen Auseinandersetzungen von vorn
herein für abgethan; ich habe solche, verhältnissmässig aber
vereinzelte Fälle nie in Abrede gestellt und gab von Anfang
an für sie, wo es sich nicht um Römisches handelt, den directen
oder indirecten etruskischen Ursprung zu (Beispiele in meiner
ersten Abhandlung S. 531, S. 27 des Separatabdrucks). Ich
wisse zweitens aber nicht, fährt Lindenschmit fort, dass
,eine namhafte Anzahl etruskischer Bronzearbeiten italischen
Fundorts ausschliesslich nur jene Strich- und Linienverzierungen
des sogenannten indogermanischen Urstils und gar kein Pflan
zenornament aufweise*. Darauf hatte ich andeutend, weil ich
mich eingehender damals darauf nicht einlassen wollte, auf
Zur Geschieht« der Anfänge griechischer Kunst.
237
S. 530 (S. 26 des Separatabdrucks) hingewiesen, indem ich
sagte und nur mit ein paar herausgegriffenen Beispielen vor
läufig belegte, dass sich diese hochalterthümliche Kunstweise
in Italien ebenfalls voraussetzen, ja in bestimmten Spuren ver
folgen lasse. Darauf aufmerksam gemacht ist mit allerlei
Variationen der Schlussfolgerung übrigens schon von verschie
denen Seiten. Ich werde später etwas ausführlicher darlegen,
wie hier in der That ein besonders wichtiger Punkt meiner
ganzen Differenz mit Lindenschmit liegt. Wer aber der Unter
suchung bis hierher gefolgt ist, wird auch jetzt schon vermuth-
lich ohne Weiteres einsehen, dass ich das Vorkommen des
selben hochalterthündichon Stils in Italien bei Etruskern und
Nichtetruskern ganz ebenso auffassen muss, wie sein Vorkommen
in Griechenland auf der in der vorigen Abhandlung nachgewie
senen Classe ältester Thongefässe. Auch Italien theilte ur
sprünglich diesen Stil wie Griechenland mit dem ganzeu übrigen
Europa; auch in Italien wich er der vorderasiatischen, dann
dem nach Anregung von Vorderasien aus eigenfhümlieh ge
stalteten griechischen Einflüsse.
Der Polemik mag hiermit Genüge geleistet sein. Ich wende
mich nunmehr zu dem inzwischen durch eine Ausgrabung in Athen
und deren wissenschaftliche Verwerthung- von Seiten Gustav
Hirschfelds uns neu geschenkten Zuwachse an Thongefässen der
pelasgisehen, indogermanischen oder, wenn man will, alteuro
päischen Glasse. Es ist ein Uebelstand, dass es so schwer ist, eine
unzweideutige Benennung zu finden. Ich kannte nur einige sechzig
Gefässe dieser Classe, denen ich jetzt noch zwei in der Kopen-
hagener Antikensammlung, 1 die aber nichts Neues zeigen, hin
zufügen könnte. Das eine (bez. AB c 1007) ist ein einhenkliges
Giessgefäss wie Taf. V, 3 meiner ersten Abhandlung und zeigt
ausser den gewöhnlichen Linearornameuten am Halse ein Pferd.
Es stammt aus Athen. Das zweite (Kat. n. 6) stimmt in der Form
annähernd mit Taf. V, l a meiner Abhandlung überein, hat von
den gewöhnlichen Ornamenten die Reihe durch schlüge Linien
verbundener Kreise, am Halse aber drei Mal den einer Gans
ähnlichen Vogel, dazu einmal das Hakenkreuz in einem punk-
1 Audi in der Kopenhagener Sammlung sind diese Gefässe, so wie ich sie
behandelt habe, als eine besondere Classe bereits bei der vermuthlich
nicht erst jetzt gemachten Aufstellung behandelt.
238
C 0 71 Z 0
tirten Kreise. Es stammt aus dem Besitze des Architekten
Hansen, kann also auch sehr wohl aus Athen sein.
Den Bericht 1 über die Entdeckung einer grossen Anzahl
von Vasen derselben Classe nahe am Dipylon zu Athen will
ich nicht nach Hirschfeld liier vollständig wiederholen, wohl
aber Einzelnes aus ihm herausheben. Bemerkenswerth ist schon
die grosse Menge der Gefässe; allein 80 besser erhaltene Stücke
zilldt Hirschfeld auf. Bemerkenswerth ist ferner als weitere
Bestätigung der Annahme sehr hohen Alters für diese Gefässe,
dass dieselben in Athen in der untersten von mehren Gräber
schichten gefunden wurden, bemerkenswert!! auch, dass kein
Fund mit ihnen unmittelbar zusammen befindlicher Vasen spä
teren Stils constatirt werden konnte. Mit ihnen gefunden
wurden dagegen einzelne Gegenstände von Bronze, von Silber,
von Gold; von Silber eine Fibula, deren Form man genauer
kennen möchte. Hirschfeld stellt mit Hinzufügung sehr aus
führlicher und dadurch um so dankenswerterer Beschreibungen
fest, dass die neugefundenen Exemplare, der Anzahl nach mehre
als ich gekannt hatte, durchaus dieselben stilistischen Eigen
tümlichkeiten, die ich nachweisen konnte, wiederholen, wo
durch die aufgestellten Regeln, namentlich auch die des Fehlens
des Pflanzenornaments, erheblich au Sicherheit gewinnen. Am
Boden eines einzigen Gefässes nur (n. 71) beschreibt Hirsch
feld ein aus scheinbaren Blättern zusammengesetztes Stern
ornament; die beigegebene Abbildung zeigt, dass, wenn wirk
lich Blätter gemeint sind, diese denen der Rosettenornamente
orientalisirender Vasen jedenfalls nicht gleichen. 2
Ein ganz Neues in der Ornamentik bieten aber einzelne
1 Annali dell’ inst, di corr. arcli. 1872, S. 131 ff. tavola d’agg. I u. K.
Mon. in. dell’ inst. vol. TX. tav. XXXIX. XL. Der mitgefundene
Schädel (S. 135) ist jetzt von Virchow publicirt und besprochen (Zeit
schrift für Ethnologie 1872 S. 147 ff.). Hierauf macht mich Hirschfeld
in brieflicher Mittheilung aufmerksam, welcher ich auch die Kenntniss
inzwischen wiederum neu gemachter, in das hier behandelte Thema ein
schlagender Funde verdanke. Mit der Veröffentlichung dieser Nachrichten
will ich Hirschfeld nicht vorgreifen.
2 Auch Bursian (literar. Centralblatt 1871, S. 591) wollte in sternförmigen
Figuren Blumennachbildungen erkennen; mir erscheint das unerweislich
und unwahrscheinlich. Es ist eine der in der Technik des Webens und
Flechtens überall entstehenden Formen.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Knnft.
239
der Gefässe dennoch, namentlich eine colossalc 0,30 M. hohe
Vase und einige Fragmente, nämlich menschliche Figuren und
zwar zur Darstellung bestimmter Vorgänge verwandt. Auf der
grossen Vase erscheint eine Leichenbestattung, bei welcher der
Todte, auf seiner Kline liegend, auf einem zweispännigen Wagen
gefahren wird und vor und hinter dem Wagen im Ganzen vier
undzwanzig Personen, theils Männer, theils Frauen, auch ein
Kind, stehen. Auf zwei Fragmenten sind Schiffe mit Menschen,
das eine Mal kämpfenden, fallenden, dargestellt. Sonst kommen
auf zweispännigen Wagen stehende Männer, ein Mann zwischen
zwei Pferden usw. vor. Die Figuren sind meistens nackt,
auch die Frauen, diese einmal jedoch auch bekleidet, die Männer
in einigen Fällen in einer Kriegsrüstung. Die nackten Figuren
erinnern in ihren Proportionen, was vielleicht wirklich be-
achtenswerth ist, an den Apollo von Tenea und seine Genossen.
Namentlich diese figürlichen Darstellungen haben Hirsch
feld und in einem Anhänge über die Schiffe Graser Anlass
gegeben, die eigenthümlichen Erscheinungen der ganzen, somit
nicht nur der Zahl nach, sondern auch dem Inhalte der Malerei
nach wesentlich bereicherten Vasenclasse aufs Neue zu erwägen,
wonach die von mir angenommene geschichtliche Stellung der
selben zunächst innerhalb der griechischen Kunstgeschichte nur
befestigter erscheint. Höchstens ist die Versetzung dieses
ältesten Stils in das zweite Jahrtausend von Hirschfeld und
Graser angezweifelt. Ich war dabei von der Erwägung aus
gegangen, dass mit der stärkeren Ausbreitung der Phönicier
über das östliche Mittelmeer die stärkere Einwirkung der vorder
asiatischen Kunstweisen auf die griechische beginnen, der alt
heimische Stil also, oder wenigstens seine Alleinherrschaft zu
Grunde gehen musste. Dass die einzelnen Vasen in traditio
nellem Festhalten der alten Art jünger sein können, habe ich
dabei ausdrücklich zugegeben; nur die kunstgeschichtliche
Periode, welche sie uns bezeugen, wo man in Griechenland
Nichts kannte, als diesen Stil, schob ich für Griechenland bis
ins zweite Jahrtausend v. Chr. zurück.
Das Vorkommen menschlicher Figuren in der Malerei
der ältesten Vasenclasse gibt einer Nachricht vermehrte Glaub-
Würdigkeit, welche mir kürzlich im Antiken cabinet zu Kopen
hagen mitgetheilt wurde. Es befindet sich daselbst eine kleine,
240
Conze
äusserst rohe, scheinbar nackte und weibliche Figur von
Marmor, ziemlich genau übereinstimmend mit der von Wal
pole 1 früher mitgetheilten Marmorfigur aus einem attischen
Grabe. Die Kopenhagener Marmorfigur soll nach Angabe des
Obrist von Sommer, jetzt Commandanten von Rosenborg, auf
Thera in ein und demselben Grabe mit der jetzt auch in der
Antikensammlung zu Kopenhagen befindlichen grossen Vase
ältesten Stils (meine Abhandlung Taf. IX, 2) gefunden sein.
Wir sind, so weit hierauf zu bauen ist, also berechtigt,
primitive Versuche plastischer Darstellung menschlicher
Figuren neben der Darstellung derselben mit dem Pinsel an-'
zunehmen.
Der Nachweis menschlicher Figuren neben den Thier-
figuren und im Zusammenhänge mit der aus Weberei, Flechterei
und Metallarbeit entsprungenen Linearornamenten der ältesten
Vasenclasse griechischen Fundorts erscheint Hirschfeld iiber-
raschend. Er ist für die von mir angestellte Vergleichung
und den behaupteten Zusammenhang mit den nordischen Kunst-
producten in so fern befriedigend, als für das Zutreffende dieses
Vergleiches bisher gerade die menschliche Figur in dem Formen-
vorrathe der griechischen Fundstücke noch fehlte; auf den von
mir von der andern Seite besonders zur Vergleichung herbei
gezogenen Hallstädter Bronzen ist sie vorhanden, 2 jedoch nur
in reihenweiser, rein ornamentaler Zusammenstellung. Auf
den Hirschfeldschen Vasen ist eine wirkliche Scene aus dem
Menschenleben, der Bestattungszug, dann wieder die Aus
stellung der Leiche, es sind da die Wagenlenker und die
Kämpfer bei dem Schiffe dargestellt. Dass die nordische Kunst
diesen Schritt zur bildlichen Vorführung wirklicher Vorgänge
aber auch hie und da versucht hat, mag vorläufig nur mit dem
einen Beispiele des Kivik-Monuments auf Schonen belegt wer
den, wo gerade auch die Abbildung zweispänniger Wagen vor-
1 Memoirs p. 324, pl. 2. Müller, Denkm. d. a. K. I, Taf. II, n. 15. Der
Schlusszusatz Welckers zu Müller Handb. der Archäologie §. 72 muss
also eine Modifieation erleiden. Gleichartig die, Alabasterüguren, als deren
Fundort, die griechischen Inseln angegeben werden im Catalogue of a
series of photographs from the colleetions of the British Museum. I. Series.
Grecian Series n. G13.
2 Sacken, das Grabfeld von Hallstadt S. 122.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst
241
kommt. 1 Die Darstellung von Schiffen endlich ist auf den
Kunstarbeiten der nordischen Küstenländer etwas sehr Häu
figes. 2
Zu dem Vergleiche der ältestgriechischen Ornamentik und
Bildnerei mit der entsprechenden nordischen Kunstweise trage
ich auch noch eine Einzelheit nach, die schwerlich auf einem
zufälligen Zusammentreffen beruht. Ich habe früher hervor
gehoben und die Ilirschfeldschen Vasen bestätigen es durch
aus, dass unter den Thierfiguren des ältestgriechischen Stils
anstatt der später von Vorderasien aus als Lieblingsgestalten
eingeführten Löwen und Tiger vielmehr Pferde und gänseähn
liche Vögel die erste Rolle spielen. Dass diese Erscheinung
der Bedeutung gerade des Pferdes in den Phantasievorstellungen
und Gebräuchen der arischen Völker besonders entspricht, hat
man sich gewiss leicht gesagt. Der Nachweis des Vorherrschens
derselben beiden Thierfiguren in der altnordischen wurde durch
eine Anzahl von Beispielen geführt. Es ist deshalb, wie gesagt,
kaum als ausserhalb desselben Zusammenhanges stehend anzu
sehen , dass als ein unzweifelhaft letzter Ueberrest eigenthüm-
lich nordischer Ornamentik noch bis heute die über ein weites
Gebiet besonders des nördlichen Deutschlands hin gebräuch
lichen Giebelzierrathen der Bauernhäuser in Gestalt von Pferde-
und Vogelköpfen sich erhalten haben. 3 Die letzteren nennt
man, nicht ohne dann Bedeutsamkeit darin zu finden, gewöhn
lich Schwanenköpfe.
Ich kehre nunmehr noch ein Mal auf das Feld zurück,
auf welchem, wie ich früher sagte, der Kampf um die Lösung
der uns beschäftigenden Probleme besonders erfolgreich wird
weitergeführt werden können; das ist Italien. Auch Italien
theilte ursprünglich denselben primitiven Kunststil, der in der
neuen Vasenclasse für Griechenland uachgewiesen ist, mit dem
übrigen Europa, in dessen Norden er sich nur länger erhielt.
Diesen Satz wiederhole ich, wie ich ihn vorher schon einer
von Lindenschmit mir gemachten Einwendung entgegeugestellt
habe und erläutere ihn jetzt wenigstens an einigen Beispielen,
1 Vergl. sonst Weinhold, altnordisches Leben (Berlin 185G) S. 42<f ff.
2 Z. B. Annaler for nordisk Oldkyndighed (Kjöbenhavn) 1842, S. 348 ff.
3 Chr. Petersen in den Jahrbüchern für die Länderkunde der Herzogtümer
Schleswig, Holstein und Lauenburg. Band III, 1860.
Sitzungsber. <1. phil.-liist. CI. LXX11I. Bd. I. Hft. 16
242
C o n z e
nicht ohne vorher zu erwähnen, dass Lindenschinit das, was
ich im Anschlüsse an manche Vorgänger als die Stile zweier
auf einander folgender Epochen anselien muss, als einen Stil
einerseits niedern Handwerks und andererseits höherer Kunst
ansieht. 1 Ich könnte hiermit bis zu einem gewissen Grade
einverstanden sein, frage nur, wo kommt denn dieser Hand-
werksstil her, den Lindenschmit gelegentlich alterthümlich
nennt und auf den, wie er meint, die Barbaren, z. B. Gallier,
für die man fabricirte, einen Einfluss gehabt haben sollen?
Man sieht, wie nahe Lindenschmit hier unwillkürlich an meine
Art, die Thatsachen zu erklären, heran streift. Ich darf hier
nicht abermals mich ausführlicher polemisch gegen Linden
schmit’s Ausführungen wenden, muss mich begnügen, meine
Auffassung und zwar für dieses Mal, wie gesagt, hauptsächlich
nur an einzelnen Beispielen deutlich zu machen.
Als ein besonders reines Exemplar des alteuropäischen
Stils in Etrurien führe ich gleich vorweg die Bronzeflasche aus
Gossa im Museo Gregoriano- auch deshalb an, weil bei ihr
Semper 3 von ,graeco-italischend Stile gesprochen hat, wiederum,
wie ich das ja auch bei der ältestgriechischen Vasenclasse an
zuerkennen hatte, mit ganz richtigem Blicke, mag man nun die
gewählte Benennung glücklich finden oder nicht; jedenfalls ist
sie etwas zu eng gefasst.
Dass das Richtige gesehen, aber für einen zu enge ge
fassten Schluss benutzt wurde, davon führe ich ein anderes
Beispiel an.
Im Jahre 1846 veröffentlichte Albert Jahn in einer be
sonderen Abhandlung 4 eine Anzahl von im Museum zu Bern
befindlichen Thongefässen, die aus der Gegend von Nola stam
men. Der eigenthümliche Stil ihrer Ornamentik ist der für
Altitalien, ebenso wie er für das noch nicht von Vorderasien
aus beeinflusste Griechenland aufgewiesen ist, immer ausführ
licher nachzuweisende; ich zähle die Formelemente nun nicht
immer wieder auf. Ich mache hier also nur geltend, dass
o 7
1 Die Altertliümer unserer heidnischen Vorzeit, Band III, Beilage, S. Hfl ff.
2 Museo Gregoriano I, tav. LX.
3 Der Stil II, S. 65.
4 Historisch-archäologische Abhandlung über unteritalisch-keltische Gefässe
in der Vasensammlung- des Bernischen Museums. Bern 1846.
55525552
m
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst. 243
Albert Jahn vollkommen richtig- sah, aber sein Urtheil zu be
schränkt fasste, wenn er die Ornamentik dieser Gefässe unter-
italischen Fundorts echt keltische nannte. Sie ist keltisch,
ist aber auch germanisch, altitalisch, pelasgisch-griechisch; sie
ist alteuropäisch, ist der Stil der europäischen Indogermanen,
seiner längsten Dauer auf europäischem Boden nach nordisch
zu nennen. In diesem Zusammenhänge wurde er also, aber
nicht gerade von Kelten, auch in Unteritalien einmal geübt.
Für Mittelitalien wird eine grosse Wichtigkeit für den
Nachweis des besprochenen Stils immer der im Jahre 1817 im
Territorium von Marino am Albanergebirge gemachte und wieder
holt besprochene Gräberfund behaupten. Es ist besonders
wichtig, dass nach Alessandro Viscontis, des Herzogs von
Blacas, nachher ganz besonders Pigorini’s und Lubbock’s 1
Beobachtungen und M. S. de Rossi’s 2 Darlegungen gar nicht
mehr daran zu zweifeln ist, dass diese Nekropolis älter ist,
als der darüber gelagerte vulkanische Peperino und in einer
Gegend sich findet, in welche die Alten mit grosser Einstimmig
keit die wichtigste älteste Ansiedlung der Latiner verlegen.
Die Ornamentik der hier gefundenen Thongefässe, ja sogar
auch bei einzelnen derselben die eigenthtimliche, ein Haus
nachahmende Form, legen den namentlich von Lisch 3 aus-
gebeuteten Vergleich und die Gleichstellung mit nordischen
Formen nahe und es war wiederum nur ein verkehrter, weil
in viel zu beschränkter Vermuthung gefasster Schluss aus dieser
ganz richtigen Beobachtung, dass Tambroni deshalb hier die
Beg-räbnissstätte von Herulern aus der Armee des Totilas ge
funden wissen wollte. Von den schwarzen in ihrer Art reicher
verzierten Thongefässen dieser albanischen Nekropolis, die die
Ornamentik unserer ältesten griechischen Vasenklasse wie die
Ornamentik der Spätbronze- und Eisenzeit am vollständigsten
zeigen, befinden sich nicht zu verkennende Exemplare ausser
an den von Lubbock und Pigorini aufgezählten Orten auch in
München, in Venedig und in Kopenhagen. Von dem Münchener
1 In der Archaeologia vol. XLII, London 1869, S. 99 ft’.
2 Annali dell’ inst, di corr. arch. 1867, S. 5 ff.
3 Jahrbücher des Vereins für meklenburg. Gesch. u. Alterthuniskunde.
21. Jahrg., Schwerin 1856, S. 243 ff. Mit den in diesem Aufsatze ent
wickelten Ansichten stimme ich in mehren Hauptpunkten überein.
16*
244
C o n z e
Exemplare 1 befindet sich ein Abzug im grossherzogl. Museum
zu Schwerin, offenbar wegen der Verwandtschaft mit Gefässen
meklenburgischen Fundorts. Die Venetianischen Exemplare
sind vier, rühren aus der in Rom gebildeten Sammlung Zulian
her und sind gegenwärtig im Zimmer der Bronzen und kleineren
Gegenstände der Antikensammlung der Marciana aufgestellt.
Namentlich das eine zeigt, wie übrigens auch das genannte
Münchener Exemplar, neben der sonstigen Linienornamentik
die verschnörkelten Kreuze, die wieder im Norden nicht selten
sind; nur um die Art zu bezeichnen, nenne ich die Beispiele
im Thorsbjerg Mosefund (herausgegeben von Engelhardt, Kopen
hagen 1863) 2 Taf. 9, n. 6 und Taf. 13, n. 11. Auch das in
der Kopenhagener Antikensammlung (Katalog n. 1) befindliche,
von einem dänischen Reisenden in Rom und zwar als ,von
Alba-longa herstammend' gekaufte Exemplar, gewiss aus jenem
Funde von Marino, zeigt diese selben verschnörkelten und in
ein dreifaches Viereck eingeschriebenen Kreuze, wie das Vene-
tianische Exemplar. Diese schwarzen Gefässe aus Latium re-
präsentiren in ihrer Technik 3 und Ornamentik das Höchste,
wozu es die nordische Keramik je gebracht hat; wir erwarten
die Publication eines besonders reichen, in der Elbgegend
gemachten Fundes dieser sonst auch in Meklenburg (Schwe
riner Museum) und Dänemark vorkommenden Gefässe von
Hostmann.
Wenn eine solche Publication Gelegenheit bieten wird,
die uns beschäftigenden Probleme von Seiten der nordischen
Archäologie aufs Neue zu prüfen, so muss es andrerseits unsre
Erwartung erregen, dass Giancablo Gonestabile, also jedenfalls
einer der besten Kenner etruskischer Kunst, im Begriff ist,
wie ich aus brieflicher Mittheilung erfahren, zwei Bronzedisken,
1 Abgebildet bei Lindenschmit, Alterth. unserer heidn. Vorzeit. Heft X,
Taf. 3, n. 5.
2 Wiederholt in Engelhardt, Denmark in the early iron age. London löGG.
Taf. 13.
3 Die Thatsache, dass der Technik nach altitalische Töpfereien mehr den
nordischen, ältestgriechische zunächst den zahlreichen kyprischon gleich
stehen (einerseits eingeritzte, andrerseits aufgemalte Ornamentik), verlangt
noch eine präcisere Erklärung, als die, welche in meiner ersten Abhand
lung (S. 530 [26]) versucht wurde.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer (Taust.
245
deren Ornamentik die besprochene liochalterthiimliche ist, 1
herauszugeben.
Der Grabfund von Corneto, auf den Hirschfeld und ich
als ebenfalls hierher gehörig bereits aufmerksam machten, ist
noch immer nicht publicirt; hoffentlich erhalten wir ihn in
einem der nächsten Jahrgänge der Schriften des Instituts für
archäologische Correspondenz. Weitere einzelne Beispiele zu
den schon von Hirschfeld angeführten Funden von Sesto-Calende,
von Villanova bei Bologna mit Streben nach Vollständigkeit in
Aufzählung hinzuzufügen, ist nun für dieses Mal nicht meine
Absicht.
In der That ist der besprochene alterthümliche Stil auf
italischem und ganz besonders etruskischem Boden so zahlreich
vertreten, gerade in der etruskischen Kunst mit einer solchen
Menge von Mischungen und Uebergangsformen zu bemerken,
dass sich das Einzelne der Aufzählung fast entzieht. Höchst
lehrreich ist beispielsweise ein angeblich aus Corneto herrüh
render Goldschmuck, abgebildet in den Mon. ann. e bull, del!
inst, di corr. arch. 1854, tav. 33, 1. 2. Ein Jeder sieht so
fort, wie auch E. Braun im Texte es ausspricht, dass die beiden
Seiten des Schmucks in zwei ganz verschiedenen Stilen deco-
rirt sind; das ist hier so klar, als wenn man eine Malerei mit
schwarzen und eine mit rothen Figuren auf demselben griechi
schen Thongefässe sieht. Ja es sind genau dieselben beiden
Stile, welche in zwei Fundstücken von Hallstadt einander
gogeniiberstehen, deren grossen Abstand von einander dort
Sacken 2 betont. Jedem, der unsern Unterscheidungen gefolgt
ist, und der einige Uebung in solchen formgeschichtlichen Be
obachtungen :i hat, wird es, glaube ich, sofort einleuchtend sein,
dass es einerseits (tav. 33, 2) rein orientalisirender Stil ist,
andrerseits (tav. 33, 1), bis auf die zwei auch orientalisireuden
Thierfiguren gegen die Enden hin, der ältereinheimisclie Stil.
Dessen Formen kann man nicht schlechthin als ein für alle
1 Die Abbildung des einen Exemplars liegt mir durch Conestabile’s Güte vor.
2 Das Grabfeld von Hallstadt S. 97 zu Taf. XXI, 1 u. 2.
3 Die Renaissancezeit in Deutschland bietet analoge Erscheinungen beson
ders unverkennbarer Art. Sehr lehrreich sind auch die von Waagen und
von Unger (a. a. O.) behandelten Mischungen der irischen mit der ro
manischen Ornamentik in Miniaturen,
246
C o n z e
Mal etruskische Eigenthiimlichkeit hinstellen, es ist vielmehr
auch hier ganz wie in Griechenland der Stil einer ältesten
Epoche, der sich, je sicherer die Einwanderung- der Etrusker
nach Italien von Norden her wird, um so einfacher in der von
mir angenommenen Weise erklärt, aber — und das stimmt mit
den von Vorderasien entlegeneren, nach Westen gewandten
Wohnsitzen der Etrusker überein — die Etrusker haben offen
bar diese alteinheimische Weise zäher festgehalten als die
Griechen und ich glaube sogar annehmen zu dürfen, dass
Vieles von der Absonderlichkeit der etruskischen, namentlich
älteretruskischen Kunst auf seinen nachweisbaren Grund zu
rückgeführt sein wird, sobald man die Beimischung dieses alt-
einheimischen Stils in ihrer auch sonst in ihrer ganzen Entwick
lung zäheren 1 Kunstübung bestimmter herauszulösen sich ge
wöhnt haben wird. Was aber in etruskischer Kunst diesem
alten Stile angehört, das kann, um hiermit noch ein Mal auf
Lindenschmit’s Argumente zurückzukoffimen, wenn es ebenso
im Norden Europa’s erscheint, nicht als ein Beweis des Im
ports aus Etrurien benutzt werden; es gehört vielmehr zum
Beweise des ursprünglich Nordeuropa und Italien Gemeinsamen
an eigenthümlicher Kunstweise. Um diesen Punkt, das ist
unschwer vorauszusehen, wird sich besonders der Streit ver
schiedener Gruppirung und Auffassungsweise der Thatsachen
weiterbewegen. Immer aber muss dabei festgehalten werden,
dass es sich nicht so sehr um die Frage handelt, ob ein oder
das andere einzelne Stück oder auch deren eine grössere Zahl
von Italien nach dem Norden gebracht wurde, sondern ob die
eigenthümliche Formengebung, ob der Stil diesen Weg nahm
oder nicht.
Um meine Anschauung nur noch an einem bestimmten
Beispiele greifbarer hinzustellcn, führe ich den Fund einer
Cista und andrer Gegenstände an, der, im Jahre 1861 bei
Palestrina gemacht, in den Monumenti delP inst. VIII, tav. XXVI
und in den Anuali dell’ inst. 1866, tav. d’agg. GH. publieirt
und daselbst (S. 186 ff.) von Schöne besprochen wurde. Die
Brunn (Ann. dell’ inst. 18(16, S. 419) sagt von den Etruskern: ,un po-
polo, ehe nella arte mostra un carattere molto conservatöre ed uno Studio
manifesto di mantener le forme areaiehe. 1
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
247
Cista ist unter allen bisher bekannten von besonderer Alter-
tlnimlichkeit; erhalten ist nur der silberne Ueberzug des ver
lorenen hölzernen Körpers des Gefasses; die Thierreihen, die
sehr durchgebildeten Pflanzenornamente sind gänzlich auf vorder
asiatische Weise zurückzuführen; man wird wenige erhaltene
Werke aufweisen können, die geeigneter sind, die phönicischen
Arbeiten im Salomonischen Tempel zu illustriren. Mit dieser
Cista zusammen und zwar in einer der Art der Anlage nach
auch besonders alterthümlich erscheinenden Grabstätte 1 wurde
eine Anzahl von Gegenständen gefunden, die zum Theil wie
derum den älteren, einheimischen, altitalischen, wie alteuro
päischen Stil zeigen, Gegenstände, die man, wenn sie beispiels
weise in den Alpenländern gefunden wären, leicht ohne Weiteres
und ohne etwas Auffallendes an ihnen zu bemerken, für kel
tischen Ursprungs erklärt haben würde, die Schöne mit gutem
Grunde für etruskische Arbeit hält. Es sind das die runden
Bronzeplatten (Mon. VIII, tav. XXVI, n. 4. 5. 6), deren Orna
ment, wie Schöne ganz richtig sagt, das Ansehen eines Flecht
werks zeigt, dazwischen aber auch das uns nun schon wohl-
bekannte der getriebenen Metallarbeit entstammende Ornament
des runden in Reihen gestellten Punktes und der mehrfach
wiederholten concentrisehen Kreise, auf der einen (n. 5) dazu
auch das rundum wiederholte wohlbekannte Pferdchen mit der
sehr deutlich gemachten Mähne. Es ist das ferner namentlich
das eine Bronzegefäss (Ami. 186G, tav. d’agg. GH, n. 8), ferner
die eine dickleibige, mit concentrischen Kreisen verzierte Fibula
aus Bronze. Genau diese Form der Fibula mit gleicher Orna
mentik kommt mehrfach in Südtirol und sonst in Oberitalien
vor, 2 aber auch im Norden, z. B. in Holstein. 2 Bei diesem
1 Brunn Ann. dell’ inst, di corr. arch. 1866, S. 408. Man siebt leicht,
welchem der beiden in Brtinn’s Aufsatze (S. 410) in einer Alternative auf-
gestellten Sätze ich mich anschliessen muss, nämlich dem, dass zwischen
der ältesten etruskischen und latinischen Kunst kein wesentlicher Unterschied
war, dass es einmal ,nur eine Kunstweise in Etrurien, Umbrien und in der
Sabina, in Latium, bei Volskern und Samniten gab‘. Dass Etrurien in
der Anwendung dieser Weise aber am meisten leistete, ist unverkennbar.
2 Exemplare im Ferdinandeum zu Innsbruck, im Museo civico zu Verona,
unter den Bronzen der Marciana zu Venedig.
,! Lindenschmit, Alterth. unserer heidn. Vorzeit, B. I, Heft IX, Taf. 2, n. 3
und sonst.
248
C o n z e
Funde von Palästrina lagen also die Producte der zwei der
Zeit nacli aufeinander folgenden und also auch eine Zeit lang
nebeneinander fortgeübten Stilweisen zusammen.
Wenn, wie ich annehme, die ältere dieser Stilweisen die
von Nordeuropa her über Altitalien verbreitete war, und nur
allmälig der über das Mittelmeer herandringenden anderen
Stilweise wich, so stimmt hiermit das sehr gehäufte Vorkommen
der ersteren bei den Funden gerade im Norden Italiens und in
den Alpenländern gut überein. Einige Prachtexemplare enthält,
aus Funden der Umgegend her rührend, das Museo civico in
Trient. Es sind Bronzeschmuckgegenstände, deren Linear
ornament aus lauter in Reihen gestellten getriebenen Pünktchen
und grösseren runden Buckeln besteht, an denen dreieckige
ebenso verzierte Bronzeblechstücke und eine ganze Anzahl von
grösseren und kleineren bullae aufgehängt sind. 1 Die bei den
Römern zuletzt in Gebrauch bleibende bulla ist kaum anders
als ein letzter Rest eines hier in primitivem Uebermaasse ver
wandten Zierrathes anzusehen. An einem dieser Trientiner
Schmuckstücke erscheint zwischen denselben Ornamenten und
den bekannten concentrischen Kreisen auch ein rohes mensch
liches Gesicht und zwei Pferdeköpfe, also immer die dem frag
lichen Stile eigenthiimliehen Formelemente. Einige einfachere
Exemplare von Bronzeplättchen mit derselben Ornamentik be
wahrt auch das Museo civico zu Roveredo. Es ist überall der
selbe Charakter, nach welchem einheimische Antiquare dieser
Gegenden derartige Alterthümer als keltische zu bezeichnen
pflegen; wir haben schon betont, wie weit mit Recht.
Zu diesen keltischen Alterthümern der Alpenländer ge
hören auch höchst rohe, aber, wenn man sie in grösserer An
zahl sieht, doch unverkennbar einen bestimmten Stil, nicht
eine beliebige Unbeholfenheit, wie sie jederzeit Vorkommen kann,
verrathende Menschenfigürchen von Bronze. Sie sind nackt
und zeigen immer den Geschlechtstheil besonders markirt; ich
bemerkte mir ein Exemplar im Museum zu Cividale, eines im
Museo civico zu Roveredo, eines in der Sammlung des Gym-
1 Vergl. z. ß. die Fibula mit Anhängseln rheinischen Fundorts Mon. Ann.
e bull, deir inst, di corr. arch. 1855, tav. 33, 8. Ferner vergl. Sacken,
das Grabfeld von Hallstadt S. 64, Anm. 3.
Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
249
nasiums zu Botzen, eines im Ferdinandeum zu Innsbruck, eine
ganze Anzahl solcher Figuren befindet sich auf dem zu Strett-
weg bei Judenburg gefundenen, jetzt im Johanneum zu Graz
befindlichen, auch in Abgüssen verbreiteten Bronzewagen; 1
auch die menschlichen Figuren auf den Bronzerüstungsstücken, 2
welche ebenfalls in Steiermark bei Klein-Glein unweit Leibnitz
gefunden, auch im Johanneum zu Graz aufbewahrt werden.
Alle diese Bilder menschlicher Figuren halten sich auf der
Stufe der durch Hirschfeld nun auch auf den ältestgriechischen
Vasen nachgewiesenen und der, wie wir anführten, höchst wahr
scheinlich mit solchen Vasen zusammen gefundenen Figiirchen.
Ganz richtig stellte hierzu bereits Kemble 3 die altitalischen
Figiirchen, welche mit der übrigens gefälschten Koller’schen
Cista zusammengesetzt wurden.
Wenn ich hiermit für dieses Mal die Besprechung meines
Thema’s beschliesse, so bin ich sicher, dass es nicht die letzte
Erörterung desselben sein wird. Gewichtige entgegenstehende
Auffassungen werden, wenn überhaupt, keinesfalls leicht über
wunden werden; Vieles wünsche ich selbst erst noch weiter zu
verfolgen; ein Schritt zur Verständigung muss aber jedenfalls
mit meiner hoffentlich unzweideutigen Darlegung der Art ge
schehen, wie ich das historische Verhalten des hoclialterthüm-
lichen Stils, dessen Existenz daselbst etwas längst Anerkanntes
ist, auf italischem Boden und speciell in der etruskischen Kunst
glaube fassen zu müssen. Wenn man erst einmal zugeben
wird, dass er bei den Etruskern, wie in Griechenland eine
älteste und wahrscheinlich von dem Volke bei seiner Einwande
rung vom Norden her schon mitgebrachte, übrigens der anderer
auf demselben Wege gekommener altitalischer Völker gleich
artige Kunstweise repräsentirt, dann wird es auch, so viel ich
sehen kann, immer mehr historisch unwahrscheinlich, ihm erst
von Etrurien aus einen Einfluss auf den ganzen Norden Euro
pas zuzuschreiben; denn man müsste damit annehmen, dass
das etruskische Volk mit seiner Kunst auf einer sehr unent-
1 Mittheil, des histor. Vereins für Steiermark III, 1852, S. 67 iF., Taf. I—VI.
2 Mitth. des histor. Vereins für Steiermark VII, 1857, S. 185 ff., namentlich
Taf. III.
3 Horae ferales S. 244.
250
Conae Zur Geschichte der Anfänge griechischer Kunst.
wickelten Stufe einen gewaltigen, später auf der Stufe seiner
von Vorderasien und Griechenland aus befruchteten, reicher
entwickelten Cultur und Kunst einen weit schwächeren Ein
fluss durch Export seiner Kunstproducte nach dem Norden
hin ausgeübt hätte; sind doch die durch Pflanzenornament und
andere Bildungen vorderasiatischer und griechischer Phantasie
gestalten als dieser entwickelteren etruskischen Kunstindustrie
angehörig sich erweisenden Fundstücke im Norden gering an
Zahl gegenüber den den ganzen Norden erfüllenden Producten
jenes primitiveren Stils.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
LXXIII, BAND. II. HEFT.
JAHRGANG ]873. - FEBRUAR — MÄRZ.
Sitzungsber. a. pkil.-hist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft.
17
Y. SITZUNG VOM 5. FEBRUAR 1873.
Der Secretär legt vor die ,syrische Apokalypse Pauli',
welche das c. M. Herr Prof. P. Pius Zingerle eingesendet hat.
Das w. M. Herr Dr. A. Pfizmaier hält einen Vortrag-
,über die poetischen Ausdrücke der japanischen Sprache'. Diese
Abhandlung wird in den Denkschriften veröffentlicht werden.
Von Seite der philos. histor. Classe wird das w. M. Herr
Regierungsrath Prof. Zimmermann zum Preisrichter für das
Grillparzerstiftungs-Preisgericht gewählt, und nimmt die Wahl an.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Acad4mie des Sciences, Belles-Lettres & Arts de Lyon. M^moires. Classe
des Lettres. Tome XIV“. Paris & Lyon, 1868—1869; Classe des Sciences.
Tome XVIIl e . Paris & Lyon, 1870—1871; g-r. 8°.
— Imperiale des Sciences de St. Petersbourg: Bericht über die 13. und 14.
Zuerkennung der Uvarov’sehen Preise. St. Petersburg, 1871; 8°.
Aceademia Pontificia de’ Nuovi Lincei: Atti. Anno XXVI, Sess. 1“. Roma,
1873; 4°.
A.scoli, G. .1., Archivio glottologico Italiano. Vol. T. Roma, Torino, Firenze,
1873; gr. 8».
Gesellschaft, Deutsche Morgenländische: Zeitschrift. XXVI. Band, 3. & 4.
Heft, und Register zu Band XI—XX. Leipzig, 1872; 8°.
Guarini, Carlo, Gl’ Italiani in terra santa. Bologna, 1872 ; gr. 8°.
17*
2,54
Helsingfors, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften ans d. .1.
1871—1872. 4» & 8°.
Marburg, Universität: Akademische Gelegenheitsschriften aus d. J. 1871 bis
1872. 4», 8° & Folio.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 19. Band, 1873.
I. Heft. Gotha; 4".
,R e v u e politique et litteraire 1 et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 . H e Annde, 2° Serie, Nr. 31. Paris, 1873; 4°.
Societd Nationale Acaddmique de Cherbourg: Meinoires. 1871. Clierbourg &
Caen; 8°.
YI. SITZUNG VOM 12. FEBRUAR 1873.
Das c. M. Herr Prof. Dr. Zeissberg in Wien legt vor
des Jobann von Komorowo Tractatus cronice fratrum minonun
observancie.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Bibliolheca man?/scripta ad S. Marti Venetiarum. Codices mss. Latini.
Tom. V. Veneliis, 1812; 8° .
Gesellschaft, geographische, in Wien: Mittheilungen. Band XVI (neuer
Folge VI). Nr. 1. Wien, 1873; 8».
Istituto, R., Veneto di Scienzc, Lottere ed Arti: Atti. Tomo II 0 . Serie
IV", Disp. 1“. Venezia, 1872—73; 8°.
Königsberg, Universität: Akademische Gelegenlieitsschriften aus dem Jahre
1872. 4° & 8°.
Luscliin, Arnold, Die Entstehungszeit des österreichischen Landrechtes.
Eine kritische Studie. Veröffentlicht von der k. k. Universität zu Graz zur
Jahresfeier am 15. November 1872. 4°.
Mittheilungen des Bureau für die land- und forstwirthschaftliclie Statistik
des Königreiches Böhmen. Heft I. Prag. 1872; 4°.
Ossolinskisclies National-Institut: Sprawozdania z czynnosci zakladu na-
rodowezo imienia Ossolinskich za lata 1870 —1872, W Lwowie, 1873; 8°.
Räjendraläla Mitra, Notices of Sanskrit Mss. Nr. IV. Vol. II. Part. 1,
Calcutta, 1872; 8°.
255
jßevue politique et litteraire“ et ,Revue seientifique de la France et de
l’etranger“. II C Annee, 2° Serie, Nr. 32. Paris, 1873; 4".
Wolf, Rudolf, Beiträge zur Geschichte der Schweizer-Karten. 1. Zürich
1873; 4°.
VII. SITZUNG VOM 5. MÄRZ 1873.
Der Secretär legt vor:
1. eine Abhandlung des corri Mitgl. Herrn Professor
Dr. Werner in Wien ,über die Psychologie des Wilhelm von
Auvergne 4 .
2. eine Abhandlung des Herrn Professor Dr. Ed. Sachau
in Wien, betitelt ,Zur ältesten Geschichte und Chronologie von
Khwärizm (oder Khiwa) 4 .
3. ein von Herrn Franz Peyscha, Stadtrath in Olmütz,
eingesendetes Manuscript unter dem Titel ,Beiträge zur Bela
gerung von Olmütz im J. 1758‘.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academy, The American, of Arts and Sciences: Proceedings. Vol. VIII.
Sign. 38-51. 8».
Akademie, König!. Preuss., zu Berlin: Monatsbericht. November 1872.
Berlin, 1873; 8«.
Mittheilungen aus .T. Perthes’ geographischer Anstalt. 19. Band, 1873,
Heft H. Gotha; 4».
Nachrichten über Industrie, Handel und Verkehr aus dem statistischen Depar
tement im k. k. Handels-Ministerium. I. Band, 1. & 2. Heft. Wien, 1873; 4°_
,Revue politique et litteraire“ et ,Revue seientifique de Ia France et de
l’etranger“. 11° Annee, 2° Serie, Nrs. 33—35. Paris. 1873; 4°.
Santiago de Chile, Universidad: Anales de 1870. Santiago de Chile; 8°. —
Memorias de los ministros del Interior, Relaeiones Esteriores, Justicia,
Hacienda, Guerra i Marina de 1870. 8". — Sesiones de la Ciimera de
Senadores de 1870. No. I—II. 4°. — Sesiones de la Camera de Diputados
de 1870. Nr. I—II. 4°.
Society, The Royal, of London: Philosophical Transactions. For the Year
1871. Vol. 161, Part XI.; For the Year 1872. Vol. 162, Part I. London,
1872; 4°. — Proceedings. Vol. XX, Nrs. 130 — 138. London, 1871—72; 8°.
— Catalogue of Scientific Papers (1800—1863). Vol. VI. London, 1872; 4°.
— The Royal Society. 30 th November 1871. 4°.
Werner. Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
257
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
Yon
Prof. Dr. K. Werner,
correspondirendem Mitgliede der k. Akademie der Wissenschaften.
Wilhelm von Auvergne, ein berühmter Lehrer der Pariser
Hochschule und nachmaliger Bischof von Paris (anno 1228 bis
1248), daher er auch unter der Benennung Wilhelm von Paris
erscheint, gehört nach seiner geschichtlichen Stellung in der
Entwickelung der mittelalterlichen Scholastik jener Epoche an,
welche dem Auftreten Albert’s des Grossen und der theologi
schen Summisten des 13. Jahrhunderts unmittelbar vorhergeht.
Wenn in den Summisten oder-theologichen Systematikern dieses
Jahrhunderts Aristoteles zur vollkommenen Herrschaft in der
Schule gelangte, so zeigt sich bereits Wilhelm so weit vom
Einflüsse desselben beherrscht, dass er, obschon keineswegs
selber schon Aristoteliker, doch vielfach bereits peripatetische
Sprechweise annimmt, und mit den Aristotelikern seines Zeit
alters sich umständlich auseinanderzusetzen veranlasst sieht.
Ueber den Grad und Umfang seiner Bekanntschaft mit Aristo
teles und den arabischen Aristotelikern finden sich die urkund
lichen Nachweisungen in der von A. Stalir übersetzten Schrift
Jourdain’s über die mittelalterlichen lateinischen Uebersetzun-
gen des Aristoteles; 1 über seine Universalienlehre hat am aus
führlichsten Haureau 2 berichtet. Für das bedeutendere seiner
1 Geschichte der aristotelischen Schriften im Mittelalter. Halle 1831
S. 271—280.
2 De la philosophie scolastique. Paris 1850. Tom. I, pag. 444—455.
258
Werner.
Werke hat von jeher seine Schrift de Universo gegolten, 1 von
welcher Daunou, einer der Mitverfasser der Histoire litteraire
de la France eine ausführliche Inhaltübersicht gibt; 2 charak
teristische Proben aus ihr sind auch in Tiedemann’s Geschichte
der Philosophie ausgehoben. 3 Nächst dieser Schrift hat eine
andere minder umfangreiche, aber noch immerhin ausführlich
genug gerathene: de anima, 1 auf allgemeineres Interesse An
spruch, sofern sie für die Geschichte der Psychologie im christ
lichen Mittelalter von Belang ist; und diess nicht bloss darum,
weil sie die Reihe der seit Tertullian und Augustin im patristi-
schen Zeitalter, und weiter seit Alcuin im früheren Mittelalter
speciell der Seelenlehre gewidmeten Schriften fortsetzt, sondern
auch, weil sie neben dem Eigentümlichen, das sie enthält,
ein ziemlich genaues Bild von der Gestalt und Beschaffenheit
der sogenannten rationalen Psychologie des scholastischen Mit
telalters unmitttelbar von deren vollkommener Durchsetzung
mit aristotelischen Anschauungen darbietet. Wir werden in
der Analyse ihres Inhaltes nicht ermangeln, auch nach rück
wärts und vorwärts vergleichende Blicke zu werfen, um die
Beleuchtung desselben für die Geschichte der mittelalterlichen
Psychologie so viel als thunlich nutzbar zu machen.
Wilhelm theilt seine Schrift de anima in sieben Haupt
abschnitte (Capitula), in welchen er von der Existenz und
Wesenheit der Seele, so wie vom Verhältniss derselben zum
Leibe, von der Einheit, vom Ursprünge, von der Unsterblich
keit und von der intellectiven Begabung dos menschlichen Seelen
wesens handeln will. Die Capitula oder Hauptabschnitte zer
fallen wieder in Partes oder Einzelnummern, deren grösste
Zahl der von der Unsterblichkeit handelnde sechste Hauptab
schnitt aufweist. Auch die Capitula über den Seelenursprung
und über das intellective Leben der Seele sind mit verhältniss-
mässig grosser Ausführlichkeit bearbeitet. Der Deutlichkeit
1 Enthalten in der Gesammtausgabo seiner Werke. (Orleans und Paris
1674. 2 Bde. Fol.) Tom. I. p. 593—4074.
2 Hist. litt, de la France. Tom. XVIII, p. 368—376. Vgl. auch Franck’s
Dietionnaire des Sciences philosophiques (Artikel: Guillaume de Paris).
Tom, II, p. 612.
3 Geist der specnlativen Philosophie, Bd. IV. S. 346—358.
4 ) Gulielmi Alverni Opp. Tom. II, Pars II, p. 65—228.
Die Psj'cliologie des Wilhelm von Auvergne.
259
halber bemerken wir, dass wir im Nachstehenden die Capitula
mit römischen Zahlzeichen, die Partes mit arabischen Ziffern
citiren worden.
Wilhelm von Auvergne knüpft den Nachweis der Existenz
der Menschenseele an die Begriffsbestimmung der Seele, die
er 1 gemäss der ihm vorliegenden arabisch-lateinischen Ueber-
setzung des aristotelischen Werkes Töepl <]>u-/% 2 definirt als Per-
fectio corporis physici organici potentia vitam habentis. Aus
dieser Begriffsbestimmung, die für jedes Lebendige und Be
seelte gilt, folgert Wilhelm unmittelbar, dass der Mensch ohne
Seele nicht gedacht werden könne. Der Mensch ist wesentlich
ein Lebendiger, da eine Leiche kein Mensch mehr ist; der
menschliche Körper hat sonach das Leben von der Seele oder
ist in Kraft seiner Seele ein Lebendiger; also ist es undenk
bar, dass der Mensch ohne Seele sei. Die Seele verleiht dem
Menschen das Menschsein; 3 wer sonach die Existenz der Men
sehenseele läugnet, spricht dem Menschen das Menschsein ab, 1
und kann ohne gröbsten Widerspruch dasselbe nicht für sich
selbst in Anspruch nehmen. Er versündigt sich gegen die aller
umnittelbarste und einfachste Denk Wahrheit, dass man Ein und
Dasselbe unter dem einen und selben Gesichtspunkte nicht zu
gleich bejahen und verneinen könne. Der Läugner der Seele
ist demnach zu fragen, ob er die Giltigkeit dieser einfachsten, un
mittelbar durch sich selber einleuchtenden Denkwahrheit einsieht
und zugibt; behauptet er sie nicht einzusehen und will er sie
nicht zugeben, so zeigt er sich als ein verstandloses Wesen,
mit dem sich gar nicht mehr verhandeln lässt. Wenn er aber
jenes erste und elementarste Gesetz alles Denkens zwar zu
gibt, aber seine Anwendbarkeit auf den in Rede stehenden
Fall läugnet, so hat man ihn zu fragen, ob das Wissen und
Verstehen, das ihm nach seiner innersten Ueberzeugung eigen
ist, in ihm als Ganzem, oder nur in einem Theile seiner selbst
sei. Behauptet er, es sei in ihm als Ganzem, so muss es in
jedem Theile dieses Ganzen, also auch in der Hand und im
1 De anima I, !.
2 Vgl. Jourdain a. a. O., S. 273.
3 De an. I, 2.
4 De au. 1, 3.
260
Werner.
Fusse, in Fingern und Zehen sein. Wer aber hat je sein Er
kennen und Verstehen seinen Fingern und Zehen beigeleg-t?
Also ist es in ihm nicht als Ganzem, sondern muss einem be
stimmten Theile des Ganzen specifisch eignen. Soll dieser
Theil ein Theil vom Körper sein, so erscheint abermals die
schon abgewiesene Widersinnigkeit, dass entweder Hand oder
Fuss, oder sonst ein Glied an ihm denke und verstehe. Also
muss dasjenige, dem als solchem das Denken und Verstehen
zukommt, etwas vom Leibe Verschiedenes, Unkörperliches sein.
Fragen wir uns, was wir von dieser einen heutigen Leser
ziemlich seltsam anmuthenden Einleitung und Grundlegung der
psychologischen Erörterungen Wilhelms in methodischer und
sachlicher Hinsicht zu halten haben. Wir werden uns in bei
derlei Hinsicht die grosse Unvollkommenheit derselben nicht
verhehlen dürfen. Nicht in methodicher Hinsicht; denn wenn
es zum Begriffe der Seele gehört, den Menschen zum Menschen
zu machen, so ist es ja völlig überflüssig, beweisen zu wollen,
dass der Mensch eine Seele habe, weil dies nichts anderes
heisst, als beweisen wollen, dass der Mensch wirklich Mensch
sei. Es ist aber weiter auch die Frage, ob durch die vor
stehende Ausführung jener Begriff der Seele erwiesen sei, dessen
Erweisung Wilhelm sich im Voraus zum Zwecke setzte. Frei
lich, wenn Alles, was ausser der crassen Stofflichheit als solcher
an und im Menschen ist, Seele ist oder zur Seele in unlös
licher wesentlichster Beziehung steht, so ist durch das Gesagte
erwiesen, nicht nur, dass der Mensch eine Seele habe, sondern
auch, dass sie sowohl Lebensprincip des stofflichen Leibesge
bildes, als auch Denk- und Willensprincip im lebendigen Men
schen sei. Dass sie aber diess Alles als eine vom stofflichen
Leibesgebilde wesenhaft verschiedene unstoffliche Realität sei,
ist nicht erwiesen; und für Wilhelm erzeugt sich der Schein,
es bewiesen zu haben, nur durch die höchst rohe Fassung des
Leibes als blosser Stoffmasse, als blossen Körpers, was auch der
Stein und der Metallklump ist. Dass der menschliche Leib
schon als organisches Gebilde etwas Mehreres, denn eine blosse
Stoffmasse sein müsse, ist ein ihm, und wohl überhaupt seinem
Zeitalter fremder Gedanke; er weiss wohl, dass die organischen
Gebilde belebt seien, nicht aber, dass das Organische seinem
Begriffe nach das Lebendige sei. Ihm hat das Organische einzig
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
261
die Bedeutung des Werkzeuglichen; demzufolge folgert er aus
der organischen Bildung des Leibes einzig nur seine dienst
liche Bestimmung für eine ihm einwohnende Seele. Kein In
strument, sagt Wilhelm, 1 gebraucht und regiert sich selber,
sondern wird durch einen das Instrument Handhabenden ge
braucht und regiert; also ist die Seele etwas von dem durch
sie gebrauchten und regierten Leibe wesenhaft Verschiedenes.
Consequenter Weise behauptet demnach Wilhelm auch von
den Thier- und Pflanzenseelen, dass sie von den Thier- und
Pflanzenkörpern verschiedene Substanzen seien, 2 die natürlich
im Gegensätze zur Stofflichkeit der von ihnen beseelten Körper
als spirituelle Substanzen gedacht werden müssen. Hier stellt
sich nun folgerichtig das Dilemma ein, dass entweder diese
spirituellen Substanzen als unsterblich gedacht werden müssen,
oder dass es neben unsterblichen Geistern auch vergängliche
Geistsubstanzen gebe. Wilhelm entscheidet sich für die leztere
Alternative, deren Festhaltung jedoch zu der Annahme nöthigt,
dass jene vermeintlichen Geistsubstanzen der Thier- und Pflan
zenseelen doch nicht in strengstem Sinne geistig und immateriell
sondern nur geistartig und quasi-immateriell seien, weil sie
sonst nicht als auflöslich gedacht werden könnten. Wird aber
die Möglichkeit solcher Substanzen zugegeben, so sieht man
nicht ein, wesshalb nicht eben so gut zugegeben werden sollte,
dass die Materien der Thier- und Pflanzenkörper innerlich bis
zu dem Grade verfeinert und gleichsam vergeistiget werden
könnten, dass an ihnen die Functionen der Irritabilität und
Sensibilität hervortreten. Diese Verfeinerung und Quasiver
geistigung des Körperlichen vollzieht sich eben durch Umsetzung
der groben Stofflichkeit in organische Leiblichkeit; wobei frei
lich ein dem Stoffe eingesenktes plastisches Princip supponirt
werden muss, welches jedoch keine andere, denn eine rein
gedankenhafte Realität hat und eben nur den in den Stoff' pro-
jicirten und in demselben sich verwirklichenden Wesensge
danken des Dinges bedeutet. Dieser Wesensgedanke eines be
stimmten einzelnen Sinnendinges ist aber nur ein einzelnes
Moment im Gedankensysteme der gesammten sichtbaren Natur
wirklichkeit, und daher aus seinem Zusammenhänge mit der
1 De an. I, 3.
2 De an. I, 5.
262
Werne r.
Idee des Naturganzen zu verstehen; diese. Idee aber ist, wie
ihre Verwirklichung im Naturganzen und in allen Sondersphären
und Sondertheilen dieses Ganzen bekundet und offenbart, als
eine lebendige Macht zu fassen, die den Stoff nach sich ge
staltet und durch ihre Gestaltungsfähigkeit die Lebendigkeit
desselben nach allen denkbaren Arten und Graden dieser Leben
digkeit bedingt und hervorbringt. Beim Menschen tritt an die
Stelle der organisirendenNaturmacht ein sclbstigesPersonsprincip,
au die Stelle der unpersönlichen Idee eine persönliche geistbegabte
Seele, die im organisationsfähigen Stoffe sich selbst abgestal
tet, während in jedem anderen organischen Lebewesen nur ein
unpersönlicher Artbegriff sich verwirklichet, 1 welcher der Idee
des organischen Naturganzen als constitutives Theilglied ein
gefügt ist. Der Mensch ist wohl auch, von Seite seiner sinn
lich-stofflichen Leiblichkeit angesehen, ein blosses Theilglied
des Naturganzen, behauptet aber nicht nur in Ansehung der
vollkommenen und ebenmässigen Durchbildung seines leiblichen
Organismus die höchste Stufe in der sinnlichen Erscheinungs
welt, sondern stellt sich zufolge des mikrokosmischen Charak
ters seines von einer geistbegabten Seele durchgeisteten leib
lichen Organismus als sublimirte Recapitulation des sichtbaren
Weltganzen und als der sichtbare Anfang einer neuen höheren
Geistordnung über und auf dem Grunde der sichtbaren Natur
ordnung dar, wodurch er schlechthin und für immer über die
rein sinnliche Lebewelt emporgehoben ist.
Diess sind Anschauungen und Gedanken, deren vollkom
mene speculative Entwickelung über den Horizont der specula-
tiven Scholastik entschieden hinausgreift, obschon sich in letz
terer Anknüpfungspunkte hiefiir darbieten, aber nur nicht in
1 Die in der Gegenwart so lebliaft ventilirte Frage, ob es in der leben
digen Naturwirklichkeit einen festbegrenzten Artbegriff gebe, der in einen
anderen nicht hinübergebildet werden könne, ist zunächst wohl nur ein
naturwissenschaftliches Problem; vom Standpunkt einer speculativen Ideal
philosophie aber wird gesagt werden müssen, dass einzig die Menschen
form, die höchste und durchgebildetste aller Formen der Sichtbarkeit eine
inalterable, bleibende Form sei, während die ihr subordinirten Wcseus-
uud Lebensformen sämmtlicli dem veränderlichen Wechsel alles Vergäng
lichen anheim gegeben sind. Sie sind eben keine Idealtypen, sondern
einfach nur Projectionen der im Stoffe sich verwirklichenden Naturidee.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
263
der durch Wilhelm und seine Vorgänger vertretenen Entwicke
lungsepoche derselben, sondern in jener, in deren Anfänge die
Lebenszeit Wilhelms noch hineingreift, ohne dass er bereits
selber in eine thätige Mitwirkung mit den Bestrebungen der
selben hineingezogen worden wäre. Wilhelm refiectirt in seinen
Grundanschauungen über das Wesen des Menschen und der
Menschenseele einfach jene der augustinischen Psychologie,
von der man sagen kann, dass sie durch das ganze frühere
Mittelalter bis in’s 13. Jahrhundert herab die herrschende
blieb; von da an substituirte sich ihr unter den nöthigen sach-
gemässen Modificationen die aristotelische, in deren Terminen
theilweise wohl auch schon Wilhelm redete, in ihren Gedanken
gehalt aber nicht einging. Ohne gegen die wesentlichen Män
gel der scholastisch-aristotelischen Psychologie blind zu sein,
wird man doch nicht verkennen dürfen, dass die Hinwendung
von der augustinisch-platonischen Behandlung der Seelenlehre
zur scholastisch-aristotelischen einen Fortschritt in der methodi
schen Behandlung der Probleme der Psychologie begründete,
indem denn nunmehr nicht bloss die verschiedenen Arten der
seelischen Functionen und die verschiedenen Stufen der see
lischen Lebensentwickelung einer sorgfältigeren und distincteren
Untersuchung unterzogen, sondern auch das Somatische als
solches und als Unterlage der seelischen Lebensentwickelung
genauer in Betracht gezogen wurde. Es war eine Reaction
gegen den abstracten unvermittelten Dualismus von Geist und
Materie, der durch die scholastisch-aristotelische Psychologie
freilich nicht innerlich und speculativ überwunden wurde, und
daher nach dem grundsätzlichen Bruche mit der Scholastik so
fort im Cartesianismus wieder auflobte; er wurde jedoch im
scholastischen Peripatetismus insofern gemildert und gleichsam
überbrückt, als die Seele unter den Begriff der den gestaltungs
bedürftigen Stoff complirenden Form gefasst, und weiter auch
die verschiedenen Grade der stets höher gesteigerten Formation
des Stofflichen durch die aufeinanderfolgenden Stufen der see
lischen Lebensthätigkeit aufgewiesen würden. Bei solcher di-
stincten Auseinanderhaltung dieser Stufen konnte es den peri
patetisch geschulten Scholastikern nicht in den Sinn kommen,
durch Aufweisung eines von der crassen Stofflichkeit des Lei
bes zu unterscheidenden Lebensprincipes unmittelbar auch schon
264
Werner.
die Existenz und Wesenhaftigkeit der im Menschen denken
den Seele aufgewiesen zu haben; die Rücksicht auf die Lehren
der arabischen Aristoteliker legte ihnen die Nöthigung auf,
umständlich und ausführlich zu erweisen, dass diejenigen Be
gabungen, welche den Unterschied des Menschen von den blossen
Sinnenwesen begründen, dem Menschenwesen als solchem eigen
seien und zur Natur desselben gehören, dass also die mensch
liche Seele neben der Fähigkeit des sinnlichen Vorstellens auch
jene des Denkens und Verstehens wesentlich zu eigen habe.
Wenn Averroes (Ibn Roschd) von einem Gesammtverstand der
Menschheit sprach, der in allen Einzelnen denke, so hatten ihm
gegenüber die christlichen Aristoteliker den Intellect als ein
allen Einzelnen wesenhaft eignendes Vermögen zu erweisen;
behauptete Avicenna (Ibn Sina), dass der Intellect den Einzel
seelen zwar der Möglichkeit nach eigne, diese Möglichkeit aber
durch die aus dem höchsten Urwesen ausgeflossene Intelligentia
prima actuirt werden müsse, so hatten dem gegenüber die
christlichen Aristoteliker zu erweisen, dass der der mensch
lichen Seele eignende Intellect aus selbsteigener Kraft sich
actuire, und den in den recipirten Vorstellungen latirenden
Geistgehalt aus denselben hervorziehe. Hiebei kam aber den
peripatetischen Scholastikern, zufolge der sich ihnen aufdringen
den NothWendigkeit, das selbstthätige Erkenntnissieben der
Menschenseele auf Grund ihres sinnlichen Vorstellungslebens
sich actuiren zu lassen, die Angewiesenheit der intellectiven
Menschenseele an ihre Verbindung mit dem ihr eignenden
Leibe, und der darin begründete Stufenunterschied der Men
schenseele von den leibloseu oder reinen Intelligenzen sehr leb
haft und eindringlich zum Bewusstsein, obwohl sie, einem voll
kommen selbstständigen speculativen Verfahren abhold, nicht
bis dahin vordrangen, die Menschenseele für etwas von den
sinnlich erkennenden Naturwesen und den leiblosen Intelligenzen
specifiseh verschiedenes Drittes zu fassen — ein Schritt, von
welchem sie schon ihr Festhalten an der auf aristotelischer
Grundlage angenommenen Vorstellung einer gradlinig aufstei
genden Stufenleiter vom Niedersten bis zum Höchsten, von
der irdischen Materie bis zu Gott hinan abhielt. Jedenfalls
aber war durch die graduelle Location der Menschenseelen
unter die Engel der von Augustinus ausgesprochene Gedanke
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
265
einer Wesensgleichheit der Menschenseelen mit den höheren
Geistern 1 entschieden abgelehnt, und damit auch eine wesent
lich andere Auffassung und Behandlung der Fragen und Pro
bleme intonirt, wie wir des Näheren sofort ersehen werden.
Die augustinisclie Psychologie steht im Gegensätze zur
aristotelischen wesentlich auf platonischem Standpunkte, womit
natürlich nicht eine Identität der augustinischen Psychologie
mit der platonischen, sondern nur die allgemeine Richtung der
ersteren bezeichnet werden will. Die augustinisclie Psychologie
zeigt sich mit der platonischen verwandt, sofern sie mit Vor
liebe den gottverwandten Zügen des menschlichen Seelenwesens
nachforscht, so dass sich ihr das gottverwandte Wesen der
menschlichen Seele als Hauptgegenstand der psychologischen
Betrachtung in den Vordergrund stellt, und alles Andere, was
die rationelle Psychologie sonst noch in den Kreis ihrer Er
örterungen zu ziehen hat, fast nur als Vorbedingung der rich
tigen Erkenntniss dessen, was die Seele nach ihrer gottver-
wandten Seite ist, erscheint. Dabei betont sie im Gegensätze
zu der von den scholastischen Peripatetikern urgirten Mittel
barkeit des seelischen Selbsterkennens die Unmittelbarkeit dieses
Erkennens, und bezeichnet die selbsteigene Seele des Menschen
als das seinem Erkennen nächstgelegene, und zufolge ihrer
Geistigkeit zugleich weit heller und klarer als die sinnliche
Körperwelt, erkennbare Object. Dieser Charakter verblieb der
christlichen Psychologie während der ganzen früheren Hälfte
des Mittelalters, und tritt auch in den psychologischen Erörte
rungen Wilhelms trotz ihrer Versetzung mit den in der peri
patetisch gewordenen Scholastik üblichen Digressionen und
Untersuchungen deutlich genug hervor. Die menschliche Seele
erkennt sich, sagt Wilhelm, 2 aus ihren Handlungen, Stim
mungen und Thätigkeiten nicht nur eben so genau, als man
den Sokrates oder einen anderen Menschen an den seine Per
son kenntlich machenden äusseren Merkmalen erkennt, sondern
1 Vgl. Aug. de lib. arb. III, 11: Anima; rationales illis superioribus (spiri-
tibus) officio quidem impares, sed natura pares sunt. — De quant. an.,
c. 34: Eorum, quse Deus creavit, anima rationali quidquam deterius est,
quiddam par: deterius, ut ut anima pecoris, par ut augeli, melius autem
nihil.
2 De an. III, 12.
266
W erner.
noch weit genauer, weil die Selbsterkenntniss der Seele nicht,
wie die äussere Personenlcenntniss, durch Sinneseindrücke ver
mittelt, sondern eine unmittelbare Intellectualerkenntniss ist.
Wenn man nach Aristoteles an der Sprechweise des Menschen
den ihn innerlich bewegenden Affect erkennt, um wie viel
mehr wird die Seele an ihren Affecten und Stimmungen, die
ihr unmittelbar inhäriren, sich selber erkennen! Man sagt
wohl, dass die Leidenschaften die Selbsterkenntniss der Seele
verdunkeln; diese Verdunkelung geht indess nicht soweit, dass
der mit einem bestimmten Laster Behaftete nicht wüsste, dass
er dasselbe übe; im Gegentheile ist ihm dieser Habitus seiner
Seele unmittelbar bewusst. Wenn es den Menschen thatsäch-
lich sehr schwer ist, sich zum intellectuellen Erkennen des
geistigen Wesens seiner Seele zu erheben, so hat diess seinen
Grund in der Gewöhnung an die sinnliche Anschauung, 1 die
z. B. auch macht, dass Viele, obschon sie um die Geistigkeit
der Engelwesen wissen, sich doch dieselben unter jenen Ge
stalten vorstellen, in welchen sie dieselben auf Gemälden oder
durch Statuen dergestalt zu sehen gewohnt sind. Es ergeht
dem Menschen hiebei so, wie es dem menschlichen Auge er
geht, wenn es an die Dunkelheit gewöhnt plötzlich von der
lichten Tageshelle überrascht und geblendet wird. Diese Hin
dernisse und Wirrnisse des zeitlich-irdischen Menschendenkens
werden hinwegfallen, wenn der Mensch dereinst mit dem ewigen
Lichte der Geister d. i. mit Gott ganz und vollkommen ver
einiget sein wird.
Die Zuversicht, mit welcher Wilhelm das unmittelbare
Selbsterkennen der menschlichen Seele behauptet, stützt sich
auf seine Ueberzeugung von der Geistigkeit, und von der in
dieser Geistigkeit begründeten Einfachheit der Seele. Diese
lässt nämlich nach seiner Ansicht eine Abscheidung der Seelen
vermögen vom Wesen der Seele nicht zu; 2 von der Essenz
der Seele abgeschieden müssten die sogenannten Seelenver
mögen als Accidenzen genommen werden, reine Accidenzien
können aber nicht als Wirkungsprincipien genommen werden.
Also sind die ihnen zugeschriebenen Wirkungen eben nur un-
1 Do ,in. III, 14.
2 De an. III. G.
Die Psychologie des Wilhelm von Anvergne.
267
mittelbar Wirkungen der Seelensubstanz selber. Wenn sonach
von einem Erkennen, Wollen, Zürnen, Begehren u. s. w. der
Seele die Rede ist, so hat man der Seele nicht ein besonderes
Erkenntnisvermögen, Willensvermögen, ^9-ugaov und up,y)Ttz.sv
beizulegen, sondern in den Operationen dieser verschiedenen
vermeintlichen Vermögen ist jederzeit unmittelbar die Seele
als solche thätig, die ihrer Substanz nach Eine nach verschie
denen Beziehungen auf verschiedene Weise wirkt. Wilhelm
kann mit gutem Grunde sagen, dass diese Lehre nicht seine
Erfindung ist, und sich auf aliquos ex majoribus et sapienti-
oribus theologorum legis christianorum berufen, die eben so
gelehrt hätten. So weit und wo immer durch das ganze frühere
Mittelalter bis auf Wilhelm herab Augustins Ansehen herrschte,
galten auch die von Wilhelm vertretenen Sätze über die Ein
fachheit der untheilbaren Einen Seelensubstanz im Menschen.
Wir berufen uns der Kürze halber auf eine aus verschiedenen
Autoren der patristischen und der älteren mittelalterlichen Zeit
zusammengetragenen Schrift psychologischen Inhaltes, die den
unter Hugo’s a St. Viotor Namen gehenden vier Büchern de
anima als zweites Buch einverleibt ist, und unter dem Titel:
De spiritu et anima, auch unter den unechten Werken Augustin’s
vorkommt. 1 Sofern diese Sammelschrift die Sätze und Lehren
der vornehmsten und bekanntesten Vertreter christlich-philo
sophischer Anschauungen von Augustinus an bis in’s zwölfte
Jahrhundert herab wiedergiebt, kann sie als Repräsentation
der psychologischen Anschauungen des gesammten früheren
Mittelalters gelten. Die in dieser Schrift vorgetragenen Lehren
sind nun grösstentheils augustinische, entweder unmittelbar aus
den Schriften Augustins selber gezogen, oder aus den Werken
anderer Verfasser, von welchen Augustins Schriften zu Rathe
gezogen wurden. Obwohl die Tendenz des ganzen Buches vor
wiegend eine moraliseh-ascetische ist, so ist doch zugleich, wenn
auch ziemlich zusammenhangslos und zerstückelt, das gesammte
Materiale einer rationalen Psychologie darin enthalten; es wird
öfter als einmal eine vollständige philosophische Definition vom
Wesen der menschlichen Seele gegeben, von den verschiedenen
1 So in Migne’s Abdruck der Werke der lateinischen Kirchenväter Tom.
XL (sechster Band der Werke Augustins) p. 779—830.
Sitzungtjber. d. phil.-liist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft. 18
268
Werner.
Kräften, Begabungen und Wirksamkeiten derselben ausführlich
gehandelt, auch der somatologische Unterbau der rationalen
Psychologie nicht ganz vernachlässiget. Eine Stelle des Buches
nun, die wir unten in der Anmerkung beibringen, 1 gibt eine
kurz zusammenfassende Schilderung des Wesens der mensch
lichen Seele im augustinischen Sinne, und es ist kein Zweifel,
dass der in dieser Schilderung gegebene Seelenbegriff, der eine
Abtrennung der Seelenvermögen vom Seelenwesen durchwegs
ausschliesst, nicht bloss vom Verfasser des Buches als der ge
meingültige angesehen worden sei, sondern seinem ganzen Zeit
alter dafür gegolten habe. Albertus Magnus, der in seinen Er
örterungen über das menschliche Seelenwesen auf eine ähnlich
lautende Stelle desselben Buches Bezug nimmt, 2 stellt ihr nicht
die Auctorität irgend eines anderen christlichen Lehrers gegen
über, 3 sondern bekämpft sie mit rationellen Gründen, und
sucht die augustinische Stelle durch nähere Erklärung auf ihren
wahren, eigentlichen Sinn zurückzuführen. Es ist auch ganz
richtig, dass Augustinus an eine förmliche Ablehnung der Unter
scheidung zwischen Essenz und Kräften oder Vermögen der
Seele nicht dachte, und es lässt sich allerdings dasjenige, was
1 Anima nominatur totus liomo intemor, qua vivificatpr, regitur et con-
tinetur lutea illa massa, humectata succis, ne arefacta dissolvatur. Dum
ergo vivificat corpus, anima est; dum vult, animus est, dum seit, mens est, dum
recolit, memoria est; dum judicat, ratio est; dum spirat vel eontemplatur,
Spiritus est; dum sentit, sensus est. Nam inde sensus anima dicitur, pro
iis, quse sentit; linde et sententia nomen accepit. O. c., c. 34.
2 Dicit Augustinus in libro de spiritu et anima c. 13 (weiter unten sagt
Albert: in libro de anima, qui Augustini dicitur) : Anima secundum operis
sui officium variis nuncupatur nominibus. Dicitur namque anima, dum
vegetat, Spiritus dum eontemplatur, sensus dum sentit, animus dum sapit,
dum intelligit, mens; dum disserit, ratio; dum recordatur, memoria; dum
vult, voluntas. Ista tarnen non dift’erunt in substantia quemadmodum
differunt in nominibus; quoniam omnia ista una anima est, projirietates
quidem diversse, sed essentia una. Summ, tlieol. 2 Pars, tract. 12, qu. 70.
membr. 2. — Albert hebt ebendaselbst noch eine weitere Stelle des
selben Buches aus, wo gesagt wird, dass zwar die virtutes, nicht aber
die vires animse von der Essenz der Seele abzuscheiden seien.
3 Diess wäre auch kaum angegangen. Das Vorkommen ähnlich lautender
Erklärungen und Auseinandersetzungen bei Alcuin (de ratione animse),
Hugo a St. Victore (Erud. didasc. II. 5), Isaak von Stella (ad Alcherum)
ist ein hinlänglicher Beleg für die oben erwähnte Gemeingiltigkeit jener
Anschauungen in der ersten Hälfte des Mittelalters.
Die Psychologie des Wilhelm von Anvergne.
269
Augustinus nach Alberts Ansicht eigentlich sagen wollte, mit
letzterer ganz gut vereinbaren; eben so gewiss aber ist, dass
Augustinus auf die gedachte Unterscheidung nicht reflectirte,
und auf dieselbe nicht reflectiren konnte, weil ihm in
seinen bezüglichen Erklärungen über das Seelenwesen aus
schliesslich nur darum zu thun war, die Idee der durch die
mehrseitige Vermöglichkeit und Begabung der Menschenseele
nicht beeinträchtigten Einfachheit des menschlichen Seelen
wesens zum Ausdrucke zu bringen, die ihm durch die Geistig
keit der Seele als selbstverständlich gefordert erschien. In
diesem Sinne wurde er auch voii seinen Verehrern verstanden;
der Verfasser der vorerwähnten pseudoaugustinischen Sammel
schrift bleibt bei der Anstaunung der Vergesellschaftung der
Einfachheit der Seele mit ihrer vielfältigen Begabung stehen,
und nennt diese Vergesellschaftung etwas Wunderbares, 1 was
sich demzufolge seiner Natur nach einer vollkommenen Auf
hellung für unser unvollkommenes Erkennen entzieht. Wil
helm 2 nimmt zu erläuternden Analogien Zuflucht; wie eine und
dieselbe Person zugleich Herzog, Graf, Markgraf, Inhaber einer
städtischen Würde als Bürgermeister oder Iiathsherr sein könne,
so kann die Seele unbeschadet ihrer Einfachheit und Untheil-
barkeit verschiedenen Verrichtungen im Denken, Wollen, Zür
nen, Begehren u. s. w. obliegen. Dass alle diese Actionen und
Passionen der Seele aus einer bestimmten Grundthätigkeit und
Grundbeschaffenheit der Seele abzuleiten seien, und diese Grund
thätigkeit und Grundbeschaffenheit aus dem Grundwesen der
menschlichen Seele verstanden werden müsse, mag in jenem
Zeitalter wohl geahnt worden sein, ist aber nicht als eine
Forderung der methodischen Forschung begriffen worden; wo
mit wohl auch zugleich die für jene Zeiten unübersteiglichcn
Schranken einer philosophisch durchgebildeten psychologischen
Forschung kenntlich gemacht sind. Das geistige Wesen der
Seele betreffend, hatte wohl schon Augustinus erklärt, 3 dass
' Niliil in creatnris hac divisione mirabilius cernitur, ubi id, quod essentia-
liter nimm est atque Individuum, in se ipsum scinditur; et quod Simplex
in se et sine partibus constat, quasi quadam partitione dividitur. O. c., c. 34.
2 De an. III, 6.
3 De trin. VI, 6: Creatnra quoque spiritualis, sieut est anima, est quidem
in corporis comparatione simplicior, sine comparatione autem corporis
18*
270
Werner.
seine Einfacheit nicht jener des göttlichen Wesens gleichzu-
setzen, sondern nur relativ zu verstehen sei, sofern durch sie
eben nur die Ausgedehntheit und Theilbarkeit des Körperlichen
ausgeschlossen sein soll. Dieser Gedanke mochte ausreichen,
die Vermögensvielheit der menschlichen Seele als möglich er
scheinen zu lassen, wurde aber nicht für eine wirkliche Er
klärung dieser Vermögensvielheit verwerthet; Augustinus de-
ducirte aus ihr nur so viel, dass die menschliche Seele eine
mittlere Stelle einnehme zwischen der göttlichen Essenz, die
zufolge ihrer absoluten Einfachheit schlechthin unveränderlich
sei, und zwischen den theilbaren Körpern, die zufolge ihrer
Zusammengesetztheit und Theilbarkeit nicht bloss mutabel,
sondern auch alterabel seien, während die menschliche Seele
den Körpern gegenüber mit Gott die Inalterabilität, im Gegen
satz zu Gott aber mit den Körpern die Mutabilität gemein
habe. Ueber diese abstract metaphysischen Bestimmungen des
menschlichen Seelenwesens kann die augustinische Psychologie
nicht hinaus, eben so wenig aber auch die auf sie folgende
scholastiscli-peripatetische; dass die Inalterabilität der mensch
lichen Seele im Personscharakter derselben begründet sei, wurde
weder von den mittelalterlichen Augustinern, noch von den
mittelalterlichen Aristotelikern erkannt, und desshalb kann der
von den Letzteren erzielte Fortschritt auf dem Gebiete der
philosophischen Psychologie nur als ein sehr relativer bezeichnet
werden. Indess bleibt ihnen jedenfalls das Verdienst, wirklich
an die Erklärung jener mira divisio animse indivisibilis ge
gangen zu sein, von welcher wir den mehrerwähnten mittel
alterlichen Augustiner oben reden hörten, ohne dass er auch nur
die leiseste Nöthigung zu einer rationalen Authellung der Denk-
barkeit der Vielheit in dem untheilbar Einen empfunden hätte.
multiplex est etiam ipsa, non simplex. Nam ideo simplicior est corpore
quia non mole diffunditur per spatium loci, sed in unoquoque corpore et
in toto tota est, et in qualibet ejus parte tota est. Sed tarnen etiam in
anima, cum aliud sit artificiosum esse, aliud inertem, aliud acutum, aliud
memorem, aliud cupiditas, aliud timor etc., possintque et alia sine aliis et
alia magis et alia minus innumerabilia et innumerabiliter in animse natura
inveniri, manifestum est, non simplicem, sed multiplicem esse naturam.
Nihil enim simplex mutabile est, omnis autem creatura mutabilis.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
271
Albertus Magnus 1 bekämpft clic Behauptung der Identität
der Seelensubstanz mit den ihr beigelegten Vermögen und
Kräften aus mehrfachem Grunde. Wäre die Seelensubstanz
unmittelbar als solche selber schon das seelische Wirkungsver
mögen, so wären nicht mehrere, sondern nur Ein Wirkungs
vermögen der Seele möglich, nämlich jenes Eine, das sie selber
ist. Es würde aus jener behaupteten Identität ferner folgen,
dass, wie Seele und Sinn, Seele und Intellect, so weiter auch
noch Sinn und Intellect sachlich dasselbe seien. Das natürliche
Können ist Ausfluss der Wesenheit, somit nicht die Wesenheit
selber, sondern ein Consequens derselben; also sind die potentise
cognitivse und potentise motivaj als Ausflüsse der Seelenessenz
anzusehen, und sind in Folge des Seins der Seele (sunt sequentes
esse animse), die als Subject und Träger derselben angesehen
werden muss. Hier fühlt man sich denn doch versucht, zu
fragen, ob diese ,Ausflüsse* etwas von der Essenz der Seele
Verschiedenes sind, oder ob nicht vielleicht in ihnen, sofern
sie doch etwas Reales sind, die Essenz der Seele selber ge
staltet und gegliedert ist? Es ist ferner nicht zu verkennen,
dass unter den Seelenkräften, welche Albertus Magnus als pote-
states particulares von der Seele als Totum potestativum ab
scheidet, ein gewisses Rang- und Ordnungsverhältniss statthat,
welchem zufolge einzelne dieser potestates sich unmittelbarer
aus dem Wesen der Seele ergeben als andere, welche zufolge
ihres Verhältnisses zum Leibe hervortreten. Setzt man, wie
es nicht anders möglich ist, das Wesen der Seele in ihre Denk-
haftigkeit, so werden die unmittelbar aus ihrem Wesen sich
ergebenden Wesensäusserungen ihre intellectiven Bethätigungen
sein, ja man wird ihr streng genommen gar keine anderen, als
derartige Bethätigungen zuschreiben können. Nicht nur sind
die Sensationsacte der Seele eben bloss verhüllte Intellectionen,
sondern auch ihr Einfluss auf die Leibesgestaltung wird, so
weit diese oben nur symbolisirende Abgestaltung und Selbst
ausdruck des Seelenwesens im bildungsfähigen Stoffe ist, als
Reflex des immanenten Selbstlebens der Seele im Stoffe zu
verstehen sein. Das Ausgestattetsein der Seele mit verschie
denen ,Vermögen* bedeutet eben nur die vielartige Vermög-
1 A. o. O.
272
Werner.
lichkeit ihrer intellectiven Natur; denkt man sicli diese vielartige
Vermöglichkeit ihres denkhaften Wesens von ihr hinweg, so
bleibt von diesem denkhaften Wesen gar nichts übrig. So weit
also die scholastische Abscheidung der Seelenvermögen von der
Essenz der Seele auf die aristotelische Kategorienlehre sich
gründet, 1 gehört sie dem Gebiete eines abstract formalisiren-
den Denkens an, welches in das Wesen der lebendigen Seelen
natur keinen Einblick gewährt. Und es ist weiter nicht zu ver
kennen, dass jene Abscheidung der Scholastik durchaus nur auf
die dem peripatetischen Denken geläufigen Distinctionen gestützt
war •— Distinctionen, die, sofern sie bloss künstliche, und auf
Grund der einmal als gültig feststehenden Grundbegriffe der
Peripatetik angenommen waren, mit der Abwendung von der
peripatetischen Denkkunst ihre Bedeutung verloren, ja mitunter
geradezu unverständlich wurden. Es ist übrigens kein Zweifel,
dass die Mehrdeutigkeit des Wortes ,Essenz' ihrerseits dazu
beitrug, die Abscheidung der Seelenvermögen vom Seelenwesen
zu verfesten; identificirte man den Begriff der Essenz mit jenem
der Substanz, so konnte man, da das ,Vermögen' als solches
und seinem Begriffe nach keine Substanz ist, nicht umhin, es
zum Accidens der Substanz, welcher es eignet, herabzusetzen; 2
man übersah hiebei nur, dass man eine Distinction, die einem
in seiner Steifheit ziemlich unvollkommenen subjectiven Denk
modus entsprach, nicht sofort als eine im gedachten Objecte
selber bestehende nehmen dürfe. Man würde indess den Scho
lastikern unverdient nahe treten, wollte man behaupten, dass
sie nicht durch ein wirkliches sachliches Interesse zu jener
Distinction hingedrängt worden wären. Schon Albertus deutete
es in Kürze an; es handelte sich um den metaphysischen Unter
schied des menschlichen Seelenwesens von der göttlichen Wesen-
heit. Die göttliche Essenz ist absolut einfach, dem mensch
lichen Seelenwesen kommt Einfachheit nur in relativem Sinne
zu; Gott ist das absolute Können in eigenster Wesenheit und
Wirklichkeit, die menschliche Seele ist es nicht, hat aber ein
1 Vgl. Thomas Ag. Summ. I, qu. 77, art. 1: Operatio animse non est in
genere substantiaj. — Cum potentia animse non sit ejus essentia, oportet
quod sit accidens, et est in secunda specie qualitatis.
2 Dawider richtet sich Wilhelms Polemik: De an. III, 4.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
273
verschiedenartiges Können. Dieser Besitz eines Könnens, das
nicht die Seele selber ist, obschon es derselben wesenhaft
eignet, ja das specifische Wesen der Seele ausmacht, ist wohl
einfach nur aus ihrem ereatürlichen Gesetztsein zu erklären;
die Seele ist sich mit allen ihren Wesensqualitäten etwas schlecht
hin Gegebenes, sie deprehendirt an sich, wie ihr Sein, so auch
die demselben aufgedrückten Wesensbestimmtheiten als etwas
von ihr Gehabtes, ohne ihr Wollen und Zuthun ihr Eigenes.
Weil sich diess aber nicht bloss auf ihr Können, sondern auch
auf ihr Sein bezieht, dessen specifische Bestimmtheit jenes Kön
nen ist, so hebt sich damit die Unterscheidung zwischen ihrem
Sein und Können wieder in dem höheren Gedanken ihrer ab
soluten Gegebenheit auf, in der sie sich als lebendiges ge-
schöpfliehes Bild dessen, der das absolute Können ist, erfasst,
und daher auch ihre specifische Vermöglichkeit als ihr selbst
eigenstes Sein und Wesen erkennt. Denn ihr Sein ist als ein
geistiges wesentlich ein persönliches, selbstkönnendes, und unter
scheidet sich als solches wesentlich von dem ungleich schwäche
ren ungeistigen und stofflichen Sein, welches, weil selbstlos,
auch kein Sclbstkönnen haben, sondern lediglich Substrat,
Organ und Medium der durch ein anderes von ihm Verschie
denes, durch die Macht der organisirenden Idee zu verwirk
lichenden Gestaltungen und Bildungen sein kann.
In diesem Sinne nun können wir Wilhelm unsere Zu
stimmung nicht versagen, wenn er, an das posse creatoris an
knüpfend, 1 zu erweisen sucht, dass allüberall, wo ein selbst
mächtiges Wirken statthat, das Können oder Vermögen nicht
als ein Superadditum zur Essenz des Wirkenden angesehen
werden könne. Nur darf man bei ihm nicht einen philosophi
schen Begriff des Selbstmächtigen suchen. Obsclion er ganz
richtig den Begriff des selbstmächtigen posse dahin bestimmt,
dass es ein Können durch sich selber oder kraft der eigenen
Wesenheit sei, steigt er doch bis zum Begriffe der albedo als
einer potentia disgregandi visum herab, um an einem der ge
meinen Erfahrung ungehörigen Beispiele den Begriff des selbst
mächtigen Könnens zu erläutern. Wäre die albedo nicht durch
sich selbst disgregativa visus, so müsste sie es durch etwas
1 De an. in, 5.
274
Werner.
Anderes sein, welchem man mit gleichem Grunde diese Fähig
keit abspreohen könnte, so dass man auf eine hinter diesem
Zweiten stehende dritte, vierte u. s. w. Ursache und so in’s
Unendliche fort zurückzugehen hätte. Sagt man von einem
weissen Körper, fügt Wilhelm bei, dass er die potestas dis-
gregativa habe, so haftet ihm diese potestas allerdings zufolge
seines Weissseins als Supperadditum an; denn nicht durch
sich als Körper, sondern zufolge jener ihm anhaftenden Eigen
schaft des Weissseins setzt er die Wirkung der albedo. Wie
aber dann, wenn das Weisssein, wie z. B. beim Kalk, nicht
eine aufgetragene Tünche ist, sondern unmittelbar in der
Wesensbeschaffenheit des Körpers liegt, so dass er nicht anders,
denn als weiss gedacht werden kann? Diess gehört jedoch zu
den Dingen, auf welche ein vom sachlichen Verständniss der
Naturdinge äbgewandtes und vorwiegend formalistisches Denk
verfahren nicht reflectirte; und so dürfen wir uns weiter auch
nicht wundern, wenn Wilhelm, zwischen verbis activis und
verbis passivis unterscheidend, die Verba caleo, frigeo, tirneo
und andere Zustandsbezeiclmungcn als solche nimmt, die im
Unterschiede und Gegensätze zu den verbis activis lauter Super-
addita aussagen, als ob es in der Natur bestimmter Körper
oder Körperwesen nicht eben so gut liegen könnte, heiss, kalt,
furchtsam u. s. w. zu sein, als es im Wesen der albedo oder
eines seiner Natur nach weissen Körpers liegt, eine vis disgrega-
tiva zu üben.
Wilhelm stützt seine Lehre von der substantiellen Iden
tität der Seelenkräfte mit der Essenz der Seele auf seine Lehre
von der Einfachheit und Untheilbarkeit der Seele. Sie ist
weder eine Zusammensetzung aus Materie und Form, 1 noch
auch ein aus der Vielheit ihrer Vermögen coalescirtes Ganzes. 2
Die Zusammensetzung der Seele aus Materie und Form ab
lehnend, adoptirt er die aristotelische Bestimmung derselben als
reiner Form, und bekundet damit, dass er bereits innerhalb
der Scholastik des 13. Jahrhunderts steht; die Art und Weise
jedoch, wie er den Gedanken von der Seele als reinem Form
wesen aufgreift, gibt zugleich auch zu erkennen, dass er auf
1 De an. III, 1.
2 De an. III, 2.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
275
den eigenthümlichen Denkgehalt dieser aristotelischen Idee noch
nicht näher einging, und dass ihm dieselbe einzig als Vehikel
zur Erweisung der Geistigkeit und Einfachheit der Seele dienen
sollte. Die Seele ist rein nur Form ohne alle Materie; wäre
ihr eine Materie als Wesenstheil eigen, so müsste dieser ent
weder als lebendiger oder unlebendiger Theil des Seelenwesens
gedacht werden.' Letzteres ist an sich widersinnig, da es den
Gedanken eines zugleich lebendigen und todten Wesens invol-
viren würde. Sollte die Materie der Seele etwas Lebendiges
sein, so müsste sie entweder als Leib derselben, somit auch
als sterblich gedacht werden; wollte man ihr aber ein selbst
eigenes Leben zuweisen, so wäre sie nicht mehr blosse Materie,
sondern ein lebendiges Wesen, in welchem wieder zwischen
Seele und Leib zu unterscheiden wäre. Wilhelm hat in der
Bestreitung der Behauptung einer Zusammengesetztheit der Seele
aus Materie und Form die Anhänger der in Avicebrons (Salo-
mon Ibn Gabirol) Schrift Fons vitae vorgetragenen Lehren im
Auge. Die Materie, sagen die Bekenner dieser Lehren, ist
zur Reception aller Formen befähiget und das denknothwendige
Suppositum derselben; demzufolge muss auch für die von der
menschlichen Seele recipirten Formen, für die an ihr hervor
gebildeten intellectuellen und moralischen Vorzüge u. s. w. ein
Receptionsprincip oder eine Materie der Seele vorausgesetzt
werden. Verhielte es sich so, so müssten zufolge des Satzes:
cujus est potentia, ejus est actus, auch die intellectuellen und
moralischen Vorzüge (scientise et virtutes) und alle sonstigen
geistigen Dispositionen jener Seelenmaterie zugesprochen wer
den, und somit wäre es diese, die man weise und tugendhaft
zu nennen hätte, die Seele selber erst mittelbar und in zweiter
Linie. Die Wirksamkeiten gehen nicht von der Materie, son
dern von der Form aus; demzufolge sind die geistigen Thätig-
keiten und moralischen Wirksamkeiten der menschlichen Seele
aus der Eigenschaft der Seele als Form zu erklären, während
sie zufolge der schon zurückgewiesenen Anschauungsweise dem
angeblichen Materialprincip der Seele zugeschrieben werden
müssten. Man ersieht hieraus, dass dieses Materialprincip völlig
überflüssig ist, zugleich aber widersinnig, weil man, wofern
man es im Sinne der Gegner gelten lassen wollte, es con-
sequenter Weise auch zum Träger der sittlichen Verdienste
276
Werne r.
der Seele und ihres Anspruches auf die Glorie des himmlischen
Tugendlohnes machen musste. Dass man rein geistige Sub
stanzen für undenkbar hält, hat seinen Grund im Verkennen
dessen, dass die Susceptibilitiit für Entgegengesetztes, die man
ausschliesslich der Materie als solcher vindiciren zu müssen
glaubt, ein Proprium der Substanz ist. Wollten etwa Einige
einwenden, es gelte diess nur von der substantia prima d. i.
von der bestimmten besonderen individuellen Substanz, so wäre
zu erwidern, dass auch die rein immateriellen Substanzen in
die Kategorie der substantise primae gehören.
Die Seele ist ein absolut untheilbares Wesen, 1 und kann
demzufolge nicht als blosser Complex der das Eine Seelen
wesen constituirenden Vermögen genommen werden. Die Po
tenzen sind ihren Acten proportional; wie diese letzteren sich
zu keiner natürlichen Einheit zusammenfügen, können auch
die ihnen entsprechenden Potenzen durch sich kein Eines
Ganzes geben. Als Similia können sie nach Aristoteles weder
ein Continuum, noch eine durch Contiguität vermittelte Ein
heit ergeben; es bliebe also nur noch jene Art von Einigung,
vermöge welcher eine jede einzelne aus ihnen in allen anderen
ist. Dies Letztere aber ist schon an sich widersinnig; auch
würden, wenn in einer einzelnen Potenz alle anderen enthalten
wären, dieselben neben jener einzelnen ganz überflüssig sein.
Die Seelenvermögen sind in ihrer wunderbaren Einheit auf
das Bestimmteste und Deutlichste von einander verschieden,
und beirren sich wechselseitig nicht im Mindesten; sie können
also in dieser ihrer discreten Vielheit nicht Ein Vermögen
constituiren, sondern müssen, so gewiss sie unter einander un-
theilbar Zusammenhängen, in einem untheilbaren Subjecte ihre
Einheit haben, können nur als virtütes desselben begriffen
werden. Ohne diese Art von Einigung wären sie ein zusam
menhangloses zufälliges Conglomerat; die Benennungen totum
potentiale, totum virtuale sind vergebliche Nothmittel, die Geist
losigkeit einer solchen Auffassung zu verdecken. Die Einheit
in subjecto ist, wie wir bereits wissen, als unmittelbare Sub
stanzeinheit zu verstehen, die jede Zusammensetzung des Com-
plexes der Vermögen mit etwas von ihnen Verschiedenem aus-
‘ De an. III, 2.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
277
schliesst. Vergeblich bemühen sich die Gegner (die neuen
Aristoteliker), diese Art von Zusammengesetztheit zu verdecken,
wenn sie sagen, die Vermögen seien natürliche Qualitäten,
durch welche die Seelensubstanz geschmückt und vollendet
werde. Daraus würde also folgen, dass die potentia ratiocinandi
eine zur menschlichen Seelensubstanz hinzukommende, mithin
accidentale Qualität sei; demzufolge wäre der Mensch nicht
substantialiter, sondern nur accidcntaliter vom vernunftlosen
Thiere verschieden, die den Menschen als Menschen charak-
terisirende Wesensform, die nothwendig Substantialform sein
muss, gar nicht vorhanden.
Der Wesensbegriff des Menschen ist dieser, ein animal
rationale zu sein. Als sinnliches Lebewesen trägt der Mensch
nicht hloss ein Intellectualprincip in sich, sondern hat mit den
Thiere n das Empfinden, mit den Pflanzen das Vegetationsleben
gemein. Selbstverständlich ist Wilhelm bemüht, auch in Bezug
auf diese dreifache Abstufung des Seelischen in der intellec-
tuellen, sensitiven und vegetativen Lebensthätigkeit die stricte
Einheit des menschlichen Seelenwesens aufrecht zu halten. 1
Da er jede menschliche Seele unmittelbar durch Gott geschaf
fen, den Leib des Kindes aber als einen lebendigen von den
Eltern erzeugt werden lässt, so handelt es sich für ihn im Be
sonderen darum, ersichtlich zu machen, dass durch die vor
Eintritt der intellectuellen Seele schon vorhandene vegetative
Belebtheit dos Fötus die stricte Einheit des menschlichen Seelen
wesens nicht aufgehoben wird. Er nimmt demzufolge an, dass
das mit dem lebendigen Sperma der zeugenden Eltern bereits
gegebene Vegetationsprincip, mittelst dessen das gezeugte Plasma
zum gegliederten Körper wird, mit dem Eintritt der vom
Schöpfer geschaffenen Seele in den Leib aufhört zu sein, da
die an seine Stelle getretene vernunftbegabte Seele vollkommen
ausreicht, den bereits gestalteten Körper zu beleben und zu
regieren. Wilhelm findet es nicht unpassend, wenn man die
Ersetzung eines für sich bestehenden leiblichen Vegetations-
princips durch die gottgeschaffene Seele mit der Absorption
und Exstinction eines schwächeren Lichtes durch ein nachfol
gendes stärkeres vergleichen will.
1 De an. IV, 1—4.
Diese Darlegung verdeckt einigermassen die Schwierig
keit, die darin liegt, das Intellectualprincip im Menschen sich
zugleich als Beseelungs- und Belebungsprincip denkbar zu
machen — eine Schwierigkeit, die in der augustinischen Psycho
logie zufolge ihrer Neigung, das menschliche Seelenwesen unter
Eine Kategorie mit den Engelwesen zu stellen, nicht abge-
läugnet werden kann. In der peripatetischen Philosophie, welche
die Seele primär als Informationsprincip der sinnlichen Leib
lichkeit des Menschen auffasst, bestand umgekehrt die beson
ders von den arabischen Aristotelikern gefühlte Schwierigkeit,
die Seele oder das Lebensprincip des Menschenwesens zugleich
als Intellectualwesen zu begreifen, und es musste überhaupt die
Frage beantwortet werden, wie man sich die Einheit der drei
Animationsprincipien: anima vegetativa, sensitiva, intellectiva
zu denken habe. Nach Albertus Magnus 1 liegt der Schlüssel
zur Erkenntniss des Verhältnisses dieser drei in der Menschen
seele geeinigten Informationsprincipien zu einander darin, dass
von diesen dreien jedes höhere das tiefere zusammt den Wir
kungsweisen desselben in sich aufgehoben trägt; demzufolge
ist die sensitive Seele wesentlich auch Vegetationsprincip, die
intellective Seele wesentlich auch Sensations- und Vegetations
princip. Die substantielle Einheit dieser drei Principien in der
intellectiven Seele beweist sieh dadurch, dass die beiden nie
deren ganz und gar für die Zwecke der intellectiven Func
tionen thätig sind, indem die Vegetationsthätigkeit auf die Aus
bildung und Erhaltung eines für die intellective Seele geeig
neten Leibes gerichtet ist, und eben so die Sensationsthätigkeit
den Funktionen der anima rationalis sich zu Diensten stellt.
Beide Thätigkeiten bekunden hiedurch, dass sie die Form der
intellectiven Seele an sich haben, und demzufolge von derselben
nicht abgetrennt gedacht werden können. Wenn Aristoteles
in seiner Thiergeschichte bemerkt, dass der Embryo zwar vom
Anfänge her ein Lebendiges, aber nicht auch schon ein Lebe
wesen (iloiov) sei, und noch später erst das embryonische Lebe
wesen zum Menschen werde, so ist damit einzig nur gesagt,
dass der Generationsact, in welchem sich aus dem Körper der
zeugenden Eltern ein neues Menschcugebilde entsondert, erst
1 Summ, theol. Pars II, traut. 12, qu. 70. mbr. 3.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
279
mit der completen Hervorbiklung des Menschenwesens aus der
Samensubstanz zu Ende sei. Das Verhältniss der Einen Seeleu-
substanz zu jenen drei Arten ihrer Bethätiguug im vegetativen,
sensitiven, intellectuellen Leben wird von Albert als jenes eines
totum potestativiun zu seinen partes potestativae gefasst. Daraus
geht aber zugleich hervor, dass die Seele nicht in jener Weise,
wie Wilhelm von Auvergne es will, als reine Form gefasst
werden könne; reine Form besagt bei ihm so viel als einfache
Form (forma simplex), und diese reicht nach Albert eben nur
dazu aus, einen natürlichen actus generativus zu vollführen, 1
dessen Product durch seine natürliche Beschaffenheit an einen
bestimmten Ort gewiesen ist, und durch seine Form nicht will
kürlich an einen anderen Ort versetzt werden kann. Die mensch
liche Seele muss also, soforn sie mehr als blosses Vegetatious-
princip ist, ein Compositum sein. Die Elemente der Zusam
mensetzung sind das motum appetitivum und das movens cogni-
tivum; denn wie Augustinus und Aristoteles sagen, ist das
Sehen oder Erkennen, das sinnliche sowohl als das intellectuelle,
dasjenige, was die Seele in Bewegung setzt. Der Unterschied
zwischen motum und movens, der sich an der zufolge ihres
Erkennens begehrenden Seele darstellt, ist auf den allgemeineren
ontologischen Gegensatz zwischen dem quod est und cpio est
zurückzuführen; das quo est ist im gegebenen Falle eben die
Sensibilität und Intellectualität der menschlichen Seele 2 . Albert
betont also den Charakter der metaphysischen Zusammengesetz-
heit der menschlichen Seele als creatürlicher Substanz; und
lässt diesen an die Stelle der Privation treten, durch welche
Wilhelm die menschliche Seele, die ihrem Wesen nach ein
Könnendes ist, von Gott, dem absoluten Können, unterschieden
wissen will. 3 Wilhelm bezeichnet nämlich Gott als purissima
et verissima potentia, aus welcher jedwede Art von Impotenz
schlechtweg ausgeschlossen ist, woraus dann von selber folgt,
dass die menschliche Seele zufolge der Begränztheit ihres Kön
nens auch mit einem gewissen Nichtkönnen als metaphysischer
1 Forma simplex movere non potest, nisi motu generantis h. e. quod gene-
rans inducit formam per generationem. Summ, theol. P. II, qu. 70, mbr. 1.
2 Nähere Erklärungen über den Sinn der Terminen quod est und quo est
in Alberts Summa de creaturis Pars I, qu. *21, art. 2.
3 De an. III, 5.
280
Werner.
Signatur ihres begränzten creatürlichen Seins behaftet sein müsse.
Wir wollen nicht verhehlen, dass uns der von Wilhelm betonte
Gedanke einer relativen Nachbildung der absoluten göttlichen
Vermöglichkeit durch die Vermöglichkeit der gottebenbildlichen
menschlichen Seele einen geeigneteren Anhaltspunkt für eine
lebendige Anschauung vom Wesen der geistbegabten selbstigen
Menschenseele zu bieten scheint, als die abstract formalistische
Lehre der scholastisch - aristotelischen Philosophie von einer
metaphysischen Zusammengesetztheit der Seele, deren weitere
Ausbildung ein ganzes Gespinnst von Subtilitäten aus sich her
aussetzte, ohne dass hiedurch das lebendige Wesen der Seele
dem philosophischen Verständniss näher gerückt worden wäre.
Andererseits darf aber nicht verschwiegen werden, dass jener
bei Wilhelm gelegentlich einmal aufdämmernde Lichtgedanke
eine taube Bliithe war, die keine Frucht ansetzte; eben diese
Magerkeit und Unfruchtbarkeit, die dem mittelalterlichen Augusti
nismus in speculativer Beziehung anhaftet, war eine der Ur
sachen, die dem empiristischen Realismus der aristotelischen
Philosophie Vorschub leistete, und eine Befruchtung und Aus
füllung des rationalen Denkens durch ihn als Bedürfniss füh
len liess.
Der scholastische Peripatetismus fasst das Verhältniss des
Seelischen und Leiblichen im Menschen als ein möglielit inniges,
und erkennt im Menschen eine plastische Einheit, wie diess
durch die Idee der Seele als Wesensform von selber nahe ge
legt war. In Folge dessen, dass der Mensch als plastische
Einheit gefasst wurde, sah man sich darauf hingewiesen, die
Seele als constitutiven Theil des Menschenwesens zu bestim
men; und zwar geschah diess im bewussten und ausgesproche
nen Gegensätze zu den Theologen des 12. Jahrhunderts, soferne
diese mit Rücksicht auf den Personscharakter der menschlichen
Seele die Bestimmung derselben als eines blossen Wesentliches
ausdrücklich abgelehnt hatten. 1 Zu diesen Theologen gehörten
Petrus Lombardus, Abälard, Hugo von St. Victor, Robert Pul-
leyn, Peter von Poitiers, Robert von Melun, der Verfasser der
Schrift de spiritu et anima. Auch Wilhelm von Auvergne
steht auf Seite dieser Theologen, 2 obschon er sich das Bedenken
1 Vgl. Werner, Thomas Aq. I, S. 3ß6.
2 De au. III, 11.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
281
nicht verhehlt, dass in der Definition des Menschen als animal
rationale neben der Seele auch der Körper als wesentlicher
Bestandtheil des Menschen mitgesetzt werde, und somit die
Seele nicht schlechthin und allein für den ganzen Menschen
gelten könne. Wilhelm gibt diess letztere in jenem Sinne zu,
in welchem der Reiter nicht ohne sein Pferd, der Bewohner
nicht ohne sein Haus, der Arbeiter nicht ohne seine Arbeits-
Werkzeuge gedacht werden kann; er sieht also im Körper etwas
rein Werkzeugliches, und betrachtet ihn eigentlich nur als eine
Hülle der Seele. Homo bedeutet ihm: anima in humo; eine
Bestätigung für die durch diese Formel ausgedrückte Auffas
sung des Verhältnisses der Seele zum Leibe findet er bei Aver-
roes, der das, was Andere eine Zusammensetzung aus Materie
und Form nennen, als forma in materia bezeichne. Avicenna
sehe das Wesen des Menschen ausschliesslich in der Seele des
selben, und vertrete somit ganz dieselbe Ansicht, welcher schon
Sokrates Ausdruck gab in seiner Antwort an einen Jüngling,
der von ihm gefragt, was er mache, geantwortet hatte: Ich
spreche (nämlich innerlich) mit mir selbst. Habe Acht, er-
wiederte ihm Sokrates, dass du nicht mit einem bösen Men
schen sprechest! Das Anstössige dieser Anschauungsweise lag
darin, dass die Einigung des Seelischen und Leiblichen im
Menschen zu einem bloss aceidentellen herabgesetzt zu werden
schien; wenn Thomas Aquinas in entgegengesetzter Richtung so
weit gieng, die wesentliche Einheit beider als Substanzeinheit
zu bezeichnen, so wird man nicht umhin können, darin eine
Identification des Substanzbegriffes mit jenem der Essenz zu
erblicken, was bereits, obschon nicht in geeigneter Weise, von
scotistisclier Seite her in Erinnerung gebracht wurde. Der
Unterschied zwischen der thomistischen und scotistischen Auf
fassung der menschlichen Seele als Wesensform wird sich zu
höchst darauf reduciren lassen, ob die Seele geradezu nur als
Wesensform des menschlichen Leibes, oder als substanzielle
Form des menschlichen Gesammtwesens zu fassen sei, was
nicht ausschliesst, dass die Seele auch specifisches Formprincip
des Leibes sei. Die letztere Alternative ist augenscheinlich
die richtigere, und möchte in der hier gegebenen Fassung
nebst der Anerkennung des Wahrheitsrechtes der scotistischen
Opposition gegen die thomistische Anschauung auch die höhere
282
W erne r.
Vermittelung der beiderseitigen Anschauungsweisen in sich
enthalten.
Das ideell Wahre und von den streitigen Bestimmungen
des scholastischen Substanzbegriffes unabhängig Geltende in der
peripatetisch-scholastischen Bestimmung des Begriffes der Seele
als Wesensform des Menschen ist diess, dass der menschliche
Leib, obwohl er als physischer Körper seinen eigenen Ort hat,
doch zugleich auch als Leib in die Seele als seinen höheren
Ort hineingerückt und von der continirenden Macht der Seele
umfasst ist. Auch Wilhelm von Auvergne vermag sich der
Wahrheit dieses Gedankens nicht zu entziehen, 1 und weist
zur Begründung desselben ausdrücklich auf die aristotelische
Auffassung der Seele als Wesensform des Leibes hin; er hebt
auch ganz richtig das analogische Verhältniss des Schöpfers
zum Universum hervor, als dessen Nachbildung das Verhältniss
der menschlichen Seele zu dem ihr eignenden Leibe anzusehen
sei, indem die Seele durch ihren Machteinfluss den Leib eben
so umschliesse und durchdringe, wie der Schöpfer das Universum.
Er gibt aber offen zu erkennen, dass diese ganze Anschauungs
weise nicht eine aus seinem eigenen Denken herausgewachsene,
sondern die eines Anderen sei, mit welcher er sich zurechtzu
setzen sucht; ihm selber liegt es ungleich näher, die entgegen-
gesetze Seite im Wechsel Verhältnisse von Seele und Leib,
welcher gemäss die Seele in den Ort des Leibes hineingerückt
und von demselben umschlossen ist, in’s Auge zu fassen. Wil
helm kommt auf dieses Verhältniss zu sprechen aus Anlass der
Meinung Jener, welcher der Seele zufolge ihrer Spiritualität
ein derartiges örtliches Sein im Leibe absprechen. Er hält
ein solches örtliches Sein der Seele im Leibe für nothwendig
zufolge der Schwäche und Unvollkommenheit der virtus im-
perativa der menschlichen Seele, 2 welche die Glieder und
Organe des Leibes nicht durch ihren blossen Befehl bewegen
kann, sondern, um sie bewegen zu können, mit ihnen auf eine
geeignete Art verbunden sein muss, ungefähr wie die Laute
oder der Hobel mit der Hand oder den Fingern des Cither-
spielers oder Tischlers. Dieses örtliche Sein der Seele im
1 De an. III, 35. 36.
2 De an. VI, 37.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
283
Leibe ist aber nicht auf ein bestimmtes Organ oder einen be
stimmten Gegenstand des menschlichen Leibesinneren zu be
schränken, sondern zunächst einmal ganz gewiss auf den Ge-
sammtbereich des sinnlichen Empfindungslebens auszudehnen, 1
daher also nur die entweder ganz unlebendigen, oder trotz
ihrer Lebendigkeit unempfindlichen Theile des Leibes ausser
den Bereich der von der Seele im Leibe eingenommenen
Oertlichkeit zu verweisen wären. 2 Zu den unlebendigen Thei-
len des Leibes rechnet Wilhelm die quatuor humores, das Mark
und das Gehirn; zu den zwar lebendigen aber empfindungs
losen Theilen die Haare, Nägel, Zähne und Gebeine. Aber
auch hier will Wilhelm wieder zwischen dem, was zur essen
tiellen Integrität des Leibes, und dem, was bloss zum bene
esse oder Schmucke des Leibes dient, unterschieden wissen; da
die Seele dort überall sein muss, wo sie wirkt, so muss sie
auch in den ausserhalb ihres Empfindungsbereiches gelegenen
lebendigen Theilen des Körpers gegenwärtig sein, weil diese
ihr Leben durch die Seele haben. Wie es sich mit den vor
erwähnten unlebendigen Theilen des Leibes in Bezug auf diese
Gegenwart der Seele verhalte, lässt Wilhelm unerörtert; man
mag indess annehmen, dass er sie zur essentiellen Integrität
des Leibesgebildes rechnet, und sie vorausgehend nicht aus
eigener Ansicht und Ueberzcugung, sondern nur mit den Wor
ten eines Anderen als sogenannte unlebendige Theile bezeichnen
wollte. Es liegt uns ferne, mit Wilhelm über Dinge zu rech
ten, bezüglich welcher man in seiner Zeit nur höchst unvoll
kommene Vorstellungen haben konnte; zudem haben seine
somatologischen Meinungen in Rücksicht auf die Fragen, um
welche es sich in seiner Schrift de anima handelt, nur eine
ganz untergeordnete Bedeutung. Ungerügt kann aber nicht
bleiben, dass ihm da, wo er über die Präsenz der Seele im
Leibe handelt, gar kein Bewusstsein über den Unterschied
zwischen activer und passiver Präsenz aufgeht, dass er viel
mehr beide Arten von Präsenz mit einander identificirt, völlig
vergessend dessen, was er selber in anscheinend zustimmender
Weise über die specifische Art der activen Präsenz als eines
1 De an. VI, 38.
2 De an. VI, 39.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft. 19
* **« s
284
Werner.
activen Continirens und Durchdringens des Leibesgebildes be
merkt hatte. Der Grund der Identification beider Arten von
Präsenz liegt darin, dass er das Empfinden d. h. das Inne
werden sinnlicher Eindrücke für eine operatio, also für eine
active Bethätigung der Seele im Leibe, und somit für eine
Bekundung ihrer activen Präsenz im Leibe nimmt. Da er die
analogische Beschaffenheit des Verhältnisses Gottes zum Uni
versum als Vorbildung des Verhältnisses der menschlichen Seele
zu dem ihr eignenden Leibe anerkennt, so muss man wohl
sich billig wundern, dass sich keiner seiner Gedanken auf die
Impassibilität Gottes lenkte, der, wie Wilhelm als Theolog
wissen musste, erst zufolge seiner Incarnation passibel d. h.
ein mit den sterblichen Menschen Mitfühlender und Mitleiden
der geworden ist. Der Unterschied zwischen Gott und der
menschlichen Seele ist eben dieser, dass Gott die Welt um
fasst und durchdringt ohne in ihr enthalten zu sein, während
die Seele den Leib nicht bloss umfasst, sondern auch in ihm
enthalten ist, so dass das Umfassen ein wechselseitiges ist, mit
dem Unterschiede jedoch, dass primär der Leib in der Seele,
und erst secundär auch die Seele im Leibe enthalten ist (anima
corpus continet et in corpore continetur). In Folge dieses
passiven Enthaltenseins im Leibe ist die Seele empfindungs-
fähig; sie vermag ihn nämlich nicht so ausser sich und unter
sich zu halten, wie Gott die Welt ausser sich und unter sich
hält, sie ist mit ihm zu Einem Wesen in einsgebildet, und
ihre selbsteigene geistig-sittliche Entwickelung und Ausgestal
tung von dieser Ineinsbildung abhängig gemacht.
Indem die Seele ihren Leib sich anbildet, nimmt sie den
Stoff desselben in sich hinein, um ihn als gestalteten wieder
aus sich hervorzustellen; dieses Insichhineinnehmen und Wie-
deraussiehhervorstellen ist ein continuirlicher Act der Seele
während der ganzen Zeitdauer ihrer Verbindung mit dem
Leibe. Indem sie ihn continuirlich aus sich herausstellt, schafft
sie ihm continuirlich seinen locus proprius, innerhalb dessen
auch sie selber in so weit stellt, als sie in ihren Verrichtungen
von dem ihr angebildeten Leibe als Organ ihrer Thätigkeiten
und Wirksamkeiten abhängig ist. Es ist demzufolge unrichtig,
wenn Albertus Magnus ein solches Enthaltensein der Seele im
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
285
Leibe schlechthin in Abrede stellt, 1 und einfach nur das Ent
haltensein des Leibes in der Seele betont. Uebrigens droht
diese letztere Auffassung’ nahezu in ihr Gegentheil umzuschla-
gen; ist die Seele schlechthin der Ort des Leibes, so dass
dieser keinen locus proprius ausserhalb der Seele hat, so muss
der locus des Leibes auch jener der Seele sein, und so kommt
es dann zu der freilich von allen peripatetischen Scholastikern
angenommenen Behauptung, dass die Seele im Leibe als tota
in toto et in qualibet totius parte sei. Noch im 18. Jahrhundert
behauptet der Scotist Ferrari, 2 dass dieser Satz eine noth-
wendige Consequenz aus dem kirchlich declarirten Glaubens
satze von der Seele als Wesensform des Leibes sei; er be
hauptet es, weil er von einem durch die lebendige Wesens-
form causirten Selbstleben des Leibes nichts weiss, und wie
alle peripatetischen Scholastiker in der sinnlichen Leiblichkeit
nur das passive Instrument der Seele sieht. Daher dann auch
von diesem Standpunkte aus die schlechthinige Ablehnung einer
Erörterung über den Sitz der Seele im Leibe, oder besser ge
sagt über die Stätte, von welcher aus das in sich gesammelte
geistige Selbstleben der Seele zu jenem des Leibes zunächst
und unmittelbar sich in Beziehung setzt; obschou nicht zu ver
kennen sein wird, dass die des Leibes mächtige Seele in diesem
nicht bloss an einer einzelnen bestimmten Stelle, sondern dort
überall, wo sie sich selber auf eine bestimmte Art innert, auf
eine besondere Art gegenwärtig sein wird, also als denkende
im Haupte und Gehirne, nach Seite ihres persönlichen Fühlens
und Empfindens im Herzen, während sie als Vitalprincip das
gesammte Vitalsystem des organischen Leibes in sich gefasst
enthält.
Wilhelm wirft die Frage auf, 1 wie es komme, dass die
menschliche Seele von ihrer Wirksamkeit als Belebungsprincip
des ihr eignenden Leibes kein unmittelbares Bewusstsein habe?
1 Dicendmn, quod a'ttima non est in corpore siuut, in loco, neque localiter,
neque illocaliter. Si enim esset in corpore sicnt in loco, tum corpus
contineret animam, quod falsum est; sed potius e converso corpus continet
aniraam ...... egrediente enim anima exspirat corpus et marcescit et dis-
solvitur. Summ, tlieol. Pars II, tract. 16, qu. 77, mbr. 4.
2 Philosophie peripatetica (Venedig, 1747) Tom. III, p. 255 sqq.
3 De an. III, 39.
19*
286
Werner.
Da ein derartiges Bewusstsein zum natürlichen Wissen der
Seele um sich selbst gehöre, so könne es dem zeitlichen Erden
menschen nur in Folge eines durch den Sündenfall verschul
deten zeitlichen Strafgeschickes abgehen; und er zweifelt daher
nicht, dass, wie die nach der Auferstehung zum Vollendungs
stande emporgehobenen Menschen ein vollkommenes Wissen
um alle von ihren Seelen geübten Thätigkeiten haben werden,
so auch der Mensch vor dem Falle, wenn er darauf advertiren
wollte, eine unmittelbare psychische Wahrnehmung der vegeta
tiven Functionen seiner Seele haben konnte. Den Grund der
Verdunkelung des ursprünglich ungleich helleren und lichteren
Erkennens der Seele findet Wilhelm als christlicher Platoniker
darin, dass die Seele mit einem in Folge der ersten Menschen
sünde corrumpirten Körper verbunden ist. Gleichwie Wein
und Oel, in ein verderbtes unreines Gefäss gegossen, gleich
falls verderbt werden, so ergeht es der gottgeschaffenen mensch
lichen Seele zufolge ihrer Einsenkung in den von den Eltern
erzeugten Leib, dessen Vitiosität eine erbliche ist, und in der
Zeugung von den elterlichen Leibern auf das Product der Zeu
gung übergeht. Wie nun der corrumpirte Leib eine solche
nachtheilige Wirkung auf die ihm eingesenkte Seele üben könne,
wird freilich von Wilhelm nicht klar gemacht, und wird sich
überhaupt nicht klar machen lassen, wenn man nicht ein re
latives Selbstleben des der Seele eignenden Leibes anerkennt;
denn nur in diesem Falle kann von einer in Folge der ersten
Menschensünde eingetretenen relativen Losreissung des sinn
lichen Selbstlebens aus seiner activen seelischen Fassung, und
von einer Trübung und Verdunkelung des seelischen Selbst
lebens durch die relativ emancipirte sinnliche Leiblichkeit die
Rede sein. Der Gedanke von einem relativen Solbstleben der
sinnlichen Leiblichkeit war aber der gesummten mittelalter
lichen Scholastik fremd; in Folge dessen ging ihr auch die
rationale Lehre vom Menschen fast völlig in der Psychologie
auf, wie die unzähligen Tractatus de anima beweisen. Die
Anthropologie als Lehre vom Gesammtmensehen wurde nur in
soweit Gegenstand einer ausführlicheren Darstellung, als es
sich um die scholastisch-theologische Exposition der kirchlich
dogmatischen Lehren von den sogenannten drei Ständen der
menschlichen Natur, vom Stande der ursprünglichen, der ge-
Die Psychologie dos Wilhelm von Auvergne.
287
fallenen und der im christlichen TToile wieder erneuerten Men
schennatur handelte; hiebei fehlte es nun bei Jenen, welche
speculativ verfuhren und sich auf die aristotelische Kosmologie
stützten, allerdings auch nicht an einer speculativen Exposition
der kosmischen Stellung des Menschen, die eben sowohl nach
dem Verhältniss des Menschen zu der ihm untergeordneten
sichtbaren Welt und irdischen Wirklichkeit, als auch nach
Seite seines Verhältnisses zu der ihm übergeordneten g-eistigen
Welt näher und genauer bestimmt wurde; dieser grossartige
Unterbau der kirchlich-dogmatischen Anthropologie wurde in-
dess erst in den grossen theologischen Systemen des 13. Jahr
hunderts herausgearbeitet, Bei Wilhelm von Auvergne ist der
gleichen noch nicht zu finden; er beschränkt sich auf eine
nähere Erläuterung der kirchlich dogmatischen Lehre vom
Sündenfalle des Menschen und dessen verderblichen Folgen,
deren Einfluss auf das seelische Leben des zeitlichen Menschen
er in der Darlegung seiner psychologischen Lehre natürlich
nicht umgehen kann. In welcher Weise er ihn zur Sprache
zu bringen sich veranlasst sieht, wird sich uns im weiteren
Verfolge weisen.
Wilhelms ganze Psychologie’ ist auf den Nachweis der
Superiorität und gesellten Prävalenz des Seelischen über das
Leibliche, des Geistigen über das Sinnliche angelegt. Das
rein sinnliche Erkennen ist ein trügliches, 1 und bedarf daher
der Richtungstellung durch den Intellect, welcher als. virtus
rationabilis das Richtmass der Erkenntniss in sich selbst trägt; 2
der Intellect ist als virtus rationabilis wesentlich eine potestas
correctiva, und übt das Amt der Richtigstellung sowohl an den
Aussagen der Sinne als auch an seinen eigenen Functionen.
Der Mensch ist aber nicht bloss ein erkennendes, sondern auch
ein handelndes Wesen; und darum muss neben der das Er
kennen regelnden Potenz in ihm auch eine potestas imperativa
und executiva vorhanden sein. Die potestas imperativa ist der
Wille, der seiner Natur nach frei ist d. h. sich selbst in seiner
Gewalt hat (sui juris suseque potestatis est), und demzufolge
über Zwangsnöthigung erhaben ist. Der Wille ist für den
1 De an. III, 7.
2 Virtus rationabilis judex et correctiva sui ipsius. L. c.
288
Werner.
Menschen nothwendig, um die niederen Triebkräfte, die er
mit den Thieren gemein hat, im Zaume zu halten und nach
den Geboten und Rathschlägen der Vernunft zu leiten und zu
discipliniren. Der Wille ist der eigentliche Herrscher im Men
schen, 1 und die virtus rationalis der Berather des Willens,
dem der Intellect als seinem Souverain zu dienen hat; daher
die Vollkommenheiten der virtus imperativa im Range und
Werthe entschieden über jenen der virtus intellectiva stehen.
Uebrigens ist der Wille keineswegs ein blindes Vermögen,
sondern eine denkhafte und verständnisslichte Kraft, 2 so wie
umgekehrt die virtus intellectiva auch ein Begehren, nämlich
nach Vervollkommnung ihrer selbst, in sich trägt. Der Grund
dessen ergibt sich bei Wilhelm aus seiner oben erwähnten Lehre
von der substantiellen Einheit der Seele, die unter Einem
denkende, wollende, begehrende Substanz ist, und in diesen
von einander verschiedenen Thätigkeiten nur unterschiedliche
Modos ihrer Substantialität manifestirt. Hier hätte sich nun,
wenn überhaupt Wilhelm’s psychologische Lehre durchgebildeter
wäre, als sie es ist, der entsprechende Ort geboten, alle Thätig
keiten der Seele, oder wenigstens vorläufig jene des höheren
intollectiven Lebens der Seele auf eine letzte urhafte Grund-
thätigkeit der Seele als Grundprincip aller anderen zurückzu
führen, und diese aus jener ersten grundhaften abzuleiten. Eine
solche Zurückführung und Ableitung wäre nicht bloss dem
Geiste der echten und richtig verstandenen augustini sehen Lehre
gemäss, sondern auch im Interesse der von Wilhelm versuch
ten Erklärung des zerrütteten Zustandes des Seelenlebens im
Stande der gefallenen Natur nothwendig gefordert gewesen, um
seine Erklärung zu einer grundhaften zu machen, und Ord
nung, Licht und Einheit in seine ziemlich diffuse Schilderung
des erörterten Gegenstandes zu bringen. Es hat wohl manch
mal den Anschein, als ob Wilhelm von jenem grundhaften Be
gehren reden wollte, welches aller Seelenthätigkeit zu Grunde
liegt und seiner Natur nach stets dasselbe eben so sehr im
Stande der gefallenen Natur, wie im primitiven Stande, im
Stande der Sünde wie der Gnade wirksam ist, nämlich von
1 De an. III, 8.
2 De an. III, 9. 10.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
289
dem Begehren der Seele nach absoluter Befriedigung und Er
füllung', welchem Augustinus in den bekannten Eingangsworten
seiner Bekenntnisse unsterblichen Ausdruck verliehen hat. 1
Hätte Wilhelm dieses augustinische Wort von dem nach Gott
geschaffenen Menschen als Ausgangspunkt und Ziel seiner
psychologischen Erörterungen festgehalten, so hätte sich un
zweifelhaft eine ganz andere Auffassung und Darlegung seiner
anthropologischen und psychologischen Anschauungen ergeben
müssen, als jene ist, die er in seinem Werke de anima zu bie
ten hat. Was Wilhelm hier giebt, ist einfach nur ein völlig
unspeculatiyer christlicher Moralismus, der sich in der Ausein
andersetzung und Schilderung der Incpngruenz zwischen der
thätsächlichen Beschaffenheit des Menschen und dem, was er
am Anfahge war, ergeht. 2 Allein auch das, was der Mensch
am Anfang war, erscheint bei Wilhelm nicht als ein der Idee
des Menschen eongruenter Zustand, da jener Anfangszustand,
wie er ihn bezeichnet, der einer bloss natürlichen Glück
seligkeit war, somit den übernatürlichen Vollendungsstand
unermesslich hoch über sich hatte. Jenes endliche Ruhen der
Seele oder des Menschen in Gott, von welchem Augustinus
spricht, ist nach Wilhelm einfach nur ein dem geistigen .Er
fassen des Zeitmenschen entrückter Zustand; somit lässt sich
auch von Wilhelm nicht erwarten, dass er ein in Wesen und
Organisation der menschlichen Seele oder der menschlichen
Natur begründetes Angelegtsein auf ein endliches Gelangen
des Menschen zu einer innigsten Einigung mit Gott aufzeige.
Fehlt es an einer solchen Aufzeigung, so fehlt es überhaupt
an der Erfassung einer christlich-philosophischen Idee vom
Menschen; demzufolge kann es auch zu keiner tiefer dringen
den Beleuchtung des Verhältnisses zwischen der Idee des Men
schen und der thätsächlichen wirklichen Beschaffenheit des
1 Magnus es Domine, et laudabilis valde; magna virtus tua, et sapientise
tuse non est niunerus. Dt laudare te vult homo, aliqua portio creaturae
tuae; et homo circumferens testimonium jmecati sui, et testimonium quia
superbis resistis, et tarnen laudare te vult homo aliqua portio creaturae
tuae. Tu excitas, ut laudare te delectet, quia fecisti nos ad te, et inquietum
est cor nostrum, donec requiescat in te. Confess. I, 1
2 Vgl. insbesondere de an. V, 10—13; 19. 20,
3 De an. VI, 20.
durch die Sünde vitiirten Menschenwesens kommen, und zu
keinem speculativen Verständniss der in den Zuständen des
gefallenen Geschlechtes durchgreifenden Vorkehrungen und Er
weisungen einer göttlichen Rettungsmacht zur Erhebung- des
Menschen über sich selbst und über die durch seine Schuld
geschaffene Un Vermöglichkeit und Unzureichendheit seines
Ringens nach den Zielen seiner letzten, höchsten Vollendung.
Wenn Gott, wie Augustinus sagt, den Menschen nach sich
gemacht hat, und dieses Gemachtsein nach Gott die Grund
signatur seines specifischen Wesens ist, so ist nicht nur Gott
der absolute Gegenstand seines innersten ihm eingeschaffenen
seelischen Begehrens, sondern auch seine gesammmte seelische
Lebensthätigkeit nichts anderes als eine Auswickelung und Be
kundung dieses so zu sagen naturnothwendigen Streb'ens und
Begehrens seiner Seele. Die menschliche Seele ist gottesbild
lich als denkhafte Substanz; sie bekundet ihr denkhaftes Wesen
in allen ihren Lebensthätigkeiten, die sämmtlich denkhafter
Natur sind, angefangen von der untersten leibgestaltenden Wirk
samkeit, in welcher die Seele einen sichtbaren Ausdruck und
Abdruck ihrer geistigen Gottesbildlichkeit im Stoffe setzt, bis
hinan zur höchsten und obersten ihrer Thätigkeiten, in welcher
sie als denkende und wollende unmittelbar auf ihr göttliches
Urziel d. i. auf ihre vollkommene Conformation mit ihrem gött
lichen Urbilde gerichtet ist. Diese Conformation ist natürlich
geistiger Art, und bezweckt die Erhebung der Seele und des
ganzen Menschen in den Stand der höchsten und vollkommen
sten für ihn erreichbaren Geistigkeit und geistigen Selbstmäch
tigkeit d. i. die vollkommene Ausgeburt der die absolute gött
liche Persönlichkeit nachbildenden creatürlich-menschlichen
Personhaftigkeit, die aus dem Erfülltsein mit dem absoluten
und wahrhaften geistigen Lebensinhalte der Seele und des
Menschen hervorgeht. Der erste, unmittelbare Ansatz der
menschlichen Selbstigkeit und Personhaftigkeit ist das mensch
liche Herz mit seinen auf die Selbstbeglückung des Menschen
gerichteten Gedanken und Strebungen; die aus dem Erfüllt
sein mit dem absoluten und wahrhaftigsten Lebensinhalte der
Seele hervorgehendc menschliche Personhaftigkeit muss dem
nach aus dem von Gott erfüllten Menschenherzen hervorgeboren
werden, das menschliche Herz ist die Stätte der primitiven
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
291
geistig--sittlichen Selhstinnerung des Menschen, der Ort, an
welchem der innere Seelenmensch innerlichst von Gott gefasst
und über sicli selbst emporgeh oben werden muss, um wahrhaft
Gottes zu sein. Es ist kein Zweifel, dass die mittelalterliche
affective Mystik an diese Seite der augustinischen Lehre, an
den biblisch-augustinischeu Begriff vom Menschenherzen ange
knüpft hat und in demselben ihre psychologische Basis hat.
Eben so gewiss aber ist, dass diese Art von Mystik den
augustinischen Begriff des cor, der mit jenem der augustinischen
memoria sachlich zusammenfällt, nicht in augustinischein Sinne
zu entwickeln verstand, indem sie ihn aus der den inneren
Seelenmenschen constituirenden unlöslichen Dreieinheit: memoria,
intellectus, voluntas loslöste, und sich mit Beiseitesetzung oder
doch nur ungenügender Beachtung der durch intellectus und
voluntas repräsentirten Functionen des Seelenlebens auf die
affective Seite des christlichen Innenlebens beschränkte. Die
diese]' Art von Mystik antithetisch gegenüberstehende Scholastik
fasste in ihren psychologischen Theorien die beiden anderen
Glieder jener untheilbaren Dreieinheit, den intellectus und die
voluntas in’s Auge, und liess die mit cor identische memoria
bei Seite; sie bekundete hiemit, dass sie den Gedanken des
concreten personhaften Innenmenschen nicht erfasst habe, son
dern sich auf den abstract-formalen Begriff des Menschen in
gencre beschränke, und über das innere Wesen des Menschen
nur insoweit, als es von diesem abstract-generellen Standpunkt
aus möglich ist, Aufschluss zu geben wisse. Innerhalb dieses
Standpunktes aber trat wieder eine Differenz hervor, die darin
ihren Grund hatte, dass man, nachdem einmal Intellect und
Wille von ihrem lebendigen Grunde, aus welchem sie sich in
geordneter Folge nach einander heraussetzen, losgetrennt waren,
verschiedener Ansicht darüber war, ob man das Wesen der
Seele in den Intellect oder in den Willen setzen solle. Das
Eine wie das Andere war in seiner Art berechtigt; in der
speculativen Thomistik wurde der Intellect auf Kosten des
A illens bevorzugt, Duns Scotus wies dem Willen den Vorrang
zu. Der durchaus antispeculative Wilhelm von Auvergne setzte
selbstverständlich, wie wir bereits sahen, den Willen obenan;
sein Grundgedanke war wohl eigentlich der, dass, wie der
Intellect sein höchstes Ziel im Schauen der Infellectualwelt
292
Werner.
habe, so der Wille unmittelbar auf Gott selber als absolutes
Strebeziel bezogen sei. Der rohe Mangel einer durchgebildeten
psychologischen Anschauung tritt da, von einem falschen
Platonismus hinweggesehen, deutlich genug zu Tage; dass der
Gott begehrende Urwille der menschlichen Seele nicht mit jener
Seelenkraft, welche Wilhelm voluntas nennt, identisch sei, son
dern einen habituellen Affect des menschlichen Gemüthes, ein
im tiefsten Seelengrunde geborgenes Urbegehren der gottes
bildlichen Menschenseele zu bedeuten habe, lag ausserhalb des
Bereiches eines in empiristischen Apperceptionen und abstrac-
ten Generalisationen aufgehenden Denkens. Er weiss nichts
von jener inneren Stätte im Menschen, an welcher das Gött
liche in seiner gnadenvollen Gegenwart geinnert werden müsse,
um die Seele, die nach Wilhelms tiefer Ueberzcugung in den
Banden der sinnlichen Leiblichkeit schmachtet, mit Licht und
Kraft von oben zu erfüllen und himmlisch zu durchgeisten,
um sie wahrhaft zu einer Bürgerin jener oberen Lichtwelten
zu machen, mit deren Beschreibung Wilhelm einen so grossen
Theil seines umfangreichen Werkes de Universo ausgefüllt hat.
Eine Psychologie, welche die Vereinigung der Seele mit
Gott als letztes Ziel derselben in Aussicht stellt, sollte darauf
angelegt sein, die Anstrebung dieses Zieles als eine durch
Wesen und Organisation der menschlichen Seele indicirte Auf
gabe derselben erscheinen zu lassen. Hinter dieser Forderung
bleibt Wilhelms Schrift de anima nicht nur entschieden zurück,
sondern man kann mit gutem Grunde sagen, dass eine der
artige Forderung gar nicht in das Bewusstsein ihres Verfassers
getreten ist. Ihre psychologischen Erörterungen kommen, wie
schon gesagt, über den Gesichtskreis eines sogenannten christ
lichen Moralismus nirgends hinaus. Wir erfahren durch sie,
dass das Wahre und das Gute die absoluten Strebeziele der
menschlichen Seele sind, dass das Wahre durch den Intellect,
das Gute durch den Willen angestrebt wird; dass man aber
zwischen dem höheren geistigen, und dem niederen sinnlichen
Erkennen zu unterscheiden habe, dass in der Seele neben der
virtus intellcctiva auch eine virtus irascibilis und virtus con-
cupiscibilis vorhanden, und dass, wie die virtus intellectiva ge
schwächt und gehemmt, so jene beiden anderen Kräfte krank
haft verdorben seien, und die virtutes regitivse der Seele, so-
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
293
weit sie auf sich selber angewiesen sind, sich schwach und
unvermögend erweisen. Die menschliche Seele sollte ordnungs
gemäss ihrer Kräfte und Vermögen eben so mächtig sein als
die Thierseelen, 1 die nicht gleich jener des Menschen durch
ihre Körper von ihrer natürlichen Aufgabe und Bestimmung
abgelenkt oder gar auf das Gegentheil derselben hingelenkt,
durch ihre Körper nicht gehemmt werden, ihre natürlichen
Ziele zu verfolgen, und gleich vom Beginne ihres Daseins an
zur Verfolgung dieser Ziele sich befähiget zeigen. Der Mensch
dagegen ist am Anfang seines Daseins geistig in Nacht und
Finsterniss getaucht, gelangt nur allmälich durch Einwirkung
anderer Menschen zu einigen Erkenntnissen, und bringt es
lebenslang nicht dahin, das, was er wissen und verstehen soll,
vollkommen zu wissen und zu verstehen. Er versteht nicht
gleich dem Thiere von Natur aus, das ihm Schädliche zu
meiden, und das ihm Nützliche und Heilsame zu suchen, son
dern muss durch Unterricht und Erziehung dazu angeleitet
werden; was aber noch schlimmer ist, er empfindet in sich
ein Widerstreben seiner Sinnlichheit und Trägheit gegen die
thatkräftige Anstrebung der ihm gesetzten geistigen und sitt
lichen Ziele, die virtus concupiscibilis und virtus irascibilis
bekunden sich als Störerinnen seines gesollteu geistig-sittlichen
Strebens, ja seine Erkenntnisskraft selber trägt in sich Hinder
nisse und Hemmnisse eines expediten und erfolgreichen Thätig-
seins. Dies Alles kann nicht zum natürlichen Wesen des Men
schen gehören, sondern muss aus einem dem Menschen seit
dem Sündenfalle angeborenen Strafgeschicke erklärt werden.
Der normale Stand des Menschen ist jener der Spiritualität,
kraft dessen die Seele im Menschen die sittliche Herrschaft
behauptet, und unbeirrt von den Reizen und Lockungen der
vergänglichen Erdenwelt den ewigen Gütern zugewendet ist.
Dem Menschen haftet von Geburt an eine Disposition entgegen
gesetzter Art au; er kann erst durch die nachfolgende geistige
Wiedergeburt in den Stand der Spiritualität versetzt werden.
Wilhelm wählt für die Bezeichnung der dem Menschen durch
seine natürliche Entstehung angeerbten Beschaffenheit und Dis
position einen harten, schroffen Ausdruck, welcher den Gegen-
' De an. V, 10 ff.
294
Werner.
satz zur Spiritualität möglichst scharf hervorheben soll; er
spricht von einer angebornen animalitas, brutalitas des zeit
lichen Erdenmenschen. Man fühlt sich da für den ersten
Augenblick an das von einigen Späteren in abgeschwächter
Form reproducirte Theologumenon des Origenes von der durch
den Sündenfall bewirkten Hinabstossung des Menschen aus
dem Zustande immaterieller Geistigkeit in jenen der sinnlichen
Animalität erinnert; in Wahrheit aber handelt es sich nur um
eine unangemessene Ausführung und Erweiterung des augustini-
schen Gedankens, dass die der sinnlichen Leiblichkeit einge
senkte Menschenseele in Folge des Sündenfalles fleischlich
(carnea) geworden ist. Allerdings spielen in diese Ausfüh
rungen auch einige übel angebrachte platonische Reminiscenzen
hinein; dahin gehört, dass Wilhelm den ererbten ,verderbten
Leilk zur unmittelbaren und förmlichen Ursache der angebornen
jSündlichkeik oder Verderbtheit macht. 1 Man sieht nicht ein,
wie der Leib als ein passives Instrument die Seele corrumpiren
könne; es fehlt die anthropologisch vermittelte Erklärung des
Standes ererbter psychischer Verderbtheit, welche letztere
übrigens auch nur als eine allmälich entwickelte, und bei jedem
Menschen als eine anfänglich bloss im Keime gegebene ge
dacht werden kann. Für die rationelle Aufzeigung eines der
artigen Entwickelungsprocesses fehlt es bei Wilhelm zufolge
seiner schon erwähnten ungenügenden und unlebeiidigen Auf
fassung des menschlichen Leibeslebens an jedwedem An
knüpfungspunkte. Er weiss nichts von einem relativen Selbst
leben der menschlichen Sinnlichkeit; demzufolge ist ihm auch
der Gedanke an eine durch die erste Menschensünde veranlasste
Emancipation der sinnlichen Leiblichkeit vom seelischen Principe
fremd, und es fehlt ihm das Verständniss für die specilische
ethische Signatur der gegenwärtigen Wesenszuständlichkeit des
1 Anima; human* in infusione sua, qua infunduntur sive conjungunter cor-
poribus liuinanis et nascuntur in ij>sis, ex ipsa conjunetione corporum
corruptorum corrumpuntur Et hoc insinuasse videtur Mercurius
phiiosophus Aegyptius hoc sermone: ,Animam detinet obtorto collo; 1 in-
telligens hoc de corpore, a quo depressionem et corruptionem patitur,
quse non permittit se erigere ad sublimia et nobilia bona, similiter eam
non permittit dirigere se a tortitudine et perversitate vitiorum. De an.
V, 13.
Die Peychologie des Wilhelm von Auvergne.
295
Menschen, vermöge welcher das seelische Princip seine Herr
schaft über den Leib nur insoweit, als es bewusste Denkmacht
ist, also nur durch ein moralisches Imperium aufrecht halten
kann. Dass im Menschen ein von seinem sittlichen Selbst
willen unabhängig bestehendes sinnliches Triebleben vorhanden
ist, gehört zur Natur des Menschen als geistig-sinnlichen Wesens;
die erblich gewordene vitiatio naturse kann nur darin bestehen,
dass es ihm aiif eine seinen gesollten sittlichen Willen be
irrende, trübende und beschwerende Weise fühlbar wird. Diesen
erblich gewordenen Zustand des zeitlich-irdischen Menschen
wesens einen Stand der Animalität nennen, ist jedenfalls un-
thunlich; noch weniger aber ist die Bezeichnung brutalitas zu
lässig, die in keinem Falle auf ein ererbtes vitium naturse,
sondern nur auf einen durch sittliche Verwahrlosung und Ver
wilderung erzeugten Zustand angewendet werden könnte. Man
könnte vielleicht dafürhalten, dass auch der Ausdruck anima-
litas nur als ethische Signatur des Standes der gefallenen
Natur gemeint sei. Allein selbst für diesen Fall wäre er
eine unangemessene Bezeichnung dessen, was er ausdrücken
soll. Die Verderbtheit der menschlichen Natur muss primär
immer in der Verkehrtheit der sittlichen Willensstimmung
gesucht werden: der Mensch ist immer mit Willen böse
und verdorben, so wenig sich auch dieser Wille im Stande
der Rohheit seiner selbst bewusst sein möge; diese bewusste
oder unbewusste Willentlichkeit constituirt also den durchgrei
fenden Unterschied zwischen dem Unadel der naturnothwendigen
thierischen Lebensäusserung und den ihr ähnlichen Selbstäusse-
rungen der verderbten menschlichen Natur. Weiter aber ist
durch die Signatur der Animalität keineswegs der Gesammt-
bereich der in der verderbten Menschennatur schlummernden
bösen Leidenschaften umfasst, obschon man zugeben kann,
dass für alle besonderen bösen Leidenschaften eine Art Ab
schattung in den rohen Trieben der Thierwelt sich aufzeigen
lasse, nur nicht der böse Wille als solcher, der ausschliesslich
dem Bereiche der moralischen Welt angehört. Hben dieser
,böse Wille' aber, diese Inclination des Willens zu demjenigen,
was das in jedem Menschen mindestens der Anlage nach vor
handene Gewissen als unerlaubt, unrecht und verwerflich er
scheinen lässt, macht den Stand der Verderbtheit zum Stande
296
Werner.
der Sünde; und ist auch jene Inclination bei der ererbten
defecten Beschaffenheit des Menschenwesens etwas Natürliches,
so ist sie doch zugleich etwas Willentliches, und kann Hin
unter dieser Voraussetzung als etwas ,Sündliches‘ angesehen
werden.
Wir glauben durch das Gesagte hinlänglich erhärtet zu
haben, dass die von Wilhelm gegebene Schilderung der durch
den Sündenfall causirten Verderbtheit der Menschennatur weder
auf natürliche, noch auf sittliche Wahrheit Anspruch hat. Wir
haben aber aus derselben noch einen anderen Punkt heraus
zugreifen, der in Bezug auf Wilhelms Theorie der Seelenkräfte
von Belang ist, und die schon gerügte Unfertigkeit derselben
nach einer neuen Seite ersichtlich macht. Wilhelm spricht,
wie wir bereits hörten, von einer Corruption und Verkehrung
der irasciblen und concupisciblen Kraft der Seele in Folge des
Sündenfalls. 1 Die Verderbtheit der irasciblen Kraft sieht er
darin, dass sich die Seele des gefallenen und verderbten Men
schen über ihre sittlichen Fehler und Gebrechen nicht ent
rüstet; die Verderbtheit der concupisciblen Kraft besteht darin,
dass für das Gute blosse Velleltäten, und oft diese kaum, in
der menschlichen Seele vorhanden sind. Wir müssen aber vor
Allem fragen, was unter diesen Kräften überhaupt verstanden
werden soll. Soferne sie Wilhelm der virtus rationalis oder
Denkkraft gegenüberstellt, muss er unter ihnen Thätigkeits-
äusserungen jener Seelenkraft verstehen, die er sonst Wille
nennt; treten sie doch auch in der Beschreibung der Seelen
verderbtheit stellvertretend für die voluntas auf, deren in jener
Beschreibung sonst gar nicht gedacht wäre. Wir wollen nichts
dagegen sagen, dass Wilhelm zufolge seines Strebens, die Ein
heit des Seelenwesens zu wahren, von der platonischen Drei-
theilung der Seele abgeht, und das Vup.iz.6v und £xiVup.v]TiK.6v der
Einen intellectiven Seele zutheilt, obschon das 6tciV up.vj-uxiv eine
solche Zutheilung sicherlich nicht verträgt. Angenommen aber,
es wären durch jene beiden Kräfte: virtus eoncupiscibilis und
virtus irascibilis, die Begehrungs- und Strebekraft der intellec
tiven menschlichen Seele bezeichnet, so hätten sie die Begeh
rungs- und Strebekraft des menschlichen Gemüthes, nicht- aber
1 De an. V, 13.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
297
den Willen oder das Vermögen der persönlichen Selbstbestim
mung zu bedeuten. liier treffen wir wieder auf die schon er
wähnte leere Stelle der scholastischen Psychologie, die vom
Gemüth, als einer von Intellect und Willen verschiedenen see
lischen Potenz nichts weiss; obwohl wir nicht verschweigen dürfen,
dass diese Lücke in der peripatetischen Scholastik doch etwas
besser verdeckt, ja für denjenigen, der vom Personsbegriffe
abstrahirt, nahezu ganz verstellt ist. Als richtig können wir
die scholastisch-peripatetischeSehematisirung der Thelematologie
freilich nicht gelten lassen. Der Wille als Vermögen der per
sönlichen Selbstbestimmung ist uns keine vom Wesen der Seele
verschiedene Potenz, sondern die unmittelbare Manifestation
ihres personhaften Wesens und ihrer selbstigen Entschieden
heit; auch halten wir es nicht für zutreffend, dem Willen als
solchem die specifische Beziehung auf das Gute als solches zu
geben, der Wille geht als solcher einzig auf die Tliat. Das
Gute als solches ist Gegenstand des Begehrens; der Wille
aber begehrt nicht, sondern handelt. Wenn also Thomas
Aquinas das höhere Begehren der Seele, welches er von dem
durch die vis irascibilis und vis concupiscibilis repräsentirten
sinnlichen Begehren abscheidet, in die menschliche Willens
anlage verlegt, so sehen wir hierin eine Fusion von Herz und
AVille, welche zu beseitigen schon der reine, scharfe Begriff
vom Willen als solchem nöthig macht. Weiter aber ist auch
in dem sogenannten höheren oder selbstigen Begehren d. i. in
jenem Begehren, welches dem seelischen Willen nicht durch
das sinnliche Triebleben aufgedrungen wird, eine doppelte Art
des Begehrens zu unterscheiden, deren eine die Wahrung und
Behauptung des eigenen Selbst, die andere aber die Erfüllung
und Befriedigung der Seele in ihrem absoluten Gute zum Gegen
stände hat. Sofern die vis irascibilis wirklich einen besonderen
Grandtrieb der Seele bezeichnen soll, wird sie den der mensch
lichen Seele grandhaft eignenden Selbstbehauptungstrieb zu be
deuten haben, kraft dessen dieselbe Alles, was ihr ungestörtes
Selbstsein bedroht, mit Entrüstung abwehrt. Die vis irascibilis
einfach der sensitiven Seele beilegen, wie bei Aristoteles und
Thomas Aquinas geschieht, beruht auf einem völligen Hinweg
sehen vom Personscharakter der menschlichen Seelenindivi-
dualität, und legt einen der Mängel bloss, an welchen die auf
298
Werner.
den Ueberlieferungen der antiken platonisch-aristotelischen Philo
sophie fassende mittelalterliche Scholastik litt.
Die peripatetische Scholastik hatte es auf Grund ihrer
vertrauten Bekanntschaft mit Aristoteles wenigstens zu einer
in ihrer Art vollständigen Ueberschau über das Gesammtgebiet
der psychologischen Forschung gebracht, und war im Stande,
eine zusammenhängende und in ihrer Art vollständige Lehr
darstellung der Psychologie zu geben. Wilhelms Schrift de
anima mag uns zum Beleg dienen, dass es unmittelbar früher
eine solche Art psychologischer Lehrdarstellung noch nicht gab.
Die Psychologie als Beschreibung des inneren Seelenlebens war
dazumal nur in den Schriften der Mystiker vorhanden, wohin
wir vorzüglich jene der Schule von St. Victor zu rechnen
haben. Wilhelm beschränkt sich auf eine sogenannte rationelle
Erweisung der für die christliche Ueberzeugung gemeingiltigen
Sätze über Wesen und Eigenschaften der menschlichen Seele,
über deren Kräfte und Begabungen; so weit er auf die Thätig-
keiten und Verrichtungen des bewussten Seelenlebens eingeht,
spricht er fast nur von der Erkenntnissthätigkeit der mensch
lichen Seele, und auch hierin beschränkt er sich fast ausschliess
lich auf das intellective Erkennen der Seele, von der sinnlichen
Erkenntnissthätigkeit ist nur ganz vorübergehend die ltede,
die Lehre vom Gewissen 1 wird nur anhangsweise behandelt.
Wilhelm läugnet, und diess wohl mit Recht, dass das Gewissen
ein besonderes Vermögen der Seele neben anderen Vermögen
derselben sei; er erklärt sich weiter, was auch noch in einem
gewissen Sinne und bis auf einen gewissen Grad richtig ist,
gegen jede Identificirung des Gewissens mit einer besonderen
Seelenkraft, mit der ratio superior namentlich, mit welcher
es von Einigen identilicirt worden sei. 2 An diese doppelte
negirende Aussage schliesst sich der positive Satz, dass das
Gewissen in der Erleuchtung der Seele durch das natürliche
Gesetz bestehe. Damit ist also gesagt, dass- die Func
tionen des Gewissens sich auf das Erkennen beschränken,
dass die Erkenntnisse des Gewissens keine aus dem selbst
eigenen Inneren des Menschen geschöpfte Erkenntnisse seien,
und dass dieselben nicht über den Bereich des natürlichen Ge-
1 Siehe de an. VIT, 13. 14.
2 Vgl. Petrus Lombard. Seutt. II, dist. 39.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
299
setzes hinausreichen. Die Beschränkung der Functionen des
Gewissens auf das Erkennen des sittlich Wahren und sittlich
Gerechten, sowie die Identification dieses sittlich Wahren und
sittlich Gerechten mit dem natürlichen Gesetze hat Wilhelm
mit der gesammten Scholastik gemein; 1 die illuministische Er
klärung der in solcher Art aufgefassten Functionen des Gewis
sens aber ist ihm eigentliiimlich, und unterscheidet ihn von den
peripatetischen Scholastikern, die dem Menschen das Wissen
um die Gebote der natürlichen Gerechtigkeit als ein natürliches
Wissen zuerkennen. Die Erkenntniss der obersten Sätze der
Sittlichkeit, oder wie die Scholastiker sagen, der natürlichen
Gerechtigkeit auf eine aussermenschliche himmlische Erleuch
tungsquelle zurückführen, heisst dem Menschen alles selbsteigene
Wissen und Erkennen um seine sittliche Natur und Bestim
mung absprechen; diese Erkenntniss überdiess noch auf die
Gebote der natürlichen Gerechtigkeit beschränken, heisst die
religiöse Natur des Gewissens und die in ihm ausgesprochene
Bezogenheit des Menschen auf seine absolute Vollendung in
Gott verkennen. Für jeden Menschen besteht das Gebot, in
seiner Art vollkommen zu sein d. h. dasjenige ganz und voll
kommen zu sein, was er seiner Anlage und Bestimmung nach
sein soll und seinen besonderen Verhältnissen gemäss sein
kann; und jeder zum sittlichen Denken Geweckte vernimmt
dieses Gebot als eine Forderung seines innersten Selbst, welches
schon zufolge einer natürlichen Liebe zu sich auf das Begehren
nach Vollendung und vollkommener Ausgestaltung seiner selbst
nicht verzichten kann. Die Forderung nach einem vollkom
menen und der Idee des eigenen Selbst gemässen Sein macht
sich mit der Gewalt eines innersten Triebes der menschlichen
Seelennatur geltend; das Gewissen ist nach dieser Seite be-
1 Eine vereinzelte Ausnahme macht unter den Scholastikern Heinrich von
Gent, welcher zwischen sittlicher Vernunft und Gewissen unterscheidet,
und letzteres dem Willen als Strebevermögen zut.heilt; Sicut in cognitiva
sunt lex naturalis et universalis regula operandorum et recta ratio ut
particularis, sic ex parte voluntatis est quidam universalis motor Stimulans
ad opus secundum regulas universales legis naturte, et dicitur synderesis,
qure est in voluntate qusedam naturalis electio, semper concordans naturali
dictamine legis naturse. (Quodlibet. 18, qu. 1). Vgl. dagegen Duns Scotus
Comm. in Sentt. H, dist. 39, qu. 2.
Sitzungaber. d. phil.-liiat. CI. LXXIII. Bd. II. Hft. 20
300
Werner.
trachtet nichts anderes, als der dem Menschen innerlichst und
unveräusserlich eignende Vollkommenheitstrieb in seiner speciel-
len Beziehung auf das sittlich Wahre und sittlich Gute. Will
man den Complex dieses sittlich Wahren und sittlich Guten
als das dem sittlich gestimmten Menschen Natürliche und seiner
sittlichen Natur Gemässe die natürliche Gerechtigkeit nennen,
so ist nichts dawider zu erinnern; es ist aber bekannt, dass
im Sprachgebrauehe jener Zeiten, der sich in der Folge noch
bestimmter gestaltete, der Begriff des natürlich Gerechten auf
dasjenige beschränkt wurde, was zum Bestände einer sittlichen
Ordnung auf Erden unerlässlich ist, während man die sittliche
Vollendimg als mit der christlichen Heiligkeit identisch einer
über das natürlich Gerechte erhabenen Ordnung zuwies. Da
mit ergab sich aber von selber eine ungerechtfertigte Ver
engerung des Begriffes vom Gewissen in der Beschränkung des
selben auf das Natürlich-Gerechte; und mau kann geradezu
sagen, dass der Ausdruck: ,christliches Gewissen/ welcher den
Gesammtinhalt der das christliche Tugendstreben constituiren-
den Verpflichtungen umfasst, eine Schöpfung des neuzeitlichen
Denkens ist, welches im Christlichen das normale und zu sei
nem sittlichen Ausdrucke erhobene Menschliche sieht, und dem
zufolge auch im christlichen Gewissen das vollkommen actua-
lisirte Gewissen erkennt. Gegenstand der im christlichen Ge
wissen vernommenen sittlichen Verbindlichkeiten ist der Ge
sammtinhalt dessen, was aus der Idee des echten und voll
endeten Menschenthums sich als sittliche Forderung ergibt; die
Idee der echten, vollendeten Menschlichkeit aber muss als eine
der Potenz und dem Keime nach in jedem Menschen gelegene
Idee anerkannt werden, und das Gewissen ist in diesem Sinne
betrachtet nichts anderes, als das im Lichte der idealen Selbst
auffassung des Menschen vermittelte und geklärte sittliche Selbst
bewusstsein desselben. Es ist selbstverständlich, dass diese
Art von Bewusstheit unbeschadet aller anderweitigen hiebei
concurrirenden Einflüsse nach ihrem letzten Grunde aus den
Tiefen des selbsteigenen menschlichen Inneren geschöpft sein
müsse; die Gewissensanlage ist dem Menschen angeboren, das
Gewissen ist in ihm als Sinn und Trieb vorhanden, ehe es
ihm im bewussten Erkennen sich verdeutlichet. Der Mensch
hat einen angeborenen sittlichen Sinn und einen angeborenen
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
301
sittlichen Trieb, welche beide in der dem Menschen eingesenk-
ten Idee des Sittlichen sich klar werden; Sinn und Trieb ge
hören dein Gemüthe an, die Selbstverdeutlichung beider in der
Idee des Sittlichen, die mit der Idee des wahrhaften Selbst
coincidirt, erhebt die sittliche Apperception aus der Region
des Gemüthslebens in jene der selbstbewussten Geistigkeit, aus
welcher sie aber sich fort und fort in jene des Gemüthes zurück
zuvermitteln hat, weil von da aus die lebendigen Impulse steter
Auffrischung und Verlebendigung des echt menschlichen sitt
lich edlen Denkens, Wollens und Strebens strömen. Dasjenige
also, um dessen Ermittelung die Scholastiker in ihren Erörte
rungen über die sogenannte Synderesis sich bemühten, ist eine
lebendige Dreieinheit aus Sinn, Trieb und Wille im Mittel und
Elemente der sittlichen Idee oder der sittlichen Selbstapper-
ception, die, um eine reine Apperception zu sein, allerdings
in das Licht der göttlichen Wahrheit gerückt sein muss, in
der That aber selbsteigene Apperception des moralisch geweck
ten Menschen ist.
Dem Gesagten zufolge haben wir zwar Wilhelm zuzu
geben, dass das Gewissen oder die Synderesis kein besonderes
Seelen vermögen, und auch nicht mit irgend einer der beson
deren Seelenkräfte zu identificiren sei. Es wird ihm weiter
auch noch zuzugestehen sein, dass das Gewissen, statt bloss
subjectiver Habitus zu sein, sich als eine objective Macht im
sittlichen Menschheitsleben, im Leben der Einzelnen sowohl
wie der Gesammtheit zur Geltung bringe, und als eine dem
sittlichen Menschheitsleben immanente moralische Macht, als
Macht der sittlichen Wahrheit bekunde. Da aber diese Macht
durch die sittlichen Ueberzeugungen der Menschen wirkt, so
muss das Gewissen als ursprüngliche Anlage in den Menschen
vorhanden sein; das Gewissen als objective Macht im öffent
lichen Leben und sittlichen Gemeinschaftsleben ist eben nur
der Exponent der subjectiven sittlichen Bewusstheit aller Ein
zelnen, die innerhalb dieser Gemeinschaft stehen. Bei den
Scholastikern findet sich die Lehre vom Gewissen nur so weit
entwickelt, als die Theorie des sittlichen Lebens selbe)' dazu
mal entwickelt war; Wilhelms Sätze über die Natur des Ge
wissens bekunden, dass zu seiner Zeit kaum de)' Anfang zu
einer systematischen Construction der christlichen Moral gemacht
20*
302
Werner.
worden war — er hat es noch nicht so weit gebracht, die Ge-
wissensanlage als etwas aus der sittlichen Organisation des
Menschen zu Erklärendes zu erkennen. Albertus Magnus 1
nimmt die Synderesis als Seelenvermögen, nicht als reines
Vermögen, sondern als etwas, was zugleich Vermögen und
Habitus, oder potentia cum habitu 2 ist, nämlich cum habitu
principiorum justitise et juris naturalis. Im Gegensatz zu
Wilhelm behauptet er ferner sowohl die Irrthumslosigkeit als
die Unverlierbarkeit der Synderesis, die ja in den ewig Ver
worfenen als jener Wurm, der nicht stirbt, sich erweise.
Thomas Aquinas 3 vereinfacht die Lehre Albert’s, indem er die
Synderesis einfach als liabitus principiorum operabilium definirt,
und gegen den theoretischen Intellect als habitus principiorum
speculabilium contradistinguirt. Mit dieser Auffassung Albert’s
und Thomas’ ist das Gewissen als etwas zum Wesen der
menschlichen Seele Gehöriges anerkannt, aber ausschliesslich
in die Sphäre der Erkenntnissthätigkeit gewiesen. Das Ge
wissen als Sinn und Trieb im Menschen kommt da nicht zu
seinem Rechte. Weiter sind die principia operabilia der Synde
resis eben so rein abstract-formaler Natur, wie die principia
speculabilia des rein theoretischen Intellectes; die Synderesis
sagt dem Menschen, dass man das Gute thuu, das Böse meiden
müsse, belehrt aber unmittelbar und durch sich selbst nicht
darüber, was gut und was böse sei. Dieser Mangel in der
Auffassung des Gewissens hängt nun wohl eben damit zusam
men, dass es nur als Erkenntnisshabitus, nicht aber zugleich
als innerer geistiger Seelensinn gefasst wird — ein Sinn, in
dessen Apperception sich dem Menschen das sollicitirte oder
verletzte Gefühl der himmlischen Abkunft und gottverwandten
Natur seiner Seele vernehmbar macht und zum Bewusstsein
bringt. Eben so ist die Synderesis der scholastischen Peri-
patetiker viel zu sehr vom seelischen Triebvermögen abgelöst;
während dem der menschlichen Seele von ihnen zuerkannten
1 Summa de creaturis P. II, qn. 69.
2 Alexander von Haies (Summ, theol. II, qu. 76, mbr, 1) drückt sich hier
über so aus : Dicendum, quod synderesis nec tantum sonat in potentiam,
nec tantum in habitum, sed in potentiam babitualem, ut notetur habitus
naturalis non acquisitus.
5 1 qu. 79, art. 12.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
303
Urtriebe des Begehrens nach Gott gerade in der psychologi
schen Analyse des Gewissens zur Anerkennung seiner Realität
hätte verholten werden sollen, indem er eben nur auf diese
Weise psychologisch sich erweisen lässt, und ohne solchen
Erweis eine unerwiesene speculative Annahme bleibt. Allerdings
ist der sogenannte Gewissen strieb etwas von dem urhaften Be
gehren der Seele nach Gott oder nach ihrer absoluten Erfüllung
specifisch Verschiedenes; er ist Ausdruck des Begehrens der
Seele nach Erhaltung ihrer sittlichen Integrität und unbefleck
ten Reinheit, seine Functionen gipfeln in dem Begehren nach
heiliger Vollendung in Gott als höchster und vollendeter sittlicher
Ehre des in seiner sittlichen Integrität rein und lauter erhal
tenen Menschenwesens. Das urhafte Begehren der Seele nach
absoluter Erfüllung aber, und was damit zusammenhängt, nach
dem die Seele absolut erfüllenden Objecte, geht auf die ab
solute Selbstbeglückung des Menschen, geht auf Freude und
Friede des Menschen in Gott. Wie sollte aber der Mensch
auf den Gedanken an Gott als den seine Seele absolut aus
füllenden Gegenstand und als das absolute Medium seiner ab
soluten Selbstbeglückung kommen, wenn ihm nicht ein ange-
borner Seelensinn sagen würde, dass er die vollkommene Har
monie seines Wesens und das Gefühl einer vollkommenen
absoluten Harmonie seines Daseins nur im Elemente der ab
soluten Lauterkeit und Reinheit tinden könne, also nur in
Gott, auf welchen als absolutes Ziel seiner Strebethätigkeit
demnach auch der Urtrieb seiner Seele nach absoluter Be
friedigung und Vollendung bezogen werden muss? Der von
den speculativen Scholastikern anerkannte und betonte Urtrieb
der Seele auf Gott als absolutes Gut ist also durch die mensch
liche Gewissensanlage bezeugt, sofern das Gewissen auf absolute
Reinheit nnd Lauterkeit des inneren seelischen Wesens des
Menschen dringt, welche, wie eine zu den Mahnungen und
Warnungen des Gewissens hinzutretende, aber ganz natürliche
und selbstverständliche Reflexion sagt, nur im Elemente der
absoluten Reinheit und Lauterkeit, also nur in Gott gefunden
werden kann, daher Gott eben so wohl, ja in gewissem Sinne
noch mehr das absolute Medium als das absolute Ziel unserer
sittlichen Strebethätigkeit genannt, werden muss. Denn es
leuchtet unmittelbarer ein, dass er das absolute Medium dieser
304
Werner.
Strebethätigkeit sein müsse, als dass er das absolute Ziel der
selben sei, wie er denn ganz gewiss nicht das absolute Ziel,
sondern vielmehr das absolute Complement derselben ist, kraft
dessen der Mensch oder die Seele in den von ihr absolut
begehrten Stand der Befriedigung und Vollendung emporge
hoben wird.
Wilhelms Lehre vom Gewissen steht in genauem Zusani;
menhange mit seiner gesammten Erkenntnisslehre. Er bestreitet
die Annahme eines intellectus agens als eines vom intellectus
materialis oder possibilis verschiedenen Vermögens, 1 und natür
lich noch mehr Avicenna’s Lehre vom intellectus agens als
einer vom Seelenwesen verschiedenen höheren himmlischen
Potenz, die zwischen Gott uud der Seele stünde. Seine Gründe
gegen die erstere Annahme, nämlich gegen die Lehre vom
intellectus agens als besonderem Seelenvermögen, sind zum
Thoile dieselben, die er gegen die Abscheidung der Seelen
kräfte vom Seelenwesen im Allgemeinen richtet, theils aber
sind sie aus seiner Grundansicht über die Natur und Art des
menschlichen Erkennens geschöpft. Seine Erkenntnisslehre ist
empiristischer Uluminismus in Verbindung mit platonischen
Elementen, die sich in den Sätzen, dass das Reich der Intclligi-
bilien die wahre Heimath der Seelen sei und die Irrthümer
aus der Versenkung in’s Sinnliche entspringen, aussprechen.
An die Grenzscheide zweier Welten gestellt 2 communicirt die
Seele mittelst ihres Leibes mit der Körperwelt, die andere
Welt aber ist der Schöpfer selber als Archetyp der Schöpfung
und Spiegel der Intelligibilien; 3 in diesem Spiegel schaut die
Seele die obersten Denkwahrheiten und Gesetze der Sittlich
keit, daselbst ist der Gesammtschatz aller jener Erkenntnisse
aufgehoben, die der geschaffene Intellect nicht durch sich,
sondern im Lichte der Gnade erschaut. So ist der Schöpfer
gleichsam ein lebendiges Buch, in welchem die Seelen un
mittelbar lesen, ein formenbildender Spiegel (speculum formi-
ficum), in den sie schauen, so dass also die Seelen nicht nöthig
1 De an. VII, 3—5; cfr. IV, 7. 8.
2 De an. VII, G.
3 Speculum universalis et lucidissimae apparitionis universalig primorum
intelligibilium. Ibid.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
305
haben, die Intellectualformen der Dinge durch sich selber zu
schaffen, und der intelloctus agens als eine überflüssige Fiction
erscheint. Die Verwandtschaft dieser Sätze mit den Anschauun
gen Malebranche’s springt in die Augen; und nicht mit Unrecht
haben französische Neucartesianer in ihrem Landsmann Wil
helm von Auvergne im Allgemeinen einen Vorläufer des Carte
sianismus des 17. Jahrhunderts erkannt. Er ist es auf dem
Gebiete der Seelenlehre hinsichtlich jener Punkte, in welchen
er, wie wir im Vorausgehenden sahen, gegen die peripatetische
Scholastik Stellung nimmt.
So entschieden sich Wilhelm dagegen erklärt, den intcl-
lcctus agens als ein besonderes vom intellectus possibilis ver
schiedenes Vermögen anzuerkennen, so ist er dessungeaohtet
keineswegs gewillt, die Activität der Seele in Erzeugung ihrer
intelloctuellen Erkenntnisse in Abrede zu stellen; 1 nur hat es
seine eigentümlichen Schwierigkeiten, Wilhelin’s Illuminismus
mit seiner Behauptung, dass der Seele eine die intelligiblen
Formen erzeugende Kraft eigen sei, zu vereinbaren. Die Ver
einbarung wird wohl darin zu suchen sein, dass die Seele als
erkennende überhaupt eine thätige sei, und demnach auch im
Hervorstellen der in sie aus Gott als veritas aüerna und arche-
typus niundi hineingestrahlten Wahrheiten und Bilder activ sich
verhalte. Gleichwohl wird man nicht umhin können, ihre be
wusster Weise selbstgewollten Thätigkeiten auf ihre ratiocina-
tiven Functionen zu beschränken; das Uebrige, nämlich die
Apperceptionen der Ideen und der logischen Gesetze, nach
welchen, diese Ideen mit einander zu verknüpfen sind, voll
ziehen sich, so zu sagen, von selber, sie stehen den spontanen
Denkoperationon der Seele, wie eine Naturthätigkoit der Kunst-
thätigkeit gegenüber. Von einer Advertenz auf den Unter
schied dieser beiden Arten intellectiver Thätigkcit ist jedoch
bei Wilhelm keine Bede, dazu ist seine Erkenntnistheorie
viel zu wenig ausgcbildet; auch machen seine Gründe für die
Nothwendigkeit, der Seele ein actives Hervorbringen ihrer
intellectiven Erkenntnisse zuzuerkennen, weit mehr den Ein
druck von Postulaten des zu Beweisenden, als von wirklichen,
aus dem Wesen der Seele geschöpften Erweisungen dessen,
1 De an. IV, 8.
306
Werner.
was er aufzeigen will. Verhielte sich die Seele im intellectiven
Erkennen nicht activ — sagt Wilhelm — so gäbe es keine
Denkanstrengung und Mühe des Studirens; ihre Erkenntnisse
stünden im Range nicht höher als die durch sinnlichen Augen
schein erworbenen Erkenntnisse; es könnte von keinen Tugen
den des Intellectes die Rede sein u. s. w. Diess und anderes,
was Wilhelm weiter noch bemerkt, ist an sich ganz richtig;
aber das active Verhalten der Seele in Erzeugung und Her
vorbildung ihrer Erkenntnisse ist damit nicht erklärt und auf
gehellt.
Was Wilhelm über das Erkenntnissieben der Seele bei
bringt, reducirt sich auf Hervorhebung des wahren und eigent
lichen Gegenstandes der menschlichen Erkenntniss, der kein
anderer als Gott ist, so dass ohne lebendige Erkenntniss Gottes
der Erkenntnisshunger der menschlichen Seele schlechthin un
gestillt bleibt. 1 Die eigentliche Heimath der menschlichen
Seele als intellectiven Wesens ist die Welt der Intelligibilien;
das Universum intelligibile ist aber eben der Schöpfer selber
als lichtestes und distinctestes Urbild des Universums. Dem
zufolge kann auch die Seele ntir zufolge einer innigsten Ver
einigung mit Gott zur Erkenntniss aller Wahrheit und somit
zur Befriedigung ihres intellectiven Bedürfnisses und Strebens
gelangen. Ihr Verhältniss zum Schöpfer kann nach dieser
Seite mit dem Verhältniss eines minder reinen und minder
glatten Spiegels zu einem vollkommen reinen und hellen Spie
gel verglichen werden; bringt man den minder vollkommenen
Spiegel in die rechte Stellung zum vollkommenen, so wieder
scheinen in ihm die Bilder, die der vollkommene Spiegel auf
zeigt. Gott ist als lichtstrahlende veritas prima nicht blos das
absolute Object, sondern auch der absolute Mittler aller intel-
lectiven Erkenntniss der Seele, 2 und ist ihr zufolge ihrer gott
verwandten Wesenheit auch an sich allezeit nahe, wofern nicht
sie selber ohne Gottes Zuthun und gegen seinen Willen von
ihm abgewendet ist. Ein solches Abgewendetsein ist nun, wie
wir bereits oben aus ^Vilhelms Munde hörten, in Adams ge
fallenem Geschlechte allen Menschenseelen von Geburt an an-
1 De an. VII, 2.
2 De an. VII, 7.
Die Paycliologie des Wilhelm von Auvergne.
307
gethan; in Folge der mit dem Menschen gebornen Verkehrtheit
seines Willens- und Strebevermögens, das, statt auf Gott als
seinen natürlichen Gegenstand gerichtet zu sein, vielmehr auf’s
Sinnliche und Irdische gerichtet ist, dann auch jene Verdunke
lung und Niederhaltung der intellectiven Erkenntnisskraft der
Seele, die nur durch die Gnade des christlichen Heiles wieder
gehoben werden kann. Diese schroffe Gegenüberstellung der
Blindheit des gefallenen Menschen und der erleuchteten Christ
lichkeit deutet auf eine Lücke in Wilhelms Denkzusammen-
hange hin, die freilich im Zeitalter der scholastisch-theologischen
Bildung niemals gefühlt, aber auch späterhin nicht sofort ent
deckt und ausgefüllt wurde, nämlich das völlige Uebersehen
eines traditionellen menschheitlichen Erbes religiös-sittlicher
Anschauungen, ohne welche ein historisches Culturleben- der
Menschheit gar nicht denkbar wäre, und welches, in den ein
zelnen Kreisen und Epochen des gemeinmenschlichen Cultur-
lebens wie immer gestaltet und modificirt, doch allenthalben,
wo es - vorhanden ist, jeden Einzelnen, der an diesem Erbe
Theil hat, bis zu einem bestimmten Grade geistig hält und
trägt, und ihm auch ausserhalb der christlichen Heilsgemein
schaft ein gewisses. Mass von religiöser Erkenntniss und sitt
licher Bildung möglich macht. Diess ist einer jener Punkte,
an welchen sich deutlich offenbart, dass das christlich-theologische
Denken, um sich dem gemeinmenschlichen Denken und Fühlen
zu bewahrheiten, sich auf dem Grunde des gemeinmenschlichen
Culturlebens mit sich selber vermitteln müsse. Es genügt nicht
zu sagen und zu zeigen, was in Folge des ersten Falles aus
dem Fallenden selber und dem gesammten ihm entstammten
Geschlechte geworden ist und werden musste; es müssen auch
die vom Anbeginn her in der Geschichte des gefallenen Ge
schlechtes wirksamen Mächte der Rettung und Heilung, nicht
bloss die übernatürlichen, sondern auch die natürlichen, in’s
Auge gefasst, und es muss gezeigt werden, wie die Gesammt-
heit und jeder Einzelne in ihr durch diese von Anbeginn her
vorgesehenen Mittel und Thaten der Rettung, in denen Gott
selbst ist, gehalten und getragen ist. Darauf zu advertiren,
möchte insbesondere von jenem Standpunkte nahe liegen, der
die menschliche Seele in eine so nahe Gegenwart des Gött
lichen rückt, wie es von Seiten Wilhelms der Fall ist; aber
308
W er n er.
seine Betrachtungsweise ist, abgesehen von ihrer empiristischen
Nüchternheit und Aeusserlichkeit, eben nur die unhistorisch
abstracte, die den Einzelnen eben nur für sicli und losgelöst
von seinem lebendigen Zusammenhänge mit dem geschicht
lichen Lehen der Gcsammthcit in’s Auge fasst, und demnach
auch nichts von jenen tiefstgreifonden Mächten der Ahnung
und Sehnsucht weiss, die von der Nähe der in der Mensch
heitsgeschichte allwaltenden Gottheit selber angeregt, das Ein
greifen und Wirken der rettenden Mächte des Heiles vorbe
dingen und vorbereiten.
Wilhelm bestimmt den Gegensatz zwischen dem gefallenen
und wiederhergestellton Menschen als jenen zwischen Animali-
tät und Spiritualität. Der gefallene Mensch ist aus dem Stande
anfänglicher Spiritualität in jenen der Animalität herabgesunken;
der Stand der Animalität bedeutet für den Menschen das Unter
bundensein der Rationalität. 1 Er verübelt cs dem Aristoteles
und anderen Philosophen, dass sie diesen Stand der Animalität
für einen natürlichen, im Wesen des Menschen begründeten
halten, 2 während der Mensch doch seinem Wesen nach so hoch
über jedem anderen sinnlichen Lebewesen stehe, als die Men
schenseele über der Thierseele stellt. 3 Mit dieser ungleich
höheren Location der Menschenseele vertrage es sich nicht,
dass der Mensch erst durch mühsames Lernen zur expediten
Ausübung der ihm zustehenden Thätigkeiten gelangt, während
das Thier, kaum dem Ei entschlüpft, oder jedenfalls binnen
Kurzem und ohne mühsamen Lernunterricht zur Ausübung der
ihm zustehenden Functionen befähiget ist. Hiebei hat Wilhelm,
welchem in diesem Punkte Alexander ITalesius sich anschliesst, 4
doch wohl sicherlich übersehen, dass der von ihm urgirte Vor
zug des Thieres vor dem Menschen ziemlich relativer Natur
sei, und letzterer doch wohl auch darum einem länger an
dauernden Unmündigkeitszustande unterworfen sein möchte,
1 Animalitas ista non est actu species aliquä animalitatis, sed privatio
qiuedam rationalitätis secundum actum tantum vel usum. non secunduin
essentiam ipsius rationalitas. De an. V, 12.
- De an. V, 13.
3 De an. V, 10.
4 Summ. univ. tlieol. P. II, qu. 95, mbr. 3.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
309
weil er für Aufgaben w r eit höherer Art vorbereitet werden
muss, und die Functionen seines ohne Vergleich höheren
Lebensberufes nicht mit blinder Noth Wendigkeit und aus An
trieben eines ihn beherrschenden Naturinstinktes, sondern durch
überlegtes freithätiges Handeln entrichten soll. Gegen den von
Alexander Halesius reproducirten Gedanken Wilhelms, dass
zufolge dos Dienstverhältnisses, in welchem der Leib zur
selbstigen Seele steht, der Mensch schon im Stande der frühe
sten Kindheit über alle Organe seines Leibes frei und sicher
disponiren sollte können, hat bereits Thomas Aquinas 1 bemerk -
lich gemacht, dass der Mensch nach seiner physischen Seite *
den Gesetzen des Wachsthums der physischen Organismen
unterstellt sei; diese Gesetze brächten es mit sich, dass im
Kinde das Gehirn sich am frühesten entwickele und zugleich
durch sein Schwergewicht prävalire, woraus die Unbeholfen-
heitszustände des frühesten Kindesalters ganz natürlich sich
erklärten. Wenn Wilhelm, um seine Ansicht von der Sache
durch möglichst viele Argumente zu erhärten, auch seinen
Illuminismus herbeizieht, so dient dicss nur dazu, die Incon-
gruenz und Verschobenheit seines vermeintlichen christlichen
Philosophismus recht auffallend bemerklich zu machen. Da
das Licht der natürlichen Einsicht vom lumen primum aus-
fliessc, bemerkt Wilhelm, 2 so sollte die Menschenseele, die
jenem lumen doch ungleich näher stehe, als die Thierseele,
auch ungleich mehr Erleuchtungen in Bezug auf die. natürlichen
Geschicklichkeiten in Erwerb der Nahrung, Erhaltung und Vor
theidigung des Lebens u. s. w. von Natur aus eigen haben,
als die Thierseele. Nun, diese Erleuchtungen gehen den Men
schenseelen auch im Stande der gefallenen Natur nicht ab;
Beweis dafür ist das gesammte menschheitliche Culturleben
mit seinen auf Erhaltung und Pflege des leiblichen Seins und
Wohlseins abzweckenden Einrichtungen, Künsten und Fertig
keiten, die auf eine im grossartigsten Massstabe betriebene
Ausbeutung der gesarnmteu sichtbaren Wirklichkeit für die
Zwecke des sinnlich-leiblichen Zeitdascins dos Menschen ge
gründet sind. Diese Einrichtungen, Künste und Fertigkeiten
1 Summ, theol. 1, qu. 99, art. 1.
2 De an. V, 12.
310
W erner.
beweisen doch sicher, dass die Menschenseelen in einem ungleich
höheren Grade an jenem lurnen primum parti cipiren, als die
Thierseele, die nach Wilhems Dafürhalten gleichfalls Irradia
tionen vom lumen primum empfängt, nach unserem Dafürhalten
aber nicht empfangen kann, weil sie kein an sich seiendes
Wesen, sondern eben nur die sinnliche Lebendigkeit jenes
animalischen Organismus ist, den man Thier heisst, und der
nichts anderes, als die individualisirte Ausprägung eines con-
stitutiven Partialgliedes des Organismus der gesammten sicht
baren Naturwelt ist. Im Selbsterhaltungsstreben des Thieres
wirkt die Macht des allgemeinen Naturgedankens, der in jeder
Thierspecies auf bestimmte Weise iudividualisirt ist; der Mensch
ist mehr und Höheres, als eine derartige particularisirte In-
dividuirung des allgemeinen Naturgedankens, und die Sorge
für die Erhaltung seiner irdisch-sinnlichen Leibiichheit ist für
ihn nicht, wie für das Thier, das Höchste und Einzige, son
dern das Unterste und Niederste, das sich zudem nicht auf
sein inneres, unverlierbares Selbst, sondern auf den davon
unterschiedenen verlierbaren sinnlichen Theil seiner irdischen
Selbstigkeit bezieht. Eher wäre es angezeigt gewesen, auf die
Frage einzugehen, warum der Mensch, obschon seiner Idee
nach ein überthierisches Wesen, gleich allen thierischen Wesen
dem Schmerze, der Krankheit und dem Tode anheimfallen
konnte; dazu wäre aber nothwendig gewesen, auf den Unter
schied zwischen der Idee des Menschen und dem zeitlich
irdischen Sein des Menschen einzugehen — ein Unterschied
und Gegensatz, der über jenen zwischen nichtgefallenen und
gefallenen Menschen hinausgreift, und den Schlüssel für das
Verständniss der in der kirchlichen Theologie unterschiedenen
drei Stände der natura integra, lapsa, restituta in sich fasst.
Ein Grundmangel der Psychologie Wilhelms ist, dass sie,
während sie doch die menschliche Seele allenthalben als Seele
d. i. als ein nach dem Verhältniss derselben zu dem ihr eig
nenden Leibe zu verstehendes Wesen in’s Auge fasst, dieses
Verhältniss in Bezug auf das intellective Selbstleben der Seele
nur insoweit zur Sprache bringt, als es hemmend und retardi-
rend auf dasselbe einwirkt. Von der speciiischen Tinctur und
Artung des menschlichen Selbstlebens in Folge der Correspon-
denz und innerlichen Verwachsenheit des Seelischen und Leib-
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
311
liehen ist allüberall gar keine Rede; einerseits wird die Seele
fast wie ein leibloses Engelwesen behandelt, andererseits wird
sie wieder in excessivem Grade vom Leibe gedrückt gedacht,
und ein mit der Idee der organischen Leiblichkeit nicht ver
einbares Dienstbarkeitsverhältniss des Leibes als das Gesollte
und Normale postulirt. Im Grunde ist das nicht zu verwun
dern; wenn man, statt nach der Idee des Menschen, nur nach
dem Wesen der Seele fragt, und das Verhältniss derselben
zum Leibe nur als ein nun einmal nicht abweisliches Acces-
sorium ansieht, so muss es zu solchen Schiefheiten kommen,
wie deren mehrere in dem voraus Gesagten dargelegt worden
sind. So ist denn auch in der eschatologischen Partie der
Schrift Wilhelms nur von der Seelenunsterblichkeit die Rede;
die künftige Wiedervereinigung der Seele mit dem Körper
wird zwar nebenhergehend auch festgehalten, aber kaum ein
anderer Grund dafür ausfindig gemacht als dieser, dass die
Seele, nachdem sie nun einmal auf und durch den Leib zu
wirken befähiget ist, desselben auch im Vollendungsstande
nicht, entrathen soll. Sonst liegt das Hauptinteresse an der
eschatologischen Frage für Wilhelm ausschliesslich in der See
lenunsterblichkeit. Der Leib kann sterben, die Seele nicht, 1
oder wenigstens nicht auf natürlichem AVege; ein Zugrunde
gehen der Seele wäre nur unter der Bedingung denkbar, dass
die continuirliche göttliche Lebenseingeistung, durch welche
die Seele im Sein erhalten wird, plötzlich stockte und auf
hörte. Niemand also, als nur Gott selbst könnte die mensch
liche Seele vernichten; sie selber kann sich von der Quelle
und dem Spender ihres Lebens nicht losreissen, und eben so
wenig durch eine geschöpfliche Kraft davon losgerissen werden.
Sofern einzig Gott als der Urlebendige das Leben in eigenster
Wesenheit ist, ist es allerdings richtig, die fortdauernde Exi
stenz der menschlichen Seele mit Wilhelm aus einer continuir-
lichen göttlichen Action zu erklären; aber es geht nicht an,
Sein und Leben in der menschlichen Seele so zu trennen wie
in demjenigen, was Leben hat, ohne selber Leben zu sein. Die
Seele ist zufolge ihrer gottverwandten Natur Selbstleben, und
wesenhaftes Bild des urlebendigen Ewigen, womit sich nicht
1 De au. V, 25.
312
W e r n e r.
verträgt, dass sie je an ein zeitliches Ende ihrer Dauer ge
langte. Wenn nun dennoch eine continuirliche Action Gottes
als absolute Bedingung ihrer Dauer p'ostulirt wird, so kann
diese continuirliche Action nur den Einen Act des Schaffens
bedeuten, der als absoluter göttlicher Act ein unvergänglicher
Act ist und als solcher niemals der Vergangenheit anheimfällt,
und daher auch durch keinen entgegengesetzten göttlichen Act
aufgehoben werden kann. Etwas anderes ist es um die ewige
Beglückung der Seele in Gott; diese ist dem Begriffe und der
Sache nach von der ewigen Dauer der selbstigen Seele ver
schieden, und irivolvirt eine durch die vollkommene Vereinigung
der Seele mit Gott bedingte continuirliche Einströmung aus
Gott als absoluter Quelle des seligen Lebens. Was der Christ
das ewige Leben nennt, bezieht sich auf eine bestimmte Zu-
ständlichkeit der ewigen Seelendaüer, und bezeichnet die ab
solute Vollendung der Seele in Gott.
Das vorerwähnte Argument Wilhelms erhärtet eigentlich
nur die Möglichkeit einer ewigen Seelendauer; die Denknoth-
wendigkeit einer solchen Dauer vergewissert sich ihm aus der
Befähigung der Seele zu einem unbegrenzten Fortschreiten in
der Erkenntniss und in der Tugend. Freilich begründet auch
diese Befähigung, wie Wilhelm selber fühlt, zunächst abermals
nur die Fähigkeit einer ewigen Dauer, nicht diese sempiterne
Dauer selber, es ist ihm jedoch undenkbar, dass jener Be
fähigung zu einem unbegrenzten Fortschreiten nicht auch ein
wirkliches derartiges Fortschreiten entsprechen sollte, daher
dann auch an der Wirklichkeit der Seelenunsterblichkeit nicht
zu zweifeln sei. Wir müssen die philosophische Giltigkeit
dieser Art von Beweisführung entschiedenst in Abrede stellen.
Angenommen, Wilhelms Schlussfolgerung wäre vollkommen
zwingend, so würde sie nur eine perpetuirliche Annäherung
der Seele an ihr Ziel ohne Erreichung desselben beweisen —
ein Sein in unendlicher Zeit, aber nicht ein über die Zeit
erhabenes Sein in ewiger Gegenwart. Die wirkliche Erreichung
des absoluten Zieles ist, wie Wilhelm doch gewiss bestimmt
überzeugt ist, die vollkommene Vereinigung der Seele mit Gott,
wodurch die Seele über die Zeit emporgehoben wird. Diese
Emporhebung der Seele aber über sich selbst und ihr natür
liches Sein ist, wie Wilhelm abermals überzeugt ist, ein Werk
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
313
der göttlichen Gnade und Huld, woraus aber weiter folgen
würde, dass allen jenen Seelen, die entweder von dieser Huld
nichts wissen wollen oder keine Ueberzcugung von der Ge
wissheit ihrer Auserwählung zum ewigen Lehen haben, die
Zuversicht auf eine unendliche Fortdauer abgesprochen wer
den müsste.
Wilhelm scheint die von uns aus seinem Unsterblichkeits
beweise gezogene Consequenz, dass ein durch unendliches Fort
schreiten zu erringendes Ziel eigentlich nie erreichbar sei,
durch eine andere, das früher Gesagte ergänzende Argumentation
abschneiden zu wollen. Die Seele strebt ihrer Natur nach
aufwärts, 1 und sucht ihren natürlichen Ruheort in einem geistig
zu verstehenden Oben, dessen entgegengesetztes Extrem Zer
störung und Elend als tiefstes Unten ist. Sie verabscheut und
flieht die Bewegung nach diesem Unten eben so entschieden,
als sie das entgegengesetzte Oben begehrt. Was die Seele mit
natürlicher Nothwendigkeit begehrt, muss sie auch zu erreichen
das Vermögen haben; also muss sie auch das Vermögen und
die Kraft haben, dem Tode und der Zerstörung zu entgehen.
Dieses Vermögen, die Zerstörung und den Tod von sich ab-
zuwendeu, und ihr in entgegengesetzter Richtung gelegenes
Ziel anzustreben, wäre ihr jedoch umsonst verliehen, wenn sic
ihren natürlichen Ruheort nicht wirklich erreichte; also ist
die Seele unsterblich. Es ist nicht schwer zu erkennen, dass
dieses Argument an demselben Gebrechen leidet, wie das vorige;
es tritt wieder dieselbe Vermengung dos philosophisch-rationalen
Unsterblichkeitsbegriffcs, der sich einfach auf die Seelenfort
dauer nach dem Leibestode bezieht, mit dem christlichen Un
sterblichkeitsgedanken, der das selige Leben der an sich un
vergänglichen Seele in Gott zum Inhalte hat, zu Tage. Ja
dieses neue philosophische Argument für die Seelenunsterblich
keit lässt die Folgerung zu, dass die Seele erst am Schlüsse
jener Bewegung, deren Ziel ihr durch den Trieb nach Oben
eingesenkt ist, zur wirklichen Unvergänglichkeit gelange. Nicht
besser steht es um jenes Argument, in welchem 2 aus der Un-
1 De an. VI, 13.
2 De an. VI, 16.
314
Werner.
aufhörlichkeit des Glückseligseins auf die Unaufhörlic.hkeit der
das Glückseligsein begehrenden Seele geschlossen wird.
Wilhelm’s philosophische Ueberzeugtheit von der Seelen
unsterblichkeit ruht auf der seinem christlichen Bewusstsein
feststehenden Ueberzeugung, dass der gegenwärtige Zustand
des Menschen als Stand der gefallenen Natur nicht der normale,
dem Wesen des Menschen gemässe Zustand, und demnach auch
nicht für die Erörterung der Unsterblichkeitsfrage massgebend
sei, ausgenommen insoferne, als er den gegenwärtigen Zustand
der Seele als jenen einer Einkerkerung im sterblich gewor
denen Leibe erscheinen lässt, dessen los zu werden, für die
von ihm gedrückte Seele eine ersehnte Befreiung ist. Daraus
ergibt sich dann die Seelenfortdauer nach dem Leibestode als
eine sich von selber verstehende Sache. Der Mensch ist durch
den Sündenfall der Sterblichkeit anheim gefallen; dieses Sterb
lichkeitsloos betrifft jedoch nur den Leib, nicht die vom Leibe
unterschiedene Seele, deren Functionen über das Geschäft der
Leibesbelebung unermesslich weit hinausgreifen. Die Seele
leidet wohl auch an Krankheiten, wie der Leib; 1 aber diese
Krankheiten können nicht das Sein der Seele zerstören, da
sie nicht das esse, sondern bloss das bene esse der Seele be
treffen. Wir wollen uns auf eine nähere Sondirung dieses
Argumentes nicht einlassen; es scheint aber, dass, da auch
jene Leibeskrankheiten, die nicht die Vorboten und Indicien
des beginnenden Auflösungsprocesses sind, bloss das bene esse
und nicht das esse des Leibes betreffen, Wilhelm jedenfalls
das, was eben in Frage steht, hätte beweisen sollen, nämlich,
dass die Seelen nicht gleich den Leibern von Todeskrankheiten
ergriffen werden können.
Indess, Wilhelm nimmt in der That den Anlauf zu einer
derartigen Nachweisung. Der Leib, heisst es bei ihm weiter, 2
wird durch bestimmte Dispositionen untauglich gemacht, die
Lebenseinflüsse der Seele noch weiter zu recipiren, und fällt
damit dem Tode anheim. An der Seele lässt sich nicht gleicher
Weise eine Ursache des Sterbens aufzeigen, sei es, dass man
sie als selbstlebend, oder dass man sie als von Gott belebt
1 De au. VI, 14.
^ Ibid.
Die Psychologie «les Wilhelm von Auvergne.
315
ansehe. Selbstlieben ist Selbstbewegung; was durch sich selber
bewegt wird, bewegt sich immerfort, und hat darum, wie Plato
im Phädon mit Recht sagt, sempiterne Dauer. Gesetzt aber,
die Seele lebe durch fremde Influenz, so lässt sich aus dem
Wesen der Seele zeigen, dass in ihr keine Zuständigkeiten
solcher Art eintreten, welche dem Leibe die Empfänglichkeit
für die Lebenseinflüsse der Seele benehmen; also muss sie
immerfort leben. Die aus der gestellten Alternative heraus
leuchtende Unsicherheit in der Auffassung der Art des Leben
digseins der Seele lässt schon an sich den Werth der Beweis
führung zweifelhaft erscheinen; jedenfalls kann sie nicht als
strict und zwingend gelten, weil zwingende Gründe nur aus
einer klaren und festen Grundbestimmung des Wesens der
Seele abgeleitet werden können. Wilhelm zeigt aber nur, dass
die Seele, man möge ihre Lebendigkeit in dieser oder in jener
Weise fassen, nicht nach Art des Körpers sterben könne.
Daraus folgt indess noch keineswegs, dass sie in keinerlei Art
zu sein aufhören könne.
Der eigentliche Stützpunkt der Beweisführung Wilhelms
für die Unsterblichkeit der menschlichen Seele ist das Ge
schaffensein. derselben für Gott und zur innigsten Vereinigung
mit Gott. Dieses Finalverhältniss der Seele muss natürlich
durch ein ontologisches Grundverhältniss unterbaut sein; die
Seele ist insofern zur innigsten Vereinigung mit Gott geeigen-
schaftet, sofern sie ihrem Wesen nach den Charakter der Gott
ebenbildlichkeit an sich trägt. Wilhelm kommt wirklich auch
auf diesen Charakter zu sprechen, 1 entwickelt ihn aber nicht
mit Rücksicht auf das rein philosophisch zu bestimmende Wesen
des Einen überweltlichen Gottes als absoluter Geistigkeit und
absoluter Allheit, sondern mit Beziehung auf die vom christ
lichen Glauben gelehrte Dreieinheit des göttlichen Wesens.
Damit ist abermals die philosophische Ueberzeugung von der
Seelenunsterbliehkeit auf eine specifisch christliche Glaubens
anschauung gestellt, rücksichtlich welcher natürlich Wilhelm
nicht von ferne daran denkt, sie in das Licht einer speculativ
evidenten Wahrheit zu rücken, obschon er es an analogischen
Erläuterungen derselben nicht fehlen lässt. Aus den Tiefen
1 De an. VII, 22.
Sitzungsbor. d. phil.-hiat. CI. LXXIII. Bd. II. Htt.
21
316
Werner.
des göttlichen Wesens geht ewig die ungeschaffene ewige
Weisheit als Sohn und reinstes Ebenbild des göttlichen Vaters
hervor. Auch die menschliche Seele ist darauf angelegt, Weis
heit aus sich zu erzeugen, und in der Wahrheit sich zu voll
enden; diess vermag sie aber nur, wenn sie zur Anschauung-
Gottes gelangt. Hier im zeitlichen Erdenleben erzeugt sie
einzelne, theilweise Weisheitserkenntnisse aus sich, und bringt
darunter leider auch nur zu viele geistige Fehlgeburten zur
Welt. Also dann erst, wenn sie Gott anschauend vollkommen
weise geworden ist und die vollendete Weisheit aus sich her
vorzustellen gelernt haben wird, ist sie das vollkommene und
wahrhaftige Ebenbild der die absolute Weisheit aus sich gene
rativ hervorstellenden göttlichen Wesenheit, und das lebendige
Bild des diese Weisheit darstellenden göttlichen Sohnes ge
worden. Sofern sie aber dann in innigster Gemeinschaft mit
Gott zugleich von heiligster, unauslöschlicher und über alle
Schilderung erhabener Liebe zu ihrem Schöpfer glüht, wird sie
auch Bild und Gleichniss des heiligen Geistes sein, der den
Flammenherd der göttlichen Liebe darstellt. Also, die in Er-
kenntniss und Liebe vollendete Seele ist das wahrhaftige und
vollendete Abbild des dreieinigen Gottes; sie ist aber dann in
Erkenntniss und Liebe vollendet, wenn sie zur ' seligen An
schauung Gottes erhoben ist, die selbstverständlich nur als
ewige Anschauung gedacht werden kann. Was folgt nun hier
aus in Ansehung der Unsterblichkeitsfrage? Etwa, dass die
Seele ihrem Wesen nach unsterblich ist? Nicht diess, sondern
dass sie zur Erlangung eines seligen unsterblichen Seins ge
schaffen ist. Muss sie aber ein solches Sein erlangen? Und
wie dann, wenn sie es nicht erlangt und zur seligen Anschauung-
Gottes nicht gelangt? — Wilhelm hebt nebstdem noch ein
paar andere psychologische Ternäre hervor, um an ihnen zu
zeigen, wie die Seele zum vollendeten Abbilde der göttlichen
Dreieinheit sich vollenden soll. Diese Ternäre sind: virtus
intellectiva, concupiscibilis, irascibilis — Vita, sensus, affectus.
Die vollendete virtus concupiscibilis ist vollende heilige Liebe,
die vollendete virtus irascibilis erscheint in lautere Güte ver
klärt. Der Ternär vita, sensus (Erkenntniss), affectus wird
einfach in leicht zu errathender Weise zu den drei Hypostasen
der göttlichen Dreieinheit in’s Verhältnis gesetzt.
Die Psj'chologie des Wilhelm von Auvergne.
317
Besser und treffender als von Wilhelm, wird bei Albertus
Magnus 1 die Unsterblichkeitsfrage mit der Lehre von der Gott
ebenbildlichkeit der Menschenseele in Verbindung gebracht.
Die intellective Seele, die dem von den Eltern gezeugten leben
digen Plasma des Kindesleibes eingesenkt wird — lehrt Al
bertus M. — ist unmittelbar durch Gott selber gesetzt, da sich
ihre Entstellung durch das Wirken der bei der Zeugung con-
currirenden natürlichen Kräfte durchaus nicht erklären liesse.
Da nun unmittelbar Gott selber die intellective Seele hervor
bringt, und zwar auf eine vom Wirken der physischen Kräfte
völlig verschiedene Art, so bleibt nichts übrig als anzunehmen,
dass er sie ad modum et similitudinem suam propriam hervor
bringe. Eben daraus aber, dass Gott unmittelbar selber sie
setzen muss, folgt die über den Bereich der corruptiblen Kör
per erhabene Incorruptibilität ihres Wesens; 2 darum haben —
fährt Albertus weiter fort — nach Alfarabi’s Bemerkung ein
stimmig alle Denker die Wurzel der Unsterblichkeit im in-
tellectus adeptus gesucht, sofern eben in diesem die Unab
hängigkeit des Intelloctus vom Körperlichen und Corruptiblen
quoad esse, agere et pati sich bekundet. Auf der durch Al
bertus M. geschaffenen Grundlage eines speculativen christ
lichen Peripatetismus hat Thomas Aquinas in möglichster Voll
ständigkeit die Beweise für die Seelenunsterblichkeit entwickelt; 3
Duns Scotus bestritt die zwingende Ueberzeugungskraft dieser
Argumentationen, und fand einzig in der christlichen Hoffnung
des seligen Lebens eine vollkommene Verbürgung der Gewiss
heit der Seelenunsterblichkeit. Darin ist er nun offenbar viel
zu weit gegangen, und ist namentlich dem von der peripateti
schen Einkleidung unabhängigen speculativen Gehalt der von
Thomas entwickelten Hauptgründe nicht gerecht geworden;
seine Haltung in dieser Frage stellt indess gerade nur das
jenige ins Licht, was sich uns als eigentliches Ergebniss der
von Wilhelm versuchten Beweisführung aufgewiesen hat —
dass nämlich ein unspeculativer oder antispeculativer Christianis-
1 Summ, tlieol. P. II, tract. 12, qu. 73. mbr. 2.
2 InteÜectus — sagt Albert 1. c. — est incorruptibilis secundum esse et
secundum agere et secundum pati.
3 Vgl. insbesondere des Thomas Aq. Summa contr. gent. II, c. 79.
318
W e nier.
mus für die philosophische Begründung des gemeinmensch-
liclien religiösen Unsterblichkeitsglaubens nicht aufzukommen
vermag. Ein wahrhaft speculativer Gedanke ist es aber ganz
gewiss, wenn Thomas die unvergängliche Dauer des mensch
lichen Seelenwesens aus der Fähigkeit der Seele, die Ideen
der Dinge zu erfassen, folgert. Die intelligiblen Formen der
Dinge — sagt Thomas — sind unvergänglich, weil sie in ihrer
Allgemeinheit über alle Zeit erhaben sind; um so mehr muss
jene Potenz unvergänglich sein, welche die Intelligibilien aus
der Potenzialität in die Actualität ihres geistigen Seins über
führt; denn, wie Aristoteles sagt: Faciens est honorabilius facto.
Zufolge der Aufgabe, die wir uns stellten, die psycho
logischen Anschauungen Wilhelms von Auvergne darzustellen,
wollen wir ihm nicht weiter, als es für unseren Zweck nöthig
ist, auf das Gebiet der Erkenntnisstheorie hinüberfolgen, und
auch da nur zu dem Ende, um die Cousequenzen seiner psycho
logischen Anschauungen auf diesem Gebiete zu beleuchten.
Wilhelm glaubt 1 gegen die Aristoteliker erweisen zu sollen,
dass die intellective Kraft der Seele, sofern sie rein und un
gehemmt wirke, wie es im Stande der nicht verdorbenen Natur
der Fall wäre, keineswegs auf die Wahrnehmung und Erkenn t-
niss des Allgemeinen beschränkt, sondern auch das Besondere
d. i. das Singuläre und Individuelle zu erkennen im Stande
sei. Als Hauptgrund dessen wird angegeben, dass die intel
lective Seele doch vor Allem darauf angelegt sei, Gott zu er
kennen, der im höchsten Grade singularis et individuus sei.
Dieses Argument würde wohl für sich allein beweisen, dass
man in Wilhelm keinen speculativen Denker vor sich habe;
die wunderbare Einzigkeit Gottes mit der Singularität der
Sinnendinge, die Individuität Gottes mit dem individualisirten
Wesen der singulären Gattungsdinge in eine Classe zusammen
werfen, bleibt wohl hinter den allerbescheidensten Anforde
rungen an ein philosophisch gebildetes Denken zurück, und
lässt die Befreundung der damaligen Theologie mit der aristo
telischen Philosophie als ein wahres, innerstes Zeitbediirfniss
erscheinen. Solchen Ansichten gegenüber, wie Wilhelm sie
aussprach, handelte es sich wirklich vor Allem zuerst darum,
1 De an. V, 17.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
319
das universelle Wesen der göttlichen Essenz sowohl als auch
der gottobcnbildlichen Menschenseele, und den darin begrün
deten Unterschied und Gegensatz der geistigen Wesenheiten
zur Partieularität der Sinnendinge zum entschiedenen Bewusst
sein zu bringen. Uebrigens sprach sich in dem Widerstreben
Wilhelms gegen die Beschränkung des intellectiven Erkennens
auf das Allgemeine immerhin das Gefühl eines Mangels in der
aristotelischen Anschauung aus, die trotz ihrer entschiedenen
Hinwendung auf das erfahrungsmässig Gegebene den Gedanken
der concreten Wirklichkeit nicht wahrhaft zu erfassen ver
mochte, und zwar desshalb nicht, weil sie Dasein und Er
scheinung des Concreten nur in der sinnlichen Wirklichkeit
suchte, und demzufolge den Begriff des Concreten mit jenem
der individuellen, sinnefälligen Körperlichkeit in Eins zusam
menwarf. Das Gefühl dieses Mangels war es, welches Duns
Scotus antrieb, sich gegen die auf peripatetische Grundlage
gestützten erkenntnisstheoretischen Sätze des Thomas Aquinas
kritisch-polemisch zu verhalten, und den Erweis zu liefern,
dass der Intellect das Singuläre direct ergreife, und der Grund
der Individuation der Sinnendinge nicht, wie Thomas annehme,
in der Materie, sondern in der Häcceität oder im xöoe xt sivai
dos Dinges zu suchen sei. Damit war nun allerdings die Mög
lichkeit gewonnen, sich auch loiblose Engelwesen als concrete
Existenzen zu denken; Duns Scotus konnte überdiess zufolge
seiner Annahme, dass alles Creatürliche aus Materie und Form
zusammengesetzt sei, den Begriff der Concretion im strengsten
Sinne beim Engelwesen als einer Coalescenz aus Materie und
Form zur Geltung bringen. Es liegt aber auf der Hand, dass
unter Voraussetzung eines solchen Begriffes vom Concreten
der Begriff einer concreten Existenz und Wesenheit auf Gott
nicht anwendbar sei, da der Begriff Gottes als das ens univer-
salissemum jede beschränkende Determination ausschliesst. Nun
ist jedoch in der nachscholastischen Spekulation gerade der
Begriff der göttlichen Wesenheit als der absoluten Concretheit
für das christlich-philosophische Interesse massgebend in den
Vordergrund getreten; die absolute Concretheit fällt da mit
der absoluten Persönlichkeit des überweltlichen Gottes zusam
men. Dieser innere Zusammenhang der Idee des Concreten
mit der Persönlichkeitsidee lag ausserhalb des Bereiches der
320
Werner.
scholastischen Speculation, welcher in ihrer abstract formali-
sirenden Tendenz die Persönlichkeitsidee überhaupt etwas völlig
Fremdes war. Daher konnte auch dasjenige, was im concreten
Bilden der Natur sich zum Ausdrucke bringt, nämlich das in
den aufwärts steigenden Bildungsreihen der epitellurischen
Wirklichkeit ausgesprochene Streben einer stets durchgebilde
teren Individualisirung als Hindeutung und Annäherung an die
Individuität des persönlichen Menschenwesens nicht verstanden
wei’den. Das Menschenwesen hat das Princip seiner persön
lichen Selbstigkeit in seinem persönlichen Fonnprincipe; dem
zufolge sind noch Wesen höherer Art denkbar, welche die
absolute persönliche Selbstigkeit der göttlichen Wesenheit un
mittelbar durch sich selber, und nicht bloss, wie der Mensch,
zufolge eines ihm einwohnenden persönlichen Formprincipes
seiner sinnlichen Leiblichkeit nachbildcn. Die Engelwesen
stellen demzufolge auch einen höher durchgebildeten Grad von
Individuität und Concretheit dar, als der in der Ineinsbil
dung von Geistigem und Sinnlichem subsistirende Mensch. Die
absolute Individuität und Concretheit wird aber jene der gött
lichen Wesenheit sein, deren absolutes Sein jede Art von Gc-
theiltheit und Zusammengesetztheit selbst schon für das blosse
Denken ausschliesst, indem in ihr die absolute Allheit mit der
absoluten Einheit zusammenfällt.
Diese absolute Coincidenz der absoluten Allheit mit der
absoluten Einheit wird es denn auch sein, welche dem nach
Thomas und den sonstigen scholastischen Peripatetikern auf
das Allgemeine gerichteten menschlichen Intelleete das gött
liche Wesen erfassbar und erkennbar macht. Der Gedanke
dieser Coincidenz wird aber von Wilhelm so wenig erfasst,
dass er vielmehr Gott an der vorerwähnten Stelle geradezu
als Einzelwesen fasst 1 und daraus, dass die intellective Seele
1 Verissime enim est, virtutem intellectivam puram atque liberam non
ignorare particularia, si in ea eognoscenda intenderit. Alioquin, cum
Creator benedictus singularis et individuus sit in ultimitate singularitatis
et individual itatis, prohibita esset virtus intellectiva humana impossibilitate
naturali ab intellectu ipsius et cognitione intellectuali. Quapropter pro-
lubitse essent similiter omnes substantise nobiles abstracto: a cognitione
singulari creatoris; similiter et animee coelorum non intelligerent intel-
ligentias separatas nisi intellectione communi. De an. V, 17.
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
.321
dieses Einzelwesen erkennt, die Folgerung zieht, es müsse ihr
überhaupt eigen sein, wie das Allgemeine, so auch das Einzelne
zu erkennen. Bei so beschaffener Auffassungsweise muss man
wohl auch zweifeln, ob Wilhelm sich den Grund der intellec-
tuellen Denkfähigkeit der Menschenseele, des geschöpflichen
Ebenbildes der göttlichen Wesenheit klar zu machen, je das
philosophische Bedürfniss empfunden habe; sein schon aufge
wiesener spiritueller Sensismus scheint ihn dieses Bedürfnisses
überhoben zu haben. Er erhebt nun allerdings gegen die ihm
bekannte Lehre der Aristoteliker, dass der Intellect specifisch
auf das Allgemeine gerichtet sei, den Ein wand, dass unter
dieser Voraussetzung Gott, der die absolute Intelligenz ist, die
Einzeldinge nicht zu erkennen vermöchte. Darauf ist aber zu
bemerken, dass Gott die sinnlichen Einzeldinge gewiss nicht
so erkennt, wie wir sie erkennen; er denkt und erkennt sie
aus der von ihm freiconcipirten Naturidee heraus als deren
nothwendigen Inhalt. Die Erkenntniss dieses Inhaltes muss,
so gewiss das Schaffen kein naturnothwendiger, sondern ein
Act freiester Bewusstheit und reinster Freithätigkeit ist, bis
in’s Einzelnste und Kleinste gehen, und sich auf alle Modali
täten der auf Grund der göttlichen schöpferischen Setzung vor
sich gehenden Entwickelung der geschaffenen Naturwirklich
keit beziehen. Da Gott das sichtbare Naturganze in seinem
organischen Zusammenhänge mit der Gesammtschöpfung denkt,
und die Entwickelung der Gesammtschöpfung seinem voraus
schauenden und vorausbestimmenden Denken und Wollen ab
solut unterstellt ist, so sind auch alle zufälligen Einwirkungen
des Menschen auf die sichtbare Erdnatur in das vorschauende
Wissen Gottes aufgenommen; es gibt kein noch so kleines
und scheinbar unbedeutendes Geschehen, das für ihn erst da
durch, dass es sich vollzieht, zur Thatsache würde. Von
diesem Gesichtspunkte aus betrachtet muss man allerdings die
Anschauung, welche das intellectuelle Erkennen in Erfassung
des Allgemeinen, des Generellen und Universellen bestehen lässt,
für eine solche halten, welche den Anfängen des höher
entwickelten philosophischen Denkens angehört, und wofern
man bei ihr stehen bleiben wollte, nicht nur schlechthin un
zureichend wäre, sondern auch eine Menge Schwierigkeiten
schüfe, mit welchen ein religiös gläubiges Denken nicht fertig
zu werden vermöchte. Wilhelm hebt jedoch nur diese Schwierig
keiten hervor, ohne das Wahre und Berechtigte an ihr zu
würdigen, welches darin liegt, dass die menschliche Seele eine
über die Getheiltheit, Diversität und Particularität des Sinn
lichen hinausgestellte universelle Wesenheit sei, deren Charak
ter sich auch in der ihr spccifisch eignenden Art des Erkennens
bekunden müsse, mittelst dessen die Sinnendinge aus ihrer
niederen sinnlichen Wirklichkeit in die Region einer höheren
geistigen Wirklichkeit hinaufgehoben werden, in der sie als
constitutive Glieder und integrirende Momente der in ihnen
ausgedrückten und verwirklichten göttlichen Naturidee erkannt
werden. Diese Einsicht auf Grund ihrer peripatetischen Hin
terlage errungen zu haben, ist eine bleibende Leistung der
thomistischen Speculation, und Wilhelm wäre allerdings darauf
angewiesen gewesen, sich zu fragen, worin denn der specifische
Unterschied zwischen dem thierischen und menschlichen Er
kennen, oder, um seine Sprache zu reden, zwischen dem Er
kennen der thierischen und der menschlichen Seele eigentlich
begründet sei, oder woher es komme, dass, während das
thierische Erkennen allüberall und durchgehends am Sinnlichen
haftet, das menschliche Erkennen sich in den Bereich der über
die Particularitäten und Diversitäten des Sinnlichen erhabenen
Region des Uebersinnlichen zu erheben vermöge. Auch für
die Erledigung der Unsterblichkeitsfrage wäre dieser von Wil
helm völlig beiseite gesetzte Punkt von Belang gewesen. Aller
dings lässt sich aus der Fähigkeit der Seele, die Allgemein
begriffe der Sinnendinge zu denken, noch nicht auf ihre Un
sterblichkeit und UnVergänglichkeit schliessen, weil die einzel
nen Sinnendinge und die einzelnen Species, unter welche die
singulären Exemplare der Sinnendinge und Sinnenwesen ge
hören, im Verhältniss zum grossen Naturganzen von zu geringer
Bedeutung sind, als dass die Fähigkeit, sich Begriffe von ihnen
zu bilden, den Anspruch auf unvergängliche Dauer des Denken
den begründen sollte. Sind doch die Individuen und Species
der Sinnendinge und Sinnenwesen selber vergänglich und ver
änderlich , so dass das ihre Begriffe erfassende Dcnkei) noch
durchaus nicht etwas Bleibendes und Unvergängliches ergreift,
somit auch nicht eine des Bleibenden und Unvergänglichen
mächtige Denknatur bekundet, die selber der Unvergänglichkeit
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
323
werth wäre. Aber rlie menschliche Seele ist fähig, auch den
in der Gesammtheit der veränderlichen und vergänglichen Er
scheinungen der sichtbaren Wirklichkeit sich explicirenden
schöpferischen Gedanken zu erfassen und denselben in sich
nachzudenken; diese ihre Fähigkeit bekundet in Wahrheit ihre
Verwandtschaft mit dem Schöpfergeiste des Ewigen, und lässt
mit Recht den Schluss auf die Unvergänglickeit ihres eigenen
Wesens zu. Ein Denkwesen, welches in sich selber die Ge
danken des Ewigen nachzudenken vermag, kann nicht dem
Bereiche der vergänglichen Weltwesen angehören, cs muss in
seinem Wesen etwas dem ewigen Schöpfer Verwandtes in sich
haben — der ewige Schöpfergedanke kann nur von einem
eines unsterblichen Selbstseins fähigen Denkwesen verstanden
werden. In dieser Fassung hat nun allerdings die speculative
Scholastik den Unsterblichkeitsgedanken niemals ergriffen, weil
das sogenannte eigentliche Vernunftdenken und Vernunfter
kennen oder das in Ideen sich vermittelnde Denken und Er
kennen in ihr nur latent enthalten und von der vorwiegenden
Richtung auf das Gegenständliche niedergehalten war; man
wird ihr daher vom heutigen Entwickclungstande der philo
sophischen Bildung nicht den Charakter eines wirklich specula-
tiven Denkens und Erkennens — wenigstens nicht förmlich
und schlechthin — sondern nur jenen einer geschichtlichen
Vorstufe dieser wesentlich neuzeitlichen Art des philosophischen
Denkens und Erkennens zugestehen können. Wilhelms Denken
aber ist noch nicht einmal in diese durch Albert und Thomas
entwickelte Vorstufe eingerückt; er weiss die aus Augustinus
entlehnten Elemente seiner psychologischen und erkenntniss-
theoretischen Anschauungen mit den über sein Zeitalter herein
brechenden Strömungen speculativer Peripatetik nicht zu ver
mitteln. Die Seele für eine universale Essenz zu halten,
scheint ihm mit der Thatsache des menschlichen Selbstbewusst
seins unvereinbar; 1 die Seele ist wie jedes denkfähige Wesen
substantia prima d. i. individua et singularis, nicht aber sub-
stantia secunda d. h. nicht Allgemeinbegriff wie der Artbegriff
Mensch oder der Gattungsbegriff Thier, welchem noch nie
jemand Denken oder Selbstdenkcn beigelegt habe. Man kann
1 De an. V, 17.
324
Werner.
übrigens der consequenten Festhaltüng seines intellectuellen
Sensismus eine gewisse Anerkennung nicht versagen. Die
ewige Seligkeit ist bedroht, meint Wilhelm, wenn die mensch
liche Seele darauf angewiesen ist, dereinst im Anschauen all
gemeiner Gedanken ihre Befriedigung zu finden; als ob die
ewigen Ideen, in deren Anschauung die Seligen versenkt sind,
abstracte Schemen wären, an deren Betrachtung sich zu lang
weilen den jenseitigen Seelen zugemuthet werde! Sinn und
Erfahrung, fährt er weiter, sind die Quellen der Ergötzung
und Erquickung; nun denn, es gibt auch einen geistigen Ideal
sinn, und es gibt Freuden, die aus der inneren, durch gross
artige Anschauungen und ideelle Tiefblicke gewonnenen inneren
Erhebung geschöpft werden, die schon im zeitlichen Leben
als die begliickendsten aller Erfahrungen empfunden werden.
Stammt nicht alle Begeisterung aus Ideen? Und soll die ewige
Glückseligkeit nicht ihren unerschöpflichen Quell in jenen gei
stigen Erhebungen haben, die den zur Anschauung Gottes Ge
langten in der unbegrenzten Reihe der in Gott als absoluter
Allheit sich erschliessenden Ideen als eine endlose Aufeinander
folge von Tagen lichtester, freudigster Erkenntniss aufgehen?
Ziehen wir die Schlusssumme aus unseren bisherigen An
führungen und Auseinandersetzungen, so ergibt sich als un
zweifelhaftes Resultat für Wilhelms Zeitalter ein Zustand philo
sophischer Bildung, der die nachfolgenden Bemühungen der
peripatetisch geschulten theologischen Summisten des 13. Jahr
hunderts als ein Bedürfniss für jene Zeit, und die Errungen
schaften jener Bemühungen als einen wirklichen geistigen Fort
schritt erkennen lässt. Mag man über die peripatetische Schola
stik des Mittelalters wie immer denken, Schule und Methode,
encyclopädische Ueberschau und systematische Zusammenfas
sung des in irgend einem Zeitalter Gedachten und Gewussten
bleiben immer die ersten und fundamentalsten Bedingungen
eines geordneten und geregelten Erkenntnissstrebens und Wis
senschaftsbetriebes; unser Tractat de anima aber, der am Ein
gänge des 13. Jahrhunderts steht, ist durch sich selber ein
lebendiges Zeugniss dessen, dass es dazumal an dem Genann
ten noch merklich fehlte, und ein durchgreifendes Medium
und Vehikel tüchtiger Denkschulung noch nicht aufgebracht
war. Die Psychologie im Besonderen anbelangend, lässt sich
Die Psychologie des Wilhelm von Auvergne.
325
mit gutem Grunde sagen, dass dieselbe vor der näheren und
genaueren Befreundung mit den aristotelischen Schriften als
methodisch geregelte Schuldisciplin und systematische Zusam
menfassung aller auf Wesen und Leben der Seele bezüglichen
Erörterungen noch nicht vorhanden war, und als solche erst
aus der Commentirung der einschlägigen aristotelischen Studien
erwuchs. Dass die auf diesem Wege zu Stande gekommene
Schulpsychologie nicht den Charakter eines lebendigen Erfah-
ruugswissens hatte, und ganz und gar nur auf dem Grunde
der allgemeinen kosmologischen Begriffe und Anschauungen
der aristotelischen Philosophie stand, ist unbedenklich zuzu
geben. Diese Behandlungsart genügte aber für ein Zeitalter,
in welchem Sinn und Bedürfniss für eine lebensvollere Auf
fassung und Darstellungsweise noch nicht erwacht, und auch
jene Forschungszweige noch nicht aufgeschlossen waren, deren
Betrieb durch sich selbst dahin drängte, das psychologische
Gebiet als ein selbstständiges und in sich geschlossenes For
schungsgebiet von jenen anderen, denen sie bis dahin einge-
gliedert war, distincter abzuscheiden und auf den Grund der
inneren Selbsterfahrung als Quelle der eigenartigen Erkenntnisse
der Psychologie zu stellen. Die scholastische Psychologie hatte
vorwiegend einen metaphysisch abstracten Charakter; es han
delte sich in ihr vornehmlich darum, den Wesensbegriff der
Seele mit Rücksicht auf deren Verhältniss zu Gott und zur
Ordnung der sichtbaren und unsichtbaren Dinge, sowie zu dem
ihr eignenden Leibe richtig zu bestimmen. Damit war ihre
Aufgabe erschöpft, die nach ihrer ganzen Art und Beschaffen
heit nur auf Grundlage eines als gemeingiltig recipirten philo
sophischen Weltbegriffes gelöst werden konnte. Als solcher
galt aber für jene Zeit der christlich rectificirte aristotelische
Weltbegriff als gereiftestes Resultat der antiken philosophischen
Kosmologie. Demzufolge ist es von selber klar, dass das auf
einem ganz unfertigen Weltbegriffe ruhende und schon darum
unvollständig und lückenhaft ausgefallene Unternehmen Wil
helms rasch überholt und in seinem Stemmen gegen den Zug
der machtvoll hereinbrechenden geistigen Strömung einfach bei
Seite geschoben wurde. Es lassen sich allerdings in Albert’s
und Thomas’ Werken Spuren einer Berücksichtigung der Schrift
Wilhelms aufweisen, aber nur in jener Weise, dass verfehlte
326
Werner. Die Psychologie des Wilhelm von Auvergue.
Annahmen und Aeusserungen derselben mit Verschweigung des
Namens ihres Urhebers widerlegt oder berichtigt werden. Später
folgende scholastische Autoren kamen auf sie gar nicht mehr zurück.
So sehr war Wilhelms Schrift de anima in den nachfolgenden
Jahrhunderten vergessen, dass sie in den älteren Druckaus
gaben seiner Werke völlig fehlte, und erst im Supplementbande
der letzten Ausgabe, jener vom Jahre 1674, nebst einigen
anderen bis dahin unedirt gebliebenen Arbeiten Wilhelms als
neu entdeckter handschriftlicher Fund veröffentlichet wurde;
die Autorschaft Wilhelms aber, ja überhaupt die Thatsache,
dass Wilhelm eine Schrift de anima abgefasst, vermag der
Herausgeber nur durch die aus anderen Schriften Wilhelms,
namentlich jener de Universo geschöpften Belege zu erhärten
— Beweis genug, dass ihm anderweitige Belege aus Zeugnissen
oder Anführungen mittelalterlicher Autoren nicht zu Gebote
standen.
VIII. SITZUNG VOM 12. MAßZ 1873.
Die Classe verhandelt über den von Herrn Prof. Conze
gestellten Antrag, eine (iesammtausgabe der griechischen Grab
reliefs zu veranstalten.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Accademia, R., de’ Fisiocritici: Revista scientifica. Anno IV, fase. VI.
Siena-Roma, 1872; 8°.
Annuario marittimo per 1’ anno 1873. XXIII. Annata. Trieste, 1873; 8 U .
Ateneo Veneto: Atti. Serie II. Vol. VII. Anno accademico 1SG-9- 70.
Punt. II. Venezio, 1872; 8°.
Bazerque, La caravane universelle, voyages autonr du monde en vue de l’ex-
ploration seentifique de toutes les parties aecessibles de l’univers. Paris; 8°.
Cosmos. Communicazioni sui progressi piü recenti e notevoli della geograiia
e scienze affini, di Guido Cora. I. Torino, 1873; 4°.
Ferdinandeum für Tirol und Vorarlberg: Zeitschrift. Dritte Folge. XVII.
Heft. Innsbruck, 1872; 8°.
Genocchi, Angelo, Intorno ad una lettera del Sign. Conte L. F. Manabrea.
Roma, 1873; 4').
Harz-Verein für Geschichte und Alterthumskunde: Zeitschrift. V. Jahrgang.
1872. 3. & 4. Heft. Wernigerode, 1872; 8°.
Istituto, R., Veneto di Scienze, Lettere ed Arti: Memorie. Vol. XVII.
Parte II. Venezia, 1873; 4". — Atti. Tomo II 0 , Serie IV“, Disp. 2 n . Ve
nezia, 1872—73; 8“.
,Revue politique et litteraire 1 et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 . II e Annee, 2“ Serie. Nr. 3(5. Paris, 1873; 4°.
Societä Italiana di Antropologia e di Etnologia: Arcliivio. II. Vol. fase. 4°.
Firenze, 1872; 8°.
Wold rieh, J., Eine Opferstätte der Urzeit bei Pulkau in Niederösterreich.
Wien, 1873; 8°.
Wright, W., A Speciinen of a Syriac Translation of the Kaliiah Wa-Dimnah.
London, 1873; 8°. — Fragments of the Curetonian Gospels. London; 4°.
328
IX. SITZUNG VOM 19. MÄRZ 1873.
Der Secretär legt vor die von Herrn Dr. Ign. Goldzilier
in Pest eingesendete Fortsetzung seiner ,Beiträge zur Sprach-
gelehrsamkeit bei den Arabern', welche die literarische Thätig-
keit des Abu-l-Hasan ibn Färis zum Gegenstände hat.
Das w. M. Herr Prof. Siegel legt vor den von Herrn
Dr. Rockinger in München eingesendeten Bericht über die
von demselben zum Zwecke der Bearbeitung des sogenannten
Schwabenspiegels augestellten Handschriftenforschungen.
Das w. M. Herr Dr. A. Pfizmaier hält einen Vortrag
,über die Schriften des Kaisers des Wen-tschangb
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Academia Olimpica di Vicenza: Atti. Seeonclo Semestre 1872. Vol. II.
Vicenza; 8°.
Kurschat, Friedrich, Wörterbuch der littauischen Sprache. I. Theil, 5. Lie
ferung. Halle, 1872; gr. 8°.
,Revue politique et litteraire“ et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 . II 0 Annäe, 2 C Serie, Nr. 37. Paris, 1873; 4".
Societe Ethnographique: Memoires. (Revue orientale. 2 C Serie.) Tome I,
No. 1. Paris, 18G7; 8°. — Revue Ethnographique. Nrs. 1 — 2. Janvier —
Juin 18G9. Paris; 8". — Actes. Tome II, 13° — 15° Livraisons (18G7
18G8); Tome VII, Nrs. 24 — 2G. Dec. 1872 - Mars 1873. Paris; 8“.
Verein, siebenbiirgischer, für romanische Literatur und Cnltur des romani
schen Volkes: Transilvania. Anulu VI. No. 1 — 5. Kronstadt, 1873; 4°.
Pfizinaier. Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
329
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
Von
T)r. A. Pfizmaier,
wirkl. Mitglied der k. Akademie der Wissenschaften.
-Ebner Anzahl taoistisclier in hohem Anselien stehender
Schriften wird der Name # i 3t Wen-tsehang-ti-kiün
;der Gebieter, der Kaiser des Wen-tscliang', als derjenige des
Verfassers vorgesetzt. Das Leben dieses Mannes, dessen eigent-
licher Name in keiner der benützten Quellen genannt wird,
scheint in tiefes Dunkel gehüllt zu sein. Die Bekenner der
Taolehre geben an, dass er zu den Zeiten des Königs Wu
von Tscheu geboren wurde, durch siebzehn Geschleehtsalter,
d. i. unter siebzehn ‘Königen ein grosser Würdenträger ge
wesen, hierauf zu dem Himmel gestiegen und bald wieder auf
die Erde zurückgekommen sei. Das Herrscherhaus der spä
teren Sung verlieh ihm (1194 n. Chr.) ein Lehen und den Titel
eines Kaisers des Sternbildes Wen-tscliang. Offenbar wird an
genommen, dass die oben erwähnten Schriften von ihm nach
seinem zweiten Erscheinen in der Welt verfasst wurden, da in
ihnen häufig von dem gegenwärtigen Zeitalter und von neueren
Dingen, namentlich Buddhismus die Rede ist. So lange nicht
andere Nachrichten vorliegen, ist es übrigens fraglich, ob das
Wirken des mit dem Namen des Kaisers des Wen-tscliang be-
zeichneten Mannes nicht vielleicht dem Mythus angehört. Das
m dem Zeitalter der späteren Sung veröffentlichte Tai-ping-
yü-lan, in welchem zahlreiche Auseinandersetzungen über Tao
lehre Vorkommen, sagt von ihm nichts. In seinen Schriften
zeigt sich Wen-tscliang als Bevollmächtigter höherer Gewalten.
330
Pfizmaier.
Er sendet Myriaden himmlischer Streiter aus und droht den
Menschen mit Entführung und Richterspruch.
Die in dieser Abhandlung mitgetheilten Stücke stehen in
dem chinesischen Werke, dem sie entnommen wurden, ohne
Commentar und irgend welche Erklärungen. Bei dem ersten
derselben: ,die Schrift der verborgenen Bestimmungen', wurde
ein besonderes Werk, betitelt * # 3t s m Yin-
tsclie-wen-Schi-tsien ,die Schrift der verborgenen Bestimmungen
mit Bemerkungen in Versen' zu Grunde gelegt. Die in dem
Buche eingemengten Verse sind eine Paraphrase des Textes,
zu dessen Verständnisse sie an sich nicht das Geringste bei
tragen. Dieselben sind jedoch von Erklärungen begleitet, die
mittelbar auch zur Erklärung des Textes dienen können. In
diesei’ Arbeit wurden bei dem genannten Werke die ohnehin
nichts Poetisches enthaltenden Verse nicht weiter berücksichtigt
und nur die Anmerkungen, selbst wenn sie sich nicht auf die
Worte des Wen-tschang bezogen, ihres belehrenden Inhaltes
willen wiedergegeben, ebenso der von Umfang ganz unbedeu
tende chinesische Text.
Die von dem Gebieter, dem Kaiser des Wen-tschang ver
fasste Schrift der verborgenen Bestimmungen.
» * * ± fi Et -b f - # B m
,Der Gebieter, der Kaiser sagt: Ich war durch siebenzehn Ge
schlechtsalter der Leib eines vorzüglichen Mannes, eines Grossen
des Reiches.'
Die Himmelskunde in dem Buche der Tsin: Die sechs
Sterne des || yC Wen-tschang befinden sich vor dem tjgj;
Khuei ,Anführer' 1 des nördlichen Nössels. Sie sind die sechs
Sammelhäuser des Himmels.
Die Himmelskunde der Geschichtschreiber von Sung: Der
Wen-tschang befindet sich im Westen der purpurnen unschein
baren Ringmauer.
Die grünen Perlen des kleinen Lernens: Es sind drei
Ringmauern. Die obere Ringmauer sind die zehn Sterne des
grossen Unscheinbaren. Die mittlere Ringmauer sind die fühf-
1 Der Stern Khuei ,Anführer* ist der erste Stern des nördlichen Nössels.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
331
zehn Sterne des purpurnen Unscheinbaren. Die untere Ring
mauer sind die zweiundzwanzig Sterne des Himmelsmarktes.
Das Buch der Verwandlung Wen-tschang’s: Ich (Wen-
tschang) wandelte unter den Menschen und gelangte zur Nord
seite des Berges Kuei-ki. Ein Verborgener blickte empor zu
dem Himmel und betete. Um die Zeit war der mittlere Monat
des Frühlings und die Nacht Ping (2). Die Sternbilder
Tschang ,Ausspannung* und J|| Yi ,Flügel* glänzten in der
Höhe. Ich bückte mich und hörte ihn. Der Verborgene war
von dem Geschlechte ljr|| Tschang. Er machte eben zu Be
glaubigungsmarken die Sternbilder. Ich ward hierauf geboren.
Anmerkung. Der Kaiser, der Gebieter ward in dem Jahre
Yi-sse (42) des Königs Wu von Tscheu geboren.
Ferner: Tse-hiang hatte Freude an dem Alterthum. Er
las mit lauter Stimme mehrere Hefte der Unterweisungen Yü’s
von Thang. Ich (Wen-tschang) liebte dieses. Ich begab mich
dorthin und übte mich.
Ferner: Zu den Zeiten des Königs Siuen von Tscheu
rühmte mich (Wen-tschang) das Innere und das Aeussere wegen
Aelternliebe und Freundschaft. Man nannte mich beim Jüng
lingsnamen, aber nicht beim Kindernamen.
Ferner: Ich (Wen-tschang) stieg zu dem Himmel empor
und eröffnete die Verwandlung. Nach neunzehn Jahren stieg
ich zu dem Zeitalter herab. Im sechsten Jahre des Zeitraumes
Schao-hi von Sung (1194 n. Cln\), am fünfzehnten Tage des
ersten Monats brachte man mir die Belehnung, den Namen
des Kaisers.
JIBIf*
,Ich habe noch niemals bedrückt das Volk als strenger An
gestellter.'
Das Li-ki: Der Meister sagt: Eine quälerische Lenkung
ist reissender als ein Tiger.
Die Ueberlieferungen von strengen Angestellten in dem
Sse-ki: IBS 3P Tschi-tu war Beruhiger der Mitte. Er ging
allein voran in Strenge. Man nannte ihn den grasgrünen
Falken.
,Ich leistete Beistand bei der Bedrängniss der Menschen.*
Sitzungstier. <1. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft. 22
332
Pfizmaier.
Tso-tschuen. Wen, siebentes Jahr: Wenn der Hirsch stirbt,
so wählt er nicht das Versteck. Er läuft schnell zu den un
wegsamen Gegenden. In seiner Bedrängniss, wie kann er
wählen ?
Die Ueberlieferungen von Ku-I-tschi in den Geschicht
schreibern des Südens: Tse-tscliö besass ein sehr grosses eigenes
Vermögen. Unter den vorzüglichen Männern und gemeinen
Menschen des Bezirkes und der Strasse waren viele seine
Schuldner. Er zog einen Kasten voll Schuldscheine hervor
und befahl, diese sämmtlicli zu verbrennen.
Die Ueberlieferungen von Khi-ngan in dem Buche der
Ilan: Ich (Khi-ngan) zog hinüber nach Ho-nei. Die Armen,
die durch Wasser und Dürre Schaden gelitten hatten, waren
mehr als zehntausend Häuser. Ich bestrebte mich, das An
gemessene zu thun. Ich ergriff das Abschnittsrohr, holte her
vor die Hirse der Speicher von Ho-nei und beschenkte damit
das arme Volk. Ich bitte, das Abschnittsrohr zurückgeben zu
dürfen und dass ich des Verbrechens schuldig bin, die Anord
nungen erlogen zu haben.
Die Ueberliefei’ungen von Lieu-schen-mingin den Geschicht
schreibern des Südens: Gegen das Ende des Zeitraumes Yuen-
kia 424 bis 453 n. Chr.) war in Tsing-tscheu Hungersnoth und
Verwüstung. In dem Hause Schen-ming’s befand sich aufge
speicherte Hirse. Er verabreichte eigenhändig Grütze. Er öff
nete die Speicher und kam damit zu Hilfe. In dem Bezirke
und in der Strasse waren viele, die vollständig Hilfe erhielten.
Die hundert Geschlechter nannten die Felder seines Hauses:
die Felder des fortgesetzten Lebens.
# £ A
,Ich kam zu Hilfe bei der Gefahr der Menschen. 4
M Z A m
,Ich bedauerte die Verwaisten unter den Menschen/
Die Worte der Vorschrift: Der aufgezogen wird, aber
kein Sprössling ist, ist Tung-U in unserem Hause.
Anmerkung. j|f Tung-U ist der Sohn j/jfe ^
Yang-hiung’s.
Die Einleitung zu dem von Han-yü verfassten Festhalten
an dem Moi’genfhige des Fasans: Unter den Kälberhirten sind
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
33B
siebenzig ohne Gattin. Wenn sie die Fasanen sehen in Paaren
fliegen, sind sie davon erregt und erheben sich.
m z x m
,Ich hatte Nachsicht mit den Fehlern der Menschen.'
Das Ursprüngliche der Zusammenkunft der fünf Lampen:
Man schlägt viermal in Bande, wenn man einmal begehrt.
Man zürnt zweimal, wenn man einmal warnt. Man nimmt, was
viermal ward genommen. Man nennt es noch mit Namen:
das viermalige Knüpfen.
,Ich übte in ausgedehntem Masse die verborgenen Bestim
mungen. Nach oben nahm ich zum Muster das grasgrüne Hohe V
is H flc «g * ^ # Ä im m A
Ist der Mensch fähig, so wie ich zu verweilen mit dem Herzen,
so verleiht der Himmel dir gewiss Segen/
0 A » 1 * Ä
Hierauf unterwies ich die Menschen mit den Worten:
Die Gedichte Li-pe’s: Gehustetes und Gespucktes fällt
von den neun Himmeln. Es folgt dem Winde und macht ent
stehen Perlen und Edelsteine.
,Einst schaffte der Fürst von dem Geschleclite Yü Ordnung in
den Gefängnissen. Er erhöhte in grossem Massstabe das Thor
der Viergespanne/
Die Ueberlieferungen von Yü-ting : kuö in dem Buche der
Han: Der Fürst von dem Geschleclite Yü war Vermerker für
die Gefängnisse des Districtes und entscheidender Richter der
Provinz. Er entschied in Sachen der Gefängnisse mit Milde.
In Tung-hai war ein älternliebendes Weib, das jung Witwe
ward. Ihre Muhme wollte sie vermälen. Das Weib war hier
mit durchaus nicht einverstanden. Später erhängte sich die
Muhme. Die Tochter der Mulnne meldete den Angestellten:
das Weib hat meine Mutter getödtet. — Die Angestellten
schafften Ordnung, und das Weib gestand fälschlich. Der Fürst
von dem Geschlechte Yü erkannte im Herzen, dass das Weib
zum Geständniss gezwungen worden. Er stritt dagegen, rich
tete aber nichts aus. Er nahm jetzt die Schriften des Gefäng-
Das grasgrüne Hohe heisst der Himmel.
22
334
Pf izmaie r.
nisses in die Arme und wehklagte in dem Sammelhause. Er
entschuldigte sich wegen Krankheit und entfernte sich. Der
Statthaltei- fällte zuletzt das Todesurtlieil. In der Provinz
herrschte Dürre durch drei Jahre. Später kam der Statthalter
an. Der Fürst von dem Geschleckte Yü bat, dass man auf
dem Grabhügel des älternliebenden Weibes opfere und das
Grab mit einem Denkmale versehe. Auf der Stelle erfolgte
ein starker Regen. Um die Zeit stürzte das Thor der Strasse
des Fürsten ein. Die Väter und Greise stellten es gemein
schaftlich her. Der Fürst sprach: Erhöhet und vergrössert ein
wenig das Thor der Strasse und bewirket, dass es ein Vier
gespann und einen Wagen mit hohem Dache fassen kann. In
dem ich in den Gefängnissen Ordnung schaffte, hatte ich viele
verborgene Tugend. Ich habe noch Niemanden zum Geständ-
niss gezwungen. Unter meinen Söhnen und Enkeln wird es
gewiss Solche geben, die erhoben werden. — Yü-ting-kuö
wurde wirklich Reichsgehilfe. Sein Enkel ^ Yung wurde
kaiserlicher Vermerker und Grosser. Er wurde zum Lehens
fürsten ernannt und setzte das Gcschlechtsalter fort.
,Das Geschlecht Tu leistete den Menschen Beistand. Es ward
hoch und brach den Zimmetbaum der fünf Aeste/
Die Geschichtschreiber der fünf Zeitalter: Tü-yü-kiün
hatte fünf Söliue. Dieselben folgten sich gegenseitig und er
stiegen Rangstufen. Fung-tao übersandte ihnen ein Gedicht,
worin er sagte: Der zehnte Leibwächter, der Mann des Ge
schlechtes Tu von Yen-schan lehrte seine Söhne die Seite der
Gerechtigkeit. Ein Stamm des reingeistigen Camelienstrauches
wird alt, die fünf Aeste des mennigrothen Zimmetbaumes sind
duftend.
'M £ TG HJt 4* ^
,Rette Ameisen, es fällt auf dich die Wahl zu einem das Ur
sprüngliche Gestaltenden/
Die Ueberlieferungen von Sung-tsiang in den Geschicht
schreibern von Sung: J?jl Tsiang führte den Jünglingsnamen
^ Kung-siii. Er wurde zu einem beförderten vorzüg
lichen Manne erhoben. In den Prüfungen von Khai-fung und
in der Abtheilung der Gebräuche war er überall der Erste.
;
Ueber rlie Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
335
Sein Kindername war ursprünglich Kiao. Er veränderte
ihn zu Tsiang.
Die Gespräche des Pinsels: Sung-kiao wandelte gemein
schaftlich mit seinem jüngeren Bruder il$ Khi und begegnete
einem merkwürdigen Bonzen. Dieser sagte zu ihnen: Der
Kleinere von dem Geschlechte Sung soll in der Welt voran
stehen. Der Grössere von dem Geschlechte Sung wird eben
falls der Stufe und des Vorranges nicht verlustig. Zehn Jahre
später begegnete der Grössere von dem Geschlechte Sung dem
Bonzen wieder auf dem Wege. Der Bonze erschrack und
sagte: Du bist von herrlichem Geiste, bist einzig und merk
würdig. Solltest du mehrere zehntausend Leben gerettet haben?
— Jener sprach: Wie könnte ich, der arme Gelehrte, hierzu
gekommen sein? — Der Bonze sprach: Denke einstweilen
darüber nach. — Nach längerer Zeit sagte Jener: Vor der
nördlichen Halle befand sich ein Ameisenhaufen. Gegen den
selben drang unvermuthet ein Platzregen. Ich heftete Bambus
zusammen, machte eine Brücke und liess die Ameisen über
setzen. Sollte es dieses sein ? — Der Bonze sprach: Es ist
es. Der Kleinere von dem Geschlechte Sung soll eben der
Voranstehende werden. Du wirst durchaus nicht unter ihn
kommen. Du wirst einem in der Reihe Vorangehenden gleich
gehalten. — Der Kleinere von dem Geschlechte Sung wurde
wirklich der grosse Voranstehende, und seine Aufsätze wurden
der Kaiserin überreicht. Diese meinte, dass der jüngere Bruder
dem älteren nicht vorangehen dürfe. Sie befahl, dass der
Grössere von dem Geschlechte Sung der erste, der Kleinere
von dem Geschlechte Sung der zehnte sei.
Die von Tschin-han verfasste Geschichte des Palastes des
grossen Sophorabaumes: Tschün-yü-fen träumte, dass er in eine
grosse Feste trat. Die Aufschrift daselbst lautete: Das sichere
Reich des grossen Sophorabaumes. Als er erwachte, suchte er
in Betreff dessen nach. Unter einem alten Sophorabaume be
fand sich ein Ameisenhaufen. Es war der Ort, zu dem er im
Traume gekommen.
$ Z * ¥ W- *6 «
,Vergrabe Schlangen, du erlangst die Ehre eines Vorgesetzten
und Reichsgehilfen/
336
Pfizmaier.
Die Steintafel Sün-schö-ngao’s: Der Gebieter von dem
Geschlechte ^ Sün, Reichsgehilfe von Tsu, erhielt nach seinem
Tode den Namen ^ Jao. Sein Jünglingsname ist ^ ^
Schö-ngao. Derselbe sah in seiner Jugend eine Schlange mit
geästetem Haupte. Er weinte vor seiner Mutter und sagte:
Ich werde sterben. Die Mutter fragte ihn um die Ursache.
Er antwortete: Ich habe gehört, wer eine Schlange mit geäste
tem Haupte sieht, stirbt. Heute habe ich eine gesehen. —
Die Mutter fragte: Was hast du dabei gethan? — Er antwor
tete : Ich tödtete sie. Als ich etliche zehn Schritte weit ge
gangen war, dachte ich, wenn ich allein sterbe, kann es abge-
than sein. Wenn ich wieder bewirke, dass andere Menschen
sie sehen, so sterben sie. Ich vergrub sie daher und überdeckte
sie mit Dornsträuchern. — Die Mutter sprach: Sei ohne Sorge!
M ^ ® ins Ü ^
,Will man erweitern das Feld des Segens, muss man sich
halten an den Grund des Herzens/
Die Leitung des Opfers in dem Li-ki: Der Segen ist
die Darbringung. Die Darbringung ist der Name des hundert
fachen Gehorsams.
fit ii. Z m a# fl
,Man bediene sich der Mittel und Vorth eile der verschiedenen
Zeiten/
Die Worte der wahren Menschen des langen Frühlings:
Wenn der Mensch in dem Zeitalter geboren wird, sind die
Mittel und Vortheile das Erste. Gelangt er durch Anstrengung
zur Uebung der Vortheile, so ist Straucheln und Fehlen be
dauerlich.
Das Buch Wei-mo: Mo-ke bereichert mit unermesslichen
Mitteln und Vortheilen sämmtliche Geborene.
& Z M M #
,Man begründe mancherlei verborgene Verdienste/
Das Sse-ki: Si-pe übte im Verborgenen Gutes, die Lehens
fürsten kamen und hiessen ihn entscheiden und schlichten.
Die Geschichtschreiber von Yuen : =ijt Liang, Fürst von
Yii-wen, richtete selbst in einem finsteren Zimmer gewiss
Kleider und Mütze gerade und sass an dem äussersten Rande.
Er hielt einst unter dem Arme ein Heft Aufzeichnungen. Er
erkannte die Ueberschrift des Heftes und sagte: Wenn ich am
Ueher die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
337
Tage etwas thue, so schreibe ich es am Abend nieder. Wenn
etwas ist, das ich nicht niederschreiben kann, so wage ich
nicht, es zu thun.
Die Ueberlieferungen von Tschao-pien in den Geschicht
schreibern von Sung: ft Pien war als Erwachsener in grossem
Masse lauter. Er ordnete die Sachen, die er täglich verrichtete.
Wenn er nach Hause kam, waren in der Nacht seine Kleider
und Mütze gewiss farbenschimmernd und wohlriechend, und
er meldete die Sachen dem Himmel. Wenn er etwas nicht
melden konnte, so wagte er nicht, es zu thun.
A M #J tij
,Man nütze den Wesen, man nütze den Menschen.'
m # # #
,Man ordne das Gute, man ordne das Glück.'
Die Ueberlieferungen von Mei-sching in dem Buche der
Han: Wenn Glück entsteht, hat es ein Fussgestell. Wenn
Unglück entsteht, hat es einen Mutterschooss. Man bringe
herein das Fussgestell, man zerreisse den Mutterschooss, woher
kann das Unglück dann kommen?
,Das Richtige und Gerade bewerkstelligt an der Stelle des
Himmels die Verwandlungen.'
Die Worte der Schrift der Verwandlungen: Wie gross
ist der Himmel! Er ist hart, fest, in der Mitte richtig, echt,
grob und fein.
Die Ueberlieferungen von angebundenen Redensarten in
den Verwandlungen: Der Himmel, in seiner Ruhe ist er aus
schliesslich, in seiner Bewegung ist er gerade. Desswegen
bringt er in grossem Massstabe hervor.
Die grossen Muster des Buches: Friedlich, ruhig, richtig,
gerade.
Die kleine Zierlichkeit der Gedichte: Ruhig, überein
stimmend deine Rangstufe. Richtig, gerade, sie ward dir
gegeben.
Ferner: Ruhig, übereinstimmend deine Rangstufe. Sie
ist sehr richtig und gerade.
Das Buch der Verwandlung Wen-tschang’s: Ich (Wen-
tschang) reichte in dem Jahre Lung-hing den Klang des Edel
steines, fügte hinzu die Reihenfolge. Der grosse Meister des
338
Pfizmaier.
leuchtenden Himmels mit goldener Thorwarte meldete die
Untersuchung der Sachen des Glücks und Unglücks in den
drei Grenzen.
Die Ueberlieferungen Tso’s. Tschuang, zweiunddreissigstes
Jahr: Sse-ngao sprach: Die Götter sind scharf hörig, scharf
sichtig, richtig', gerade und eines einzigen Sinnes.
,Wohlwollen und Glück begründen das Reich, retten das Volk/
Das I-li: Die vorzüglichen Männer besuchen einander.
Die Gebräuche: Wenn man mit der Menge spricht, so
spricht mau von Redlichkeit, Treue, Wohlwollen und Glück.
. ± &
,Sei redlich gegen den Gebieter.
Das Schreiben Hi-khang’s an Schan-tschcu: Unter den
Menschen des freien Feldes war Einer, der Freude an gebra
tenem Rücken hatte und die Petersilie gut fand. Er wollte
dieses dem Geehrtesten als ein Geschenk reichen. Hatte er
auch eine winzige Absicht, war es doch ebenfalls etwas Grosses.
,Sei älternliebend gegen die Aeitern/
ä m
Ehre den älteren Bruder/
Die Denkwürdigkeiten von Wei: Kaiser Wen hiess einst
Tschi, König von Tung-O, während eines Ganges von sieben
Schritten ein Gedicht verfertigen. Dieser brachte es nicht zu
Stande. Der Kaiser wollte die grosse Vorschrift hinstellen.
Tschi sagte in demselben Augenblicke die Verse: Gesottene
Bohnen, verbrannte Bohnen werden geworfelt. Die Bohnen
sind in dem Kessel und weinen. Ursprünglich wuchsen sie
aus einer gemeinschaftlichen Wurzel. Mit einander sie sieden,
wozu hat dieses grosse Eile?
Die fortgesetzte Geschichte des Wunderbaren der Denk
würdigkeiten : Tien-tschin, Tien-khing und Tien-kuang waren
Brüder. Sie beriethen, wie sie ihre Güter theilen sollten. Vor
der Halle befand sich ein Dornstrauch. Sie kamen überein,
ihn zu durchhauen und daraus drei Theile zu bilden. Der
Strauch verdorrte sofort und war abgestorben. Tscliin erschrack
heftig und sagte zu seinen Brüdern: Der Strauch hatte ur
sprünglich einen gemeinsamen Stamm. Er hörte, dass wir ihn
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
339
zertheilen wollen und ist desswegen verdorrt. Der Mensch ist
nicht gleich dem Baume. In Folge dessen zerlegen wir den
Strauch nicht mehr. — Der Strauch hatte in dem Augenblicke
Bliithen und Blätterfülle. Die Brüder waren davon bewegt
und vereinigten die Güter und Kostbarkeiten. Sie waren
hierauf das Thor der Aelternliebe.
Das Buch der südlichen Tsi: Lieu-hien rief in der Nacht
seinen jüngeren Bruder Tsin. Dieser antwortete nicht und
kam nicht. Er stieg vom Bette herab und zog die Kleider
schleunigst an. Dann erst antwortete er. Hien wunderte sich
über dessen Langsamkeit. Tsin sprach: Als ich mich hin
wandte, um zu kommen, war der Gürtel noch nicht festge
bunden. Desswegen wagte ich es nicht zu antworten.
Die Ueberlieferungen von dem Hause Khung-yung’s: Yung
war von sieben Brüdern der sechste. Als er vier Jahre alt
war, ass er mit seinen älteren Brüdern gemeinschaftlich Birnen.
Plötzlich zog er den Kleinsten herbei. Der Grösste fragte ihn
um die Ursache. Jener antwortete: Ein kleines Kind soll nach
der Vorschrift ein Kleines zu sich nehmen. — Das Stammhaus
und die Seitengeschlechter staunten desswegen über ihn.
,Sei treu dem Freunde/
Das Gedicht Kö-pö’s an Wen-khiao: Was deinen Geruch
und Geschmack betrifft, es ist verschiedenes Moos auf der
nämlichen Berghöhe.
Das Geschlechtsalter und Haus von U in dem Sse-ki:
Der Landesherr von Siü liebte das Schwert Ki-tschä’s. Er
wagte nicht, dieses auszusprechen. Tschä wusste dieses im
Herzen. Er wurde als Gesandter in die oberen Reiche ge
schickt und hatte es ihm noch nicht geschenkt. Auf dem
Rückwege gelangte er nach Siü. Der Landesherr von Siü
war bereits gestorben. Tschä löste jetzt sein kostbares Schwert,
band es an einen Baum auf dem Grabhügel des Landesherrn
von Siü und entfernte sich. Dabei sprach er: Anfänglich hatte
es mein Herz ihm zugestanden. Sollte ich, weil er gestorben,
meinem Herzen untreu werden ?
Das Buch der Han: Siao-yö und Tschü-pö waren Freunde.
Sie waren als solche in dem Zeitalter bekannt. Später entstand zwi
schen ihnen einZerwürfniss. Sie konnten kein gutes Ende nehmen.
340
P f i z m a i e r.
Die weiten Erörterungen über die Trennung der Ver
bindungen : Die Männer der Geschlechter Siao und Tschii
hatten hierdurch ein Zerwürfniss und gingen unter.
4 $J Ä ^ Öc
,Man opfere bisweilen den wahren Menschen, erscheine an dem
Hofe bei dem Nössel'.
Das Buch der reingeistigen Abschnitte der hohlen Tiefen:
Eine weisse Schrifttäfel ermisst die Art. Eine grüne Schrift
tafel bestimmt die Unsterblichen.
Der Frühling und Herbst mit Abbildungen des Wahr
haften : Der purpurne Palast ist das innere Haus des grossen
Kaisers.
Anmerkung. Dieses ist der Palast des purpurnen Un
scheinbaren.
Zusammenkünfte und Verkehr des Plimmelskaisers: Das
Nössel des Nordens ist die Thürangel und das Triebwerk der
sieben Lenkungen.
Das Buch der Sterne: Von den sieben Sternen des nörd
lichen Nössels bilden vier Sterne ein Viereck und sind der ^
Khuei,Anführer' *. Sie sind auch der Siuen ,ein Edelstein'
und fl|| Ki ,die längliche Perle'. Drei Sterne zeigen gerade
und sind der Tschö ,Handhabe des Nössels'. Sie sind auch
der Wagebalken von Edelstein.
Das Classenbuch von Tsien-khö: Durch die Wesenheit
verwandelt man die Luft. Durch die Luft verwandelt man
den Geist. Durch den Geist verwandelt man das Leere. Dieses
nennt man mit Namen: Den Scheitel der Ansammlung der
drei Blüthen.
* ± n n *
,Verbeuge dich bisweilen vor Fö, denke an die mustergiltigen
Bücher.'
Die von Li-sehang verfassten Gedichte der Verborgen
heit: Wozu auf hundertmal hunderttausend Blüthen der Wasser
lilie? Auf jeder einzelnen Blttthe der Wasserlilie zeigt sich
der Leib Fö’s.
1 Sonst wird Khuei als der erste Stern des nördlichen Nössels bezeichnet.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
341
Die Vorbilder der Lehre Sehl: In den Ländern der west
lichen Grenzen gibt es kein Papier. Man schreibt den Text
der mustergiltigen Bücher auf Muscheln und Baumblätter.
Das Buch der Thang: Hien-tschung liess die Gebeine
Fö’s abholen. Er schickte die Könige, Fürsten und vorzüg
lichen Männer der Tempel Fö’s. Die Menschen liefen, beteten
und sagten Lobsprüche.
Die Verzeichnisse der überliefernden Lampe: Es war ein
Bonze, der einen grossen Pflaumenbaum fragte: Wenn du
ii If Ma-tsu siehst, was lindest du an ihm? — Der grosse
Pflaumenbaum sprach: Ma-tsu auf seinem Wege, er ist im
Herzen ein Fö.
Der Perlenwald des Gartens der Vorschrift: Er erschloss
das Zeichen | |d vor seiner Brust.
Anmerkung. j-|J ist in den Vorbildern der Lehre Schl
das Zeichen TjSj Wan ,zehntausend'. Als Jii-lai geboren ward,
entstand vor seiner Brust von selbst das Zeichen |-|J.
Die Verzeichnisse der überliefernden Lampe: Es war ein
Mann der glänzenden Begabung, der das Buch der Namen der
tausend Fö erblickte. Er sagte: Hunderttausend Fö, ich sehe
bloss ihre Namen.
Die Weise der aus der Sprache Fan übersetzten Namen:
Die Handflächen Zusammenlegen und seine Hochachtung be
zeigen, heisst * » Ho-nan.
Die Erklärung des Buches der Blüthen der Vorschrift:
Ein Schafwagen wird mit einem Gespanne, dessen Geräusch
man hört, verglichen. Ein Hirschwagen wird mit einem Ge
spanne, das man durch etwas bemerkt, verglichen. Ein Rinder
wagen wird mit einem Gespanne der Pu-sä verglichen. Ein
Rinderwagen des grossem Weiss (des Planeten Venus) ist ein
Gespann Fö’s.
® m « is
,Vergilt die vier Wohlthaten/
,Uebe in grosser Ausdehnung ^dic drei Lehren/
Die Verzeichnisse der überliefernden Lampe: Wenn plötz
liches Erwachen aus dem Herzensgründe kommt, ist Klarheit
und Reinheit, es ist ursprünglich keine Aufregung, kein durch
sickernder Verstand. Wenn der Grund des Gemiithes vorbe-
342
Pfizraaier.
reitet ist und genügt, dieses Herz, es ist Fd. Auf dieses gestützt
sich ordnen, es ist das Höchste, man besteigt den Erdaltar.
Man nennt es auch mit Namen: Jii-lai’s Klarheit und Reinheit,
der versteckte Erdaltar des Stammhauses.
Die Ueberlieferungen
von
göttlichen Unsterblichen:
f II Kuang-tsching-tse wohnte auf dem Berge Khung-
tung. Der gelbe Kaiser hörte dieses und ging zu ihm. Kuang-
tsching-tse sprach: Die Wesenheit des Gelangens auf den Weg
ist Tiefe und Dunkel. Die Gipfelung des Gelangens auf den
Weg ist Düsterkeit und Schweigen.
,Leiste Beistand bei der Bedrängniss, als ob du Beistand leistetest
dem Fische des eingetrockneten WagengeleisesJ
Tschuang-tse: Das Haus Tschuang-tscheu’s war arm. Er
ging daher zu dem Lehensfürsten von Ilo-kien, um Hirse aus
zuleihen. Der Lehensfürst sprach: Ja. Wenn ich mein farbiges
Gold erhalten werde, werde ich dir dreihundert Pfund leihen.
Ist es dir recht? — Tschuang-tseheu ward roth vor Zorn und
sprach: Als ich gestern kam, war Jemand, der mich mitten
auf dem Wege rief. Ich blickte hin und sah, dass in dem
Wagengeleise sich ein Barsch befand. Derselbe sagte: Ich
bin ein Diener der Wellen des östlichen Meeres. Solltest du
ein Nössel oder einen Gantang Wasser haben und mich beleben?
— Ich sagte: Ja. Ich wandle einstweilen zu den Königen von U
und Yue, staue das Wasser des westlichen Stromes und hole
dich ab. Ist es dir recht? — Der Barsch ward rotli vor Zorn
und sprach : Wenn ich ein Nössel oder einen Gantang Wasser
erhielte, würde ich auf diese Weise leben. Da du aber diese
Worte sagst, musst du mich bei Zeiten suchen in der Bude
der gedörrten Fische.
Das Sammelhaus der alten Musik: Ein gedörrter Fisch
kommt zu dem Flusse und weint. Einmal empfindet er Reue
und kehrt wieder zurück.
Die Sammlung Tschang-li’s: Es ist als ob der Starke
einen Erschöpften bedauerte und ihn umdrehte. Dieser hat
nämlich die Mühe, dass er einmal die Hände erhebt, einmal
die Füsse wirft.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
343
m z mm m im & m
,Komm zu Hilfe bei der Gefahr, als ob du zu Hilfe kämest
den Sperlingen des dichten Netzes/
Die Ueberlieferungen von den angebundenen Redens
arten der Verwandlungen: Man knüpft Stricke und bildet
daraus Netze.
Die königlichen Einrichtungen in dem Li-ki: Die Taube
verwandelt sich in einen Falken. Dann erst stellt man Netze auf.
Die erklärten Namen der Wasserpflanzen: Der Sperling
ist furchtsam.
Ferner: Der Sperling sitzt auf und schläft zwischen den
Ziegeln der Dachtraufe. Desswegen sagt man: Der Sperling
der Dachziegel.
Der erklärte Schriftschmuck: Der Sperling ist ein kleiner
Vogel, der sich an die Menschen hält.
Die neuen Einleitungen: Thang sah einen Menschen, der
das Netz beschwor. Derselbe stellte die vier Seiten. Er löste
jetzt drei Seiten und stellte eine Seite. Er belehrte es und
beschwor mit den Worten: Was links sein will, sei links.
Was rechts sein will, sei rechts. Was in der Höhe sein will,
sei in der Höhe. Was unten sein will, sei unten. Ich nehme
dasjenige, was dem Befehl zuwider handelt.
Die fortgesetzte Geschichte des Wunderbaren der Denk
würdigkeiten : jjj Thang-schi sah einen gelben Sperling,
der von einem Habicht ergriffen ward. Er nahm ihn mit nach
Hause und fütterte ihn mit gelben Blumen. Die Flügel und
Federn des Vogels bildeten sich aus, und er entflog. In der
Nacht erschien ein gelb gekleideter Knabe und gab Schi vier
weisse Ringe, indem er sagte: Ich bewirke, dass deine Söhne
und Enkel zu der Rangstufe der drei Fürsten emporsteigen.
Es soll sein wie diese Ringe.
M ft
,Habe Mitleid mit den Verwaisten/
Die Ueberlieferungen Tso’s. Ngai, sechzehntes Jahr: Tse-si
sprach: Selling ist gleich einem Eie. Ich überdeckte ihn mit
den Flügeln und zog ihn gross.
Die Steintafel Sün-schö-ngao’s: Als Schö-ngao dem Tode
nahe war, mangelte es ihm für die Zukunft an dem inneren
344
Pfizmaier.
und äusseren Sarge. Er gab seinem Sohne eine Weisung und
sagte: Yeu-meng hat mir zugesagt, dass er mir tausend Pfund
leihen werde. — Yeu-meng war ein ehemaliger Musikvorsteher
von Tsu. Derselbe stand mit dem Gebieter, dem Reichsge
hilfen auf gutem Russe. Obgleich er von tausend Pfunden
gesprochen hatte, gab er sie in Wirklichkeit nicht her. Einige
Jahre nach dem Tode Schö-ngao’s liess König Tschuang Wein
aufstellen und Musik spielen. Yeu-meng sprach jetzt von den
Verdiensten, die sich der Mann von dem Geschlechte Sün als
Reichsgehilfe von Tsu erworben. Er hob trauervoll den hohen
Gesang an und weinte mehrmals. Der König war im Herzen
gerührt und besann sich. Er liess den Sohn Schö-ngao’s kommen
und schenkte ihm ein Lehen.
Das Sse-ki: Tu-ngan-ku überfiel das Geschlecht Tschao
und vertilgte dessen Seitengeschlechter. Die Gattin Tschao-sö’s
hatte einen nachgeborenen Sohn. Kung-sün Hieu-khieu, ein
Gast Sö’s, sagte zu Tsching-ying: Was ist schwerer: Die Waise
einsetzen oder sterben ? — Ying antwortete: Sterben ist leicht,
die Waise einsetzen ist schwer. — Hiü-khieu nahm ein Kind
anderer Menschen und versteckte es in dem Gebirge. Ying sagte
zu den Heerführern, man möge Kung-sün Hiü-khieu über
fallen. Man tödtete Hiü-khieu sammt der Waise. Die wahre
Waise befand sich aber bei Tsching-ying. Er versteckte sich
mit ihr in dem Gebirge. Die Waise hiess mit Namen Wu.
Nachdem Tschao-wu eingesetzt worden, tödtete Tsching-ying
sich selbst.
,Kümmere dich um die Verwitweten/
Die Ueberlieferungen von Frauen: ;j>£i Ki-liang, ein
Mensch von Tsi, fiel in dem Kampfe Seine Gattin legte den
Leichnam auf ein Kissen an dem Fusse der Stadtmauer und
beweinte ihn. Nach sieben Tagen stürzte die Stadtmauer ein.
Die Denkwürdigkeiten von Siuen-tsching: Der Berg des
in die Ferne Blickens nach dem Manne liegt in dem Districte
Ku-schö, Ehemals war ein Mensch, der sich nach Tsu begab.
Er kehrte nach Jahren nicht zurück. Seine Gattin bestieg
diesen Berg und blickte nach dem Mann in die Feime. Sie
wurde in einen Stein verwandelt.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
345
Die kleine Zierlichkeit in clen Gedickten: Dort ist spätes
Getreide, das man nicht geerntet, hier ist, was man nicht zu
sammengefasst und gebunden. Dort sind zurückgelassene
Garben, hier sind weggeworfene Aehren. Es ist die Ausbeute
der Witwen.
Die Sammlungen von I-tschuen: Vor Hunger sterben, ist
unter den Gipfelungen der Dinge das Kleinste. Des Mass-
haltens verlustig werden, ist unter den Gipfelungen der Dinge
das Grösste.
Die Einleitung zu dem von dem Kaiser Wen von Wei ver
fassten bilderlosen Gedichte auf die Witwen: Yuen-yuen-yü von
Tschin-lieu verlor frühzeitig das Leben. Ich war immer gerührt
und verweilte mit den Gedanken bei seinen hinterlassenen
Waisen. Es war noch niemals eine Zeit, wo ich nicht schmerz
lich im Herzen verletzt gewesen. Desswegen verfertigte ich
dieses bilderlose Gedicht.
Das von Fan-tschung-yen verfasste Gedicht: Zehn Seelen
fassen einander und schwimmen auf dem grossen Rinnsale. Als
sie kamen, hatten sie warm, als sie gingen, litten sie Kälte.
Will man an dem Grenzpasse und dem Fahrwasser ihren Na
men wissen: es ist das Schiff der verwaisten Kinder und der
Witwe.
Anmerkung. Als Sün-khiü-tschung starb, waren seine Söhne
jung, das Haus arm. Der Fürst half ihnen mit Geld und
schickte sie in die Heimat. Er verfasste bei diesem Anlasse
ein Gedicht und zeigte es an dem Grenzpasse und dem Fahr
wasser.
Die Erwähnungen der Strassen in dem Li-ki: Die Witwen
wehklagen nicht in der Nacht.
Eli re die Greise/
Die Erwähnungen der Musik in dem Li-ki: Man speist
die dreierlei Greise, die Greise der fünf Abwechslungen bei
dem grossen Lernen. Der Himmelssohn entblösst die Schulter
und zerstückt das Opferthier. Er ergreift den sauren Trank
und reicht ihn dar. Er ergreift den Becher und spült den
Mund aus.
Der Gebieter Pi in dem Buche: Die Langjährigkeit des
Himmels ist gerecht und durchdringend.
346
Pfizmaier.
,Sei mitleidig gegen die Armen/
Die Worte des Hauses: Man befindet sich bei der Ar-
muth wie ein Gast.
,Stelle Kleider und Speisen aus und umwandle die Hungernden
und Frierenden der Wege/
Das Sse-ki: Wei schickte Siü-ku als Gesandten nach
Thsin. Fan-hoei ging verkleidet in abgenützten Kleidern und
besuchte ihn. Siü-ku hatte in seinem Herzen Mitleid mit ihm.
Er sprach: Leidet Fan-schö einmal Kälte bis zu einem solchen
Masse? — Er nahm jetzt, einen Mantel von dickem Taffet und
schenkte ihn ihm.
Ein Gedicht von Kao-scln: Noch gibt es einen dicktaffe-
tenen Mantel, der zu verschenken. Es ziemt sich, Mitleid zu
haben mit Fan-schö, der friert.
Tan-kiung in dem Li-ki: In Tsi war grosse Hungersnoth.
Kien-ngao hielt Mahlzeit auf dem Wege. Er wartete auf die
Hungernden und speiste sie.
,Spende innere und äussere Särge. Verhüte es, dass die Ge
beine der Todten in der Sonne bleichen/
Tan-kiung in dem Li-ki: Der innere Sarg umgibt die
Kleider. Der äussere Sarg umgibt den inneren Sarg. Die Erde
umgibt den äusseren Sarg.
,Ist das Haus reich, so erfasse man und führe an der Hand
die nahen Verwandten/
Die Ueberlieferungen Tso’s. Wen, siebentes Jahr: Yö-yü
sprach: Die Seitengeschlechter des Fürsten sind die Zweige
und Blätter des inneren Hauses des Fürsten. Wenn man sie
entfernt, so haben der Stamm und die Wurzel nichts, wodurch
sie beschattet würden. Schlingpflanzen und Hanken können
noch immer ihren Stamm und ihre Wurzel beschatten. Dess-
wegen hat der Weisheitfreund sie als Gleichniss gebraucht.
Erklärung: In dem Buche der Gedichte vergleicht ein
Dichter die Schlingpflanzen und Banken mit den Brüdern der
neun Seitengeschlechter.
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
347
Die Ueberlieferungen von dem Könige Tsing von Tschung-
sclian in dem Buche der Han: Jetzt haben sämmtliche Diener
nicht die nahe Verwandtschaft der inneren Haut des Schilfes.
Erklärung. ^ Feu ist die dünnste weisse Haut im In
neren des Schilfrohres.
Die von Lu-pao verfassten Erörterungen über den Gott des
Geldes: Er ist der Gott und die Kostbarkeit des Zeitalters.
Er steht nahe und wird geliebt wie der ältere Bruder. Sein
Jünglingsname ist -ft Khuug-fang (das Viereckige der
Oeffuung).
Ferner: Ein Sprichwort sagt: Das Geld hat kein Ohr.
Man kann es als Dämon auftreten lassen.
,Herrscht in dem Jahre Hungersnotip so beschenke und unter
stütze man die Genossen/
Tschuang-tse: Tse-yü war zu Tse-sang ein Freund. Es
war langwieriger Regen durch zehn Tage. Tse-yü sprach: Tse-
sang ist krank. — Er wickelte Speise ein, ging hin und gab
sie ihm zu essen.
Das Weitere der Erklärung von ,Freunde‘ bei dem Ab
risse Tai in den Verwandlungen: Diejenigen, die innerhalb des
nämlichen Thores (der Strasse) wohnen, heissen jjjj Peng,
Freunde.
,Beim Messen und Wägen muss man ehrlich und billig sein.
Man darf nicht leicht herausgeben und schwer hereinbringen/
Verse: Man erlangt Vortheil, hierdurch lässt man den
Vortheil fallen.
,Sclaven und Knechte behandle grossmütliig und nachsichtig.
Sollte es ziemen, sie zur Rede stellen und quälerisch zu ver
langen
Siao-ying-sse hatte einen Sclaven. Derselbe diente ihm
zehn Jahre. Der Gebrauch der Peitsche, der Dornenruthe und
die Anwendung von Strenge machten Ying-sse Schmerz. Man
rieth ihm, den Sclaven wegzugeben. Ying-sse sprach: Es ist
nicht der Fall, dass ich nicht im Stande bin, ihn wegzugeben.
Mir thut es nur leid um seine Begabung.
Sitzimgsber. d. pliil.-hist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft.
23
348
Pfizmaier.
A * m. eu
,Man versehe mit einem Siegel und stelle her den Text der
mustergiltigeu Bücherd
Die sieben Bestätigungen des Wolkenkoffers: Das wahre
Buch der acht ungefärbten Dinge sagt: Der Wege des grossen
Höchsten sind drei. Der Wege des höchsten Wahren sind
sieben. Der Wege des mittleren Wahren sind sechs. Der
Wege des untersten Wahren sind acht.
Die Sammlungen Pe-fu: Die achterlei mustergiltigen
Bücher sind zusammen zwölf Abtheilungen. Sie enthalten im
Ganzen eilfmal zehntausend und sechstausend achthundert sieben
und fünfzig Wörter. Die Erfordernisse und Fingerzeige der
drei Gespanne, die geheimen Vorrathshäuser der zehntausend
Fö sind erschöpft.
K # # M
,Erbaue und ordne Tempel und Höfe'.
Die sechs gefalteten Papiere: Der blaue Garten, die blaue
Dachtraufe sind Namen von Tempeln Fö’s.
Die Geschichte der zehn Inseln: Das mennigrothe Ge
mach des purpurnen Eisvogels. Die Kerzensonne der Wolken
von Brocat.
Die Geschichte der Merkwürdigkeiten der Vorschriften
der mustergiltigen Bücher: Siü-tä, einer der Aeltesten,
meldete in Sachen Fö’s und sagte, die Schüler wollen geistige
Häuser erbauen und bitten, dass Fö daselbst weile. Es gebe
bloss den Garten des Nachfolgers von Khi-tho. Dieser Garten
sei achtzigmal hundert Morgen breit, die Bäume seines Waldes
seien dunkel und blätterreich. Fö könne dort wohnen. Der
Nachfolger sprach im Scherze: Wenn man ihn mit Goldlcin-
wand anfüllt, so werde ich ihn sogleich geben. —• Siü-tä nahm
achtzigmal hundert Morgen Goldleinwand hervor und meldete
von den geistigen Häusern, dass sie fertig seien. Es waren
im Ganzen eintausend dreihundert Hütten.
Die inneren Ueberlieferungen von dem Befehlshaber des
Grenzpasses: Lao-tse erstieg mit I-lii den Kuen-lün. Er stieg
zu der goldenen Erdstufe, zu dem Edelsteinsöller, zu der Vor
halle des Palastes der sieben Kostbarkeiten. Taa und Nacht
war daselbst glänzendes Licht.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
349
¥ U M H
,Man werfe Arzneistoffe aus und unterstütze dadurch bei Krank
heit und Mühsalb
Die Ueberlieferungen Tso’s. Tsching, zehntes Jahr: Der
Lehensfürst von Tsin träumte, dass seine Krankheit die Ge
stalt von zwei Knaben annahm.
Ferner, Ting, dreizehntes Jahr: Ivao-khiang von Tsi
sprach: Wenn man dreimal den Arm bricht, dann weiss man,
was ein guter Arzt ist.
Die Ueberlieferungen von Han-khang in dem Buche der
späteren Han: Er sammelte immer Arzneipflanzen auf den be
rühmten Bergen und verkaufte sie auf dem Markte von Tschang-
ngan. Er hatte keine zweierlei Preise.
Die Ueberlieferungen von Unsterblichen: Tung-fung
wohnte verborgen auf dem Berge Lu und heilte die Krank
heiten der Menschen. Er nahm kein Geld oder Werthgegen
stände an. Diejenigen, die von eiuer schweren Krankheit ge
nesen waren, pflanzten fünf Aprikosenbäume. War es eine
leichte Krankheit, so pflanzten sie einen Aprikosenbaum. In
einigen zehn Jahre erlangte er über zehnmal zehntausend
Bäume. Um die Zeit nannte man diese Bäume den Aprikosen
wald des Unsterblichen von dem Geschlechte Tung.
Die Meister der Arzneikunst in den Gebräuchen der
Tscheu: Die zehn Ganzen sind das Höchste.
Der Frühling und Herbst des Geschlechtes Liü: Ein
guter Arzt heilt die Krankheiten. Die Krankheiten verändern
sich zehntausendmal. Die Arzneien verändern sich ebenfalls
zehntausendmal.
Die Gebote der Monate in dem Li-ld: In dem ersten
Monate des Sommers sammelt und häuft man die hundert
Arzneipflanzen.
® S S 0 4 S tt
,Man verabreiche Theewasser und lösche dadurch Hitze und
Dursth
Die Gedichte Tsching-kö’s: Eine Schale Ku-tschü', im
Frühling hat sie Geschmack.
1 Die ersten purpurnen Bilmbussprossen von |jp| Ku-tscliü in Hu-
tsc.heu ist eine Theegattung, die in der Abhandlung: Alte Nachrichten
23*
350
Pfizmaier.
Das Lied Liü-thung’s von dem Tliee: Sieben Schalen
kann man nicht trinken. Man bemerkt nur, dass an beiden
Achselhöhlen sanft und gedehnt frischer Wind entsteht.
Die Gespräche des Zeitalters: Die einherziehenden Scharen
des Kaisers Wu von Wei verfehlten den Weg, auf dem sie
Wasser schöpfen konnten. Das Kriegsheer litt Durst. Es er
ging ein Befehl, der sagte: Vor euch befindet sich ein grosser
Pflaumenwald. Die reichlichen Früchte sind süss und sauer.
Ihr könnt damit den Durst löschen. — Die Anführer und
Krieger hörten dieses und allen wässerte der Mund.
Ferner: Wenn Ku-tschang-khtyag Siisswurzeln ass, ge
langte er von dem Ende zu dem Stamm. Die Menschen frag
ten ihn. Er sagte: Ich dringe allmälig in die gute Grenze.
£ M ffn 4% W &
,Man kaufe zuweilen lebendige Wesen und schenke ihnen das
Leben/
Die Ueberlieferungen von Ho-tseng in dem Buche der
Tsin: Ho-tseng war von Sinn verschwenderisch und gross-
thuerisch. Er verzehrte täglich Speisen um zehntausend Stücke
Geldes. Dabei sagte er noch immer: Ich habe keinen Ort,
zu dem ich die Essstäbe herablassen könnte.
.Halte dich zuweilen an das Fasten’ und hüte dich vor dem
/ -<£
Tödten/
Die Weise des Opfers in dem Li-ki: Tseng-tse sprach :
Die Bäume werden zur rechten Zeit gefällt. Die Thiere wer
den zur rechten Zeit getödtet.
,Wenn du die Füsse im Einherschreiten erhebst, blicke immer
auf die Insekten und Ameisen/
,Wehre dem Feuer und verbrenne nicht die Gebirgswälder/
Die Obrigkeiten des Herbstes in dem Tscheu-li: Das Ge
schlecht der Höhlen befasst sich mit dem Angriffe auf ver
steckte Thiere.
uml Denkwürdigkeiten von einigen Lebensmitteln China’» 1 (S. 420) er-
wähnt wurde
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
351
Ferner: Der Vorsteher des Feueranziindens: Wenn man
in dem Reiche Feuer auskommen lässt und in der Wildniss
das Unkraut verbrennt, so sind hierauf Strafen gesetzt.
Erklärung: Wenn man in der Wildniss das Unkraut ver
brennt, so zündet das Volk eigenmächtig Feuer an.
Die Gebote der Monate in dem Li-ki: In dem mittleren
Monate des Frühlings verbrenne man nicht die Gebirgswälder.
fr A m B. m « SS
,Zünde nächtliche Lampen an und erleuchte dadurch das
Wandeln der Menschen/
. * a m b * sr st
,Baue Flussschiffe und hilf dadurch den Menschen über das
Wasser setzen/
Die weiten Endlaute:’ ft Tschö ist ein quergelegter
Baum, auf dem man über das Wasser setzt.
Ferner: Kiang heissen gesammelte Steine, auf denen
man zu Fusse über das Wasser setzt.
Die Grundlage des Zeitalters: In dem Alterthum be
trachtete man fallende Blätter und verfertigte bei diesem An
lasse Schiffe.
Die Gedichte Tu-fu’s: Die Doppelschiffe der Wildniss
empfangen kaum zwei oder drei Menschen.
Die von Li-schang verfassten verborgenen Gedichte: Mein
grosses Schiff setzt,in Bewegung ein Paar Ruder.
Die Einleitung zu der von Lieu-tsung-yuen verfassten
Begleitung des Menschen auf der Wassertiefe: Die Menschen
des Stromes und des Flusses freuen sich der Sitte und nehmen
in Empfang die Geschenke. Diejenigen, die sich an Doppel
schiffe klammern und zu dem jenseitigen Ufer blicken, werden
nach Hunderten gezählt.
Ä 1t ^ rfö lil ffc
,Besteige nicht die Berge, um Vögel mit Netzen zu fangen/
Ein altes Lied des älternliebenden Sohnes auf die Kugel
armbrust in dem Frühling und Herbst von U und Yue: Durch
schnittener Bambus, fortlaufender Bambus! Es lässt fliegen
zur Höhe, verfolgen das Fleisch. 1
1 Das Fleisch sind wilde Thiere und Vögel.
352
Pfizmaier.
Der erklärte Schriftsehmuck: Ngo ist Schi, dol
metschen. Der Vogelsteller bindet einen lebenden Vogel an
und macht die anderen Vögel herboikommen. Dieser Vogel
heisst mit Namen Ngo, Dolmetscher.
Siü-kiai: Dolmetschen heisst die Sprache der vier Fremd
länder, sowie der Vögel und wilden Thiere überliefern. Der
Dolmetscher ist ein verführender Vogel. Er ist der heutige
,Vermittler der Vögel (Lockvogel)'.
IPi H W
,Stehe nicht an dem Wasser, um Fische und Krebse zu
vergiften.'
Der Wald der Denkwürdigkeiten: Die Bonzen meinen,
die Fische seien die Blätterfülle und die Blumen des Wassers.
Das Buch der Berge und Meere: Auf dem Borge Kien
wächst ein Baum, der von Gestalt gleich dem süssen Birnbaum
ist, aber rothe Blätter hat. Derselbe heisst mit Namen: Die
stachelige Pflanze. Man kann damit Fische vergiften.
Die Gedichte Su-schi’s: Wenn die Augen des Netzes
weit auseinander stehen, wird durchgeschlüpft.
Die Geschichtschreiber dos Südens: Sün-mien war Statt-
sialtcr von Thsin-yang. Derselbe sah beständig an dem Rande
des Flussarmes einen Fischer, der die Angelschnur herabliess
und lange pfiff. Mion fragte: Gibt es Fische zu kaufen? -
Der Fischer lachte und antwortete: Einer, dessen Angelhaken
kein Angelhaken ist, sollte er wohl Fische verkaufen?
4-
,Schlachte keine Ackerrinder.'
n 4 n in
,Verwirf kein Papier, das mit Schriftzeichen beschrieben ist.'
iM ftt £ A ü in
,Mache keine Anschläge auf die Güter und die Erzeugnisse
der Menschen.'
Z A iß i>1
,Beneide nicht um ihre Geschicklichkeit und Fähigkeiten die
Menschen.'
A Ü. Z A iß in
,Treibe nicht Unzucht mit den Gattinnen und Töchtern der
Menschen.'
lieber die Schriften ciea Kaisers des Wen-tscliang.
353
Das von Li-schang verfasste Gedieht der Verborgenheit:
Hat der Leib nicht die Schwingen des paarweise fliegenden
buntfarbigen Paradiesvogels, hat das Herz das Durchdringen
eines Tüpfels des reingeistigen Nashorns.
Die Weise der verdolmetschten fremden Namen: Die
Hölle nennt man in der Fansprache Ni-li.
'f Z , A. b£
,Rede nicht drein in die Streitigkeiten der Menschen. 1
Die neuen Erörterungen Lieu-hiä’s : Emporragende Felsen
hoch und steil, in Krümmungen zusaminengekniipft, Affenhöhlen
sind es, für die sie taugen. Der Mensch ersteigt sie und zittert.
Die Worte des Hauses: Khung-tse besichtigte den Ahnen
tempel der Tscheu. Daselbst befanden sich Menschen von Erz.
Ihr Mund war dreimal umschnürt, und auf ihrem Rücken stand
eine Inschrift, welche lautete: Die auf die Worte achtenden
Menschen des Altertlmms.
m Zt Z K M
,Zerstöre nicht Namen und Nutzen der Menschen. 1
M M Z A ^ M
,Mache nicht zu rächte die Heirathen der Menschen. 1
Hoai-nan-tse: Der Faden dringt mit Hilfe der Nadel ein.
Er legt sich nicht mit Hilfe der Nadel an. Das Mädchen wird
mit Hilfe des Vermittlers zugesellt. Es wird nicht mit Hilfe
des Vermittlers befreundet.
Die dargelegten Untersuchungen der Berghallo : Tschang-
kia-tsching, Vorgesetzter und Reichsgehilfe zu den Zeiten der
Thang, hatte fünf Töchter. Eine jede hielt in der Hand einen
Seidenfaden und stand hinter einem Vorhang. Man hiess Kö-
yuen-tschin vortreten und einen Seidenfaden an sich ziehen.
Diejenige, deren Seidenfaden er erlangte, sollte sein Weib
sein. Yuen-tschin sah, dass die Fäden fünf Farben hatten.
Er zog einen weissrothen Faden an sich und erhielt in Folge
dessen die dritte Tochter.
Die Verzeichnisse des Dunklen und Wunderbaren: Wei-ku
hielt auf der Reise in der Feste von Sung. Er begegnete
einem alten Menschen, der sich gegen den Mond kehrte und
Bücher in einen Umschlag legte. Er fragte bei diesem An
lasse nach den in dem Sacke befindlichen rothen Schnüren.
354
Pfizmaier.
Der alte Mensch sprach: Ich binde die Fiisse von Mann und
Weib. Befinden sich diese auch in feindlichen Häusern, in den
Ländern fremder Grenzen, wenn ich diese Schnüre nehme und
die Menschen einmal binde, lässt es sich durchaus nicht
verändern.
,Bewirke nicht aus Anlass besonderer Feindschaft, dass die
Brüder der Menschen sich nicht vertragen.'
Tschuang-tse: Wer sich an dem Feinde rächt, bricht nicht
Schwert und Schild. Ist es auch Einer, der die Absicht hat,
Gewalt zu brauchen, er ist nicht böse über den fallenden Ziegel.
Die Gespräche des Zeitalters: Wang-hiao-pe fragte AVang-
ta: Warum ist Yuen-tsie gleich Sse-ma-siang-jü? — Wang-ta
sprach: In der Brust Yuen-tsie’s sind Ungleichheiten. Dess
wegen muss man ihn mit Wein bespülen.
Die Ueberlieferungen Tso’s. Tschau, erstes Jahr: Tse-
tschan sprach: Einst hatte das Geschlecht Kao-sin zwei Söhne.
Der ältere hiess Ngö-pe. Der jüngere liiess Schl-tschin. Sie
wohnten in Kuang-lin und konnten sich nicht vertragen. Täg
lich suchten sie Schild und Lanze, um sich gegenseitig zu
bekriegen. Der gebietende Kaiser fand dieses nicht gut. Er
versetzte Ngö-pe nach Schang-kliieu und liess ihn dem Stern
bilde des grossen Feuers vorstehen. Die Menschen von Schang
gingen hiervon aus. Desswegen ist das grosse Feuer das
Sternbild der Schang. Er versetzte Scln-tschin nach Ta-hia
und hiess ihn den drei Sternen vorstehen. Die Menschen von
Thang gingen hiervon aus. Sie unterwarfen sich und dienten
den Hia und Schang. König Tsching vernichtete zuletzt Thang
und belehnte damit den grossen Oheim. Desswegen sind die
drei Sterne das Sternbild von Tsin.
Das von Ku-I verfasste bilderlose Gedicht auf den Meer
adler: Eine dünne alte Fischgräte! Warum brauchte man
desswegen zu argwöhnen?
Die Gedichte Su-schi’s: Der Hass wird alt ohne Wider
setzlichkeit und Unverträglichkeit. Er wäscht einmal die
Fischgräte in der Brust.
,Bewirke nicht aus Anlass eines kleinen Nutzens, dass Väter
und Söhne der Menschen nicht freundschaftlich sind.'
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
355
Die Geschichte des Suchens der Götter: Das Insect
9$ W Tsing-fu ist gleich einer Grille. Man tödtct die Mutter
und das Junge und bestreicht mit dem Blute eines jeden ein
Geldstück. Alles, was man auf dem Markte ausgibt, man
möge früher das Junge oder früher die Mutter gebrauchen,
fliegt zurück. Desswegen gibt Hoai-nan-tse dem Gelde den
Namen Fu-tsing.
Die Gedichte Su-schfs: Das Horn der Schnecke ist leerer
Name. Der Kopf der Fliege ist unbedeutender Nutzen.
m # m m # ü #
,Stütze dich nicht auf Macht und Stärke, um Schande zu bringen
über Gute und Vortreffliches
Der Nachsatz der von IJu-han geschriebenen Tafel der
Gefährten Yuen-yeu’s von Lien tscheu: Tsai-king von Sung
errichtete die Bambustafeln und Steintafeln der Gefährten
Yuen-yeu’s vor dem Thore der äussersten Gebräuche. Weil
die Sterne sich veränderten, vernichtete er den Nachsatz. Die
Söhne und Enkel der Gefährten hielten diesen wieder für eine
Ehre. Sie Hessen ihn zum zweiten Male zeichnen und ein-
meisseln.
Der durchdringende Spiegel: Jemand rieth Tschang-yuen,
einem beförderten Gelehrten der Provinz Schon, sich bei Yang-
luiö-tschung zum Besuche zu melden. Yuen sprach: Ihr stützet
euch auf den rechten Reichsgehilfen von dem Geschlechte
Yang wie auf den Berg Tai-schan. Ich halte ihn nur für
einen Eisberg. AVenn die hellglänzende Sonne einmal aufge
gangen ist, werdet ihr es dahin bringen, dass ihr dessen nicht
verlustig werdet, worauf ihr euch verlasset?
Die Ueberlieforungen von Hö-kuang in dem Buche der
Han: Tien-yen-nien sprach: Der Heerführer (Hö-kuang) ist
der Stein der Pfeiler des Reiches.
ffl. * » ® * W tf to
,Verlasse dich nicht auf Reichthum und Gewalt, indem du die
Elenden und Erschöpften betrügst.'
,'ü I JS fl i I t t KM A #
,Mit einem guten Menschen befreunde dich und stehe ihm nahe.
Er leistet Beistand bei dem Wandel der Tugend in dem Leib
und dem Herzen/
356
P f i z m a i e r.
Die Ueberlieferungen von den angebundenen Sätzen der
Verwandlungen: Schweigen und es vollenden, nicht reden und
vertrauen, hierdurch macht nmn bestehen den Wandel der
T ugend.
Die grosse Zierlichkeit in den Gedichten: An dem man
bemerkt den Wandel der Tugend, dem sind die vier Reiche
gehorsam.
M A Wi
,Von einem bösen Menschen entferne dich und vermeide ihn.
Er versohliesst Unglück und Verderben in den Brauen und
Wimpern.'
Die Worte dos Hauses : Wohlriechende Pflanzen und
übelriechende werden nicht in dem nämlichen Gefässe aufbe
wahrt. Yao und Khie führen nicht in einem gemeinschaft
lichen Reiche die Lenkung.
,Man muss immer das Böse verbergen, das Gute bekannt
machen.'
W « ä P W Y
,Man darf nicht mit dem Munde rocht sprechen, im Herzen
unrecht denken.'
Die Ueberlieferungen von Li-I-fu in dem Buche der
Thang: Li-I-fu war von Aussehen sanft und ehrerbietig. Im
Gespräche mit Menschen war er freundlich und gefällig. Er
lächelte und war voll Heimtücke. Kleinlichkeit und Scheu
waren in sein Herz gelegt. Allen, die seinem Willen zuwider
handelten, fügte er ein Leid zu. Die Zeitgenossen nannten
ihn : Das Schwert in dem Lächeln.
liiitl
,Schneide die den Weg verschliessenden Dornsträuche und
Haselstauden ab.'
Das von Kiang-yen verfasste bilderlose Gedicht auf die
Faserpalme: Voll angesammelter Steine der Fusspfad, voll von
Bäumen und Pflanzen die Bergwege.
Tscheu-nan in den Gedichten: Hoch das verworrene Ge
strüpp ! Wir schneiden ab diese Dornen.
Die grosso Zierlichkeit in den Gedichten: Siehe jenen
Bcrgesfuss des Han! Haselstauden und rothe Dornen sind in
Menge.
Ueber die Schriften des Kaisers dos Wen-tschang.
357
Ferner: Der Weissdorn und die Eichbäume sind ausge
rissen, auf dem Gehwege wird verkehrt.
5 ä t S I S
,Entferne die Ziegel und Steine auf den Wegen.'
Die Gedichte Li-schang-yin’s: In die Ziegel der Dächer
meisselt man Fischschuppen.
Die Gedichte Han-yü’s: Ein geschickter Zimmermann be
haut die Knochen der Berge b
z Ai I't # W 1k #
,Ordne die durch mehrere hundert Jahre unebenen Wege.'
Das Haus des Zeitalters von Wei: Wei griff Tschao an.
Es schnitt den Weg der Schafdärme ab.
Die richtigen Bedeutungen: Die Schafdärme sind ein
steiler Weg. Derselbe befindet sich auf der Höhe des Berges
Tai-hang.
Die von Li-pe verfassten Beschwerlichkeiten der Woge
von Scho: In dem Lande zermalmen stürzende Berge die star
ken Männer. Dann erst setzen Himmelsleitern und Balken
wege sich gegenseitig fort.
Die ursprünglichen Darlegungen von Scho: König Hoei
von Thsin wollte Scliö angreifen. Er liess fünf steinerne Rin
der ineisseln und legte Gold hinter ihren Rücken. Die Men
schen von Schö sahen dieses und hielten dafür, dass die Rinder
im Stande seien, Gold zu entleeren. Sie meinten, es seien
Himmelsrinder. Sie Hessen die fünf starken Männer sie fort
ziehen und einen Weg herstellen. Thsin folgte auf dem Woge
und griff Schö an.
Die Gedichte Hu-tseng’s: Wenn die fünf Männer nicht
ausgehauen hätten den Weg der steinernen Rinder, durch
welche Mittel hätte Hoei von Thsin es dahin gebracht, anzu
eignen und zu verschlingen?
Ws Z &
,Baue Brücken, aut denen tausendmal zehntausend Menschen
kommen und gehen.'
Das von Wang-sse-hi verfasste Sammclhaus der Musik:
Sichst du nicht, dass die Menschen auf dem grossen Wege
1 Die Knochen der Berge sind die Bnumwurzeln, liier die Bäume selbst.
358
P f i z m a i e r.
von Tschang-ngan gleich Ameisen sämmtlich herausdringen?
Die Glocken tönen, das Gehen nimmt kein Ende.
Die Gedichte Wang-pao’s: Die fliegende Brücke ist von
der Art des trinkenden Regenbogens.
# a $ tu m.
,Lasse Unterweisung herab und stelle dadurch zuerst das Un
recht der Menschend
,Wirf Güter aus, um zu vollenden das Gute unter den
Menschend
Die Erklärung des äusseren Sammelhauses in dem Tscheu-li:
ft Pu ,Geldstücke' bedeutet ^ Tsiuen ,Quelle*. Aufbewahrt
heisst es Quelle. Im Umlaufe heisst es Pu ,sich verbreiten*.
Man nimmt den Namen von der Wasserquelle. Es fliesst um
her und gelangt überall hin.
. a % * m. * #
,Wenn man eine Sache unternimmt, muss man der Ordnung
des Himmels folgend
4Ü' A J1 ^ W ÜJ
,Wenn man Worte hervorbringt, trachte man, sich zu richten
nach dem Herzen der Menschen.*
Die Worte der Vorschrift: Die Worte sind die Töne des
Herzens.
Die Verzeichnisse der Wirbel und der Quellen des I und
Lö : Sien-kuaug-ting besuchte Tsching-ming-tao in Jü-tscheu.
Er sprach mit den Menschen und sagte: Er befindet sich in
dem Frühlingswind und hat mit Sitzen einen Monat verbracht.
Die Einleitung zu der von Han-yix verfassten Begleitung
Schi-tsch’hü-sse’s: Ich sprach mit ihm von Weg und Ordnung.
Ich unterschied von den Dingen des Alterthums das Sollen
und das Nichtsollen. Ich erörterte bei den Dingen der Hohen
und Niederen unter den Menschen, auf welche Weise sie später
zu Stande kommen werden oder fehlschlagen. Ich entschied
über die untere Strömung und das Ergicssen im Osten.
m m m ± ä
,Man sehe die frühere Erkenntniss in der Brühe und an der
Wand.*
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
359
Die Ueberlieferungen von Li-ku in dem Buche der spä
teren Han: Wenn Schün sass, sah er Yao an der Wand.
Wenn er ass, erblickte er Yao in der Brühe.
Die von Kien von dem gelben Vorhofe verfasste Inschrift
der Halle des Yaosehens: Steht man, so sieht man Yao in der
Halle. Schläft man, so sieht man Yao im Traume. Man spricht
von dessen Gewöhnlichem und geht aus von dem Selbstthätigen
der Dinge. Es ist die tägliche Anwendung Yao’s.
,Wache über das, was du allein erkennst in der Decke und in
dem Schatten.'
In den Versen: Gutes und Böses erkennt man mehrmals
allein. Hellsehend wache über das, wohin du vorauseilst. In
dem man die Decke umfängt, ruhen tausend Gedanken. Den
Schatten gegenüber der einzige Leib, der verwaiste u. s. f.
Was böse Dinge sind, die verrichte nicht.'
Der Perlenwald des Gartens der Vorschrift: Die vier
bösen Geister bringen immer frühzeitigen Tod. Die sechs
Mörder kommen wetteifernd und zerren.
Xmrl p.s crnfp Dihot. sn "hip.+.p <1ip Anaiilmncr (
,Du bist dann ewig ohne bösen Fehlblick und Behelligung
durch Bevorstehendes. Es sind fortwährend glückbringende
Götter, die dich umfassen und beschützen.'
Die Ueberlieferungen Tso’s. Hi, fünftes Jahr: Kung-
tschi-ki sprach: Dasjenige, woran sich die Götter halten, wird
in der Tugend bestehen.
Der Frühling und Herbst des Geschlechtes Liii: Zu den
Zeiten des Fürsten King von Sung befand sich Venus in dem
Sternbilde des-Herzens. Der Fürst berief Tse-wei und fragte
ihn. Dieser sprach: Das Unglück soll den Gebieter treffen.
Man kann es jedoch auf den Reichsgehilfen übertragen.
Der Fürst sprach: Der Reichsgehilfe, durch ihn lenkt man
Reich und Haus. — Jener sprach: Man kann es auf das Volk
übertragen. — Der Fürst sprach: Wenn das Volk stirbt, über
wen werde ich der Gebieter sein? — Jener sprach: Man kann
es auf das Jahr übertragen. -— Der Fürst sprach: Ist in dem
360
P f izin aier.
Jahr Hungersnoth und hungert das Volk, so stirbt es gewiss.
Wenn ich ein Gebieter der Menschen hin und das Volk tödte,
wer würde mich dann für den Gebieter halten? — Tse-wei
sprach: Du, o Gebieter, hast die Worte der äussersten Tu
gend. Die drei Himmel werden dich gewiss belohnen. —
Venus übersiedelte wirklich zu den drei Sternenhäusern.
Das Schreiben Siü-ling’s an Wang-seng-pien: Der Weg
des Wohlwollens und der Aelternliebe verkehrt mit den hun
dert reingeistigen Dingen.
* as M m ät. a s * w # a
no r>o Im AVAinll-nrwTi' oCi iirii'rl cuü rrn T noil rl n> cnl +
,Ist es nahe Vergeltung, so wird sie zu Theil dir selbst. Ist
cs ferne Vergeltung, so wird sie zu Theil den Kindern und
Enkeln/
Die grossen Vorbilder in dem Buche: Selbst ist man
sicher und stark. Söhne und Enkel treffen auf das Glück.
,Die hundert Segnungen kommen in Gemeinschaft, die tausend
glückbringenden Dinge sammeln sich gleich Wolken/
Die kleine Zierlichkeit in den Gedichten: Er (der Himmel)
bewirkt, dass du völlig beträchtlich: welcher Segen entsteht
nicht neu ?
Ferner: Die Götter sind gekommen. Sie hinterlassen dir
vielen Segen.
Die das Unglück und die Ungewöhnlichkeit bannende
Versiegelung Lieu-hiang’s: Die einträchtige Luft bringt glück
liche Vorbedeutungen zu Wege. Die widersetzliche Luft bringt
Ungewöhnlichkeiten zu Wege.
Die Lieder von Wei in den Gedichten: Der Mann ver
gnügt sich!
Bemerkung: Eine Sache hat hundert Ausübungen. Man
kann durch Thaten vorbeikommen und die Sache los werden.
Die Ueberlieferungen von Han-sin in dem Buche der
Han: Der Verständige hat bei tausendmaliger Ueberlegung ge
wiss einmal ein Fehlschlagen. Der Thöriehte hat bei tausend
maliger Ueberlegung gewiss einmal einen Erfolg.
Lao-tse: Das Bläuliche ist ferner bläulich, das Thor
sämmtlicher wunderbaren Dinge.
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
361
p tik m fä ^ m
,Wie solltest du nicht aus der Mitte der
mungen das Kommende erlangen?'
verborgenen Bestim
me zur Aelteruliebe ermahnende Schrift des Gebieters,
des Kaisers des Wen-tschang.
Der Gebieter, der Kaiser lässt die Unterweisung herab
mit den Worten: Der heutige Tag ist der ursprüngliche Morgen.
Es ist der erste Tag des Menschengeschlechts. Ich werde
sprechen von der ersten Sache des Menschengeschlechts. Wie
heisst die erste Sache des Menschengeschlechts? Die Aeltern-
liebe ist die Quelle der hundert Handlungen. Sie ist wesent
lich und gipfelt sie. Man kann dadurch befördern Verwandlung
und Aufziehen. Desswegen nennt man sie die erste Sache.
Setzt man bei Seite diese einzige Sache, so hat man weder
Lernen noch Fragen. Setzt man bei Seite diese einzige Sache,
so hat man weder Verdienste noch Beschäftigung. Setzt man
dieses bei Seite und begründet Worte, so sind es Worte ohne
Grundlage. Setzt man dieses bei Seite und Fähigkeiten und
Verdienste gipfeln in der Welt, man gelangt zu dem Boden,
man kommt nicht bei dem Theile des Angeborenen, bei der
mittleren Strömung hervor. Man ersinnt gewiss Lügen und betrügt
das Reich. Man kehrt der Grundlage den’Rücken und tilgt den
eigenen Leib. Himmel und Erde sind die Tugend der Aelternliobe
und knüpfen die Vollbringung. Sonne und Mond sind das Licht
der Aelternliebe und schicken hervor die Erhellung.
Der Weg der Aelternliebe, man kann es nicht dahin
bringen, ihn mit Worten zu erschöpfen. Als ein Sohn unter
den Menschen reichen und vornehmen Aeltern dienen, ist leicht.
Armen und niedrigen Aeltern dienen, ist schwer. Starken und
rüstigen Aeltern dienen, ist leicht. Hinfälligen und bejahrten
Aeltern dienen, ist schwer. In Gesellschaft lebenden und
glücklichen Aeltern dienen, ist leicht. Verlassenen und allein
stehenden Aeltern dienen, ist schwer. Die reichen und vor
nehmen Aeltern, wenn sie aus- und eintreteu, haben sie Stütze
und Halt an den Menschen. Wenn sie weilen und Stillstehen,
haben sie Gefährten und Gefolge an den Menschen. Ihre
Wünsche werden immer befriedigt. Ihr Herz ist immer froh.
362
L* f i z m a i e r.
Die armen und niedrigen Aeltern sind Mann und Weib mit
weissem Haupthaar, weggeworfen und verstossen. Wer wird
mit ihnen sprechen und lachen? Sie sind getrennt von dem
Sohn und der Schwiegertochter der grünen Jahre. Niemand
begleitet sie oder folgt ihnen. Der Sohn unter den Menschen
heisst auch: Er befindet sich auswärts. Die Aeltern heissen
auch: Verlassene und Betrübte. Wer ein Sohn unter den
Menschen ist, verkörpert gut seine Neigung. Ist er fähig, im
Augenblicke sich von der Umgebung zu trennen? Die starken
und rüstigen Aeltern, in ihren Handlungen und Unternehmungen
können sie sich selbst helfen. Im Nehmen und Aufheben vom
Boden können sie es sich bequem machen. Am Morgen stehen
sie auf, am Abend ruhen sie. Sie können thun nach ihrem
Gutdünken. Sie erkundigen sich bei den Verwandten, sie
fragen die alten Freunde. Sie können ihren Sinn erfreuen.
Die hinfälligen und bejahrten Aeltern, ihre Kinder und Söhne
sind sofort Hände und Füsse. Jene befinden sich nicht vor
ihren Augen. Die Hände und Füsse will man erheben, aber
man ist es nicht fähig. Die Schwiegertöchter sind sofort der
Bauch und das Herz. Jene befinden sich nicht unter den
Knien. Der Bauch und das Herz werden begehrt, aber sie
kommen nicht zum Vorschein. Zu Zeiten ist man voll Freude
in dem Inneren. Zu Zeiten ist man voll Trauer in dem Busen.
Wer ein Sohn unter den Menschen ist, verkörpert gut seine
Neigung. Ist er fähig, im Augenblicke sich von der Umgebung
zu trennen? Die in Gesellschaft lebenden und glücklichen
Aeltern, am Tage haben sie, womit sie sich Gefährten ver
schaffen, in der Nacht haben sie, womit sie sich wärmen. Am
Tage gibt es nichts zu dienen. Man spricht mit ihnen von
dem Langen, erörtert das Kurze. In der Nacht bringt man
nicht den Schlaf zu Stande. Man kennt gegenseitig die Kälte,
spricht von der Kühle. Die verlassenen und alleinstehenden
Aeltern, ihre Kinder und Töchter haben zwar die ganz runde
Freude, allein Mann und Weib haben zu Wege gebracht den
Schmerz der Trennung und des Scheidens. Innerhalb des
Vorhofes des Hauses wandeln sie einsam einher und kühl. In
dem Schatten ihrer Gestalt ist nur Trauer und ßetrübniss.
Wer ein Sohn unter den Menschen ist, verkörpert gut seine
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
363
Neigung. Ist er fähig, im Augenblicke sich von der Umgebung
zu trennen?
Leider! Man prüfe und frage, woher der eigene Leib
kommt. Die Aeltern belebten unseren Stamm. Die Aelternliebe,
was für eine Sache ist sie? Es ist das Herz, das der Mensch
selbst besitzt. Wer diesen meinen Aufsatz sieht und nicht
bewegt wird im Herzen, der ist kein Mensch. Wer diesen
meinen Aufsatz sieht und nicht Thränen herabfallen lässt, ist
kein Mensch. Ein ungehorsamer Sohn, eine widerspänstige
Schwiegertochter, wenn sie diesen meinen Aufsatz sehen und
sich nicht verwandeln, jener kein älterliebender Sohn, diese
keine willfährige Schwiegertochter wird, in wie fern sind sie
da von den Vögeln und wilden Thieren verschieden? Es sind
Solche, die von Menschen entdeckt und gestraft werden.
Das von dem Gebieter und Kaiser des Wen-tschang ver
fasste kostbare Capitel von Rettung von der Entführung.
Der wahre Gfebieter sagt: Ich verkehrte rund umher
durch den Weg und die Tugend. Ich ward längst bestätigt
auf der wahren Rangstufe. Hier konnte ich nachdenken über
das Loos der Entführung. Sofort hatte ich den Wunsch, zu
retten sämmtliche Geborene. In dem Jahre Jin-schin (9), am
siebenten Tage dos siebenten Monats 1 befehligten in Sänften
des Edelsteines Lang mit Vordächern der Flügel, auf Einhorn
wagen mit Gespannen des Paradiesvogels, der Edelsteinknabe,
das Edelsteinmädchen als Götter die Streitkräfte des Himmels.
Wimpel und Fahnen der Musikbanden, hundertmal zehntausend
an der Zahl, wurden herangezogen und folgten. Die aufwar
tende Leibwache stand in Reihen wie Bäume des Waldes, der
Ton der Musik erschütterte die Decke des Himmels.
Der Befehl des Himmelskaisers lautete : Das grosse
Bläuliche hat kein Höheres über sich. Die höchste Tugend
ist der wahre Gebieter. Er ist gleichgestellt einem Menschen
unter dem Thore der mittleren Bücher. Er begleicht die Sache
1 Dieses ist um die Zeit des Kaisers Hoai von dem westlichen Tsin, im
sechsten Jahre des Zeitraumes Yung-kia (312 u. dir.).
Sitzungfiber, d. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. II. Hft. 24
364
P f i z iu a i e r.
der Capitel. Nach oben ist er vorgesetzt den Schrifttafeln der
dreiunddreissig Unsterblichen des Himmels. In der Mitte ist
er vorgesetzt der Langjährigkeit des Menschengeschlechts, dem
Glück und Unglück des Himmels, dem Lehen und Tod, dem
vornehmen und dem geringen Stande. Nach unten ist er vor
gesetzt den Seelenwanderungen der achtzehnfachen Hölle. —
Nachdem ich den höchsten Befehl empfangen, wurde die
Himmelsfeste gewaltig erschüttert von sieben Tönen. Der
Himmel drehte sich, die Erde wälzte sich um. Ich zeigte auf
sie mit dem Schwerte. Himmel und Erde hielten an mit dem
Wagen. Sonn und Mond hielten an mit der AchsA In einem
Augenblicke traten dazwischen purpurne Wolken, die schwarze
Luft des oberen Durchweges war gebunden. Zwei Knaben
erschienen und reichten die Register der Guten und Bösen
mit den Worten: Au den Tagen Yin-mao (3,4) und später ist
das Loos der Entführung schrecklich. Erfülle den höchsten
Willen und bestimme im Voraus die Guten und Bösen. Ich
wage es, die Register zu reichen. — Ich durchblickte die Re
gister der Guten. Ich fand Verdienste der Redlichkeit und
Aelternliebe. Diejenigen, die gegen die verborgenen Bestim
mungen dankbar waren und den Wandel ordneten, waren
tausend Menschen. Ich durchblickte die Register der Bösen.
Ich fand zehnerlei Böses, fünferlei Ungehorsam, den vermischten
Lebenslauf der Diener, des Volkes, der Obrigkeiten und An
gestellten, der vorzüglichen Männer, der Ackersleute, der Hand
werker und Kaufleute, der Priester und Männer des Weges.
Die Bösen waren tausend Menschen.
Ich bedauere das Bevorstehen des Looses der Entführung.
Die Menschen des Zeitalters tliuen Böses, es hat kein Ende
und kein Auf hören. Jetzt schicke ich grosse Dämonen des
zehnfachen Bösen dreihundertmal zehntausend, fliegende gött
liche Könige des Himmels dreihundertmal zehntausend, gött
liche Streiter, göttliche Anführer eintausend sechshundertmal
zehntausend. Die Donnergötter der fünf Wege mache ich
ihnen zu Vorgesetzten. Sie greifen auf und nehmen die bösen
Menschen. Ferner erheben sich grosser Wind, grosser Regen,
grosses Wasser, grosses Feuer, grosse Pest, um aufzugreifen
die bösen Menschen. Sie bringen in Erfüllung das Loos der
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
365
Entführung. Die Strafe für die Sünden ist nicht fern. Es ist
tief zu bedauern.
Ich rette und befreie jetzt sämmtliche Geborene. Ich
zeige eigenmächtig die Triebwerke des Himmels. Dasjenige,
was in den in kurzer Fassung vorbereiteten Registern Ver
dienst oder Fehler gewesen, ich mache es zu einer Abschreckung
und Warnung für die lebenden Menschen. Ich ermahne jetzt
die Menschen des Zeitalters. An jedem Tage, am frischen
frühen Morgen ergreife man und sage her das Capitel der
Rettung von der Entführung, die Schrift der verborgenen Be
stimmungen samnit dem Hefte der Anregung durch das Ent
sprechende des grossen Höchsten einmal, um zu löschen die
Sünden und Uebertretungen. Früher soll man ausüben diese
sechs Capitel, ordnen den Wandel und sämmtliche Gedanken.
Das Heft der Reingeistigen des höchstweisen Namens, es
gelingt, dadurch von dem Entsprechenden angeregt zu werden.
Wenn es so ist, kommen von selbst Glück und Wohlstand ohne
MasS, Söhnen und Enkeln wird Ehre und Glanz, goldene Wagen
fahren in das Thor. Man dient als Palastdiener, Reichsminister
oder Reichsgehilfe. Wenn man diese sechs Capitel nicht aus
übt und den Wandel nicht ordnet, so sagt man das mustergültige
Buch bloss mit dem Munde her. Man will frei sein von
Sünden und Uebertretungen. Dieses heisst mit Namen: den
Himmel verachten. Diese Sünde ist eine noch schwerere, sie
kann noch weniger gelöst werden. Ich lasse jetzt hernieder
steigen dieses mustergiltige Buch. Ich lasse es umherziehen
und verbreite es weiter in dem Zeitalter.
Der Gebieter, der Kaiser der sieben Krümmungen ist
ebenfalls oft herabgestiegen. Wo er sich befand, gab man ihm
dreitausend göttliche Streiter zur Leibwache. Es gibt Solche,
die dieses mustergiltige Buch hersagen und lesen, aber nicht
glauben und es nicht annehmen, und Solche, die vorerst glauben
und es annehmen, die es aber später im Herzen reut. Die
fliegenden grossen Götter des Himmels, zu denen sie empor
blicken, greifen unverzüglich sie auf und nehmen sie, um voll
zu machen die Zahl der Entführungen. Was Solche betrifft,
die dieses mustergiltige Buch heimlich aufbewahren, aber nicht
weiter verbreiten, so ist ihre Sünde nur die gleiche. Jeder
soll untersuchen und zur Besinnung kornmen.
24*
36(1
P f i 7. m a i e r.
Erstes Capitol. Die Abschreckung und Ermahnung 1 .
Der wahre Gebieter sagt: Wie bedauerlich! Unter den
Menschen des jetzigen Zeitalters ist der Sohn nicht ältern-
liebend gegen die Aeltern, der jüngere Bruder nicht ehrerbietig
gegen den älteren. Die Niederen gehorchen nicht den Höheren.
Das Weib ist ungehorsam gegen Schwiegervater und Schwieger
mutter. Der Schüler beleidigt den Lehrer und Aeltesten. Die
vorzüglichen Männer haben Mangel an wirklichem Wandel.
Die Obrigkeiten sind eigenwillig, habsüchtig und ränkevoll.
Die Ackersleute laufen voraus zu dem Unverrichteten. Die
Handwerker streiten um schwimmende Blumen. Die Bonzen
betrügen die gemeinen Menschen, sie machen zu nichte die
wahre Lehre. Die Strafe für die Sünden ist nicht fern. Es
lässt sich tief beklagen. Ein Jeder soll sich abkühlen an
meinen Abschreckungen und Ermahnungen. Man ordne muthig
und kühn den Wandel, um zu entkommen dem Schicksal der
Entführung.
Zweites Gapitel. Die Anregung zu Aelternliebe.
Der wahre Gebieter sagt: Der Mensch, der sein Selbst
begründet, macht Aelternliebe zur Grundlage.
Der Vater Aß# Tschao-khiü-sien’s von der öst
lichen Mutterstadt war einundneunzig Jahre alt. Seine Mutter
war vierundneunzig Jahre alt. Beide waren von Gemüthsart
streng und unthätig. Khiü-sien und dessen AVeib warteten
ihnen auf und verwendeten grosse Mühe. Ihr älternliebender
Wandel war entsprechend. Jeden Abend verbrannten sie Wohl
gerüche und beteten für die Aeltern. Der Gott der drei Leich
name meldete es in der Höhe. Der Himmel schickte die
fliegenden grossen Götter des Himmels, damit sie Tag für Tag
untersuchen. Diese sahen, dass das Herz Jener ausschliesslich
beschäftigt war, ihre Gedanken auf das Eine gerichtet. Ihr
älternliebender Wandel bewegte den Himmel. Ihre sieben
Söhne und drei Eidame wurden gereiht unter ausgezeichnete
Classen, Khiü-sien wurde vorgerufen durch Entscheidung der
Unsterblichen.
1 Dieses ist das erste der oben erwähnten sechs Capitel.
lieber die Schriften den Kaiser« des Wen-tschang.
367
ig Li-khiung aus Meu-tscheu setzte seinen Vater
zurück und trachtete übermässig nach Wein und Vergnügen.
Nach zwei Jahren liess er seine Mutter aufgebahrt zurück.
Nach fünf Jahren wurde er von dem Donner getroffen und
verbrannte.
Die Tochter des Geschlechtes Li aus Hoei-tscheu
führte den Namen 3
dem ältetesten Sohne
Schen-yü. Sie vermalte sich mit
Sche-yuen-schcn’s. Derselbe
7t
war dreissig Jahre alt, sie selbst achtzehn. Sie widmete ihre
Dienste den Schwiegereltern mit äusserster Aelternliebe. Das
Haus war arm. Obgleich sie selbst Hunger und Kälte litt,
wagte sie es niemals, die Speisen und Getränke zu kosten
oder zu verzehren, sondern reichte sie den Schwiegerältern.
Die Schwiegerältern erkrankten schwer. Das Haus war arm,
sie war nicht im Stande einen Arzt herbeizurufen. Sie betete
und meldete es dom Himmel und der Erde. Sie hatte den
Wunsch, ihren Leib an die Stelle desjenigen der Schwieger
ältern zu setzen. Da traf cs sich, dass die drei Obrigkeiten
umherzogen und untersuchten. In der Himmelsfeste hörte man
dieses. Man meldete es und brachte es zu Ohren.
Der Edelsteinkaiser nahm in Empfang den höchsten
Willen. Dieser war, dass man zu der Lebensdauer der
Schwiegerältern ein Jahr hinzufüge, dabei achtzigmal zehn
tausend Stücke Geldes zum Geschenk mache und den Namen
in die Schrifttafeln des Glückes eintrage. Den zwei Söhnen
verlieh man einen Rang und ein Amt. Ein Jahr später war
eines Morgens das Thor noch nicht geöffnet. Da sah man in
dem Saale Gold und Silber. Die ganze Halle war verändert.
Man erlangte wirklich achtzigmal zehntausend Stücke Geldes.
In der Nachbarschaft wohnte eine Tochter von dem Geschlechte
|||; Thsin. Dieselbe war zwanzig Jahre alt. Sie verliess sich
auf ihre lange Zunge und stiess die Schwiegerältern. Die
Tochter von dem Geschlechte Li ermahnte sie einst, aber
wurde nicht gehört. An dem Tage, an welchem die Tochter
des Geschlechtes Li das Geld erhielt, wurde die Tochter des
Geschlechtes Thsin von dem Feuer des Donners verbrannt.
Die Vergeltung des Guten und Bösen ist sonnenklar und ehr
furchtgebietend.
368
Pfizmaier.
Drittes Capitel. Der Wandel der vorzüglichen
Männer.
Der wahre Gebieter sagt: Ich war durch siebenzehn Ge
schlechtsalter ein vorzüglicher Mann und Grosser des Reiches.
Ich habe noch niemals bedrückt das Volk als quälender An
gestellter. Jetzt sind die Kleider und die Mützen der Menschen
prachtvoll. Man liest täglich die Bücher, verlässt sich auf den
Glanz ihres Schriftschmuckes und handelt nach den eigenen Vor
schriften. Auf den älternliebenden Wandel, die verborgenen
Verdienste richtet man nicht im Geringsten die Gedanken.
Bisweilen leben Brüder in Zwietracht und Streit. Bisweilen
richten Stammhaus und Seitengeschlechter sich gegenseitig zu
Grunde. Bisweilen wenden Mann und Gattin die Augen ab.
Bisweilen sind Vater und Sohn einander gehässig. Einige ver
lassen sich auf die Macht des Reichthums und betrügen und
beschimpfen das kleine Volk. Einige verlassen sich in ihrem
Stolze auf Begabung und Fähigkeiten und betrügen und ver
achten die früheren Genossen. Einige sagen täglich her Fo
sammt I.ao und schätzen gering Vater und Mutter. Einige
ehren äusserlich Himmel und Erde, aber im Inneren machen
sie keimen Betrug und Lüge. Einige lehren den Menschen
Streit und Hader und zerstören dadurch das Haus der Men
schen. Einige haben kunstreiche Worte, unbegründete Reden
und helfen den Menschen Fehler begehen. Einige zernichten
die Heirathen der Menschen. Einige reden übel von ihres
Gleichen. Einige verbreiten, was die Menschen recht oder
unrecht thun. Einige vergraben verborgene Gifte. Solche
Sünden und Vergehen können schwer gelöst und gesühnt
werden. Wenn man sich vielleicht im Herzen bekehrt, ent
kommt man einigermassen dem Unheil.
Z 7C Fan-yuen-tschi aus Khiii-tscheu war völlig
arm. Er badete zur Zeit der vollkommenen Hitze in dem
Strome. Er fand auf der Uferbank einen Sack voll Gold und
Silber und las ihn auf. Als er nach Hause kam, sagte er zu
seinem Sohne: Die Menschen des Zeitalters halten die Güter
für das Lebensloos. Höchst wahrscheinlich hat ein Mensch
dieses verloren. Er erhängt sich in einem, Wassergraben und
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
369
verliert auf imrechte Weise Leib und Leben. — Den näch
sten Tag trugen es Vater und Sohn an die Uferbank und war
teten. Sie sahen wirklich ein Weib, das unter schmerzlichen
Ausrufen herbeikam. Yuen-tschi erkundigte sich um die Ur
sache. Sie sprach: Mein Mann befindet sich angeklagt in dem
Gefängnisse und soll sterben. Ich vertauschte die Felder gegen
Silber. Als ich hierher kam, verlor ich es. — Yuen-tschi gab
es ihr sofort zurück. Das Weib theilte es mit ihm, aber er
mochte dieses ebenfalls nicht annehmen. Nachdem dieses ge
schehen, behandelten ihn in dem Bezirke und der Strasse Viele
mit Geringschätzung. Sie sagten zu ihm, er sei nicht fähig
zur Herstellung der Bedingungen des Lebens lind bewahre mit
leeren Händen seine Armuth. Yuen-tschi lachte und antwortete
nicht. Das nächste Jahr stiegen Vater und Sohn zu Stufen
empor. Bis zu dem heutigen Tage sind es zwölf Geschlechts
alter. Es sind Angestellte mit zweitausend Scheffeln.
/$£ ^5 Li-jin-sien aus Lu-tscheu war in Höhe der
Begabung der Erste. Im Einverständnisse mit seinen Brüdern
zernichtete er gern die Heirathen der Menschen und verrieth
die besonderen Geheimnisse der Menschen. Hierauf liess man
von dem Himmel seine Schrifttafel herab.
^5 Li-meu-sien aus Sie-tscheu übertraf an Höhe
der Begabung die Menschen. Er empfing die Bücher des Be
zirkes. Sein Haus war äusserst arm. Er verschloss die Thüre
und las die Bücher. Das benachbarte Haus war sehr reich.
Das Weib dieses Hauses verdross es, dass ihr Mann nicht
lernte. Sie bewunderte im Geheimen den Ruf der Begabung
an Meu-sien. In der Nacht entlief sie zu ihm. Meu-sien schrie
sie an mit den Worten: Männer und Weiber haben eine Tren
nung. Die Vorschriften der Gebräuche werden nicht über
sehen. Die Götter und Geister des Himmels und der Erde
stehen in Reihen, ausgebreitet wie die Bäume des Waldes.
Wie kannst du mich hierdurch beschmutzen? — Das Weib
schämte sich und zog sich zurück. Meu-sien stieg im näch
sten Jahre zu einer Stufe empor. Seine zwei Söhne erstiegen
ebenfalls Stufen.
♦
370
P f i z m a i e r.
Viertes Capitel. Die tägliche Beschäftigung.
Der wahre Gebieter sagt: Die gegenwärtigen Menschen
sind schädlich, böse, verderblich und hinterlistig. Sie erlügen
künstlich das Ungewöhnliche. Es ist schwer, auf die Namen
zu deuten. Ich zeige vorläufig ein oder zwei Dinge zur Er
mahnung und Warnung.
% m i Wang-yung-sien hatte in seinem Hause
Waaren im Werthe von hundert Zehntausenden. Er stellte
zweierlei Nössel auf: grosse und kleine, zweierlei Gewichte,
grosse und kleine. Die verglichenen Masse gingen aus und
ein. Er betrog damit und stürzte in Gruben die Menschen.
Er trieb cs nur bis zum zehnten Jahre. Er gerieth in Un
glück und wurde gestraft. Die Güter des Hauses wurden zer
splittert und zerstreut. Seine Söhne und Enkel gingen betteln.
M 13 % Wen-schao-tsu aus dem Districte Fö-tsing
in Fö-tscheu berieth mit dem Herrn von dem Geschleckte
Tsai die nahe Verwandtschaft. Er hatte bereits nach dem
Namen gefragt, als die Tochter von dom Gesclilechte Tsai an
dem Kopfschwindel erkrankte. Schao-tsu wollte die Sache än
dern. Die Gattin des Mannes von dem Geschlcchte Tsai ward
sehr zornig und sagte: Ich habe ein Kind und soll eben be
wirken, dass es der Ordnung des Himmels gehorcht. Es ist
von selbst schon lange erwachsen. Die Gebräuche stören, die
Billigkeit verletzen, dieses heisst: das Unglück beschleunigen.
— Sie stellte Schao-tsu scharf zur Rede. Dieser heiratete so
fort die Tochter von dem Geschlcchte Tsai und zog nach
Hause. Im nächsten Jahre stieg der Sohn Schao-tsu’s zu einer
Stufe empor und auch der Kopfschwindel der Tochter von dem
Geschlcchte Tsai wurde geheilt. Sie gebar zwei Söhne, die zu
Stufen emporstiegen.
5m TU 'fäF Ho-yuen-yi berieth mit Tschao-
ming-fu wegen der Heirath. Es war bereits bestimmt, als die
Tochter von dem Geschleckte Tschao das Augenlicht verlor.
Das Haus rieth zu einer ruhigen Ansiedlung. Yuen-yi änderte
die nahe Verwandtschaft und heirathete eine Tochter £ ? m
Tan-tse-wen s. Im nächsten Jahre verloren er und sein Sohn
daf Augenlicht. Die Tochter von dem Geschlechte Tschao
vermalte sich mit dem vorzüglichen Manne Sehe-
Heber die. Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
371
wei-sien. Wei-sien stiejar zu einer Stufe in der grossen Provinz
der drei Vorbilder.
# % Sün-tschung-kbo aus Kiai-tscheu entriss zur
verabredeten Zeit den Witwen die Felder und setzte den Umgang
und die Unziemlichkeiten fort. Er wurde in den mittleren Jahren
blind und taub. Seine Söhne und Enkel hatten schiefstehende
Zähne.
Yang-tsin aus Kien-tscheu erweiterte häufig seine
Felder und Gärten. Durch hundert Anschläge brachte er an
sich und verschlang. Sein Gebühren kam nicht ans Licht.
Sein jüngster Sohn # M Tschung-tschung war seiner Zeit
entartet. In drei Jahren war er vollständig zu Grunde ge
richtet. Er umfasste die Register der Bösen.
Die Güter in dem Hause ^ Yuen-sieu’s hatten einen
Werth von vierzig Zehntausenden. Derselbe hatte vier Söhne.
Seine übrigen Kinder stammten von Kobsweibern. Ohne zu
fragen, ob es Knaben oder Mädchen, vergrub er sie alle. Eines
Tages, als er krank war, sah er etliche zehn Kinder kommen.
Dieselben verfolgten und tödteten einen Mörder. Yuen-sieu er
sehrack heftig und erhob sich. Seine beiden Hände und seine
beiden Fiisse waren bereits Rindsklauen. Er wälzte sich in
dem Bette umher und brüllte laut durch drei Tage. Sein
Haupt ward abgeschnitten, und er starb. Das verborgene
Sammelhaus meldete es den Richtern des Hinfmels.
Der Kaiser ward sehr zornig und sprach: Die Wurzel
des Angeborenen wird nicht zerstört. Man erlangt eben den
Leib eines Menschen, und die Götter des Himmels lesen laut
die Capitel. Hat er sich erst von dem Mutterleibe getrennt,
wehrt der unwissende Mensch nicht den Leidenschaften und
Gelüsten. Das Kind, welche Sünden und Fehler hat es be
gangen? Ermisst man nach den richtigen Abzweigungen, so ist
es doppelt so viel als vorsätzliches Tödten. Wer einen Men
schen tödtet, büsst mit dem Leben. Diess ist es, was der
Ordnung der Dinge entspricht. — Die Tafel der Richter des
Himmels gelangte zu dem verborgenen Sammelhause herab.
Es wurde entschieden, dass Ynen-sieu schuldig sei und hin-
ausgestossen werde. Er wurde ergriffen und in der Hölle ein
gekerkert. Seine vier lebenden Söhne wurden in die Schrift-
tafehi mit dem Namen der Strafe eingetragen. Das Vermögen
372
Pfizma ier.
von vierzig Zehntausenden wurde eingezog'en und kam in das
Sammelhaus der Obrigkeiten. In naher Zeit meldeten die vier
Gegenden in ihren Tafeln: Menschen, die diesem ähnlich sind,
gibt es eine Menge. — Eine höchste Bekanntmachung gelangte
nach Fung-tu herab. Sie besagte: Man stelle besonders eine
Schrifttafel auf. Man fasse zusammen und verzeichne die Na
men und Jünglingsnamen solcher Menschen. Man sende aus
den nördlichen Gegenden die fliegenden göttlichen Könige des
Himmels und lasse sie befehligen die göttlichen Streitkräfte.
Sie mögen umherziehen in der Welt. Wenn sie Menschen
finden, welche diesem ähnlich sind, so ist es ihnen erlaubt,
sofort nach Bequemlichkeit zu handeln. Sie sollen nicht warten
auf den Ausgang der Sache, nicht eilen zu den Untersuchungen
und Verhören in den zehn Gefängnissen.
Der wahre Gebieter sagt: Wenn ein Sohn unter den Men
schen nicht älternliebend ist, so gibt es ohnedies Gesetzab
schnitte des Himmels, die ihn bestrafen und tödten. Schuld
lose Kinder tödten, ist so viel als die in der Welt lebenden
Menschen des Volkes tödten. Desswegen stürzte Yuen-sieu mit
dem Leibe in die Hölle. Seine vier Söhne hatten die Strafe
für Vergehungen. Die Güter des Hauses verfielen den Obrig
keiten. Ferner: Wenn einem Menschen viele Kinder zuwider
sind, warum beschränkt er nicht sein Gelüsten? Man wagt es
jetzt, Menschen zu tödten ohne Rücksicht. Diejenigen, die in
dem jetzigen Zeitalter gleich Yuen-sieu sind, was für ein Land
ist es, wo es deren nicht gäbe? Ich hielt Umschau in der Feste
von Fung-tu. Diejenigen, die dieses Verbrechens schuldig
sind, ihre Zahl lässt sich gar nicht berechnen. Ein Jeder soll
untersuchen und zur Besinnung kommen. Man darf nicht auf
sich laden den Zorn des Himmels, so dass man gleich Yuen-
sieu ewig eingekerkert wird in der Hölle. Man ist belastet
mit der Schuld von zehntausend Entführungen, Söhne und
Enkel empfangen die Strafe. Ist dieses nicht bedauerlich?
Glück und Unglück haben kein Thor, der Mensch ruft beides
nur selbst herbei.
Fünftes Capitel. Die Bewahrung des Amtes.
Der wahre Gebieter sagt: Der vorzügliche Mann, der
sich im Amte befindet, hält die Redlichkeit für das Erste.
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
373
Das jetzige Zeitalter ist davon sehr verschieden. Nach oben
handelt es sich um Reichsminister und Reichsgehilfe. Nach unten
handelt es sich um das einzelne Lebensloos. Bestechungen werden
öffentlich geübt. Der öffentliche Weg wird nicht begründet.
Der erhabene Himmel zittert vor Zorn. Wie erst wenn
sie Einfälle machen in des Volkes Fett und Blut, fett machen
ein einziges Haus, beunruhigen das Volk, wehren der Kehle!
Sie machen Anscldäge, um vorzudringen und zu nehmen. Sie
sind nicht öffentlich, nicht gesetzlich, nicht menschlich, nicht
gerecht. Sie entscheiden einen einzigen Sieg vor ihren Augen,
sie knüpfen die Geschäfte des unaufhörlichen Zwingens zum
Geständniss. Zur Zeit, wo die Entführungen zahlreich kommen,
werden Reichthum und Stärke gänzlich zurechtgestellt. Die
Vergeltung ist in der That augenscheinlich. Wenn sie schleunigst
im Herzen bereuen, können sie noch immer der Schuld ent
kommen. Desswegen werden Söhne und jüngere Brüder ein
sichtvoller Obrigkeiten oft nicht entrissen. Häuser auf den
Stufen der Macht werden häufig zerstört und verdorben. Die
Vergeltung des höchsten Himmels ist leuchtend klar. Der
Mensch in seiner Mühsal bemerkt es nur nicht.
& 9» M Sche-tschi-yuen war dem Districte Lan-kö
vorgesetzt. An der Grenze seiner Lebensdauer sollte er sterben.
Im Beginne desselben Frühlings machte der Sohn Tschi-yuen’s
in Gemeinschaft mit einem grossen Hause einen Anschlag.
Man empfing auf geheimem Wege Werthgegenstände. Man
verwickelte unbegründeter Weise Menschen in Schuld und
erlog Raub und Plünderung. Ihre Gewalt war vollkommen,
und die Schuld erstreckte sich auf tausend Häuser. Tschi-yuen
merkte deren Absicht. Er behielt seinen Sohn bei sich und
meldete es an dem Hofe. Er sorgte dafür, dass klar erkannt
werde. Hierauf sprach man die tausend Häuser von der Schuld
frei. Man meldete dieses an dem Graben der Feste. Man ver
längerte Tschi-yuen die Lebensdauer um ein Jahr. Binnen
einem Jahre erhielt er von der Gattin und dem Nebenweibe
zwei Söhne. Dieselben erlangten Ehre und Berühmtheit. Sie
wurden somit in die Register der Guten eingetragen. Welche
Menschen sind so rechtschaffenen Sinnes wie Tschi-yuen?
Hätte er sich selbstisch seinem Sohne zugeneigt und das Volk
geschädigt, hätte er gewiss die Zurechtweisung empfangen.
beschaffen
Jetzt entsendet man Jünglinge! dreihundertmal zehn
tausend. Sie ziehen umher und untersuchen in den vier Ge
genden. Die Guten und die Bösen unter den Obrigkeiten und
Angestellten, der Wandel eines Jeden wird wirklich vergolten.
Sechstes Capitel. Die Bonzen.
Die Bonzen, die aus dem Hause Tretenden, dom Namen
nach trennen sie sich von dem Schmutze der Beschäftigungen,
in dem gegenwärtigen Zeitalter kann man sich vor ihnen ent
setzen. Kaum betreten sie den freien Platz des Weges, so
widersetzen sie sich der Ordnung und ziehen Nutzen viel oder
wenig. Bald vermehren, bald verringern sie die Dinge der
Vorschrift. Einige berauschen sich mit Wein und sättigen sich
an Fleisch. Einige halten Gattinnen und besondere Gefährten.
Sie beschmutzen den hellglänzenden Ruf der Tugend. Sie
verleugnen das den oberen Höchstweisen eigene, das dem
Zeitalter zu Hilfe kommende Herz. Menschen dieser Art, sie
worden sämmtlich entführt und erhalten keine Verzeihung.
^ jjb King-kiö-tschi aus dem Bezirke Hai-men in
Thung-tscheu hatte einen Sohn Namens ^ ^ Fö-seng. Der
selbe trat mit neun Jahren aus dem Hause und erhielt den
Namen Ä jflä T su-hoei. Mit achtundzwanzig Jahren wurde
Er nannte sich unbefugter Weise einen
nicht erleuchtet. Das ihm
angeborene Sündhafte und Böse war noch vieles. Sein Oheim
von dem Geschlechte King erkannte dieses. Derselbe hatte
eine Tochter Namens EP ^tji Lien-tschin, welche achtzehn
Jahre alt war. Dieselbe vermalte sich und kam aus dem Hause.
Sie hatte an ihrem Manne keine Freude mehr und kehrte in
das frühere Haus zurück. Der Bonze Tsu-hoei ging bei dem
Oheim aus und ein. Zu Zeiten traf es sich, dass er bei ihm
übernachtete. Er verkehrte mit Lien-tschin in Unzucht. Weil
in dem ganzen Hause kein Zwischenträger war, bemerkte es
der Oheim anfänglich nicht.
Es waren kaum zwei Monate, als der Vorsteher des
Lcbenslooses heftig zürnte. Er ging hin und meldete es dem
höchsten Grasgrünen. Zufällig meldete der Donnerfürst eine
Sache. Er erhielt den höchsten Befehl, Tsu-hoei zu zermalmen.
J lii*
er ältester Alter.
Meister des Erdaltars, war aber
lieber die Schriften des Kaisers des Wen-tscliang.
375
Der Leichnam wurde zur Schau gestellt in der Strasse des
Verkehrs. Man peinigte seine Seele in der Hölle von Fung-tu.
Fr wurde belastet mit der Schuld von zehntausend Ent
führungen. Man liess ihn Tag und Nacht nicht los. Ferner
umgab mau Lien-tschin dreimal mit dem Feuer des Donners
und verbrannte sie dreimal. Man liess sie nicht sterben. Man
schrieb auf ihren Kücken in grosser Schrift: ln Ausgelassen
heit ähnlich den wunderlichen wilden Thieren. — Sie trachtete
zu leben, aber konnte es nicht. Sie trachtete zu sterben, aber
konnte es nicht. So dauerte es drei Jahre. Dann hiess man
sie in die Hölle treten und mit Schuld belastet sein. Sie
betrat als Gefährtin den Weg der Vögel und wilden Thiere.
Der Mann und die Gattin wussten davon. Weil ihnen das
Thor des Gemaches nicht heilig, verringerte man einem Jeden
die Lebensdauer um ein Jahr. Sie starben an einer bösen
Krankheit. Die Muhme Lien-tschin’s war eine Mittelsperson
und wusste es. Sie empfing heimlich zweihundert Schnüre
Geldes. Ein heftiger Sturm zerfleischte ihr die Augen und
durchschnitt ihr die Nase. Tag und Nacht sagte sie von sich:
Ich nahm Theil an der gemeinsamen Ausgelassenheit. Ich bin
ähnlich einem wunderlichen wilden Thiere. Ich bewirkte, dass
es mit mir so weit kam. Weil der Grund des Kia-lan (Tempels)
versäumt hatte, es zu melden, wurde er ebenfalls festgenommen
und gebunden in dem Sammelhause des Gefängnisses. Er
empfing täglich Peitschenhiebe. Er wurde zurechtgestellt durch
schwere Busse.
Die schwarze Luft hat vierundzwanzig Wege. Ein Weg
unter ihnen ist die Unzucht und Unreinheit der Bonzen. Sie
beschmutzt und vernachlässigt die Sache des höchsten Wahren.
Ein Weg ist es, wenn Menschen des Zeitalters die Knaben
und Mädchen, die sie erzeugt haben, tödten. Die Luft des
Zwingens zum Geständnisse bewegt den Himmel. Die anderen
sind solche, auf denen Verbrechen und böse Thaten sich
häufen.
In den Hauptstädten und grossen Städten, mit denen man
jetzt verkehrt, gibt es Häuser, welche die Gebräuche zernichten.
Einige sind sehr nahe Verwandte, andere sind Genossen des
Stammhauses. Diejenigen, die bereits aus dem Hause getreten,
gehen hin und kommen in die besonderen Häuser. Männer
376
P f i z ln ii i e r.
und Weiber sind untereinander gemengt ohne Scheidewand.
Man weiss nicht, dass der Bonze die Gewohnheiten zerstört,
dass die Gewohnheiten den Weg der Bonzen zerstören.- Es
bringt in Unordnung den höchsten Himmel, die Classen der
Menschen. Man kehrt den Rücken dem Geehrtesten, der
Lehre und den Vorschriften. Himmel und Erde zittern vor
Zorn. Die Sünde kommt in die Schrifttafeln der Bösen. Man
verachtet und tilgt die drei Lehren. Sünden solcher Art, wann
lassen sie sich bereuen? Jetzt entsende ich fliegende grosse
Höchstweise des Himmels. Sie leiten und führen böse Dä
monen vierzigmal zehntausend. Den Donnerfürsten gebe ich
ihnen zum Vorgesetzten. Sie wandeln umher in den vier Ge
genden , an dem Abend des Tages bringen sie Meldung.
Ist Jemand, der in Unordnung bringt Lehre und Vorschrift,
blicken sie empor zu dem Donnerfürsten, der nach Bequem
lichkeit handelt. Der Weg und Fö waren anfänglich ohne
Wortbrüchigkeit gegen die Menschen, aber die Menschen selbst
haben ihnen gegenüber das Wort gebrochen. In dem Jahre
Jin-schin (9) ordneten die Menschen durch das Hersagen der
mustergiltige'n Bücher ihren Wandel. Diejenigen, welche die
Wahrheit des Weges, die Wahrheit Fö’s bestätigten, waren
siebentausend Menschen. Sie waren nämlich von lauterem
Herzen, verringerten ihre Gelüste. Sie ordneten zuerst die
Sache der Menschen, Hessen nicht uubeachtet die einzelnen
Warnungen für die Classen der Menschen. Sie häuften die
Tugenden, setzten fort die Verdienste. Die bösen Dinge wurden
nicht verrichtet. Dann erst erlangten sie dieses. Ich ermahne
jetzt die Menschen des Zeitalters. Sind sie fähig, voranzu
stellen diese sechs Capitel und sie zu üben, so können sie dem
Unglück entkommen und Glück erlangen. Kehren sie sich
weg von dem, was ich sage, so wird ihnen in den Gesetzab
zweigungen des Himmels nicht verziehen.
Der wahre Gebieter sagt: Als die grosse Dunkelheit noch
nicht zertheilt war, legte ich dar den AVeg des Himmels, der
Erde und des Menschen. Seit die grosse Gipfelung entschieden
ward, war ich mit dem grossen Wege zugleich sichtbar. Ich
eröffne nach oben den Weg des AVandels des Himmels. Nach
unten unterstütze ich und lasse hinübersetzen die Zehntausende
der Menschen des Volkes. Desswegen bestätige ich diese
üeber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
377
Wahrheiten. Wenn ich leite den Himmel, die Erde und den
Menschen, welcher Gott wird da nicht herbeigebracht? Welche
Sache wird nicht vorbereitet? Welches lebendige Wesen ist
nicht gegenwärtig? Welches Verbrechen wird nicht bestraft?
Welches Gebet wird nicht erhört? Welche Entführung wird
nicht bestimmt? Ich .bedauere die Menschen des Zeitalters.
Sie verüben Böses ohne Aufhören. Einige lassen es entstehen
im Herzen, Einige sagen es mit Worten, Einige lehren es den
Menschen, Einige thun es selbst. Am Tage ist es ihnen nicht
genug, in der Nacht setzen sie den Tag fort. Jetzt ist die
grosse Entführung schrecklich. In den Herzen entsteht keine
Reue. Man bemerkt nicht, man kennt nicht die rollenden
Wellen, das mühevolle Meer. Lebendig verdirbt man den Leib,
vernichtet das Haus. Nach dem Tode ist man belastet mit
der Schuld von zehntausend Entführungen. Man tritt auf den
Leib der Vögel und wilden Thiere. Umdunkelt, lautlos! Ewig
ist keine bestimmte Zeit für den Austritt. Es ist tief zu be
klagen ! In jedem Hause soll ein Jeder abschreiben dieses Heft
des mustergiltigen Buches, am Abend des Tages es anblicken.
Nach diesen sechs Capiteln ordne er seinen Wandel.
Die zelin Muster des Bananenfeusters.
Eine Warnung vor ausschweifendem Wandel:
Hat man noch nicht gesehen, darf man es nicht ersehnen.
Sieht man eben, darf man nicht ausgelassen sein.
Hat man gesehen, darf man nicht daran denken.
Anmerkung: Für Jungfrauen und Witwen sehr zu beachten.
Eine Warnung vor Schlechtigkeit der Gedanken:
Birg in dem Busen kein unzugängliches Herz.
Sei nicht bewegt von eitlem Nachdenken.
Erwähne nicht, dass der Feind sich nicht versöhnt.
Entwirf keine Pläne, wenn du Vortheil siehst.
Sei nicht missgünstig, wenn du Güter siehst.
Anmerkung: Für Solche, welche äusserlich wohlwollend,
im Herzen voll Hass sind, sehr zu beachten.
P t‘ i 7. m a i e r.
378
Eine Warnung vor dem Schwätzen:
Wirf mit Worten nicht das Verborgene und nicht Oeffeut-
liche vor.
Verötfentliehe nicht die Schwächen der Menschen.
Stelle nicht das Gelb des weiblichen Vogels 1 auf.
Verfertige keine Lieder und Gesäuge.
Setze nicht herab die Höchstweisen und Weisen.
Anmerkung: Für diejenigen, welche die todten Ver
wandten ehren, sehr zu beachten.
Eine Warnung vor hohlen Werken:
Gehe nicht frühzeitig schlafen und stehe nicht spät auf.
Entlasse nicht deinen Ackersmann.
Jage nicht den Gütern nach.
Lerne nicht, was ohne Nutzen ist.
Anmerkung: Für diejenigen, die sich übereilen, sehr zu
beachten.
Eine Warnung vor dem Verwerfen der Schriftzeichen:
Wickle keine Dinge in alte Bücher und verklebe mit
diesen keine Fenster.
Brenne nicht mit unbrauchbaren Schriften Tliee und
wische damit keine Bänke ab.
Beschmiere und betaste nicht die guten Bücher.
Vermesse dich nicht, auf Thore und Wände zu schreiben.
Zei’beisse nicht die Entwürfe von Aufsätzen.
Wirf die Anhängsel der Schriften nicht weg.
Anmerkung. Zwischen Schlamm und im Schmutz sehr zu
beachten.
Eine Aneiferung für die Classen der Menschen:
Vater und Sohn machen zum Vorgesetzten die Güte.
Anmerkung: Man soll sie vorzüglich aufklären über Ge
rechtigkeit.
Gebieter und Diener machen zum Vorgesetzten die Hoch
achtung.
1
m
Thse-houng ,das Gelb des weiblichen Vogels' ist der Name
eines Arzneistoffes (Rauschgelb).
lieber die Schriften den Kaisers des Wen-tschang.
379
Anmerkung: Man soll sie vorzüglich führen vermittelst
des Weges.
Älterer und jüngerer Bruder lieben einander.
Anmerkung: Man soll sie vorzüglich aneifern durch das
Richtige.
Freunde bekunden gegenseitige Treue.
Anmerkung: Man soll sie vorzüglich ermahnen zu Be-
thätigung.
Mann und Weib vertragen sich mit einander.
Anmerkung: Sie sollen vorzüglich einander achten und
einen Unterschied haben.
Ein reiner Herzensgrund:
Man mache sich vertraut mit den Unterweisungen des
Alterthums und mahne dadurch sein Herz.
Man sitze in einem stillen inneren Hause und fasse da
durch zusammen das Herz.
Man sei in Wein und Vergnügen massig und kläre da
durch das Herz.
Man werfe das eigene Begehren zurück und nähre da
durch das Herz.
Anmerkung: Man soll vorzüglich bei der äussersten Ord
nung der Wege zur Besinnung kommen und dadurch das Herz
erleuchten.
Eine Aufstellung der Arten des Meuschen:
Man sorge für die Sache und überwache die Worte.
Der Vorsatz sei erhaben, der Leib niedrig.
Die Galle (Muth oder Zorn) sei gross, das Herz klein.
Man komme zu Hilfe der Gegenwart und folge dem
Alter thum.
Man verwerfe das Unrecht und wende sich zu dem
Richtigen.
Man sehne sich nach den neun Gegenständen des Sehnens
des Weisheitsfreundes.
Man scheue die drei Gegenstände der Scheu des Weis
heitsfreundes.
Anmerkung: Man soll sich vorzüglich nicht um die Worte
der Menschen kümmern.
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. LXXIli. Bd. II. Hit. 25
380
Pf izmaie r.
Eine Beachtung der Verbindungen:
Bei Anfang und Ende sei man nicht sorglos.
Inneres und Aeusseres sei wie ein Einziges. ' ‘i
Vornehmer und niedriger Stand ist nicht zweierlei.
Lehen und Tod sei nicht verschieden.
Verdienste und Fehltritte bemessen einander.
Man verwandle die flache Menschlichkeit und nehme zum
Lehrer Tschung-ni.
Man reisse sich los von Verrath und Wahnsinn und ver
binde sich mit dem Mittleren und Richtigen.
Anmerkung: Man soll vorzüglich sein Selbst begründen
und sich mit den zehntausend Geschlechtsaltern befreunden.
Eine Erweiterung der Lehren und Verwandlungen:
Begegnest du Menschen der höheren Stufen, so sprich
von der Ordnung des angeborenen Wesens.
Begegnest du Menschen der flachen Stufen, so sprich
von Strafe in dem künftigen Leben.
Lasse häufig gute Bücher in Holz schneiden.
Erkläre häufig den Wandel des Guten.
Anmerkung: Man soll vorzüglich das Unrecht angreifen,
das Richtige ehren und dadurch eine Schutzwache für seinen
Weg bilden.
Eine Schrift des Gebieters, des Kaisers des Wen-tscliang,
worin er zur Hochschätzung des mit Schriftzeichen ver
sehenen Papiers ermahnt.
Die vorzüglichen Männer, die meine Schrifttafeln durch
sehen, ehren und schätzen hoch den glänzenden Schmuck auf
dem mit Schriftzeichen versehenen Papier. So ^ fff J
Wang-I-kung aus den Zeiten des Hofes der Sung. Wenn
dessen Vater sah, dass ein mit Schriftzeichen versehenes Papier
verloren wurde und zu Boden gefallen war, las er gewiss aut,
wusch es mit wohlriechendem heissen Wasser und verbrannte
es. Eines Abends träumte er, dass 1^2 ^ Siuen-sching ihm
auf den Rücken klopfte und sagte: Welche Mühe gibst du
dir, indem du mein mit Schriftzeichen versehenes Papier ehrst
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
381
und hochschätzest! Schade, dass du schon alt bist und nichts
ausrichten kannst. An einem anderen Tage werde ich
Tseng-tsan heissen in dein Haus kommen. Du erhältst einen
Geborenen. Derselbe wird augenscheinlich Thor und Thüre
vergrössern. — Nach einiger Zeit wurde ihm wirklich ein
Sohn geboren. Er gab diesem den Namen ^ Tseng. Der
selbe erreichte in der That die erste Stufe. Diese Sache ist
zwar aus ferner Zeit, sie kann aber zum Beweise dienen.
Ich vermesse mich zu staunen, dass die Menschen des
jetzigen Zeitalters vorgeben, Bücher zu kennen, aber nicht
fähig sind, Bücher zu schonen. Man betrachte die Schriften
Schi’s und Lao’s. Es ist nicht der Fall, dass sie allein zehn-
tausendmal dreissig Pfunde schwer sind. Was meine sechs
mustergiltigen Bücher betrifft, so sind sie so leicht wie Gänse
federn. Einige überziehen damit Schirmwände. Einige wickeln
in sie Gegenstände. Einige verkleben mit ihnen die Fenster.
Einige wischen damit Unreinigkeiten ab. Man tritt sogar auf
sie mit den Fusssohlen. Warum sind Schl und Lao schwer,
mein Weg aber leicht? Sollte man wissen, dass die Grund
lage der drei Lehren eine einzige und dass man dieser Gewalt
anthun will und sie zertheilt? Wie erst, da ich zwei Vorsteher
für das Gute und das Böse habe! Dieselben untersuchen und
schreiten zu Handlungen, um abzuschrecken Solche, die das
mit Schriftzeichen versehene Papier nicht ehren. So mühen
sich diese durch ihr ganzes Leben mit Lernen an dem Hühner
fenster (man sagt auch Haus des Schauplatzes). Einige ver
fehlen sich dadurch in den Endlauten und irren sich in den
Schriftzeichen. Ihre Muster werden durch die Vorstände aus
gestrichen. Zuletzt sind sie nicht fähig, ein einziges Mal
aufzuhängen dasjenige, was man mit Namen die Schreibtafel
des Tigers nennt. Ihnen entreissen die Götter den Spiegel,
um zu zeigen, dass wirklich eine Vergeltung dafür, dass man
durch alle Tage das mit Schriftzeichen versehene Papier nicht
ehrt. Die Lernenden nehmen mit Freuden hin diese Vergeltung,
voll Ruhe wissen sie es nicht und bemerken es nicht. Es wird so
arg, dass Söhne und Enkel nicht die Schriftzeichen erkennen. Es
sind ganze Häuser, die darnach handeln und geschädigt werden.
Das Ferne genügt nicht, um es als Warnung aufzustellen.
Ich bespreche es daher vorläufig nach dem Nahen. Ich nehme
25*
382
Pfizmaier.
ft w % Yang-pe-hang aus Lu-tscheu. Derselbe sass auf
der Schrift der mustergültigen Bücher, und sein ganzes Haus
ward geschädigt durch den Aussatz. T » Sien-yü-kuen
aus der Provinz Tschang vertilgte Meng-tse, und sein ganzes
Haus ward vernichtet und ging zu Grunde. Die wirkliche
Vergeltung ist offenbar, sie befindet sich in den Ohren und
vor den Augen der Menschen, sfe Yang-tsiuen-
schen war auch der ältere Bruder Pe-hang’s. Derselbe ver
grub das mit Schriftzeichen versehene Papier, und fünf Ge
schlechtsalter stiegen empor zu Stufen. ft yp dß Li-tse-
thsai bestattete das mit Schriftzeichen versehene Papier, und
er war der einzige Ausgezeichnete in dem Amte. Ist man
einmal fähig, Rücksicht zu nehmen und zu bedauern die
verborgene Vergeltung, wie sollte es da kein am vorherge
henden Tage durch den Gebieter Lao zu den Lebendigen
herniedersteigendes Sternbild geben ?
In der von dem Edelsteinkaiser bewohnten Vorhalle der
grossen Gipfelung reichten der die Schrift ordnende Leib
wächter Yen-kung, der wahre Mensch von dem Ge-
schlechte ^ Kö und Andere dreimal eine Eingabe empor
und besprachen diese Sache. Wenn man fähig ist, das mit
Schriftzeichen versehene Papier hochzuschätzen, so vergrabe
man es in die Erde oder verbrenne es im Feuer. Man möge
es nochmals bekannt machen und herumgehen bei sämmtlicheu
Häusern. Sind es solche, die im Anfang und am Ende nicht
nachlässig sind, so lösche man das Unglück des Himmels und
sende ihnen Segen herab. Wenn sie es wissen und die Schriften
doch nicht ehren, so entreisse man ihnen den Segen und
schicke ihnen Unheil herab.
Der hohe Wille des Edelsteinkaisers gelangte herab. Ich
beauftrage ausschliesslich meine ringsumher wandelnden flie
genden Göttervögel, ich lasse erklären und aufhellen diese
Sache. Ich habe bereits in Tsching-tu mich begeben zu dem
Gerichtshöfe des südwestlichen Weges und von dem Himmel
herniedersteigen lassen die Bekanntmachung durch die Schreib
tafeln. Ferner habe ich in Tse-tschung von dem Himmel
herabsteigen lassen die Göttervögel und bekanntmachen die
Anwendung der Siegel. Ferner bin ich jetzt von dem Himmel
Ueber die Schriften des Kaisers des Wen-tschang.
383
herabgestiegjeü in Nan-ngan und befasste mich überall mit
Warnung und Bekanntmachung. Wenn man es sieht und es
weiss, wenn man es weiss und sich davor hütet, wenn man
Rücksicht nimmt, bedauert und es ehrt und hochschätzt, so ist
dieses sofort die Leiter und die Stufe der Verdienste und des
Namens sämmtlicher Lernenden, das Thor und der Weg des
Begehrens und Höffens des Vaters und der Mutter. Die
Lernenden mögen in Wahrheit sich gegenseitig anregen, und
mir ist es möglich, es nicht ganz auszusprechen. Ich komme
dadurch zu Hilfe den vorzüglichen Männern bei dem Rasen
des Sturmes. Allerdings ist der Weg Fu-tse’s schwerer als der
Tai-schan, aber die Schrift der sechs mustergültigen Bücher
mache man nicht zu einer niedrigen Sache, auf die man mit
Füssen tritt. Dieses ist mein Wunsch und meine Hoffnung.
Wenn die Menschen des Zeitalters diese darlegende und ver
kündende Schrift sehen, sollen sie es gegenseitig melden und
einer den anderen warnen. Bewirken sie, dass alle Menschen
das mit Schriftzeichen versehene Papier ehren und hochschätzen,
so erlangen sie masslosen Segen. Wenn sie es vom Boden
aufheben und verstecken, so verbreitet sich das Unheil zu dem
späteren Zeitalter. Kann man davor nicht Scheu empfinden?
Die höchstweisen Wünsche des Gebieters, des Kaisers
des Wen-tschang lauten: Ich wünsche einmal, dass die Menschen
des Zeitalters den Wandel der Classen hoch achten. Mögen
sie nicht leichtfertig den Gebieter und die Aeltern betrügen.
Ich wünsche einmal, dass die Menschen des Zeitalters sich
zur Warnung nehmen das Entsprechende der Vergeltung.
Mögen sie nicht sagen, der Himmel sei hoch und Niemand
höre es. Ich wünsche einmal, dass die Menschen des Zeitalters
ihre Leidenschaften und Begierden bezähmen. Mögen sie nicht
bei dem Anblicke von Schönheit unordentliche Gedanken hegen.
Ich wünsche einmal, dass die Menschen des Zeitalters Güter
und Vortheil geringschätzen. Mögen sie nicht durch den
Schmutz der Habsucht den guten Namen verderben. Ich
wünsche einmal, dass die Menschen des Zeitalters sich lossagen
von den Wettlaufen. Mögen sie nicht ihres Strebens willen dem
Fahrwasser des Notlnvendigen schmeicheln. Ich wünsche ein
mal, dass die Menschen des Zeitalters Geduld in grossem
Masse haben. Mögen sie nicht eines schiefen Blickes wegen
384
Pfizmaier. Ueber die Schriften des Kaisers des Weu-tschang.
entfesseln Kampf und Streit. Die Namen der Ordnungen sind
bei dem Wen-tschang aufgenommen. Es ist mein Wunsch,
zu waschen des Alltäglichen Wurzel und zu offenbaren des
Höchstweisen Herz.
Zusatz: Hie kostbare Unterweisung des grossen Kaisers der
östlichen Berghohe über das sich herum drehende Leben.
Himmel und Erde sind ohne Selbstsucht, das göttliche
Licht untersucht wie ein Spiegel. Es empfängt kein Opfer,
und es sendet Segen herab. Man verfehlt sich nicht in den
Gebräuchen, und es sendet Unglück herab. Ein Mensch, der
Macht besitzt, darf sie nicht benützen bis zu Ende. Wer
Segen besitzt, darf ihn nicht empfangen bis zu Ende. Wer
arm und elend ist, darf nicht berückt werden bis zu Ende.
Bei diesen drei Dingen dreht sich das Schicksal des Himmels
im Kreise. Es vollendet den Umlauf und fängt von Neuem
an. Wenn man daher einen Tag Gutes thut, ist der Segen
zwar noch nicht gekommen , aber das Unglück hält sich fern.
Wenn man einen Tag Böses thut, ist das Unglück zwar noch
nicht gekommen, aber der Segen hält sich fern. Der Mensch,
der Gutes thut, ist gleich den Pflanzen des Gartens im Früh
ling. Man sieht nicht wie sie wachsen, sie haben aber täglich
eine Zunahme. Der Mensch, der Böses thut, ist gleich dem
Steine, mit dem man die Schwerter schleift. Man sieht nicht
wie er abgenützt wird, er hat aber täglich eine Abnahme.
Wer Menschen schadet, sich selbst Vortheil bringt, soll da
durch sehr gewarnt sein.
Gutes von der Schwere einer Feder, für die Menschen
ist es ein Mittel. Böses von der Schwere einer Feder, man
ermahnt die Menschen, es nicht zu thun. Kleider und Speise
nach Verhältniss, von selbst ist es eine Freude. Das man
berechnet, welches Lebensloos ist es? Die man fragt, welche
Wahrsagung ist es? Die Menschen betrügen, ist Unglück.
Den Menschen Wohlthaten erweisen, ist Glück. Die Netze des
Himmels sind grossartig, das Entsprechende der Vergeltung
ist schnell. Man untersuche und höre auf meine Worte, die
göttlichen Menschen spiegeln sich und unterwerfen sich.
SITZUNGSBERICHTE
DER
KAISERLICHEN AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN
PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE CLASSE.
LXXIII. BAND. III. HEFT.
/
JAHRGANG 1873. — APRIL.
X. SITZUNG VOM 2. APRIL 1873.
Herr IvanKostrencic, Amanuensis der k. k. Hofbibliothek
in Wien, ersucht um eine Subvention für die Drucklegung 1
seines im Manuscript überreichten Werkes: ,Urkundliche Bei
träge zur Geschichte der protestantischen Literatur unter den
Südslaven in den Jahren 1559—1564b
Herr Dr. Thaner, Professor an der Universität in Inns
bruck, ersucht gleichfalls um eine Subvention zur Drucklegung
seines im Manuscript eingesendeten Werkes: .Stroma Rolandi'.
Herr Dr. Jul. Gross mann in Berlin sendet eine Ab
handlung unter dem Titel: ,Der kais. Gesandte Franz von
Lisola im Haag 1672—1673. Lin Beitrag zur österreichischen
Geschichte unter Kaiser Leopold I. Nach den Acten des
Wiener Staatsarchivs' und ersucht um deren Aufnahme in die
Publicationen der historischen Commission.
Die Aufnahme des von Herrn Dr. Ludw. liockingcr
in München cingesendeten Berichtes: ,über Handschriften des
sogenannten Schwabenspiegels'; sowie die Aufnahme der Ab
handlung des Herrn Prof. Ed. Sachau in Wien: ,Zur älte
sten Geschichte und Chronologie von Khwärizm (oder Khiwa)
in die Sitzungsberichte wird genehmigt.
388
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Alpenverein, Deutscher und österreichischer: Zeitschrift. Jahrgang 1872.
Heft 3. München, 1872; 8°.
Archiv (Sesky cili stare pisemne pamätky ceske i morawske.. Dil sesty,
swaz. 28 & 29. W Praze, 1873; 4°.
C en tr al-Com m ission, k. k. statistische: Statistik des Judenthums in den
im Reichsrathe vertretenen Königreichen und Ländern etc. Von Gust.
Ad. Schimmer. Wien, 1873; 4°.
Congres international de statistique ä St. Petersbourg: Programme de la
VIII» Session. St. Petersbourg, 1872; gr. 4 n . — Rapports et resolutions de
la VIII n Session. St. Petersbourg, 1872; kl. 4°.
Gesellschaft der Wissenschaften, k. sächsische, zu Leipzig: Abhandlungen
der philolog.-histor. Classe. VI. Band, Nr. 1—4. Leipzig, 1872; 4°. —
Berichte über die Verhandlungen der philolog.-histor. Classe. XXII. Band
(1870); XXIII. Band (1871). Leipzig, 1871 und 1872; 8°.
— — k. böhmische, in Prag: Sitzungsberichte. 1873. Nr. 1. Prag; 8°.
— k. k. mähr.-schles., zur Beförderung des Ackerbaues, der Natur- und
Landeskunde: Mittheilungen. 1872. LII. Jahrgang. Brünn; 4°. — Notizen-
Blatt der histor.-statist. Seetion (vom 1. Jänner bis 31. December 1872).
Brünn; 4°.
Institut um archaeologicum Bomanum. Ephemeris epigraphica corpois in-
sci-iptionum latinarum supplementnm. MDCC'CLXXIII, Fase. IV. Bomae,
1873; 8o.
Mittheilungen der k. k. ’ Central-Commission zur Erforschung und Er
haltung der Baudenkmale. XVIII. Jahrgang. Jänner—Februar 1873.
Wien; 4°.
Mittheilungen aus J. Perthes’ geographischer Anstalt. 19. Band, 1873,
III. Heft. Gotha; 4".
Nachrichten über Industrie, Handel und Verkehr aus dem statistischen
Departement im k. k. Handels-Ministerium. I. Band, III. Heft. Wien;
1873; 4".
,Revue politique et litteraire“ et ,Revue scientifique de la Erance et de
l’etranger. II e Annee, 2° Serie, Nrs. 38—39. Paris, 1873; 4°.
Socidte litteraire, scientifique et artistique d’Apt: Proces verbaux des
sdances. 2 C Serie. Tome I er . Bulletin des 6 me , 7 mc et 8 mo Anndes. Apt
1873; 8°.
Society, The Asiatic, of Bengal: Journal. Part I, Nr. II. 1872; Part. II,
Nr. III. 1872. Calcutta; 8°. ■— Proceedings. Nr. IX. November, 1872.
Calcutta; 8°. — Bibliotheca Indica. New Series. Nrs. 258—259, 261—262.
Calcutta, 1872; 8°.
Verein für hamburgisehe Geschichte: Hamburgs Bürgerbewaffnung. Von
C. F. Gaedechens. Hamburg, 1872; 4°.
Vivenot, Alfred Ritter von, Quellen zur Geschichte der deutschen Kaiser
politik Oesterreichs während der französischen Revolutionskriege 1790 bis
1801. Wien, 1873; 8».
Berichte über die Untersuchung von Handschriften
des sogenannten Schwabenspiegels
von
Dr. Ludwig Rockinger.
I.
Ais auf Antrag der für die Savigny-Stiftung bei der
kaiserlichen Akademie der Wissenschaften niedergesetzten Com
mission die philosophisch - historische Classe in ihrer Sitzung
vom 6. December und die Gesammtakademie in jener vom
21. December 1871 den Beschluss fasste, dass die vom Cura-
torium der erwähnten Stiftung der kaiserlichen Akademie der
Wissenschaften zur Verfügung gestellte Zinsmasse des Savigny-
Stiftungs-Capitals der abgelaufenen zwei Jahre dazu verwendet
werde, eine auf breitester handschriftlicher Grundlage ruhende
Ausgabe des kaiserlichen Land- und Lehenrechtes — des so
genannten Schwabenspiegels — zu veranlassen und zu unter
stützen, und dass ich mit der Ausführung dieses Unternehmens
betraut werden sollte, wurde hiebei der Wunsch ausgedrückt,
ich möchte Berichte von den zu diesem Zwecke vor
zugsweise durch Deutschland, Oesterreich und die
Schweiz unternommenen Reisen an die kaiserliche Aka
demie der Wissenschaften zur Aufnahme in die Sitzungsberichte
der philosophisch-historischen Classe gelangen lassen.
Was konnte mir gelegener kommen, als in die Lage ver
setzt zu werden, hier allen denjenigen, welche sich für die in
Rede stehende Forschung interessiren, einen grösseren oder
kleineren Theil der Ausbeute jener Reisen in Vorlage zu bringen,
390
Rockinger.
der Ausbeute, welche für mich selbst die unerlässliche Bedin
gung' zur Grundlage und Ausführung der künftigen Ausgabe des
so weit verbreitet gewesenen Rechtsbuches ist, ohne dass sie
doch in dieser den genügenden Platz finden kanu, welche zu
gleich aber auch eine Anzahl von Einzeluntersuchungen ver
anlasst, die nicht allein für mich mit mehr oder weniger Ge
wicht in die Wagschale fallen, sondern auch — ein Punkt,
welchem ich gewiss bei dem Umfange und bei der Wichtigkeit
des Ganzen mich nicht einfach entschlagen darf — als der
sicherste Prüfstein für die schliessliche Gesammtarbeit dienen
müssen, wie sie nicht minder für so und so viele Fragen der
weiteren Forschung auf dem fraglichen Felde Anderen nicht
unwesentliche Behelfe an die Hand zu geben im Stande sind!
Wie entspreche ich nun wohl dem berührten Wunsche
der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften am zweck
dienlichsten? Ich denke, mit Rücksicht auf das, was eben
geäussert worden, in folgender Weise. Schon früher hat man
— abgesehen von den mehr oder minder gelungenen vollstän
digen Abdrücken dieser oder jener Handschriften des Land-
wie Lehenrechtes des sogenannten Schwabenspiegels — ein
zelnen beachtenswert-heil unter ihnen ein besonderes Augenmerk
gewidmet. So beispielsweise Dr. Finsler im Jahre 1826 in
Dr. Falck’s Eranien zum deutschen Rechte II. S. 38—66 der
herrlichen — meiner Muthmassung nach aus dem Kloster Ein
siedeln stammenden — Pergamenthandschrift der juristischen
Bibliothek zu Zürich; Dr. Amann in den Jahren 1836 und 1837
in den beiden Fascikeln seiner Notitia aliquot codicum manu-
scriptorum qui Friburgi servantur ad jurisprudentiam spectan-
tiuin der so bedeutenden Baumwollenpapierhandschrift der
Stadtbibliothek zu Freiburg im Breisgau; Staats- und Reichsrath
v. Maurer in einem in der historischen Classe der Akademie
der Wissenschaften zu München am 6. April 1839 gehaltenen
Vortrage § 13 —21—26 der in den beiden Codices germanici
236 und 513 der Staatsbibliothek zu München erscheinenden
Gestalt unseres Rechtsbuches, welche er dem Vorsprechen
Ruprecht von Freising beilegen zu können wähnte; Professor
Dr. Schmeller im Jahre 1841 in den münehener gelehrten
Anzeigen Num. 130 — 132 Sp. 9—27 den drei wieder auf der
Staatsbibliothek zu München befindlichen Handschriften der
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
391
vom Bruder Oswald von Anhausen an der Brenz imi die Mitte
des vierzehnten Jahrhunderts gefertigten lateinischen Ueber-
setzung des sogenannten Schwabenspiegels; Geheimrath Dr.
Pertz in einem in der philosophisch - historischen Classe der
Akademie der Wissenschaften zu Berlin am 4. Februar 1850
gehaltenen Vorträge den wichtigen aus dem Einbande einer
Ausgabe der Opuscula des Felix Hemmerlin abgelösten, jetzt
sogenannten Berliner Bruchstücken; Prof. Dr. Gengier im Jahre
1854 im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit Sp. 87/88,
114—120, 143/144 der plassenburger Handschrift im Archive
zu Bamberg. So gering auch verhältnissmässig die Zahl von
dergleichen Einzeluntersuchungen gewesen, dennoch war Pro
fessor Dr. Ficker, dem die Förderung des Schwabenspiegelwerkes
so unendlich viel verdankt, mit Hilfe des auf der Universitäts
bibliothek zu Innsbruck an den Tag getretenen Spiegels der deut
schen Leute bei der diesem Forscher eigenen umsichtigen Be
nützung des damals vorliegenden Stoffes am Beginne des Jahres
1857 im Stande, die bis dorthin gangbar gewesene Ansicht
bezüglich der Entwicklung des sogenannten Schwabenspiegels
und des Verhältnisses seiner zum Theile so überaus von einander
abweichenden Gestalten in einer Weise namentlich mit Rück-
sicht auf das der früheren Annahme geradezu entgegenlaufende
Ausgehen von den volleren Formen des Rechtsbuches umzu-
stossen, dass derjenige Gelehrte, welcher mehr als alle anderen
auf diesem Gebiete ein Heiinathsrecht zu beanspruchen hatte,
dass Professor Dr. Homeyer noch in demselben Jahre keinen
Anstand nahm, zu Gunsten der neuen Genealogie seine kurz vor
her in den deutschen Rechtsbüchern des Mittelalters und ihren
Handschriften S. 40—47 veröffentlichte Aufstellung in der
Sitzung der philosophisch-historischen Classe der Akademie der
Wissenschaften zu Berlin am 14. December eben des Jahres
1857 im grossen Ganzen fallen zu lassen. Konnte es bei sol
chem Stande der Sache nicht Jen Anschein haben, als ob,
nachdem insbesondere Ficker selbst den Text des Deutschen
spiegels im Jahre 1859 der Oeffentlichkeit übergeben hatte,
fortan eine rege Betheiligung für die Arbeiten an dem soge
nannten Schwabenspiegel hätte entstehen dürfen? Ein gewisser
Anlauf hiezu ist nicht zu verkennen. Hofrath Dr. Zöpfl machte
im Jahre 1800 in seinen Alterthümern des deutschen Reichs
392
Rockinger.
und Rechts II. S. 406—430 eine schätzbare Mittheilung über
das ,kleinste Kaiserrecht' des Codex palatinus 461 der Universi
tätsbibliothek zu Heidelberg. Gleich im folgenden Jahre auch
unterzog sich Professor Dr. Laband einer ausführlichen Er
örterung über die Uber’sche Handschrift des Appellations
gerichtes zu Breslau in seinen Beiträgen zur Kunde des
■Schwaben Spiegels. Gerade sie veranlassten wieder Ficker zu seiner
Arbeit über die Genealogie der Handschriften unseres Rechts
buches in den Sitzungsberichten der philosophisch-historischen
Classe der kaiserlichen Akademie der Wissenschaften vom
Jänner 1862. Er kennzeichnet darin S. 47 den Stand der
Sache folgendermassen: Glaubte ich bei Veröffentlichung des
Textes des Deutschspiegels (Vorwort IX.) darauf liinweisen zu
sollen, wie dringend nun das Bediirfniss nach einer genügen
deren Herausgabe des Schwabenspiegels geworden sei, so ist es
natürlich, dass diesem Bedürfnisse bei der Kürze der Zeit bis
her noch nicht genügt wurde; aber es ist mir auch nicht
bekannt geworden, dass die Lösung der Aufgabe irgendwo
bestimmter ins Auge gefasst worden wäre: und es ist das er
klärlich; so schön und lohnend die Aufgabe, mit so grossen
Schwierigkeiten ist sie verknüpft, Schwierigkeiten, welchen der
Einzelne selbst unter den günstigsten Verhältnissen kaum ge
wachsen sein dürfte, welche die Lösung vielleicht noch in
weite Ferne stellen, wenn nicht etwa gelehrte Körperschaften
oder sonstige Gönner, welchen die Mittel zur Förderung sol
cher Bestrebungen zu Gebote stehen, sich ihrer annehmen sollten.
Aber auch gerade über den Punkt, um welchen es sich haupt
sächlich bei dem gedeihlichen Fortschreiten der Forschung
über den sogenannten Schwabenspiegel handelte und handelt,
spricht eben wieder Ficker sich am berührten Orte S. 22 deut
lich genug aus. Nichts wird — äussert er sich da — die For
schung auf diesem Gebiete mehr fördern können, als eingehende
Untersuchung einzelner bisher ungenügend bekannter Hand
schriften und Feststellung ihrer Verwandtschaftsverhältnisse zu
anderen Handschriften, in Vergleichung mit dem. im Deutschen
spiegel vorgezeichneten Urtexte; die Gruppen werden sich da
durch schärfer scheiden, es wird sich ergeben, welchen Hand
schriften in den einzelnen Gruppen wegen ihrer grösseren
Annäherung an den Urtext besonderes Ansehen beizulegen
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
393
ist, welche vorzugsweise heranzuzielien sind, um nach ihnen
über die Stellung der ganzen Gruppe zu anderen zu entschei
den. Wir dürfen nun wohl nach dem Hingange von etwas
mehr als einem Jahrzehnte fragen: Was ist in dieser Beziehung-
seither geschehen? Verhehlen wir es uns nicht, so mancher
Schritt zum Ziele ist gemacht worden, allein das Ziel selbst
ist noch keineswegs heute oder morgen schon erreicht. Zu
nächst ist es wieder Laband, welcher im Jahre 1863 eine ein
gehende Erörterung über die so wichtige bereits oben er
wähnte Baumwollenpapierhandschrift der Stadtbibliothek zu Frei
burg im Breisgau in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte III.
S. 125 — 156 veröffentlichte. Ebendaselbst V. S. 303—320 gab
im Jahre 1865 Professor Dr. Mandry von zwei Handschriften
in der Privatbibliothek des Fürsten von Waldburg-Wolfegg-
Waldsee auf Schloss Wolfegg Nachricht. Ueber eine Hand
schrift des geheimen Stadtarchives zu Kaschau verbreitete sich
gleichfalls im Jahre 1865 Professor Dr. Krones im Archive
für österreichiche Geschichte XXXIV. S. 234—252. Insbesondere
über die auf der Staats- wie Universitätsbibliothek und im all
gemeinen Reichsarchive zu München befindlichen, wie über
andere, habe ich selbst seinerzeit von 1866 an, und zwar na
mentlich mit Rücksicht auf die Familiengruppirung, Unter
suchungen angestellt, welche theilweise hauptsächlich in den
Sitzungsberichten der baierischen Akademie der Wissenschaften
eine Veröffentlichung 1 gefunden, in deren historischer Classe
1 Der bequemeren Zurechtfindung halber mögen hier folgende Nachweise
eine Stelle finden:
Ueber eine des dritten Landrechtstheiles ermangelnde Handschrift im
allgemeinen Keichsarchive zu München. Sitzungsberichte der Akademie
der Wissenschaften 1807 I. S. 193—233.
Ueber eine rheingauer Handschrift auf der Hofbibliothek zu Aschaffen
bürg. Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins XXIV. S. 224—249.
Ueber die asbacher Handschrift und ihre nächsten Verwandten auf der
Staatsbibliothek zu München. Sitzungsberichte 1867 I. S. 519—502,
wozu noch die Noten 1 und 2 des Aufsatzes in den Sitzungsberichten
der philosophisch-philologischen und historischen Classe 1871 S. 490
und 497 zu vergleichen.
Ueber drei mit einem Anhänge zum Landrechte vermehrte Handschrif
ten auf der Staatsbibliothek zu München, welchen auch noch der Cod.
bavar. 2148 daselbst anzureihen. Sitzungsberichte 1807 II. S. 297—335.
394
R o c k i n g e r.
ich die betreffenden Vorträge gehalten. Auf diesem Wege haben
sich aus dem bunt durch die verschiedensten Länder zerstreuten
Gewirre der Handschriften so und so viele schon als zu dieser
oder jener Gruppe gehörig erwiesen. So und so viele reihen
sich noch bald da und bald dort ein. So und so viele zeigen
auch noch keine feste verwandtschaftliche Beziehung dahin
oder dorthin. Mit Rücksicht auf diese Anschauung des Ge
genstandes dürfte es sich meines Erachtens empfehlen, wenn
vor der Hand der bisher nicht ohne Erfolg betretene Weg noch
immer nicht verlassen wird, und wenn — was gerade mich
selbst betrifft — ich hier vor allem mich über solche bisher
weniger oder gar nicht bekannte Handschriften und beziehungs
weise Handschriftengruppen verbreite, welche nach irgend einer
der Seiten von Bedeutung sind, welche für die künftige Aus
gabe unseres Rechtsbuches in Betracht kommen, beispielsweise
wegen der grösseren oder geringeren Vollständigkeit des Land-
wie Lehenrechtes, oder wegen des Mangels des dritten nach
Capitel 313 b. der Ausgabe des Freiherrn v. Lassberg begin
nenden Landrechtstheiles, oder wegen sonstiger besonderer
Eigenschaften. Wird hiernach erspart, viel Worte über jene
Handschriften zu verlieren, welche sich in die bereits näher
untersuchten Familien mehr oder weniger genau einfügen, wie
beispielsweise der grössere Theil der schweizerischen, welche
ich im vorigen September und October an Ort und Stelle ein
gesehen, oder die Mehrzahl der fünf Handschriften in der fürst
lich Starhemberg’scheu Bibliothek zu Efferding, deren Be
nützung mir im abgelaufenen November dortselbst gestattet
gewesen, indem dafür seinerzeit die Gesammtgenealogie die
Ueber mehrere dem v. Wurmbrandt’schen Codex verwandte Hand
schriften. Oberbaierisches Archiv für vaterländische Geschichte XXXI.
S. 174—211.
Ueber Handschriften unseres Rechtsbuches, welche die Grundlage des
dem Ruprecht von Freising beigelegten Landrechtes bilden. Sitzungs
berichte der philosophisch-philologischen und historischen Classe 1871
S. 4G3—501.
Ueber die ehemaligen Strassburger Handschriften des sogenannten
Schwabenspiegels. Ebendort S. 502—514.
Ueber ein kurzgefasstes aus demselben und dem kleinen Kaiserrechte
gebildetes Gerichtshandbuch. Sitzungsberichte 18G9 I. S. 191—225.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
395
pa und dort noch erforderlichen Nachweise leicht zu vermitteln
im Stande ist, so gehen bei solcher Behandlung der Sache der
Forschung nach und nach alle jene Mittheilungen zu, welche
für die Lösung dieser und jener Fragen des sogenannten
Schwaben Spiegels aus dem Schatze seiner gegen dritthalb
hundert Handschriften wünschenswerth erscheinen mögen. So
dürfte einmal den nächstliegenden Bedürfnissen gebührende
Rechnung getragen sein, und auf der anderen Seite wird auf
dieser sicheren Grundlage sich was weiter erforderlich ist,
schliesslich ohne zu grosse Schwierigkeiten heraussteilen.
I.
Wenn ich somit meine Berichte an die kaiserliche Aka
demie der Wissenschaften, welche seinerzeit der Veröffent
lichung des Deutschenspiegels ihre Unterstützung zugewendet,
des so wichtigen Vorläufers des sogenannten Schwabenspiegels
und welche nunmehr auch der Förderung dieses Rechtsbuches
selbst sich so günstig erwiesen, mit einer Mittheilung über zwei
Handschriften beginne, deren einer ich bereits an einem an
deren Orte für einen anderen Gegenstand gedacht habe, auf
deren zweite ich bei Gelegenheit der 28. Versammlung deut
scher Philologen und Schulmänner zu Leipzig in der Pfingst-
woclie des vorigen Jahres meine Aufmersamkeit gerichtet habe,
darf ich hiefür mehrere Gründe geltend machen.
Einmal stehen sie — was ich hier, wenn auch etwas vor
greifend, vielleicht doch gleich bemerken darf — in einem
ausserordentlich engen Verhältnisse zu jener Text
gestalt unseres Rechtsbuches, welche für die künf
tige Ausgabe wohl die Grundlage bilden dürfte. In
sofern brauche ich kaum besonders zu bemerken, dass sie in
die Reihe derjenigen Handschriften fallen, in welchen die
vollsten Formen desselben begegnen. Sodann bieten sie
unter allen bisher bekannten Handschriften die weitaus
grösste Theilung des Textes selbst in Artikel oder
Capitel, indem die sonst die Zahl von 400 nicht erreichenden
Abschnitte des Landrechtes in nicht weniger als über 1000 bezie
hungsweise 1100 geschieden sind, die sonst die Zahl von ungefähr
anderthalb Hunderten erreichenden Artikel des Lehenrechtes
hier gegen oder beziehungsweise über 400 Capitel bilden.
Sitznngsber. d. phil.-hist. CI. LXXII1. Bd. III. nett. 26
396
Rockin ger.
Diese Capitel oder Artikel selbst treten uns — bis auf einen
winzigen Bruchtheil in dem einen der beiden Codices — ohne
Ueberschriften entgegen. Abgesehen davon stimmen sie
auch noch darin überein, dass sie das kurzgefasste, aus
dem sogenannten Schwabenspiegel und dem kleinen
Kaiserrechte gebildete Gerichtshandbuch enthalten,
welches ich seinerzeit einmal besprochen habe, und welches
demnach jetzt in zwei Handschriften aufgefunden ist. Endlich
verdient auch vielleicht noch im Vorübergehen berührt zu
werden, dass beide aus Franken stammen. e
II.
Was zunächst ihre äussere Erscheinung anbelangt,
kann ich mich verhältnissmässig kurz fassen.
Die erstere, der Stadtrathsbibliothek zu Leipzig
angehörig, Rep. II. 19, in Dr. Naumann’s Katalog ihrer Hand
schriften unter Num. CCCII., in der Einleitung zu Endemann’s
Ausgabe des kleinen Kaiserrechtes unter Num. 14, in Homeyer’s
Verzeichniss der deutschen Rechtsbücher des Mittelalters und
ihrer Handschriften unter Num. 381 aufgeführt, ist durchaus
von einer Hand auf Papier in Folio im Jahre 1404 einspaltig
geschrieben, während das den Schluss des Codex bildende
Inhaltsverzeichniss in zwei Spalten gefertigt ist, und befindet
sich noch in einem mit rothem Leder und eingepressten Thier-
und anderen Verzierungen überzogenen Holzdeckelbande, der
ursprünglich auf der Vorder- wie Rückseite durch je fünf
Buckeln geschützt, wie auch ehedem mit zwei Lederbändern
zum Schliessen versehen gewesen. Die alte Foliirung weist
180 Blätter auf, wovon nunmehr 1, 12, 13 verloren sind, der
erste Bogen der ersten Lage und das erste Blatt der zweiten
Lage. Mit Fol. 2 beginnt das Gerichtshandbuch, wovon die
Rede gewesen, welches mit Fol. 14 1 scliliesst. Auf Fol. 16
folgt das Landrecht des sogenannten Schwabenspiegels bis Fol.
136. Von Fol. 137 —180 schliesst sich dessen Lehenrecht an,
an dessen Ende roth die Jahrzahl 1404 steht. Den Schluss
der Handschrift bildet ein Register über diese drei Bestand-
theile je mit Angabe der betreffenden Folien auf 9 Blättern,
an dessen Ende sich schwarz findet: Jo. St. mit einer durch-
strichenen Jahrzahl, worunter roth steht: Ab jncarnacione
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
397
Cristj 1404. Früher war diese Handschrift im Besitze des
Ambrosius Meusell von Wertheim, welcher sicli nach der erst
bemerkten Jahrzahl 1404 im Jahre 1629 eingeschrieben, wie
auch auf der letzten Seite des letzten leeren Blattes, und noch
mal im Jahre 1630 auf einem über den Rücken des Buches
herüberlaufenden Pergamentstreifen, welcher der Innenseite des
Hinterdeckels aufgeklebt ist.
Von der andern Handschrift, um welche es sich handelt,
habe ich in dem Vortrage ,über ein kurzgefasstes, aus dem
sogenannten Schwaben Spiegel und dem kleinen Kaiserrechte
gebildetes Gerichtshandbuch' in der Sitzung der historischen
Classe der Akademie der Wissenschaften vom 7. Februar 1869
gesprochen, so dass ich unter Verweisung auf den Abdruck
desselben in den Sitzungsberichten jenes Jahres I. S. 191—225
mich hier desto gedrängter fassen kann. Sie gehört jetzt der
Universitätsbibliothek zu Würzburg, ist mit ,Mch. F.
162' bezeichnet, gleichfalls von einer und derselben Hand auf
Papier in Folio in den Jahren 1480—1482 durchlaufend ge
schrieben, und befindet sich noch in einem mit gelblichem
gepressten Leder überzogenen IJolzdeckelbande, der früher auf
der Vorder- wie Rückseite je fünf Buckel hatte, an drei Ecken
noch solid mit Messing beschlagen ist, und seinerzeit mit
Lederbändern zum Schliessen versehen war. Die Bestandtheile,
welche hier in Betracht kommen, sind auf 152 je oben in der
Mitte der ersten Seite eines Blattes roth bezeichneten Folien
die nachstehenden. Von Fol. 1 — 12 findet sich das Gerichts-
handbuch. Auf Fol. 12 1 beginnt das Landrecht des sogenannten
Schwabenspiegels, welches bis Fol. 118 1 oben l’eicht. Auf
diesem Fol. unten schliesst sich bis Fol. 152 1 das Lehenrecht
desselben an, an dessen Schluss die Bemerkung steht, dass
das Buch am Mittwoch vor Mariä Geburt des Jahres 1480 in
dem sachsen-meiningischen Pfarrdorfe Haina vollendet worden.
Diesen drei Bestandtheilen geht ein Inhalts-, beziehungsweise
Capitelverzeichniss derselben auf vierundzwanzig Blättern vor
an. Die Handschrift selbst wurde im Jahre 1578 von dem
Pfarrer Philipp IJopfstätter zu Dietershausen dem Fulda’schen
Rathe Johann Volpracht geschenkt, nach einer Bemerkung 1
1 M. Georg. Lizel, Vlmensis, contulit hoc egregium MSCtum cum Krafftiano
et aliis X. MSCtis. Argentorati Scribebam d. 29. Jan. 1728.
26*
398
R o c lc i n g e v.
am unteren Rande des alten Fol. 111 im Jahre 1728 zu Strass
burg ausser anderen Handschriften 1 mit der bekannten Krafft-
schen von dem Poeta laureatus Georg Lizel aus Ulm verglichen,
dessen Scherz in dem Appendix zur Vorrede seiner Ausgabe
des Landrechtes der Krafft’sehen Handschrift des sogenannten
Schwabenspiegels S. VII. im zweiten Bande von Schilter’s
Thesaurus anticpiitatum teutonicarum rühmend gedenkt, und
kam später in den Besitz des Zacharias Konrad von Uffenbach
zu Frankfurt am Main, welcher sie dem Hieronymus von der
Lahr mittheilte, der in seiner Ausgabe unseres Rechtsbuches
mehrfach davon Gebrauch gemacht hat.
III.
Gehe ich nunmehr auf den Hauptinhalt über, den soge
nannten Schwabenspiegel, so dürfte es sich vor Allem empfehlen,
eine umfassende Vergleichung der Capitel beider Hand
schriften mit der Ausgabe des Freiherrn von Lassberg
vor Augen zu führen.
L
Vorw. a
— b
— c
— d
I
— e
— f
1
1
2 2
3
1. Das Landreclit.
II
1
L I II
Vorw. g 2 2 3 2 2 3
- h 4 4
( 5» 53
la ] 6 3 6 3
| 7 3 7 3
1b 8 4 S- 1
1 Ich bemerke liier, was sich auf einem noch erhaltenen Falze des frühem
letzten Blattes der werthvollen Pergamenthandschrift des ehemaligen
Mus. Rem. Faesch auf der Universitätsbibliothek zu Basel findet: Egre-
gium hoc mscriptum juxta textum Krafftianum, qui Vlmae impressus est
1728, contuli M. Georgius Lizel, Vlmensis, Poeta Caesar, scrib. Argen-
torati, d. 15. Martij 1728.
2 Diesen Artikel bildet L Vorw. b: Sint vns got — vntter einander leben.
3 5: Wo gerichte ist — sechs wochcn, womit II scliliesst, während I noch
anfügt: etwan über zwne.
6: Do ist etszwo — burggraue zurichten.
7: Der vogt sol — mit vngerechtem gerichte.
4 Dieser Artikel schliesst: vnd stet auch keinerley lanntrecht noch vrteil
(II keynerley siecht landrecht nach lehenrecht vnd kein vrteil) jn disem
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
399
L
I II
9 1 9 1
10-13 2 10—13 2
L
I II
14-21 3 14 -23 4
22 24
2
3
4
pueh, danne als es von römischer phat (II pfat) vnd von konig ICarels
recht herkomen ist vnd als es die bebste vnd die keyser jn (II zu) den
concilien vnd (II vnd zu) den hofen haben gesetzt vnd geboten jn decreten
(II ausz decrete) vnd decretalen (II vnd ausz decretalis). Wanne usz den
tzweyen buchern nympt man alle recht der geistlichen gerichte. vnd
dorumb so heiszt disz buch das launtrecht puch. vviiime alle recht die
hieran geschriben steen die sein über alle launtrecht vnd gewer nach ge
schriben rechten (II gescliribenem recht), an etsvva nach gewonheit.
wanne die stete vnd die fürsten haben manig sunder gewonheit von den
keisern vnd lronigen erworben.
1 Diesen Artikel theile ich am Schlüsse seinem ganzen Wortlaute nach mit.
2 10: Origen.es — die siben herschilt aufgelegt (II auff geleitt).
1 I : Der konig hebt — der sibeude herschilt lehen muge gehaben oder
nicht, den sibendon herschilt hebt (I holt) ein iglich man der nicht eygen
vnd ein elcint ist.
1 2: Lehenrecht gibt man dem nicht der t'rey von dem sibenden her
schilt ist.
13: Vnd ist es das ein herre einem ein lehen leiht der von dem sibenden
herschilt nicht enist vnd sein nicht enliat, der hat als gut recht doran
als der in dem sechsten herschilde stet (II fort), doch gebricht jm vil
rechtes der des herschilds darwet, als das lehenbuch hernach saget.
3 1-1: Nv merckt auch — vnd stossen an ein ander gelidt.
15: Nemen auch zwen — vor den rechten meistern.
16: Die andern sippe — der elenbogei
17: Geswistrit kinde — an die arm (II denn arme) stosszt.
18: Vnd darnach der kind kinde — an (II yn) die haut stosset.
19: Die fünften kiudt — nagelmage.
■20: Welicli kindt (II Wen welch sypscliafft) sich an dem liewbt - bisz
an die sibenden (II siben) sippe.
21: Doch hat der babst erleubt weib zu nemen jn der fünften sippe.
I so mag der babst doch kein recht gesetzen domit er vnnser lanntrecht
oder lehenrecht gebrechen möge. II so erbet doch ein iglicher man
seynen mag bisz an die sibende sipptzal, wen der babist doch kein rech
ten gesetzen mag do mit er vnser landtrecht oder lehenrecht gebre-
chenn muge.
4 Die in I 19 vereinigte fünfte, sechste und siebente Sippe ist hier folgen-
dermassen getrennt:
19: Dye funfftenn — myttel iingers.
20: Dye sechsten — an dem mytteln Uriger.
21: Dye sibende — nagelmage. vnd wer nu syptzal recht vnd endelich
reichen vnd tzelen wil, der sal reyten als hie geschriben stet.
400
E o c k i n g e r.
L
5a
5b
5c
6
7
II
25 1
26'
27 1
28 2
29 2
30 3
31 3
30—33 4 32-35 1
( 34 5 ( 36 5
1 35 5 \ 37 s
L
8
9
10
11a
11b
11c
12
1 23 (II 25): Hat ein man — nicht ausz gestewrt seyn.
24 (II 26): Haben die kindt — wirde vnd (II vnd sein) ere.
25 (II 27): Der pfaff der mag wol jm rechten mit seinen geswistreten
erbteil nemen, wanne er erbet eygen.
2 26 (II 28): Mit welchem — den toten (II toten man) mit siben mannen.
27 (II 29): Hat aber — getzewgen uerleitet.
3 28 (II 30): Dibheit — ich getan hat.
29 (II 31): Jst aber — erben nicht.
4 30 (II 32): Vnd wirdt ein man bürge — gleich schaden haben, woran
II noch knüpft: vnd welcher stirbet vnder den bürgen, des erben sollen
seinen teyl geltenn, an vonn leben.
31 (II 33): Hat ein man leben, do gildet er nicht von dan sein eigen
schulde.
32 (II 34): Vnd hat der — selber gelten.
33 (II 35): Vnd spricht — vmb die schulde.
5 34 (II 36): Vnd spricht — leucken wolt, das man jn des mit den
lewten ubertzeugen möge.
35 (H 37): Vnd ist — so sein mein erben ledig.
6 36 (II 38): Vnd stirbt ein man — vnd den lewten ledig sein, wanne
worumbe der (H wer) nicht erbe (II erbe lesset), der gelt auch nicht.
37 (II 39): Vnd nympt — sy got beide ermant.
7 40 (II 42): Wer borget — ubertzeugen als recht ist.
41 (II 43): Was aber — leibs einteil.
42 (II 44): Vnd freuelt man (II ein man) — man nort e4n hat, wozu
II noch fügt: do von so hat ein richter vnd sein freybot zweyer man
basz der yn icht thutt. wen wo man siben etc.
8 44 (II 46): Wir sollen euch beweisen das jm nyman — wol sagen wol
len (II werden).
45 (II 47): Ein man — swige.
46 (II 48): Ein iglich kint behabt, seius vater recht wol, ob es jm eben
bürtig ist (I ebenbürtig vnd gefelligk ist).
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
401
L
13
14
15
16
17
18
I
47
II
49
48-51 1 50—53 1
( 52 2
\ 53' 2
54
I 55 3
1 56 3
57- 64 4 74—85 4
54-70 2
71
I 72 3
i 73 3
L
19
20
21
22
II
86
f 87 5
88 5
89 fi
90 6
| 91 7
l 92 7
l 93 7
1 48 (II 50): Vnd stirbet — darkomen ist.
49 (II 51): Hat der sune — tot bette wol wem er wil.
50 (II 52): Hat er mit dem gut — sele geben iren teil (II fügt noeb
bei: vnd den lewten gelten, das ist) dauon das es der prüder er erweit
hat. jst aber weder prüder noch swester (II swester da), so noinen es die
nehsten erben.
51 (II 53): Ein iglich mensch ist seins mages guter erbe bisz es gereichen
mag zu der sibenden sippetzal (II syppe).
2 Von den bekannten vierzehn Enterbungsgriinden entsprechen hier 1 — 3
und 8—14 jenen bei L. 4 ist = L 5, 5 = L 6, 6 = L 7, 7 = L 4.
Der Schluss nach 14 bei L steht hier in zwei besonderen Absätzen
(II = 57 und 58) in folgender Fassung gleich nach 3. Mit disen vor-
geschriben (II diesen dreyen) dingen venvirckt sich auch ein vater gein
seinem sune das er bey seinem lebendigen (II lebendem) leib von seinem
gute scheiden müsse, vnd dritt der sune an seines vaters stat, er sol
dem vater sein notdurft geben mit eren als er vor mit eren gelobt hat.
Der Schluss des 14. Enterbungsgrundes selbst lautet als besonderer
Artikel in I = 53, in II = 70: Kommet aber ein (II dye) junclcfrawe über
funfundtzweyntzig jare, so mag sie wol ir ere uerliesen, vnd nicht ir
erbe, das ist dauon das man ir vntter funfundtzweintzig jaren zu elichen
Sachen (in II fehlt: zu elichen Sachen) geholffcn solt haben.
n 55 (II 72): Die Swaben — mynnern volge.
56 (II 73): Swebische — tzugeben.
4 Diese Artikel tbeile ich unten in V ihrem ganzen Wortlaute nach mit.
r ’ 66 (II 87): Und wil ein man — das enhilffet dannoch nicht,
67 (II 88): Mit nicht mag — stet vnd anders nicht.
6 68 (II 89): Leipgedinge — doch mit rechte.
69 (n 90): Und verwircket — nicht genemen.
7 70 (II 91): Jst das ein man — sein eliafftige not.
71 (II 92): Ehaftige not ist (II Was ehafftig nott sey. das ist) Inniger
— jrre. so wirt er seines gutes mit rechte wol an. vnd wer danne ge-
wynnet, der hat es mit rechte.
72 (II 93): Es mag der dem — mit der gewere geschieht.
402
R o c k in g e r.
L
23
24
25a
II
94 1
95 1
96 2
97 2
98 3
99 3
100 3
L
25a
25b
26
27
28
{ 79 3
80—85 4
86-91 5
96
II
101 3
102 3
103—108*
109—115 5
92—95 6 116—120«
121
1 73 (II 94): Gjbt, ein man — ee anwerden danne (II wen) des jren.
74 (II 95): Und wirt ein man — den mannen.
2 75 (II 96): Wirt ein man — komen wern (II waren).
76 (II 97): Welch erbe — getan hat.
3 77: Do ein man — sitzen bisz an den dreißigsten tage. II scheidet diesen
Artikel folgen dermassen. 98: Da ein man — verloren werde das sye an
gehöret. Dann folgt mit einem Ausfälle 99 gleich: vnd zu der erden
bestaten, vnd sie sal — tage.
78 (II 100): Uon dem erbe — herre starbe.
79 (II 101, 102): Man sol — musz der erben gnade manen. II selilicsst
den Art. 101 mit: auff den heyligen behaldenn.
4 80 (II 103): Stirbt auch — das er starbe.
81 (II 104): Dje frawe musz — anderszwo danne jn jr gewalt vynndet
oder weysz. II anderszwo an ir gewalt weisz.
82 (II 105): So sol — seinem leib, das ir aucli volgen vnd werden sol.
II seinem leybe, vnd sal es ir behabenn.
83 (II 106): Dom herrn sol man geben sein swert, ob er ein dinstman
gewesen ist.
84 (II 107): Darnach sol — dartzu nicht gehört.
85 (II 108): Wo die fraw — ires rechten nicht.
5 86 (II 109): Wo zwen — teilu sy gleich.
87 (II 110): Wo zwen — welen.
88 (II 111): So (II Wo) dise sune — das sy zu iren tagen komen.
89 (II 112): Der eldeste bruder sol jn wider geben alles — schulde uer-
lorn sein.
90 (II 113): Der eldest prüder ist — ebenbürtig ist.
91 (II 114 und 115): Nach dem totleibe — die frawen nicht. II schliesst
den Art. 114 mit: erben an vnd nicht dye frawen. 115 beginnt sodann: Wo
der wirtt.
6 92 (II 116 und 117): Munchet — nicht danne vntter zwolff iaren. II schliesst
seinen Art. 116 mit: nye gemunchet wer.
93 (II 118): Begibt — über zwolff jare.
94 (II 119): Leugent sy — hieuor gescliriben stet.
95 (II 120): Wje alt aber — mit den frawen ubertzewgen.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
403
L
29
30
31
32
33
I
| 97'
\ 98 1
\ 99 2
\ 100 2
I 101 3
1 102 3
I 103*
) 104 1
105
II
| 122 1
l 123 1
I 124 2
\ 125 2
( 126 3
) 127 3
128 4
129 1
130
L
34
35
36a
36b
37
38
39
\
I
106 5
107 5
l
I 108 6
l 109«
110 113 7
114—119 s
120
121
I 122«
i 123°
II
( 131 5
132 5
( 133°
I 134"
135—138 7
139—143 8
144
145
I 146«
i 147«
1 97 (II 122): Welch man — nicht geerben.
98 (II 123): Totleibe — genennet sein.
2 99 (II 124): Wo ein mensch — es wider geben.
100 (II 125): Eliaftige not ist (II Das ehafftig not ist. es ist) gefengnusze
— man des ersten uszrichten (II gelten) vnd der sele iren teil geben.
3 101 (II 126): Und ist ein mensch — gut beschaffen (II schaffen vnd
bescheyden) wem es (II er) wil, wozu I noch anfügt: ou hindernusze.
102 (II 127): Und gehört — gelten sol.
1 103 (II 128): Das reich — gesigte den Kornern an.
104 (II 129): Er lche auch — marschalck. disz recht vnd andere gute
recht haben die Swaben verdyuet mit jrer frumkeit vmbe die römischen
konige, die wir hirnaeh sagen werden.
5 106 (II 131): Mail vnd — gesprochen ist.
107 (11 132): Ejn weip — hieuor saget.
6 108 (II 133): Ejn weib mag — geerbet hat.
109 (II 134): „ „ „ — monsclien gescheen.
7 110 (II 135): Leipgedinge die sein vntterscheiden — selb sibende be-
halden, wozu 11 noch setzt: vnd ertzeygen.
111 (II 136): Wir sprechen — als ein lebender.
112 (11 137): Wer auch von loyen leipgeding nymt, der neme auch die
selben gewiszheit, wozu II noch fügt: als oben gesehriben stett.
113 (11 138): Vnd hat ein leye — lanntrichters jnsigel, ob er es hat
(II habe).
8 114 (II 139): Vnd leuckent — sein gut behalden.
115 (II 140): Vnd ist es das ein man — dieweyl er lebt.
116 (II 140): Vnd wil der der gut kauft hat — gejrren mögen.
117 (II 141): Wollen sie jn aber doran jrren — not gejrret.
118 (II 142): Haben aber die leib — wol an werden.
119 (II 143): Wjl er des gutes — vnuersert ligeu lassen.
0 122 (II 146): An des richters — etwo gewonlieit etwo nicht.
123 (II 147): Jrret der lichter — heissen ablegen vnd karung dorumb
tun, welch letzte vier Worte in II fehlen.
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Koeki nger.
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41
II
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148 1
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l 139* ! 163 4
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1 124 (II 149): Do (II wo) ein weip — zu spate komen ist.
125 (II 148): Wer die tzweyerley kint recht vntterteidingen (II kint
rechtfertigen) wil — jm zu gnaden darusz (II dar zu) gesetzt.
126 (II 150): Der meyde kint — die nesten erben.
2 127 (II 151): theile ich am Schlüsse ganz mit.
128 (II 152) desgleichen.
129 (II 153): Die unelich — erben irer freunde erbgut.
3 130 (II 154): Man §ol — es einfaltig (II zwifeltig) gelten.
131 (II 155): Jst es das — benötiget oder nicht.
132 (II 156): AVas der rechte — beget man den rechten straszraup.
133 (II 157): Vnd ist der — doran hencken.
134 (II 158): Ab die die den stroszraup getan haben vnd sy das rewet
— als disz pucli saget.
135 (II 159): Mag man den straszreuber mit getzewgen nicht uberkomen
— vrteil ledig.
136 (II 160): Hat der — tzwifaltig gelten, vnd ist dortzu (in II fehlt:
dortzu) reehtlosze.
1 137 (II 161): Wer vmbe den — hat er dasselbe recht.
138 (II 162): Hat er aber erben — auch jr eigen werden.
139 (H 163): Haben sy — wo er mag (II wo er das gethun magk).
5 140 (II 164): Von guter — eonstituit.
141 (II 165): Das heisset — mynner vergesse.
142 (II 166): AVer die recht — comprobauerit.
6 143 (II 167): Alle die jar — der königlichen gewalt.
144 (II 168): Es versprechen — es hinder in danne ehaftige not das er
nicht furkomen möge, die ehaftige not sol man beweisen als recht ist.
7 145 (II 169): Djnstmannes eigen —- an irem rechten.
146 (II 170): Noch eigener lewt — sein rechte busze geben, wozu II
noch fügt: vnd den lewten do von geltenn.
8 147 (II 171): Ekint mag — nach seinem rechten, wozu II noch setzt:
als wir wol sagen her nach.
148 (II 172): Aber babst noch — hieuor geschriben stet.
174: Wer rechtlosz oder trewlosz — seinen leip.
175: Vnd also — seiner trewe nicht.
176: Claget ein maget — buch sagt hie vor.
177: Disz recht haben auch weysen gegen iren pflegeren, ab sy in vnreeht
thun, wozu I noch fügt: wissentlich.
3 156 (II 182): Wen der jungling tzu virtzig jaren komt (II junglin viert-
zelien jare alt ist oder zu viertzehen jaren kompt), so nympt — sy wol
sundernn.
157 (II 183): So die junckfrawe — so sol er sein alter ertzeugen als
hieuor an dem puch geschriben stet (II ist), vnd die junckfrawe auch als
doselbst, geschriben ist.
4 158 (II 184): Das farnde gut — den sol er wider geben.
159 (II 185): Jrret — sol man jm recht bieten, wozu II noch fügt:
vmbe sein gute.
160 (II 186): Was anders — alles das er anspricht,
161 (II 187) theile ich am Schlüsse ganz mit.
162 (II 188): Doch haben die keiser — wanne gut gewonheit ist gut
recht, also ist auch gut recht gut gewonheit.
5 163 (II 189): Ob ein man — ergangen hat, als hieuor gesagt (II ge
schriben) ist.
164 (II 190): Do (II Wo) ein man on schaden widergebeu.
165 (II 191): Begreift — schub haben.
6 167 (II 193): Hje wollen (II sollen) wir — dare oportet.
168 (II 194): Der kinde — der aller keins gesein die pfleger namen
haben.
169 (II 195): Wer eins pflegers bedarff, den sol man jm also geben: jst
es uff dem lande — getrewen lantman.
170 (II 196): Als der knabe — zu zwolff jaren körnet.
7 171 (II 197): Es enraag — aber schade, der pfleger mag vnd sol es
widersprechen vnd nicht stete haldon.
172 (II 198): Wer es aber das es seines gutes icht verspilt wider
geben, oder das gut das er dem kinde angewonnen hat.
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E o c k i n g e r.
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202—206'
207—210 2
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230 7
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232 8
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1 176 (II 202): Wirt ein pfleger - an sein stat sten.
177 (II 203): Wirt ein pHeger —jn donunbe antwortten.
178 (II 204): Als der knab — ob er (11 er ym) wol hat getan.
179 (II 205): Bjn ig'lieli — es das findet.
180 (II 206): Vrnl hat das leint — vntter viertzehen jaren sein.
2 181 (II 207): Nu sollen — das sy sich können oder mögen bewaren. da-
uon musz es an der pfleger trewen (II trew sein vnd) sten.
182 (II 208): Jn wes gewalt — kindes geuosz sein.
183 (II 209): Jst das kint — danue (II wan) mit iren genossen.
184 (II 210): Jn diesen dingen — mit allen lewten die ires rechten nicht
uerlorn haben, der manslaeht ubertzeugt man sy (II sy auch) wol mit
allen lewten die ir recht nicht uerlorn haben.
3 185 (II 211): Vnd wil — an sein (II seiner) stat.
186 (II 212): Es mag — das sol man vntter steen als hieuor geschriben ist.
4 187 (II 213): Nu sullen — mit rechte antwortten, wozu 11 noch setzt:
als vorgesprochen ist.
188 (II 214) theile ich am Schlüsse mit.
189 (II 215) desgleichen.
190 (II 216, 217, 218) ebenso.
191 (II 219): Vnd tut — was recht ist.
5 195 (II 223): Ob ein weip — herre ist frey. wanne der herre leszt sy frei
vnd ledig.
196 (II 224): Des fragten (II fragen) wir — das es geborn wirt.
6 197 (II 225): Vnd gibt sich — sein auch die kint.
198 (II 226): Wir (II Dye) haben in der schrifft — eigen lewt sein.
199 (II 227): Doch mag — nicht macht gehaben (II nicht gesein).
7 Diese Artikel theile ich am Schlüsse mit.
8 202 (II 231): Der geistlichen (II Dye geistlich) — wol mit rechte haben
eygen lewt.
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Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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I 205'
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( 208 2
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( 235 1
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J 238 2
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224—227 7 253—256 7
[ 228" | 257 s
229" l 258"
230" l 259"
203 (II 232): Mag’ ein dinstman beliaben — mit andern dingen gestifftet.
204 (II 233): Vnd gibt — das reich des ersten gestifftet (IT reich ge-
styfftet von ersten).
1 205 (II 234) theile icli am Schlüsse mit.
206 (II 235): Mittelfreyen sein — wir euch hernach sagen werden.
2 208 (II 237): Ejn kint — kein macht.
209 (II 238): Wir haben in — sibentzehen jar alt, wozu II noch fügt:
vnd nach gewonheit viertzen iare.
210 (II 239): Die junckfrawe sibentzehen (II sechtzehen) iar — danno.ph
9n ir pfleger nicht getun.
3 213 (II 242): Dehein (II Eyn) weib — ir vogt (II vogt vnd formunt) ist.
214 (II 243): Meyde vnd — recht ist.
4 215 (II 244): Meyde vnd wittwen — richter nicht hören.
216 (II 245): Hat ein frawe — vnd sol das stet halden vnd leisten
(II sol sie das leistenn).
217 (II 246): Es sol auch ein frawe — ir tzu noten bedarf!* (II ir bedarf!*
zu nottenn).
218 (II 247): Der frawen vormundt vormundtscliafft — vnd leszt den
andern farn.
5 219 (II 248): Vnd ist es das — richten liintzu jm als recht ist.
220 (II 249): Vnd hat ir ir man morgengabe gegeben — beschirmen.
ü 222 (II 251): Ob ein man — als hernach (II hye vor) geschriben ist.
223 (II 252): Hat ein man — doruber nichtmer.
7 224 (II 253): Vnd körnet — notwer seins leibs.
225 (II 254): Nu fragen — empfahen uff recht.
226 (II 255): Clagt, man — notwere seins leibs getan.
227 (II 256): Hat aber — nymands, so ist er des kampfs ledig. IT ny-
mant der ym kampff butet, so ist er ledig, vnd hat dye nottwer beredt.
8 228 (II 257): Wer nicht enfolget — gewonheit vmbe alle schulde.
229 (II 258): Vmbe alle schulde do der — gewet an, wozu II noch
setzt: mit allem rechten.
230 (II 259): Doch wett — angewynnet.
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Roclcinger.
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t 251 5
\ 252 5
l 253 5
}254-265 6 283—293 6
1 231 (II 260): Vnd spricht — guter gewonheit.
232 (II 261): Wer die wandel — uerkeuffen.
233 (II 262): Man sol — angedingt habe, wozu II noch fügt: so ist es recht.
2 235 (II 264): Es ensol — dem herrn tzu zins gibt.
236 (II 265) Vnd ist es das — das sollen sy clagen des gotzhawsz
lierren do sy es tzu recht clagen sollen.
237 (II 266): Der höchste nutz — ist wider recht (II wider das recht).
3 238 (II 267): Wer tzins — gut geleiliet.
239 (II 268): Vnd gibt — des gerichtes boten.
240 (II 269): Nu sollet — er in fordert, so hat er recht, ich mein mit
getzeugen.
241 (II 270): Mag aber — in der gewere ist.
4 243 (II 272): Ejn iglich — dise hernachgeschriben ding nicht sein (II
nicht en sey). ,
244 (II 273): Das erste, er sol — richter gesein.
245 (II 274): Ejn iglich richter — die massze.
246 (II 275): Ejn iglich richter — entu wanne das recht sey.
247, 248, 249 (II 276, 277, 278) theile ich am Schlüsse mit.
250 (II 279): Dje vierden tugende sol er haben, das ist masze. vnd sol
sie also haben das er weder durch recht — hasset got, vnd misfellet
weisen lewten.
5 251 (II 280): Welqher richter — uerleuset gotes liulde, vnd miszfelt
werntlichem gerichte vnd weisen lewten.
252 (II 281): Vor werntlichem — lewt sein wanne er selber sey.
253 (II 282): Ejn richter — wider got vnd das recht, wozu II noch
setzt: vnd darff sich nicht verheben, es rieht got an ym.
6 254 (II 283): Welcher richter — hulde gentliehen uerlorn hat.
255 (II 284): Vnd ist es das — gestaten zutliun.
256 (II 285): Ejn iglicher richter — nach recht oder nach liebe.
257 (II 286): Was wir von — die sol in der gelten durch des willen
sy do farn.
258 (II 287): Er sol — das es recht sey, wozu II noch fügt: es ist ein
gewonheyt.
259 (II 288): Wer des mannes wort — von andern lewten höret.
260 (II 289) : Versewmet — verlorn hat.
261 (II 290): Vnd ist es das — tzungen verkaufft.
262 (II 291): Vnd spricht — mit tzelien pfunden.
263 (II 292): Er sol — wort spreche vmb sunst, wozu II noch fügt:
vor gericlit.
264 (II 293): Vnd bitet — oder nicht.
2 270 (II 298): Disz ist — noch weibs.
271 (II 299): Es ist — rechten oder seines vnrechten hilffet. es ist
aber viel böser, ob er einem seins vnrechten hilffet.
3 274 (II 302): Ejn uogtey — lewt kure.
27ö (II 303): Wer des — tzu hare.
276 (II 304): Djsz bescheiden — vnd ist auch recht.
277 (II 305): Djse (II Dyeser) ding — sol iglichem richter besuudern
leihen den ban. vnd der pfaffenfursten richter dasselb von dem konige.
278 (II 30G): Alles vngerieht — auch über richten.
279 (II 307): Wer den ban eins — dieweyl er richter ist, wozu II nocli
setzt: wol mit rechte.
4 280 (II 308): Es mag kein — was jm gein dem andern gebricht (II was
ym werre).
281 (II 309): Ejn iglicli —mit einem andern furspreclien.
282 (II 310): Wanne der man — disz ist etwo nicht, etwo nach der
lewt gewonheit.. II das ist etswa nicht gewonheyt, das man frage ab er
an seins furspreclien wort wolle yehen. dies/, ist nach der lute ge-
wonheytt.
283 (II 3111 : Als der man — fnr den richter körnen.
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Rockinger
L I
97a 291
97b 292—295'
98a ‘ 2962
98b
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101
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306—308° 334—337'
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346 8
347 8
348 8
1 292 (II 320): Der richter sol — clage lassen volenden ee danne das man
keinen fursprechen mer gebe.
293 (II 321): Ejn richter sol — wan das were an dem richter ge-
verlichen.
294 (II 322): Welch vrteil — clage do get.
295 (II 323): Ejn iglich — iglich Sache.
2 296 (II 324): Hje wollen — als recht sey.
297 (II 325): Umb blutrnnst — in dem lande vnd in den steten.
3 298 (II 326): Vnd spricht — kemplichen angesprochen.
299 (II 327): Vnd ist es das — weiser leut rat.
300 (II 328): Wo (II Do) man — die richter nach recht richten. II die
richter nach recht mit vrteyl richten.
4 304 (II 332) theile ich am Schlüsse mit.
305 (II 333) ebenso.
5 306 (II 334): Wer vor gericht — man verechtet in nicht.
307 (II 335): Umbe kein clage — an die haut.
308 (II 336 und 337): Man sol nymandt — für gerichte. II sehliesst
Art. 336 mit den Worten: enstet. keyne prophete mere auff. Der folgende
Satz sodann bildet den Art. 337.
0 309 (II 338) theile ich am Schlüsse mit.
310 (II 339) desgleichen.
7 312 (II 340): Wer einen man — nicht ein fronbot.
313 (II 341): Wem der richter — domit uerleuszt nymandt sein recht.
8 315 (II 344): Versewmet — vnd das ein sey abe.
316 (II 345): Vnd spricht — bedarf! vnd haben müsz, welch letzte
drei Worte in II fehlen.
317 (II 346 und 347): Den semperfreien hieuor seit (II hat gesagt).
II sehliesst den Art. 346 mit den Worten: vber zwu wochenn.
318 (II 348): Umbe leben sanctus Siluester.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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L I II
106a 319 349
L
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I II
113a
333 362
( 334° ( 363°
J 335 G I 364«
110 329 358
( 330 5 ( 359 5
111 331 5 j 360 5
l 332 r> I 361 6
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113b
114a
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1 336° l 3C5«
337 366
I 338 7 r 367 7
( 339 7 l 368 7
f 340 8 f 369«
1 341 8 1 370 3
f 342 9 i 371«
l 343« l 372»
| 344"’ f '373 10
l 345 10 i 374'«
1 320 (II 350): Als der man —zu banne tun (II thu).
321 (II 361): Und also sol — in die echte thun.
322 (II 352): Man mag — einen tag.
2 323 (II 353): Jst es das — sol sein gewonlieh busz nemen.
324 (II 354): Und koment — gesellen haben.
3 325 (II 355): Wer sieb — als von ersten, wozu II aus Verseilen auch
noch den Anfang seines Art. 356 gesetzt bat: nach diesem rechten sollenn.
326 (II 356): Nach disem — stete richten die schulde oder dieselben
sache.
4 327 (II 357): Jn den gebunden — den echtem tun.
328 (II 357): Umb welch schulde — rechten vnd auch jm selber.
5 330 (II 359): Und schildet — wirdigkeit.
331 (II 360) tlieile ich unten in V mit.
332 (II 361): Wjl aber — bussen.
0 334 (II 363): Jn den gebunden tagen — den schirmen die gebunden tage
nicht.
335 (II 364): Was man (II man eyde) globet — für globt hat.
336 (II 365): Welch man — tages do were gewest.
7 338 (II 367): Und ist es das ein man vrt.eil — vor dem sy widervvorffen
wurden (II worden).
339 (II 368): Hat sy der nicht — dasselbe tun.
s 340 (II 369): Kein — marggrauen.
341 (II 370) tlieile ich am Schlüsse mit.
9 342 (II 371): Dje erste hant — ander hant leihet.
343 (II 372): Dje dritte — vierde hant richtet.
10 344 (II 373): Welch pfaffen fürste — plut vergissent.
345 (II 374): Dje leihen lierren — mag ers auch nicht uerleyhen seinen
riclitern.
Sitzangsl'er. d. phil.-liist. CI. LXXIII. Bd. III. Ilft.
27
412
L
11 Ca
116b
117a
117b
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( 375 1
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370 7
371 7
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373"
374®
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1 346 (II 376): Wer vor gerielite vmbe vrteil — nicht gewetten warme vor
dem reich.
347 (II 376): Uindet ein man — funden hat.
2 348 (II 377): Fragt ein richter — bescholten liahen.
349: Wir nennen das — hieuor gescliriben ist.
3 383: Jglicher richter — gewonheyt,.
384: Es magk — richter gesein.
4 357 (II 385): Man mag — so mag ir keiner ein furst geheissen noch
gesein (II fürste gesein oder heyssen) mit rechte.
358 (II 386): Also mag — verlorn.
5 361 (II 389): Als der konig — wanne das ist recht.
362 (II 390): Sal der konig ein getzeuge — gleuben.
363 (II 391): Umhe was — gleuben.
364 (II 392): Keynen (II Eynen) lamen — tzu keyszer welen oder kysen
(II zu konig kysenn).
365 (II 393): Wirt aber ein solch man — uberkomen als recht ist.
0 367 (II 395): Als der konig — haben Franncken recht.
II 396: Den man — wye dye sein sollen so man sie erwclt, soliche recht
sal der konig an ym haben.
368 (II 397): Dje Franeken — über einen andern.
7 369 (II 398): Dem konige — fürsten vrteil.
370 (II 399): Uber des koniges — reichs dinstman.
371 (II 400): Jst es das — nehsten erben, wozu II noch setzt: vnd ist
recht.
8 372 (II 401):
373 (II 402):
374 (II 403) :
Uber der fürsten — wanne der kunig (II konig allein).
Und fert — kein recht doran.
Er sol — er sol ir doch von rechte pflegen.
I
Berichte über Handschriften des sog. Sclnvahenspiegels.
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444—451 9
452-458 10
1 376 (II 405): Als der fronbote — frey lantsessen sein.
377 (II 406): Wen man dortzu (II man zu fronepoten) erwelt — sol es
dem richter bussen nach gewonheit, welch beide letzte Worte in II fehlen.
2 Diese Artikel theile ich am Schlüsse ganz mit.
3 390 (II 419): Auch sollen die kurfursten vorhin tzu den heiligen —
meyneidig.
391 (II 420): Disz sol — seinen gnaden.
4 394 (II 423): Es ist — von dem konige.
395 (II 424): theile ich unten in V ganz mit.
5 396 (II 425): Do (II So) man bischoff — recht von dem konige empfahen.
397 (II 426): Der keyser — mit der fannen (II pfannen).
6 Diese Artikel theile ich unten in V ganz mit.
7 410 (II 439): Der konig sprächet — nu gelassen.
411 (II 440): Der konig sol — do mag er sein gespreclr wol mit rechte
hingebieten.
8 413 (II 442): Wer den echter — vnd sey ledig.
414 (II 443): Beheldet — ymmer (II vnmere) sein.
9 415 (II 444): Wo der konig — nicht furbasz.
416 (II 445) theile ich am Schlüsse mit.
417 (II 446, 447, 448) ebenso.
418 (II 449): Disz ist also — ist hieuor geschriben.
419 (II 450): Disz wandel (II gewett) ist — gewonheit.
420 (II 451): Man sol — man alebenst (II itzunden) sey.
10 421 (II 452): Ejn iglich — herren uff gesetzet iraben.
422 (II 453): Es sein semlicli — das wollen wir sagen.
423 (II 454): Jst es — seinen hofe nicht.
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424 (II 455): Alles das recht — die zu recht zu (welches Wort in II
fehlt) hofe gebieten sollen.
425 (II 45G): Ein leyen — auch hofe gehütet.
426 (II 457): Vnd hat ein furst des — seinen hofe suchen.
427 (II 458): Dysz (II Das) selb recht — tun recht als die andern, wo
zu II noch bemerkt: vnd vor geschribenn ist.
1 428 (II 459) : Dje ertzbischoff — sitzen.
429 (II 460): Und haben das (II das selbe) recht — gehören.
2 430 (II 461): Andere bisclioff — decretales sagent.
431 (II 462): Des koniges — gebeutet (II gehütet vnd gesctzet).
432 (II 463): Der (II Dye) concily oder der sent — on guten glauben
ist als vil.
3 435 (II 466): Man sol — tzwu meyln.
436 (II 467): Man sol auch — vrlaub.
437 (II 468): Man sol auch — dasselbe recht.
4 438 (II 469): On des richters (II landtrichters) — das er uff keinen stul
nicht enstehe.
439 (II 470): Man mag auch wol bawen — brustwer vnd on ercker vnd
on alle were.
440 (II 471): Man mag — allerhande were, wozu II noch setzt: vnd an
vestenunge.
441 (II 472): Jn derselben — seinen hoffe vmb machen mit holtze.
442 (II 472): Man (II Jtem man) mag — vrteil tzu proclien ist.
443 (II 473): Jst es aber das man ein liusz tzu brichet — bawen mit
rechte on des richters (II lantriehters) vrlaube.
5 444 (II 474): Wer (II Wen eyner) dem andern sein — antwortten.
445 (II 475): Dye weil man — vngewaltig ist.
0 II 477: Wo schepffin — anders dan sye allein.
447 (II 478): Der richter noch — dortzu tzwinge.
448 (II 479): Urteil sollen — vor allen gericliten behalten.
449 (II 480): Wer gessen — wirt vor got an dein menschen schuldig.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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I
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151c 468 504
152 469—472 !l 505—508"
153 473-476 1,1 509—512 10
154 477 513
1 450 (II 481): Und wirt — musz den schaden haben.
451 (II 48:2): Lehen mag — hirnaeh in dem lehenpuch.
2 Diesen Artikel tlieile ich am Schlüsse vollständig mit.
3 II 485: Hat der man — man sol cs stete halten.
' 454 (II 487): Vnd stirbt — an den gleichen teil, ab sy mit jren ge-
swistreten teilen wollen das ander gut das vorhanden ist.
455 (II 488): Jst ein ansidel — den swestern geben wollen.
456 (II 489 und 490): Lesset der man — liieuor saget (II gesaget hatt).
Die Fassung der beiden Art. II 489 und 490 tlieile ich unten in V mit.
457 (II 491): Vnd ist — suns let der nicht uszgestewrt soy.
458 (II 492): Vnd sein die — ist recht.
459 (II 493): Wjr lesen — lumdet got die saeh, wozu II aus Versehen
noch den Anfang des nächsten Artikels bis zu den Worten ,das sein
erbe werde seinen tochteren, vnd‘ geschrieben hat.
460 (II 494): Got antwort — gesprochen hat.
5 Diese Artikel tlieile ich am Schlüsse mit.
6 498: Besetzet — stete lialdenn.
499: Jst es aber — wollen.
7 465 (II 501): Der konig —• wider ir trewe.
466 (II 502): Er mag aber nicht — muter.
8 Die Fassung dieses Artikels tlieile ich unten in V mit.
s 469 (II 505): Seinem wegefertigen — sein trew nicht.
470 (II 506): Hat ein man — so gewise ist.
471 (II 507): Umb den totslag — bürgen vmbe nemen.
472 (II 508): Disz recht — wider das recht nicht.
10 473 (II 509): Suchet — hernach seit.
474 (II 510): Tut der herre — lehenbuch saget.
475 (II 511): Jst der — in suchet.
476 (II 512): Kumpt er — ir trew nicht.
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160b 497 —505 7 538-54Ö 7
1 Diese Capitel theile ich unten in V mit.
2 481 (II 518): Lest ein lierre — furbasz körnen in (II an) seiner freyheit.
vnd das ist davon das er eign ist gewest.
482 (II 520): Lest ein layenfurste — mittelfrcyen recht.
3 485 (II 523): Djnstleute — erben haben.
486 (II 524): Dje mugen — ir aller recht.
487 (II 525): Der (IIDye) konig — wol behalden.
488 (II 526): Nympt — sy vntter der pfaffeu fürsten gewalt, so kette
er sy genydert. In II fehlt der ganze Schlusssatz von ,wanne gebe* an.
4 489 (II 527): Des babstes — gut vnd gericlit (II gerecht).
490 (II 528 und 529): Der konige — irer lewt geschoffte. In II bildet
der letzte Satz ,Ander herren 1 u. s. w. den Art. 529.
491 (II 530 und 531): Dje stete — vmbe ir selbs gesclieffte. lull bildet
der letzte Satz ,Ander lute 1 u. s. w. den Art. 531.
II 532, wofür sich in I nichts Entsprechendes findet: Man mag — dester
vester.
492 (II 533): Alle richter — gehören.
5 493 (II 534): Wer hantfesten — der lebendige.
494 (II 535): Wo man — doran bencken.
6 495 (II 536): Und swer jch — mein gut wider geben.
496 (II 537): Und globe — hieuor geschriben ist.
7 497 (II 538): Claget einer (II man) einem •— genomen ist.
498 (II 539): Jst man — dester stercker.
499 (II 540): Vnd swer jch — eben cristen sele Verlust vnd sein vntat,
wozu II noch fügt: do mit er ewiglichen verdampt wurde.
500 (II 541): Nv ab in — meisterschafft vnd gewissen sollen in dorumbe
straffen (II meisterschafft sal yn dar vmbe rechtfertigenu).
501 (II 542): Und richtet geistlich gericht nicht über die Wucherer, so
sol es werntlicli gericht tun.
502 (II 543): Wer den Wucherer — den Wucherer.
503 (II 544): Man sol — werde dem richter.
504 (II 545): So (II Wo) die wuchrer — cristenlewt sein.
505 (II 546): Man sol — mit dreyen getzewgen.
Berichte über Handschriften des sog. Scliwahenspiegels.
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1 506 (11 547): Und ist das ein man — sein varndes gut.
507 (II 548): Pje kint — was sy wellen (II was yn gut ist).
508 (1L 549 und 550): Und stirbet auch — vater dar komen ist. In II
bildet der erste Satz ,Unde stirbt — dye kint die erbent auch ir gute,
den Art. 549.
2 509 (II 551): Jst es das — iren teyl vorhin (II vor hin dan).
510 (II 552): Wje man teilet (II Wjl ein man teylen) varndes —
doruber nicht.
511 (II 558): Er mag — liienor geschriben stet (II ist).
512 (II 554): Hat er kein — hieuor geschriben ist.
513 (II 555): Sint die (II da) kint — gerne gibct.
3 557: Liget — sele ir teyl.
558: Es were — erben willen vnd vrlaup.
4 517 (II 560—562): Und liget — dasselbe recht. II theilt folgendermassen :
560: Unde liget — sele iren teil. 561: Hat er — vnd der lierre sol des
marines gute das virteyl der sele gebenn. 562: Gehört er — das selbe recht.
518 (II 563): Wem (II Jtem wem) der sele — mer tzu furen.
5 521 (II 566): Dje mawren — uerlorn.
522 (II 567): Romulus — in der stat sein.
523 (II 568): Got erleubf — ketzer die do sprechen, wir sollen nicht
sweren (II nicht cyde sweren. sye ligen. man sol eyde sweren dye recht
vnd gewere sein, als einen man nott dar zu tzwinget. were vngenotter
dinge eyde sweret do man ir nit bedarff, der pricht gotes gepott).
524 (II 569): Salomon — schände sein.
7 525 (II 570): Man sol — hant abslahen.
526 (II 571): Man mag — tun wil.
6 527 (II 572): Wjrt ein man — richter recht.
528 (II 573): Hat aber — leibes forcht.
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1 530 (II 575): Es ist etwa — liieuor geschriben ist (II liye vor ge-
sprochenn).
531 (II 576): Umb ein — lessot nicht abe, wozu II noch setzt: so sie
furbas getzogen ist.
532 (II 577): Sy mag auch — tzu gut funden ist.
2 534 (II 579): Nu verneinet — vnd (II vnd das) blut runsen nicht gibet.
535 (II 580): Wem hawt — an der schriat ansiahen (II slahen).
536 (II 581): Es ist — rechtlosz vnd erlosz, wozu II noch fügt: vor
allen gerichten.
537 (II 582): Ein burggraf — alle leipnar (II leipnarung).
538 (II 583): Alle morder — radbrechen.
539 (II 584): Wjr heissen die morder — in dorumbe radbrechen.
540 (II 585): Dje den pflugk — radbrechen.
541 (II 586): Wer in muln — virtzig siege.
542 (II 587): Wer in kirchen — noch an dem kirchoff.
543 (II 588): Wer (II Des) tages — radbrechen.
544 (II 589): Verreter — mort vor allen morden, vnd wero iclit. ergers
vnd wirsers (II wyers) todes danne radbrechen, man solde jn den tun die
(II der) sogetan mort begeen (II beget).
545 (II 590): Dje jre botschaft — kampff uberkomen, wozu II noch
fügt: das ist lant vnd geschriben recht.
546 (II 591): Wer einen — alles hienach (II hernach).
3 547 (II 592): Wer diebe — als über genen.
548 (II 593): Welch cristen — man oder weib.
549 (II 594): Welch richter — gewegert hat, wozu II "noch fügt: vnd
vber wen er richtet, an dem wirt er schuldig.
1 551 (II 596): Wem der munt — man dasselbe tun, wozu II noch setzt:
das ist recht,
552 (II 597): Wer den andern — bede hende abslahen.
553 (II 598): Umbe finger oder — tu man dasselbe.
554 (II 599): Man sol — tun sy wol (II wol das) on jne vnd nicht on
den richter (II richter stet).
555 (II 600): Busset — keinem irem freunde (II keynen iren frewnden).
5 557 (II 602): Spricht ein man — richter bussen.
558 (II 603): Hat das leint — teyl nicht verwircken.
559 (II 604): Ejn kint — pfleger tun.
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Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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188 576 621
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191a 578 623
191b 579 624
192a 580—584 7 625-629 7
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565 2 ( 610 2
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568 613
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192c 587 632
193a 588 633
193b 589 634
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( 573 1 ( 618*
l 574 1 I 619 1
193c 590 | Q30«
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194 591 637
1 5(50 (II G05): Der vater — sovil vnd er sein» gutes hat, vud uichtmer
(II gutes ynne hat).
561 (II 606): Der sone — man des ersten gelten, wozu I noch setzt:
vnd uszriehten.
2 565 (II 610): Ejn iglich - er sy nicht jn die Strossen setzen.
566 (II 611): Ejn iglich wagenweck — andern on jrrunge muge ent
weichen (II andern entweichen möge).
567 (II (512): Ejn iglich — die gemein machen.
2 560 (II 614): Jst es das — riehter einen frcuel wetten.
570 (II 615): Ilawet er — jm seinen eydt wol mit ltampff.
' 573 (II 618): Der vater — mit seinem lichter.
574 (II 619): Und hat — die zwcyteil.
6 Vgl. unten Artikel 934.
0 Vgl. unten Artikel 978.
7 580 (II 625): Alle pfenning — das recht ist mit den muntzern.
581 (II 626): Der an seinem — sehup gehaben.
582 (II 627): Felsehet — vmbe tun solle.
583 (II 628): Pfenninge — richten als über einen felscher.
584 (II 629): Nymant — ein felscher.
8 585 (II 630): Nymant — sein wil sein (II ein wille sey).
586 (II 631): Wenne man — stuck wider geben.
0 635: Wo wasser zolle — wider recht.
636: Jtein ein ander buch saget das die fuszgengor keyneu zoll geben
sollen.
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( 646 1
203 647 4
( 648'
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II
675
( 676
l 677
I 678
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( 680
1 681
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( 685
I 686
687
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690
691—Ö95 3
I 696'
697 4
I 698 4
699—702 5
1 596 (II 642): Was ymant erbes angefellet von der sipp, das heisset
erbgut.
597 (II 643): Wer von gerichtes — hinderjm lesset, wozu II nocli fügt:
das ist recht.
2 Die Bestimmung bezüglich der Oelernte fehlt hier.
3 641 (II 691): Wer des naclites — galgen wert (II schuldig).
642 (II 692): Ez sol — des nachtes hat getan.
643 (II 693): Tut er es — die hant abe (II hant her abe).
644 (II 694): Uff welch — holtzes mitniclit danne tragen.
645 (II 695): Eju man nicht von danne furen.
4 646 (II 696): Nymant — mutwillen.
647 (II 697): Uertreibt — gar geben.
648 (II 698): Get aber — tzwifaltig wider geben.
5 649 (II 699): Dem eberswein sol — schaden den das swein getut.
650 (II 700): Wes hunt — vnreyne.
651 (II 701): Lernet es — gener für seinen schaden.
652 (II 702): Jst es ein hirsz — als hieuor gesprochen ist, wozu II noch
fügt: vnd vmbe vyhe das selbe recht das schedlich horner hat.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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L
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\ 716 4
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I 737«
1 655 (II 705): Clagen — der ander uerlorn.
G56 (II 706): Jet es aber verlom leben — beyder herren.
2 II 709: Wer ein gewere — nymant wan gute gericht brechen.
659 (II 710): Djeweil — recht sey.
3 661 (II 712): Wer eins andern — schaden abtun.
662 (II 713): Wer das laut — richter bussen.
663 (II 711): Was ein man — angehort.
4 664 (II 715): Wer sein vihe — mag es binden.
665 (II 716): Und ist es so getan — sein eins liant.
5 666 (II 717): Wer sein — sechs pfenninge ze busse, welch letzte beide
Worte in II fehlen.
667 (II 718): Nymant — wiszmat haben.
668 (II 719): Der ein herre oder sunst ein man — schaff hirten.
669 (II 720): Was der hirte — gelten.
670 (II 721): Nymant — usztreiben.
671 (II 722): Zv sandt Jorgen —• schaden tu.
672 (II 723): Wo man — nicht vihes hat.
673 (II 724): AVas man — ist er ledig.
674 (II 725): Was jm der wolff — schaden.
675 (II 726): Lernet — dafür, vnd nympt er die abursen (II er dye).
676 (II 727): AVer seins — ye nach gewonheit,
6 685 (II 736): Ob ein ldnt — beheldet (II behabt) er als ir himach fin.
det (II als das lehenbuch saget hir nach).
686 (II 737): Hat auch — es sich seins gutes mit gantzem nutz vnttcr-
winden.
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ß o c k i n g e r.
L
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688 1
689 1
I 690 2
\ 691 2
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I ~
\ 693 3
( 694 1
I 695 1
l 696 1
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227b
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I 700 s
I 701 5
702 (i
f 703 7
) 704 7
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I 706 1(1
I 707 10
708
709 11
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[ 753 5
I 754 5
755"
I 756 7
\ 757 7
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759"
( 760"’
\ 761 10
762
763 11
1 687 (II 738 und 739): Des koniges — dem geladen. II trennt folgender-
massen. 738: Des konigs — dem andern möge entweichenn. 739: Der
ledige wage — ye der mynncr geladen wage sol weichen dem wagen der
swerer treyt.
6S8 (II 740): Der reittende — sy für körnen.
689 (II 741): Welch wagen — ee malen.
2 690 (II 742): Welch man -— gewalt es kumpt (II es also kompt).
691 (II 743): Leyhet — gilt es nicht.
3 745: Leyhet ein man dem anderen sein pfert oder vylie vmbe suste, es
hat das selbe recht als das pfertt hat.
693 (II 746): Leyhet ein man — das zu den heiligen behelt (II beheldeth).
4 694 (II 747): Eyns ist — das ist (II heyssen) offenliclie (II offen) dipheit.
695 (II 748): Jst (II Jst es) das ein — auch offen dipheit.
696 (II 749): Und tregt ein man - riehter richten über jn als recht ist.
5 700 (II 753): Befilhet — vmbe alles beuolhen ding.
701 (II 754): Wes sich — es genem gelten (II es geltenn).
0 Dieser Artikel beginnt erst: Und gibe ich u. s. w.
7 703 (II 756): Leyhet ein man dem andern einen silbereih köpf (II köpfte)
— gelten.
704 (II 757): So (II Do) sprechen — des das gut ist.
8 Diesen Artikel theile ich unten in V mit.
0 705 schliesst schon mit den Worten: das der man jm selber stilt. II 759
hat noch: Idye hat ein man — wolt habe genomen vmbe vnscliult.
10 706 (II 760): Djeweyl — abslalien.
707 (II 761): Man (II Jtem man) sol — nemen wil.
11 Den Schluss dieses Artikels bildet die Ueberselirift von L 235: dast ist
vmbe den raub recht der (II der doch) nicht (II nicht rechter) straszraub
(II Strassen rawp) ist.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
766—775' 2
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1 710 (II 764): Hat ein man — busz wil nemen.
711 (II 765): Jst es das ein — liieuor geschriben stet (II ist).
2 712 (II 766): Do got — frid gesetzt.
713: An bern vnd an wolffen pricliet nymant keinen fride. II knüpft
diesen Artikel gleich noch an 766: wan wolffen vnd bern.
714 (II 767): Wer in dem banforst — dem lierrn bussen das (II des er
da) ist drew pfund des lierrn lantpfenninge (II pfunt landt pfenning).
715 (II 768): Wer durch — gekuppelt (II bekoppelt) sein.
716 (II 769): Jagt — vnseliuldig an.
717 (II 770): Uehet aber — wilt gewunt (II gewollt) oder nit.
718 (II 771): Und ist es das — wiltpan ist.
719 (II 772): Ejn iglieh — nicht sein.
720: Jagt ein man — es lebe oder sey todt. II 773, dessen Fassung icli
unten in V mittlieile, macht hier einen Sprung gleich in L 237 hinein.
721: Als ein iglicli — dein nicht.
722: Hat ein man — widergebeu. Der Schlusssatz von ,Hat das federspil
ein maws/i 1 angefangen bildet in II einen besonderen Art. 774.
723 (II 775): Das recht ist von den vögeln die man jn mawszkorbe
setzt (II die do musz yn korben sitzen) — ir nicht wider.
3 724 (II 776): Wo vogel — des ist es (II es dann).
725 (II 777); Get (II Vnd gehet) ein man — verwircken.
4 729 (II 781): Gense — man sol es richten als ander dipheit, wozu II
noch setzt: vnd hye vor gesproehenn ist.
730 (II 782): Wye (II Jtem wie) lang — in welchem zil man sy gofehet.
5 732 (II 784): Wer beheldet einen wuttenden — nynuner zara mag werden.
733 (II 785): Siecht ein man — sol sein eydt dorumbe nemen (II dar
vmbe nicht nemen).
0 736 (II 788): Siecht ein man — er bleibt (II pleybt sein) on wandel.
737 (II 789): Und uerdinget ein man ein kint hin durch lernunge willen
— aller groszt (II meynste) erweyt mit dem kinde (II mit den kinden).
II
( 792'
793 1
f 794 2
\ 795 2
796
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799 3
800 3
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f 802'
l 803'
f 804 5
805 5
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763 7
764 7
765
766 8
767 s
l 768 8
260 769—778
261 779—784
262 785—794
738 (II 790): Und vertreibt — mit vnreeht vertriben hat.
739 (II 791): Lewffet es — uszleren, ab es zu jme wil.
1 740 (II 792): Nv höret — sollen sie (II sie steten) fride haben.
741 (II 793): Wer jn der — har abe. uff dem lcirchoff (II kirchoffe ist)
dasselbe recht, stilt er eins Schillings wert, man sol in beuchen.
2 742 (II 794): Wer an — der freythofe. In II ist der Satz ,Disz recht
hat auch der freythofe 1 ausgefallen.
743 (II 795): Dye mule — hieuor gesprochen ist.
3 752 (II 799): Pfaffen (II Bewoffent) mag — ehaft (II eehafftige) not.
753 (II 800): Pfaffen — mit gute.
754 (II 801): Jst aber einer ein — uff des schaden er danne dar körnen ist.
4 755 (II 802): Jagt man — als vmbe den echter.
756 (II 803): Wil aber — mit recht nemen.
5 757 (II 804): Wirt ein maget — vff die erden slahen, wozu II noch fügt:
vnd nyder prechenn.
758 (II S05): Jst es das man den notzoger (II notzuclitiger) an kumpt
— vmb den echter.
6 Diese Artikel tlieile ich unten in V mit.
7 763 (II 811): Wer dem andern — des gutes nicht.
764 (II 812): Was man — recht sey.
8 766 (II 814): Uerspilt — sein gut sey vnd nicht des knechtes.
767 (II 815): Uerspilt — mit rechte nicht gewynnen.
768 (II 816): Wjrt dem knecht — gehlen musz.
1 Dieser Artikel enthält einen weiteren Judeneid.
2 798 (II 848): Wer bürge — wanne do er lebt.
799 (II 849): Es sol — stirbet für jne.
3 801 (II 851): Bricbet — hals.
802 (II 852): Gjbet ein man — zu jme betten.
4 803 (JI 853): Wer einen — dreistunt achtag-, wozu II noch setzt: vnd
nicht lenger.
804 (II 854): Stirbt — ledig.
5 811 (II 861): Ob zwen — in der gewer hat (II batte).
812 (II 862): Jst es aber sogetan — zugegen sein.
0 814 (II 864): Wer — vater mag.
815 (II 865): Wo eins vater — so erben sy es auch mit recht (II erben
es auch der muter mage).
816 (II 866): Wem aber — mit rechte erben.
7 820 (II 870): Ejn verecbter — clagen uff die bürgen.
821 (II 871): Der richter — straszrawbe.
822 (II 872): Und sprichet — des ersten dorein tet.
823 (II 873): Jst ein man in — des sol man gleuben.
8 824 (II 874): Freye lewt — über sy finden.
825 (II 875): Aber die — genosz ist.
äiSsS ’ •" W
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Koclf inger.
L
I II
( 830 1 j 880 1
I 831‘ t 881 1
f 832 2 c 882 2
I 833 2 l 883 2
834 884
f 835 3 ( 885 3
I 836 3 \ 886 3
L
I II
286a
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283
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292
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294
295
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\ 851° l 902 6
| 852 7 ( 903 7
l 853 7 l 904 7
( 854 7 l 905 7
( 855 8 f 906 8
l 856 s i 907 3
| 843 3 | 894 3
\ 844 3 l 895 5
845 896
846 897
847 898
848 899
849 900
I 850 G f 901°
286b
287
288a
288b
289
839 890
840 891
841 892
842 3 893 3
296
297
1 830 (II 880): Wer den — hant abe.
831 (II 881): Echter mag ein iglicli man — körnen.
2 832 (II 882): Stirbt — sol aueli der stete halden der nach jm richter
wirt.
833 (II 883): Wo man — do stet der richter für zwen man, vnd der
fronbote (II fronbote auch) für zwen.
3 835 (II 885): Der römisch — leibe vnd gut, vmbe was schulde das ist
(II gute, als du hernach findest).
836 (II 886): Jn welcher — loset sy mit zehen pfunden.
4 837 (II 887): Wer zu — das ein iglich gericlit weyser lewt bedarff vnd
der nicht emperen mag.
838 (II 888 und 889): Die schopffen — verwerfen. II bildet aus jedem
dieser beiden Sätze einen besonderen Artikel.
5 842 (II 893): Was (II Jtem wes) ein man — antwortten.
843 (II 894): Stirbt — mit rechte.
844 (II 895): Dje erben — gelten, wozu in I noch steht: vnd uszrichten.
0 850 (II 901): Wer sich — hieuor gesehriben ist.
851 (II 902): Wer eins — sein recht.
7 852 (II 903): Ejn iglich — seinem rechten vnd nicht nach des clagers
recht.
853 (II 904): Spricht man — ansprichet.
854 (II 905): An weme — gewett.
9 855 (II 906): Spricht man — gericlit liget.
• 856 (II 907): Der konig — des landes gewonheit vnd recht (II landes
recht dar ynne er ist).
857 (II 908): Wer mit — zihen.
858 (II 909): Uindet — ledig.
8G6 (II 917): Und ist — hieuor geschriben ist.
807 (II 918): Man sol — jn in acht tagen geen lassen.
868 (II 919): Nymant mag — vor geschriben ist.
3 869 (II 920): Wenn man — richter von genes gut geben.
870 (II 921): Sein (II Unde sein) sie — der gast.
871 (II 922): Wen der — gewonlieit.
4 873 (II 924): Wer — besten geben.
874 (II 925) tlieilo ich unten in V mit.
875 (II 926): Was ein mansch — danne das man (II man etwas) uszneme
mit gedinge (II gedinge mit Worten), wanne gedinge bricht lantreelit.
5 876 (II 927): Jglicbs — leisten, ab er wil (II wil oder nit). das stet
an jme.
877 (II 928): Lesset — als liieuor geschriben stet von den eyden.
878 (II 929): Was der man — jme zwifcltig gelten.
0 897 (II 945): Wes sich — richter bussen.
898 (II 946) tlieilo ich unten in V mit.
1 909 (II 957): Der maget. — beredung richten.
II 958: Jtem ein — gelegen were.
8 911 (II 960): Wo (II Da) man — das gericht ist also.
912 (II 961 und 962): Man sol den lcetzer — biscliof. vnd wer über den
werntliclien richter ein herre ist, der sol über jn richten als man über
Sitzungsber. der phil.-hist. 01. LXXfll. Bd. III. Hit. 28
■
.
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Rocltingor.
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I II
f 920 1 ( 968 1
L
I II
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I 921 1 \ 969 1
928 3
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314H
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f 923 2 | 971 2
l 924 2 l 972 2
925 973
926 974
922 970
317
930 3 976 3
931 :!
932 3
933 3 977 3
974
927 3 975 3
(189)
934 1 978 5
935° 979°
936« 980°
937° 981 3
den ketzer richten solt (II als vber den ketzer als hie vor auch geschriben
ist). Dieser letzte Satz bildet in II den Art. 962.
913 (II 963): Welch leyenfurste — allen seinen eren.
914 (II 963): Disz sol — mit jren gerichten. das gericht ist also.
915 (II 963): Man sol — lebendigen leibe.
916 (II 963): Wir lesen — reich zu richter.
917 (II 964): Wer einen rüget — vacat.
918 (II 965): Ejn babst — richten wil on blut uergiessen.
919 (II 966): Nach geistlichem rechte wer — empfahen noch hören.
1 920 (II 968): Sol ein man gelten — nicht recht.
921 (II 969): Gibt ein — er den geltem geben, wozu II noch fügt: vnd
sie sollen mit rechte dar nach clagen.
2 923 (II 971): Vnd gebewtet — gut dorjnne haben in (II an) dem lande.
924 (II 972): Gebewtet ein man — ehaftige not. die sol er vor dem
richter beweisen als recht ist (II recht sey, vnd als hie vor geschriben ist).
3 927 (II 975): Wer über — recht uerlorn.
928 (II 976): Ujndet man — vermisset sich aber gener getzewgen lier-
wider (welch letztes Wort in II fehlt) der musz die drey getzewgen mit
siben uerlegen, wozu 1 noch setzt: als recht ist.
' 929 (II 976): Spricht aber — gut on schaden wider geben.
930 (II 976): Spricht aber — do er es verlosz.
931 (II 976): Und ist es das er es uerlewset für dieweil — wanne wer
den tut, den sol man hencken (II thut, da sal man die lute vmbe
henckenn).
932 (II 976): Und ist es das — nach seinen gnaden.
933 (II 977): Was man den — vmbe drittel (II vmbe das dritteyl.)
4 Vgl. oben Artikel 577.
5 Vgl. oben den ersten Theil des Artikels 622.
6 Diesen Artikel tlieile ich unten in V mit.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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1004 *
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1006 5
1007
1008 c
1009®
1010“
1 940 (II 984): Un<l ist es das — mages gut.
941 (II 985): Was der kinde — missetat.
2 945 (II 989): Wil ein — kein sein mag.
946 (II 990): Jst es das — durch got wol.
947 (II 991): Djs sol er — stete sein.
3 948 (II 992): Welch freyer — nymants gebrechen.
949 (II 993): Stirbt der der dise — es doch stete.
950 (II 994): Dje das gotshusz — wanne man ir wol entgelden mag.
951 (II 995): Jst aber — das gut behalden, wozu 11 noch setzt: mit
rechte.
1 955 (II 999): Und pfendet — schaden tut.
956 (II 999): Wer das vilie — in der stat.
5 958 (II 1001): Als ein mensch — kirehen eren.
959 (II 1002): Und ist er — also liep sey.
960 (II 1003): Kommet — tut domit wider nymant.
961 (II 1004): Nympt in ymant — gotes vnd (II gotes an) der kirclien
schonen solle.
962 (II 1005): Und ist es das das mensch — usz der ldrchen zuge.
963 (II 1006): Die geweyliten — als die kirclien haben.
0 966 (II 1008): Wer iclit stilt — dryualtig gelten.
966 (II 1009): Was man in der — wert ist.
967 (II 1010): Djse recht — recht vil die ymmer (II ymmermere) von dem
capitel das das (II das das da) vor seit von der ketzerey (II von den
ketzern) bisz liirnaeh an das lehenbuch sein geschriben.
28*
480
R o c lc i n g e r.
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II
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1038 7
1039 7
1040
1041
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1 Hier ist L 339 in den Art. 971 gezogen, während Art. 972 aus L 338
und 340 besteht.
2 974 (II 1020): Und ist es das — nicht bussen.
975 (II 1021): Wje sol er — lewt scheiden.
3 976 (II 1022): Jst das — als liieuor geschriben ist.
977 (II 1023): Djse recht — feder spil.
4 982 (II 1028): Wer einen sperber — ein Schilling, der pfabe hat das
recht. Diese Bestimmung bezüglich des Pfauen fasst II als besonderen
Art. 1029: Der einen plmben stilt oder siecht, der sal genem als einen
guten gebenn, vnd einen Schillinge dar zu.
983 (II 1030):'Wer einen liunt (II vogelhunt oder einen anderen liunt)
— geben wen ers (II geben als er sein) jnne wirt.
5 984 (II 1031): Und vindet ymant — sein eigen ist.
985 (II 1032): Und (II Jtem) vindet es — das nemo er (II das sol er
nennen mit rechte).
0 988 (II 1035): Ujndet — das es sein sey.
989 (II 1035): Und ist es ein — jm gern gibt.
990 (II 1036): Kommet ymant darnach in — an jn ob sie es tun wollen.
7 991 (II 1037): Gemachte pflegor sein die — einen geben.
992 (II 1038): Man sol — tod feint was.
993 (II 1039): Dje weil - iren tod.
1 Diese beiden Artikel tlieile ich unten in V mit.
2 1002 (II 1048): Und ist es das — sie miteinander icht sunden (II sunde
begehenn).
1003 (II 1049): Wem (II Dem) gefangne — entronnen ist.
3 100G (II 1052): Wil ein vater — wol mit rechte.
1007 (II 1053): Sint aber — den kinden nicht.
1008 (II 1054): Als der — gewaltig machen.
4 1013 (II 1059): Der heilige vnd selige keyser Karle spricht hie also: jeh
gebewt allen — zu zweyvndzweintzig jaren.
1014 (II 1060): Als ein herre — busse schuldig.
1015 (II 10G1): Darnach — lantteidinge dreistunt furgebieten.
1016 (II 1062): Jst er beclagt — landes herkomen.
1017 (II 1063): Man sol — willen.
5 1018 (II 1064): Uerdint ein man gein vns busse — gar nemen.
1019 (II 1065): Hat sie — nach gnaden, wozu I noch den Anfang von
L 360 zieht: disz sein die gebot des heiligen keiser Karin.
6 1021 (II 1.067): Ez uerbeutet — hieuor geseliriben ist.
1022 (II 1068): Als ein man zu — bennisch selber jnnen ist.
7 1023 (II 1069): Wer sich — zustunde (II zuliant) on schaden wider geben
(II wider lassen vnd gebenn).
1024 (II 1070): Hat er es — vunserm willen vnd (vnd nach vnnserm)
gewalt.
8 1025 (II 1071): Wir gebieten — richter als vil.
1026 (II 1072): Eju iglich — pfingsten haben dasselbe recht.
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L
363b
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Roekinger.
L
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1 1033 5
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1041 7
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I 1044 8
X 1045 8
1 1028 (II 1074): Wjr gebieten — vnd dieselben dannoch nach gnaden.
1029 (II 1075): Wenne — got vnd das recht
2 1061 (II 1106): D.js ist von pfenningen, wie man pfenninge (II man die)
slahen sol das sie genge vnd gebe sein vnd nicht falsch, disz ist ein
ander rede von muntzen wanne die vordere, doch sein sie bede gerecht.
1062 (II 1107): Welch muntzer — hant abslahen.
1063 (II 1108): Wir heissen — sein sie falsch.
3 1064 (II 1109): Welcher herre — abslahen.
1065 (II 1110): Man sol — sie schuldig.
1066 (II 1111): Welch muntzer — hant abe.
4 1068 (II 1113): Welch gemelde — über ein felscher.
1069 (II 1114): Was einer — man virtzig siege slahen, wozu I noch
fügt: das ist sein rechte busz.
5 1030 (II 1076): Der heilige — nemen wir abc.
1031 (II 1077): Wer über — wider nach vnnszer gnade (II nach vnsern
gnaden) gewynnen.
1032 (II 1078): Wjr uerbieten — hulde uerlorn.
1033 (II 1079): Wjr sprechen — an dem reich.
6 1037 (II 1083): Wer sich wider — dem heiser ist.
1038 (II 1084): Und ist einer mit dem heiser in der herfart (II Jst eyner
yn einer herfart mit dem heyser), vnd fluhet — sie solde (II sie sol leben
dig) begraben, so setzen einteil bucher: uerbrennen.
1 Diesen Artihel theile ich unten in V mit.
8 1044: Welch Schreiber — hant abslahen.
1045: Und ist er — loyen: man sol im die hant abslahen.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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L
370
370II
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II. Das Lehenrecht.
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411
5 11
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1 Diese Artikel theile ich am Schlüsse mit.
2 1071 (II 1110): Wer einen toten — den oren abe scheren.
1072 (II 1117 nnd 1118): Tut es — rügen wollen. II schliesst den
Art. 1117 mit: als vor geschriben stet. Art. 1118 beginnt sodann: Jtem
dem sal man u. s. w.
3 Diese Artikel theile ich am Schlüsse mit.
4 Auch dieser Artikel findet unten seinen Abdruck.
5 Diese Artikel theile ich gleichfalls unten in V mit.
6 Ebenso.
7 Desgleichen.
8 1078 (II 1124): Wer seinen — ein werntlicher ricliter richten.
1079 (II 1125): Vor allen — verwirckt hat.
3 1059 (II 1104): Hat ein man — zu der ee genemen oder genomen haben.
1060 (II 1105): Wil man — gerichte mit recht, das ist geschriben recht.
13 1: Hje heben sich die lehen an, vnd wer — sol nicht lehen recht haben.
2: Dje erste werlt — ende neme.
11 3: Pfaffen vnd — hirnach bescheiden.
4: Nach Cristj — got wil.
5: Leyhet aber — an seyne kint.
6: Umbe alles — vor jren herren.
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1 9: Wer zu dem — mag des nicht geswern.
10: Und wirf, — wol werden (II wesen) mag.
2 11: Empfehet ein pfaffe — ritters art sein.
12: Ejn iglich — herren willen.
3 14: Hat ein frawe — der pfaff.
15: Und empfehet — pfaffen mit seinen prudern.
4 17: Und wil — von jm zu lehen hat.
18: Der herre — an disem lehenpuch (buche) geschriben stet.
5 19: Djeweyl ein man — verwerffen (II verkewtfen).
20: Der herre — von j me zu lehen haben solt.
21: Es sol —• ist sein genug.
6 22: Wer lehen — wol die herfart.
23: Alle die — zu Beheim (II Behemen).
24: Ejn iglich — vmbe was es ist.
7 25: Wen der konig von tewtsclien landen (II von den Tewtschen) erwelt
wirt, vnd er wil gein Korne — den ers gebeutet.
26: Hat ein man — das tut er wol.
27: Dje herfart — hotzwingen.
8 28: Wenn der herre — wetthaft und busfellig (welche beiden letzten
Worte in II fehlen) worden.
29: Der herre — wir feyertage.
9 30: Wer sein ros — jm vmbe lehen recht gebewt.
31 : Jst der herre — herren alles rechten wider sein.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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1 37: Wen zwen man ein — zweyen seinen mannen.
38: Leihet ein herre — wider das recht nicht.
39: Laugent — ist recht.
2 41: Uersmahet einem (II ein) man ein gut — manne ledig, wozu II noch
fügt: vnd fordert er des nicht gener iare vnd tag.
42: Und vordert (II Fordert) der man des — lehen leihen.
3 53: Hat ein herre seines — wert was.
54: Leihet aber — ledig wirt.
4 56: Des uerbannen — gezewge gesein.
57: Claget er — antwortten.
58: Uordert er — nicht leihet.
59: Lawgent er — überwunden.
5 60: Uersetzet der man gut — das ist recht.
61: Nymant mag — eraft habe.
62: Uon dem tage — yne zu recht leihen.
6 66: Do man alle iar — gut uerlorn.
67: Jn welcher — ansprache.
68: Ejn gut — gewer haben.
69: Wer die gewer — es hat zu lehen (II es zu lohen hatt vnd) das ist
recht.
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1 77 (II 76): Ob ein man — fursprechen nicht.
78: Wo man richtet — vmbe die Sachen.
79: Der furspreche — mag mit rechte.
2 81: Do der sone — geweg'ern die des wol die des vater man gewesen
sein das sie von dem sone nicht lehen empfahen dorffen.
82: Hat der vater — von jme.
83: Jst es — so müssen sie es von den kinden empfahen, oder lassen
es sein.
3 84: Der herre — herschildes nicht enhat.
85: Leihet ein herre einem ein — hieuor an dem buche gesckriben stet.
86: Ejn herre uerzeihet — ir lehen leihen, wozu II noch setzt: vnd das
ist recht in allenu landen et cetera.
87: Stirbt der man — nicht entgelden.
4 88: Wen (II Wem) ein herre — wer wider recht.
89: Der herre — understunt. das ist recht.
5 90: Bischoff vnd — werntliche gericht.
91: Was des gerichtes — pan leyhe.
92: Wer über — koniges gnaden.
93: Und uerseit — empfangen hat.
6 94: Der konig sei — richter gesein muge oder nicht, welche beiden
letzten Worte in II fehlen. »
95: Alle die gericht — empfahen.
96: Dje leyen fürsten — empfahen mit recht.
97 : Als der konig — brieff von dem konige kumpt.
98: So (II Wo) der konig —• Hessen vnd über alle Francken bisz an
(II an den) Beheim.
99: Wer der ist — ban leihen mag (II ban leyhe).
100: So hat — Tryent ein meyle.
]
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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41c l 1011 101 ‘
1 102 1 102 1
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\ 124“ I 120“
1 101: Der pfaltzgrafe — daz ist von dem rechten.
102: Als die fürsten — on lconig ist.
2 103: Ob der sune — gelihcn wirt, wozu I noch setzt: von dem konige.
104: Ez erbet — für jn knyen.
105: Semlich — auch die hende.
106: Alsus sol — ewr man meyn getzewgen.
107: Ob der herre begert (II wegertt) — zwen hat zu gezewgen.
108: Und sterben — vater, wie oben gesprochen ist. II vater. leyhct er
es ym, das ist gut. leyliet er es ym aber nicht, so tim er als hye vor
geredt ist.
109: Wer sein — gewegert ist.
110: So (II Da) aber — gewer nicht enhat.
3 112: Wanne der — sol in dein jure.
113: Gebewtet — seiner vrteil.
4 114 (II 111): Als sich - man gein seinem herrn tun zu lehenrecht
(II man gein dem herren thun).
115 (II 112): Wen der man — man behabt.
116 (II 113): Dje getzewgen — herre uerlorn.
5 117 (II 114): Der man — sol in do mit recht zwingen.
118 (II 115): Der herre — viertzehen tage.
119: Wem der herre — hieuor in dem rechtbuch gesagt ist, wozu II
noch fügt: vnd was ehaHtig not ist, das ist auch hie vor gesehribenn.
120: Welch zewge — das ist recht.
121 (II 117): Schuldiget — vmbe sein gezewgen.
6 123 (II 119): Stirbet einem man — wer die sein, das ist gut.
124 (II 120): Hat das kint — empfangen hat.
1 125 (II 121): Ob das kint den herm (II Ab der herre das kint) anfellet
— ye dem gute nach.
126 (II 122): Uersewmet ein herre — das gut leyhen.
2 128 (II 124): Jglichs mannes—jarzal an, vnd nicht ee, welch letzte drei
Worte in II fehlen.
129 (II 125): Djeweil der herre (II Jtem die weyl er) — vntterwindet
sich der man des gutes mit recht (II gutes, das thut er mit rechte).
3 130 (II 126): Kynde jar — es zu der werlde hat bracht.
131 (II 127): Wer — wanne es hat dannoch nicht witze.
4 132: Ob ein herre — nicht uerliesen.
133: Man sol — der jungling sein jar behabt.
5 134 (II 129): Nymant — gezewg sein, es sey danne achtzehen iar alt.
135 (II 130): Wje junck — mit recht.
136 (II 131): Man sol — leyhe ers darnach ye dem eltzten.
0 137 (II 132): Wer das kint — empfangen hat.
138 (II 133): Leyliet — an seinen lehen.
7 140 (II 134): Wenn das kint — empfahen sollen.
141 (II 135): Djeweil — den disz buch hieuor g'eseyt hat. II den das
buch sagt.
8 144 (II 139): Nymant — herren willen (II hant).
145 (II 140): Uersetzet — das lehenbuch saget.
0 147 (II 142): Stirbt ein man — das er sich uerjere.
148 (II 143): Stirbt auch — domit nicht.
149 (II 144): Der herre — merern uolgen.
150 (II 145): Ob (II Ab) der herre — obern herren. das ist recht.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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1 151 (II 146): Der man sol — wanne einem als vor gescliriben stet.
152 (II 147): Lesset ancli — wanne von einem.
153: Ob drey bruder oder mer weren, vnd der ober herre hat in allen
ein gut — sollen vnd mögen empfahen.
154: Der oberlierre — sol es leylien mit rechte.
2 156 (II 150): Der herre — wal der kinde.
157 (II 151): Uersewmen die kint die jars frist vnd uberkomcn — welchem
er wil.
158 (II 152): Leyhct — an jrem rechten.
159 (II 153): Uersewmet — ehaftige not.
3 160 (II 154): Uordert — eltsten das lehen leyliet.
161 (II 155): Leihet der herre — nicht rechtes.
162 (II 156): Lehenrecht — kein crafft, wozu II noch setzt: als du hie
vor hast gehöret.
4 166 (II 160): Ejn herre — herren vrlaub.
167 (II 161): Wen sie sich aber — dem herren ledig.
168 (II 162): Djeweil — vettern allen.
169 (II 163); Djeweil — dem gute.
170 (II 1C4): Was ein bruder — stete haben wollen die es mit jme
haben.
5 172 (II 166): Was ein herre — jm gestaten.
173: Ob der man — gutes do ers vmbe gelihen hatte.
174: Hat aber — mit recht tun.
0 175 (II 168): Belehent — reich belehent sein.
176 (II 169): Aller herfart — nicht ein furst ist.
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Eoclcinger.
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1 177 (II 170): Ob ein (II der) herre — heißende sein, wanne die herrn
vergessen gern, wozu II noch fügt: was yn schaden brengt. etc.
178: Dje ldnt — als von ersten.
179: Es ist noch vil — andertwet empfahen.
180: Lewgent jme — gut beiiabt zu recht.
181: Und tut jm — jrem gute.
182 (II 172): Es kumpt — dem gute.
2 184 (II 174): Gibt ein man — inan an stirbet.
185 (II 175): Wer sein — ansprache.
3 187 (II 177): Wer dem — recht an dem gut.
188 (II 178): Des getare aber — uerlure er sein recht (II recht gar).
189: Kvmpt der — disz buch seit.
190: Mag aber — uerlorn.
191 : Und ist es das der man — bedentlialben uerloren.
4 192 (II 180): Lehens gewer — belehent, ist, wozu I noch fügt: mit
wissen vnd willen.
193 (II 181): Gemeyner gewer ist ein iglicli man wol getzewge — als
disz buch (11 als das lantreclit buch) saget hieuor.
194 (II 182): Man sol — mit vrteil, wozu I noch fügt: vierteilt.
5 Diese Artikel tlieile ich unten in V mit.
6 203: Ob zwen — vnd die gewere.
204: Djse getzewgen — lassen mit rechte.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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1 207: Sprichet der herre — zwen, oder ander gemein lewt.
208: Wjl aber — herren getzewgen, wozu II noch fügt: mit recht.
209: Und spricht — nicht rechts zu jme, wozu II noch setzt: mag aber
der pote ertzewgen selbe dritte, das er au ff dem tage was der dem man
gegeben was, so hat der man aber recht.
2 210: Ob der herre •— vnscliulde mit seinem eyde beweisen.
211: Mag aber — gein dem herren.
212: Das ist — man gar.
3 213: Ob der herre — hat er behabt.
214: Kvmpt aber — uersewmen gein dem herrn.
4 218: Spricht — also uersteen.
219: Djeweil — ab er wil.
3 221: Der herre mag nicht wanne — ubertzewgen.
222: Das ander ob man dem manne — der herre wol (II der man) uber
tzewgen.
223: Das dritt — schuldig worden.
0 224 (II 202): Hat der man — für gut nennen.
225 (II 203): Hat aber — das gut ligon.
226 (II 204): Kein herre — von jme hat.
227 (II 205): Hat ein herre von dem reiche gut zu leben, wem er das
(II das gut) leihet, dem mag er wol gebieten des reiclis dinste.
228 (II 206): Der herre mag auch — danne von dem reich mit vrteil
geboten.
7 230 (II 208): Ob ein herre — von jme nicht empfahe, ab er wil.
231 (II 209): Als der herre — sein wol.
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Ro c k i nger.
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1 233: Tut ein man sulche vntat das jm — ist dem heran ledig.
234: Und wil -- gut verteilt sey vnd das er nicht mer rechtes doran
habe, so musz man jn des mit den betzewgen die an dem gerichte ge
sessen sein.
II 212: Jtem hat aber — lehenn leyhenn.
235 (II 213): Kein kint — wider got, wozu I noch den Satz II 212 an-
reilit: vnd hat der man — lehen leihen.
2 236: Nympt ein — do es recht ist.
237: Und leuckent — schuldig wer.
3 245: Spricht — wanne in lehenrecht.
246: Hat aber gewer an dem selben gut haben.
4 248: Wanne der herre — ab er wil. II trennt hier so. 222: Wan der
herre — von dem obern herren. 223: Das selbe recht hat der herre —
ah er wil.
249 (II 224): Doch ist — vnwert danon.
5 251 (II 226): Stirbt der man — nicht anders.
252 (II 227): Stirbt der herre — ah sie wollen, wozu II noch setzt: vnd
das ist auch recht.
253 (II 228): Und ist er — hie (II hie vor) geret ist.
0 255 (II 230): Der man — uff geben vnd Verliesen.
256 (II 231): Gut mag — hieuor seyt.
7 258 (II 233): Wer jm selber — mag nicht lehen satzunge gesein.
259 (II 234): Sol satzunge —■ her™ man sein.
260 (II 235) tlieile ich unten in V mit.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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L
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262
mag ers wol getun. gleich
der
1 261 (II 236): Wo (II Jtem so) der lierre
Satzung ist weder lehen noch Satzung.
262 (II 237): Wem man sein lehen vnd gewer mit gewalt nympt,
vorlewset weder lehen noch satzunge gewer (II lehen noch gewer).
2 239: Kamer lehen — gewere an.
240: Es ist nicht lehen in rechter warlieyt woe der man nicht gewere
an hat.
3 265 (II 241): Es mag — ir lierre sterbe.
266 (II 242): Der man sol — die frawe verfert.
267 (II 243): Uon der frawen — herschildes nicht enliat.
4 268: Gibt die frawe — gewer jnnen hat.
269: Gibt aber er — frawen willen.
270 (II 245): Welch gut — mit ir empfangen hat (II ir hat).
5 274 (II 249): Kint mag — gelihen ist.
275 (II 250): Djeweyl — man ist jme des wol vor mit rechte.
0 277 (II 252): Wer gut — das gut mit recht.
278: Fluchtsal — wider nemen wil, es ist auch geuerde.
279: Es heisset auch fluchtsal ob — hie mit geprochen.
280 : Der man leihet — gut behabt.
281: Wjl aber — gut vor jres herren was.
282 (II 255): Alle lehen — nicht recht lehen.
7 285 (II 258): Es mag — recht lehen.
28C (II 259): Mvle vnd muntze — nachkomen nicht empfahen.
287 (II 260): Alles zins gut — gut behabt.
8 Diesen Artikel tlieile ich unten in V mit.
Sitzungsber. d. phil.-hint. CI. LXXIII. Bd. III. Hft.
29
1 289 (II 263): Gericht — buch usznympt (II hie vor sagt).
290 (II 264): Closter man — hieuor.
2 292 (II U 266): Nymant — gut er wil.
293: Leihet aber — ander man.
294: Lewgent aber — das gut leihe, wozu II noch aus Versehen fügt:
vnd stirbt sein herre die weyl der amptman ist.
295 (II 268): Stirbt des amptmans herre (II Stirbt sein herre des ampt-
mannes) — gut behabt.
3 296 (II 269): Stirbt aber — wal ist sein.
297 (II 270): Stirbt auch — gewer nye gesehen liette.
4 298 (II 271): Welch gut — leben rechtes.
299 (II 272): Nach hofrecht — seheneke.
300 (II 273): Wo (II So) der herre — mansehaft behalden.
5 302 (II 275): Umb iglich — wert ist.
303 (II 276): Nach mittemtage — freithofen (IT frithoffen).
304 (II 277): Wenne der herre — dorf nach dem andern.
305 (II 278): Der herre — tag setzen vnd geben.
0 306 (II 279): Hat der man — reichs strasse.
307 (II 280): Hat der man der (II des) herrn eigen zu leben, er sol jme
uff sein eigen teydingen, vnd ongouerde sol er jme tag geben.
308 (II 281): Der herre gibt — als uor geret, ist.
7 309 (II 282): Wanne der herre — seiner man einem, wozu II noch setzt:
vnd das ers den andern kunt thun.
310 (11 283): Der bote — jme ein hübe habe zu leben.
311 (II 284): Wer den herrn des (II Wer des) — zu den Zeiten.
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B
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
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1 313 (II 286): Wer zinslehen — der zins giltet.
314 (II 287): Der herre sol — ehaft (II ehafft.ige) not.
2 316 (II 289): So der bote — gut das er von dem herrn hat.
317 (II 290): Des herrn bote sol — jme helfen betzewgen (II ym helffende
sein).
3 318 (II 291): So der herre — seinen hulden.
319 (II 292): Und kan — vrteil finden.
320 (II 293): Der herre — man claget.
321 (II 294): Wjl auch — schulde nicht verantwort ist.
322 (II 295): Als die sunne — vrteil zu vinden.
323 (II 296): Jst aber — das tut er wo! mit rechte.
324 (II 297): Uor mittage (II mittemtage) — wirt jm erteilt.
325 (II 298): Der bote— hieuor geret (II gesprochen) ist.
326 (II 299): Welchen tag — wanne sein man.
4 327 (II 300): Jn beslossem — kein lehenrecht haben.
328 (II 301): Und als (II Als) der herre — des herren man oder ander
biderbe lewt wer sie sein, wozu II noch fügt: das ist recht.
5 329 (II 302): Welchs tages — lehenrecht zu tun.
330 (II 303): Der herre — nicht en nympt.
3.31 (II 304): Doch krigen — nutz nicht anget.
c 332: So der herre — wetten.
333: Und furet — gein dem man.
7 335 (II 307): Der man — andern tut oder getan hat.
336 (II 308): Dinget aber — nicht vordem, wozu II noch fügt: Sal aber
ir eyner dem andern gelden, sie bereden es ader nicht, das sollen sie
vnder ein ander gelden.
8 337: Als der herre — als er zu gegen stunde.
338: Kvmpt. aber — vnd gespreches.
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5
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Rock in gar.
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339 (II 310): Fürsprechen — an seins fursprechen munt oder wort [wolle]
iehen, das sol man handeln als hieuor gesprochen ist, (II ist vnd ge-
schriben ist in dem lantreclit buche) in (II an) dem capitel von (II von
den) fursprechen.
1 340 (II 311): Als der herre — nach rechte.
341 (II 312): Wer riehter •— angesprochen ist.
342 (II 313): Ob der man — erleuben.
343 (II 314): Der herre sol — nicht wanne eins.
344 (II 315): Spricht der man — wider seinen lierrn, wozu I noch setzt:
in keinen wegk.
2 346 (II 317): Hat ein man — getun. wanne er die zwne Sachen vordert
als hieuor geret ist, er tut es wol vor.
347 (II 318): Der man setzet wol — • wem er wil.
2 350 (II 321): Leihet — man wol dem andern der seine recht nicht uer-
loren hat.
351 (II 322): Etwann — also sol jm auch der man den zins geben.
352 (II 323): Uon dem zinslehen — gedinget hat.
353 (II 324): Zinslehen — die jn von rechte haben sollen.
4 356 (II 327): Disz sein — herrn in lehenrecht.
357 (II 328): Welch furst — wett jnnen gewannen wirt,.
ü 358 (II 329): Und empfehet — funfftzig pfunt.
359 (II 330): Empfehet — zehen pfunt.
360 (II 331): Umb welcher hande — jme in dem rechten geben.
c 361 (II 332): Armer lewt — zwey pfunt.
362: Beyde busse — gefallen ist.
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127a
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1 364 (II 334): Der man — berede er sein kranchcit (II krangheit vnt
tzeyge sie) vnd sey ledig.
365 (II 335): Ejn vnbereiter man sol seinem herren vmbe was schulde
das ist vnd wie er es verwircket hat nicht (II hat blos: herren nicht)
wetten dreistunt in dem tage, wozu I noch setzt: mit recht.
2 367 (II 337): Welcher herre seinem man — uerlewset domit nicht.
368 (II 338): Wer aber — dorumbe wetten.
3 369 (II 339): Der man sol — getzewgen sein.
370: Dje boten — jnner sechs Wochen.
371: Jst aber der herre — schaden haben.
372 (II 341)[: Ob die vrtcil — treyt ob allen herren.
4 373 (II 342): Hat ein man — von dem reich habe.
374 (II 343): Solte man — zu lehen hat über genen noch über disen.
375 (II 344): Uon wem — den dinst als disz buch hieuor saget (II buch
sagt, wye die hern vnd wen sie dem konig dyncn sollen, das sagt dietz
buch wol).
378 (II 347): Wer gericht — virden haut.
379 (II 348): Recht lehen — lehenrecht haben.
6 382 (II 352): Wem sein gut — mit recht gebieten.
383 (II 353): Kein kint — es einvndtzweintzig iar alt wirt, wozu I noch
aus Versehen setzt: vnd hat es gericht zu leben.
384 (II 354): Hat ein kint gericht - virtzehen iar alt ist.
7 386 (II 356): An burglehen — zu lehen hat.
387: Leihet aber — lehenbuch hieuor seit. ■
388: Stirbt der — do ers empfieng.
Berichte über FTandscliriften des sog. Schwabenspiegels.
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( 379°
1 392 (II 360): Let ein herre — gelten als recht ist, so geben sie jme
den (II sie yn ym) zu kauffen.
393 (II 361): An burglehen ist mul vnd gewett der herrn vnd gedinge,
wozu II noch setzt: als anderm leben.
2 394 (II 362): Leyhet ein burger — mit recht.
395 (II 363): Wer burglehen — geleihen.
396 (II 364): Der man — mit rechte.
397 (II 365): Wer aber — iglicli burger der (II die) do burger sein
wolle (II wollen).
3 398 (II 366): Ejn iglicli — frawen.
399 (II 367): Uon burglehen — vmb recht lehen.
i 400 (II 368): Burglehen — haben.
401 (II 369): Es sol — der burglehen von dem herrn hat.
5 Diese Artikel theile ich unten in V mit.
6 404 (II 372): Der konig — bescheiden tag.
405 (II 373): Der konig — ynd in freithofeu.
7 406 (II 374): Dye burgk thor — burglehenrecht.
407 (II 375): Jn beslossen — nymant vrteil vinden vmbe lehen recht.
408: Stirbt ein römischer konig — on die fürsten (II fürsten die sollen)
ire ampt, die gefürstet nicht ensein, die sollen ire lehen von den (II dem)
fürsten empfahen.
409: Alle die vanlelien — sein gut nicht, sundern (II nicht, er leyhet
yn) des reichs gut, wozu II noch setzt: da von sein sie des reichs mann.
410 (II 377): Wer das lehen —• so der (II er) wirt.
411 (II 378): Dje fürsten — verlewset des reichs hulde.
412 (II 379): Djse ere — über den konig.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegelß.
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f 388 2
i 389 2
390
391
392
427
393
IV.
Es ergibt sich aus dieser Zusammenstellung mit den
hinzugefügten Noten, dass einmal eine vollständige Ueber-
einstimmung bis in’s Einzelne zwischen den beiden
Handschriften nicht herrscht, sodann aber auch, dass Ab
weichungen nicht geringer Art gegen die Gestalt von L
entgegen treten.
Was das erstere anbelangt, hat I in ihren Artikeln 349
und 350 des Landrechtes, wie 245 und 246 des Lehenrechtes
ein Mehr gegenüber II, während umgekehrt diese in ihren
Artikeln 396, 477, 484, 622 zum Theile, 679 bis 681, 709, 745,
758, 958, 967, 974 = L 316 des Landrechtes, wie 261 und 351
dos Lehenrechtes ein Mehr gegenüber I aufweist.
Wichtiger ist das Verhältniss beider Handschriften
zu L, gegenüber welcher sich — abgesehen von Umstellungen,
wie bei Artikel I 808 bis 810 = II 858 bis 860 gegenüber
L 271a, 272, 271b, und namentlich gegen den Schluss des
Landrechtes nach L 363 I, oder abgesehen von der Wieder
holung des Artikels L 189 in I 934 = II 978 — theilweise
ein Mehr, theilweise aber auch ein Weniger herausstellt.
Ein Mehr hndet sich in folgenden Artikeln der zwei
ersten Theile des Landrechtes beider Handschriften: 9, I 796
— II 846, 1 935 bis 937 = II 979 bis 981, wie in den Ar
tikeln II 484 und 758; sodann in den Artikeln des Lehen-
1 415: Und ist ein burger — ehaftige not.
416: Kvmpt aber — wetten.
2 422 (II 388): Uerleihet — sol das gut verstell.
423 (II 389): Jst ein gut — liieuor seit.
450
Rockinger.
rechtes I 197 und 198 = II 185, wie im Artikel II 261. Was
den dritten Theil des Landrechtes anbelangt, stösst man auf
ein Mehr nicht allein bei den Artikeln I 1041 und 1042 = II
1087 und 1088, I 1054 = II 1099, I 1070 = II 1115, sondern
es ist auch der grösste Theil der in der Handschriftengruppe
L fehlenden Artikel der Handschrift der juristischen Bibliothek
zu Zürich und der Ebner’schen Handschrift vorhanden.
Ein Weniger gegenüber L, welches unseren beiden Hand
schriften gemeinsam wäre, ist im Landrechte nicht zu verzeichnen,
wohl aber im Lehenrechte, welchem die Artikel L 98, 121,
128a, 132a, 143b, 144a, 155 bis 158 einschliesslich mangeln.
Dagegen fehlen in I ausser dem Eingänge des Artikels des
Landrechtes L 145 ganz oder theilweise die Artikel 123b, 145,
190, 201m und n, 209, 224, 311, 313 II, 316, und der Artikel
des Lehenrechtes 134b; in II die Artikel des Landrechtes 116b,
117a, der Artikel des Lehenrechtes 90.
Wirft man einen Blick auf diese Abweichungen der beiden
Handschriften gegenüber L, so ergibt sich, dass selbe bei
weitem weniger den ersten und zweiten Theil des
Landrechts als dessen dritten Theil und das Lehen
recht berühren. Was gerade das Mehr hiebei anbelangt,
möchten folgende Bemerkungen nicht überflüssig sein.
Im Landrechte führt der Artikel 9 1 die Gesetzgeber auf,
welche ausser dem auch sonst öfter im sogenannten Schwaben
spiegel genannten Kaiser Constantin sammt dem Pabste Silvester
in Betracht kommen, eine Aufzählung, welche neben den Hand
schriften unserer Gruppe- auch in dem Cod. germ. 3967 der
Münchner Staatsbibliothek 3 und im Cod. palat. 461 zu Heidel-
1 Ich theile ihn alsbald unter V mit.
2 Vgl. Gengier über die Plassenburger Handschrift des Archives zu Bam
berg im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit 1854 Sp. 118—120.
Ich zähle ohne Bedenken dieser Gruppe auch die einst im Besitze
der Gräfin Agnes von Helfenstein beziehungsweise Schlüsselberg befind
lich gewesene Handschrift zu, welche Bruder Oswald von Anhausen
an der Brenz 1356 seiner lateinischen Uebersetzung zu Grunde gelegt.
3 Vgl. den Vortrag über drei mit einem Anhänge zum Landrechte vermehrte
Handschriften des sogenannten Schwabenspiegels in den Sitzungsberichten
der Akademie der Wissenschaften zu München 1867 II S. 301.
Vnd darvmb — heisst es in der berührten Handschrift — schullen
auch die keyszer vnd die kunge neinen yn ir liercze, vnd schullen yren
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
451
berg 1 sich findet. Die Artikel II 484 und 758 werden unten in V
mitgetheilt. Der Artikel I 796 = II 846 ist ein zweiter Judeneid. 2
Die Artikel I 935—937 = II 979 bis 981, I 1041 und 1042 =
II 1087 und 1088,1 1054 = II1099, sowie der die Legitimation
der Pfaffensöhne behandelnde Artikel I 1070 = 11 1115 erhalten
wieder unten in Y ihre Stelle. Von besonderer Bedeutung
aber ist es endlich, dass von den Artikeln, welche uns im
dritten Landrechtstheile die vollsten Formen bieten, beispiels
weise die der juristischen Bibliothek zu Zürich und die Ebner-
sche, sich hier gleichfalls 314 I, 314 II, 314 IV, 317 I, 349 Ia
und b, 350 Ia,b,c, 353 I, 363 I, welcher wie in Z und E die
Stellung zwischen 363a und 363b hat, 363 IIa,b,c,d, 364 I,
367 I, 368 I, 370 II, 374 I, 375 II, 375 III, 375 IV, 375 V,
375 VI finden, überdies auch in II noch 313 II, Artikel, von
welchen 317 I und 353 I nicht in der Züricher, sondern allein
in der Ebner’sehen Handschrift erscheinen.
Was das Lehenrecht betrifft, werden die Artikel I 197
und 198 = II 185, sowie II 261 unten in V mitgetheilt.
Sind hiemit Anhaltspunkte zur Beurtheilung des Verhältnis
ses unserer zwei Handschriften zu L geboten, so würde man im
Uebrigen auf falscher Fährte sein, wollte man daraus auch gleich
einen Schluss auf das Verhältniss der Gestalt der ganzen
Gruppe, welcher sie angehören, innerhalb welcher sie
aber wieder nur eine gekürzte Abzweigung bilden, zu
L oder zu den sonstigen Formen des sogenannten Schwaben
spiegels ziehen. Diese Gruppe hat nämlich nicht allein jene
Artikel, welche hier als fehlend bemerkbar gemacht worden
sind, sondern sie reiht auch — was aus einem höchst ge
wichtigen Grunde nicht zu übersehen ist — von den zuletzt
aufgeführten der Handschriften Z beziehungsweise E die hin-
syn vnd allen yren fleysz mit ganczen trewen stellen nach rechtem ge
liebte also das es gote löblich sey vnd den lewten nuczlicli an leyb an
gute an der sele. das [ist] der pabist Siluester, kunig Constantinus, der
keyszer Justinnanus, keyszer Karel, keyszer Ludweck, sein svn der edel
Dytheus, die alle erlich waren vnd got mynton vnd forchten. vnd darvmb
saezten sie mit wolbedachtem mute vnd mit weyszer meyster lerc alle
die lantrecht vnd alle die lehenrecht die an dissem buch sint.
1 Vgl. den Abdruck in Zöpt'l’s Altertlüimern des deutschen Reichs und
Rechts II, S. 414.
2 Vgl. Gengier a. a. O. Sp. 117 und 118.
452
R ocki uger.
sichtlich ihrer Stellung in E 1 besonders in Betracht kommenden
Artikel 3501, 351, 352, 353, dann 377 III und 377 IV in der
Weise ein, dass bezüglich der ersteren die Verschiebung in E
aus dem Landrechte in das Lehenrecht klar hervortritt, während
die Stellung der beiden letzten im Lehenrechte durch den
Sachsenspiegel als die ursprüngliche entschieden ist. Doch
soll hierauf an dieser Stelle nicht des Weiteren eingegangen
werden.
Im grossen Ganzen hat man es demnach bei unseren
zwei Handschriften mit einer Unterabtheilung einer Gruppe
von Handschriften der vollsten Formen des sogenannten
Schwabenspiegels zu thun, welche einmal insbesondere
im dritten Landrechtstheile wie im Lehenrechte
mehrfach Verkürzungen erlitten hat, und auf der anderen
Seite gegenüber allen bekannten Gestalten unseres Rechtsbuches
die weitaus grösste Theilung des Textes selbst in
Artikel oder Capitel aufweist, welche in I ganz und gar
nicht, in II nur von Ai-tikel 24 bis 130 einschliesslich mit
Ueberschriften versehen sind.
V.
Indem ich hiemit schliesse, erachte ich es noch für an
gezeigt, zur Würdigung dessen, was bemerkt worden, einige
Proben des Textes der beiden Handschriften selbst folgen
zu lassen, welche insbesondere auch geeignet sind, über jene
Artikel, welche gegenüber L ein Mehr bilden, Klarheit zu
verschaffen.
Laiulreclit 9.-
Djse 11 hernachgeschriben haben funden vnd gemacht ' 1 die
recht die jn diesem puch geschriben steen. der heilig babst
1 Vgl. Ficker über einen Spiegel deutscher Leute und dessen Stellung
zum Sachsen- und Schwabenspiegel in den Sitzungsberichten der philo
sophisch-historischen Classe XXIII S. 268.
2 Vgl. hiezu auch Gengier über die Plassenburger Handschrift des
Archives zu Bamberg im Anzeiger für Kunde der deutschen Vorzeit
1854 Sp. 118—120.
Ich theile bei dieser Gelegenheit aus des Bruders Oswald von
Anhausen lateinischer Uebersetzung Nachstehendes aus dem Cod. lat.
11.775 der Staatsbibliothek zu München Fol. 6 l und 7 mit:
Berichte über Haudschrifteu des sog. Schwahenspiegels.
453
sant Siluester, vnd der konig Constantinus, der edel keyser
Justianus, vnd der heilige vnd werde keyszer Karolus, vnd
sein sone der heilig keyszer Ludowicus, 1 vnd des sone der
edele Lutharius. 2 die hetten :! got liep, vnd forchten jn, dorumb
stifften sy mit wolbedachtem mute vnd synnen vnd mit weiser
meister lere alle die lantrecht die jn diesem puch goschri-
ben steen.
57 (II 74). [Was ein iglicher man seinem woybe morgengabet
volget hir nach.] 4
Ejn iglich man der ritterlicher art ist, was der seinem
weibe zu morgengabe geben möge, das höret hie.
58 (II 75). [Wan eine rittermessiger man morgengabett.]
Des morgens an dem beth, oder so er mit jr zu tische
geth oder 5 tisch sitzet, so mag er seinem weih geben on seiner
erben vrlaub einen knecht vnd ein magte 6 die zu jren tagen
komen sein, vnd mag ir geben getzewne bodem vnd getzymmer
ob 7 der erden, vnd als ir man stirbet, so sol sie das ertreich
Volens igitur deus, vt homo per pacis concordiam et dilectionera
fraternam celi gaudia posside[a]t, dedit Moysi in monte Synay decem
precepta, quibus obseruatis populus deum placatum haberet. Et quia
bene sciuit, quod populus inter se multas lites et rixas ex diuersis emer-
gentibus casibus habiturus foret, super addidit ei sexcenta et xiij pre
cepta per modum informacionis, ut cum causas hominum iudicaret
per ea lites et discordias sic sedaret ut habetur in Exodo. Et
secundum illa iudicia per Moysen et suos sequaces apostolice dignitatis
Coustantinus, Justinianus, Karolus sanctus, filius suus Ludowicus, et
istius filius Liutherus, et quam plures Romanorum imperatores, intuentes
quod lex iudicij Moysy data nimis dura esset, videlicet animam pro
anima, oculum pro oculo, dentem pro deute, et cetera, leges et judieia
leuiora fecerunt, diuina inspiracione instructi, prout in hoc libro contine-
tur, supei' omnem litis materiam, precipientes ea sub peua capitis per
omnes prouineias romani imperij et in judieijs vti per uniuersalem eccle-
siam katholicam obseruari. Et qui secundum alia jura quam hie conti-
nentur iudicat non approbata, crimen lese maiestatis incurrit, et peccat
grauiter coram deo.
3 II Dje.
4 In II fehlt: vnd gemacht.
1 II Ludwicus. 2 II Lutlierus. 3 II hatten. 4 Die in Klammern
gesetzten Ueberschriften gehören II an. 5 II oder ob dem. r ’ II vnd
rnaget. 7 II ober.
454
Rockinger.
rewraen jnwenrtig sechs Wochen oder nach dem dreissigsten
tage, vnd das sol 1 sy also rewmen e das sy der erden icht
verwunde, sy sol es aber den erben an byeten zulosen nach
fromer lewte rate, was ir die heissen geben, das sol sie neinen.
vnd hat der man nicht mer danne das ertreich, den das 2 ange-
hort, der tu dasselbe.
59 (II 76. 77. 78. 79). [Was der freyherre zu morgengabe
gibet etc.]
Der frey herre gibet seinem weibe, jch mein 3 die fürsten,
die geben jren frawen zu morgengab 1 das hundert margk wert sej.
[Mittel freyen geben iren weihen.]
So gibet der mittel frey herre seinem weib 5 das tzehen
margk wert ist.
[Der dinstman gibet seinem weybe.]
So gibt der dinstman 6 seinem weib das fünf marck wert ist.
[Was ander lewte suste ist, was dye gebenn.]
Und was sunst ander lewt sein, die geben nicht danne 7
das beste pfert viho oder rosz.
60 (II 80). [Ab ein eygen man ritter were, was der geben magk],
Jst ein eigen man ritter, der mag nicht 8 gegeben danne
ein rosz oder ein n viho.
61 (II 81). [Was der kawffman seinem weybe morgengabt.]
Ejn 10 kaufinan mag [nicht] mer geben danne als 11 vorge-
schriben ist. wanne seins varnden gutes mage er geben tzehen
marck seinem weib zu morgengabe, vnd ein vihe, vnd ein
rosz, vnd andersz nicht.
62 (II 82). [Was der frey gebawer gibt.]
Der frej gebawr vnd frey lewte die nicht ritter sein die
mögen geben jren weiben tzu morgengabe ein rosz, ein rind,
oder tzehen marck. 12
1 II vnd sal. - II nicht erben, wen das ertrich dan. 3 II nenne. 4 In
II fehlt: zu morgengab. 5 II Der nayttelfreyherre magk seinem weybe
geben. 6 II Der fürsten dinstman gybet. 7 II Was ander lewte suste
ist, dye mugen nicht mere gebenn wan. 6 II nicht mere. 9 II rosz
ader. 10 II Der. 11 II als liye. 12 II pfunt.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
455
63 (II 83). [Was der eygen man morgengabet.]
Der eigen man mag nicht mer geben seinem weib danne ein
geisz, oder ein scliöff, 1 oder fünf Schilling seiner lanntpfenning. -
64(1184.85). [Was der römisch konig seynem weybe morgengabt.j
Ejn römischer konig mag geben seiner frawen tzu morgen-
gabe wie vil er wil. dem ist nicht tzil uff gesetzt.
[An was gute des römischen konigis weybe kein recht hatt, ab
es ir geben wurde von dem konige, volget hir vnten nach.]
Gibt er aber 3 seiner frawen des reichs gut, doran hat sie
nicht rechtes. 1 vnd wirt ein ander konig, er nympt es mit
rechte wider.
127 (II 151).
Der eins rnannes eeweip huret, oder ein weip oder maget
notzoget, nympt er sy darnach tzu der ee, ekint gewynnen sye
nyrumer bey ein ander, als wir euch des basz hienach berichten
vnd von der ee sagen werden. 5
128 (II 152).
Kempffen vnd jre kint, vnd alle die die vnelieh geborn sein,
vnd alle die die diebheit oder raub vergolden haben, wir meynen 0
den rechten straszraup, vnd des mit gerichte betzwungen sein,
oder die haut vnd 7 hare vor gerichte erlediget haben, vnd des
man sy vor gerichte domit gebusset hat. 8
161 (II 187).
Dje keiser vnd die konige die haben disz gemein recht
gemachet. doch haben die meister lenger tzil uff gesetzt an ir
gut, als hieuor geschriben stet. y
188 (II 214).
Und ist es das ein pfleger den kiuden jre notdurfft 111 nicht
gibet an essen an trincken vnd an gewande, der ist aber
argwenig. 11
1 II geben wan ein schliff oder ein geysz oder lamp. 2 Hier fügt II noch an:
Nota, wo das huch von Schillingen saget, do sint ye zwolff pfening ein Schil
linge seyner landt pfening. 3 II Gjhet aber der konig. 4 II rechtes an.
5 II ein ander, wir berichten euch das basz her nach von der ee. ,J II ich
meyn. 7 II luler. 8 II vnd das man sye vor gerichte gebusset hat do
mit, dye sein alle rechtlosz. 9 II bemerkt noch weiter: Vnd sunderlich
recht haben sye den Sw r aben geben an irem gute, als vorgesekriben stet.
10 II nottorfftigkeit. 11 II setzt hier noch bei: Vnd ist es das er zu
«
456
Rockinger.
189 (II 215).
Dyeweil die kinde tzu viertzehen jaren nicht komen sein,
dyeweil mögen sy ir pflegev nicht argwenig sagen, yedoch mögen
sy es ! iren freunden sagen die hieuor genant sein, vnd 2 jn
das furlegen was uhels jn von dem pflegen 3 geschieht.
190 (II 216. 217. 218).
Der ist auch argwenig der den kinden ir gut von jar tzu
iarn nicht widerreitt. 1
Auch ist der argwenig der der kinde vater do er lebt
todt veynt was, wie nahe er jn ist. 5
Der ist auch argwenig, vnd man sol in den kinden nicht
zu pfleger geben, der in der echte oder in dem banne ist.
200 (II 228. 229).
Nyman mag 0 eigen lewt gehaben danne gotteshuser vnd
fürsten vnd freyen. alle dinstman heissen eigen in der schrifft.
dauon mögen sy nicht eigner lewt gehaben zu rechte.
Gehört ein dinstman an ein gottshuse, vnd spricht 7 er
habe eigen lewt, sy sein nicht sein, 8 sundern seines gotshausz
des eigen er ist. 9
201 (II 230).
Hat ein furst 10 einen dinstman, er spricht er habe eigen
lewte, des ist nicht: sy sein seins herrn eigen des eigen er ist.
205 (II 234).
Es ist nyman semperfreye, das ist der höchste frey, danne
des vater vnd muter frey waren.
247 (II 276).
Ejn richter sol also weisz sein das er das übel von dem
guten gescheiden möge vnd könne, vnd das gut von dem vbeln.
kan er das, so ist er ein weiser richter, so er das übel leszt
vnd das gut tut.
eynem wüsten man wirtt, vnd sein selbist gute zu vnrecht angreifft, er
ist aber argwenig.
II sye mugen aber es wol. 2 II vnd mugen. 3 II von den pflegeren.
4 II gut zu iaren zu iaren nicht wider reyttet ader berechent den nehesten
freundenn. 5 II ist an der siptzal. G II mag zu recht. 7 II gicht. 8 II sein
eygen. 9 II seins gotiszliawsz eygen. 10 II ein leyhen fürste.
Berichte über Handschriften des sog. Schwahenspiegels.
457
248 (II 277).
Er sol auch starck sein, das er sein hertz also starck
behalde das er 1 dem leihe nymmer gerate das wider recht ist.
vnd gewynnet das hertze einen krancken mut, so sol der lei]}
also starck sein das er dem bösen mute widerstehe: wanne die
tugende get für alle tugende, 2 der bösem mut widerstet. :i ein
richter sol also starck sein das er leib vnd gut wagen sol das
er das recht beschirme.
249 (II 278).
Er sol auch got forchten, trew vnd warheit vnd das recht
lieb haben, vnd alles vnrecht 4 sol er lassen, so ist er ein
weiser richter.
285 (II 313).
Und stammelt ein man, vnd gibet man in einem manne
tzu fursprechen, das ist wider recht, geschieht aber es dorumbe
oder 5 doruber, wo er danne misse spricht, des hat er keinen
schaden des wort er do spricht.
304 (II 332).
Wen man mit der hant getat begreiffet, den sol man für
gerichte furen. vnd ist das er jhenen gewundet hat, oder was
es ist, das sol man selbdritt ertzeugen, on diepheit oder 11 raub.
305 (II 333).
Gret es jm an den leip, man sol in mit siben mannen
ertzewgen. hat man der getzewgen nicht, man sol in kempffen
als hieuor gerett ist. get es jm an die hant, man sol ju mit
tzweyen tzu jm selber ertzewgen. 7
309 (II 338).
Und beclaget man einen man vmbe galt, man sol jm fur-
gebieten als hieuor gerett ist. vnd kumpt er nicht fure, dor-
umbe sol man in nicht verechten. jm sol der richter richten
hin tzu seinem gute wo das leyt in seinem gerichte, vnd sol
auch sein busz dauon nemen, ab sy do ist. das ist recht vor
allen gerichten.
1 TI es. 2 II get vor allen tilgenden. 3 II widerstehe. 4 II vnrecht
ding. 3 II geschieht es aber. 0 II vnd an. ' II betrugen, hat
man der getzewgen uit, man sal in kempffen als vor gesehriben ist.
458
R ockiuger.
310 (II 339).
Jn allen steten sol man dem clager sein gulte, vnd busse
geben dem richter. vnd gebrichet icht an dem gute, das sol
dem richter, vnd dem clager nicht gebrechen.
331 (II 360).
Nymant sol den leuten gleich busz erteiln. das man dem
knechte busz erteile als dem herrn, vnd dem eygen als dem
freyen, das ist wider gotes recht, wider des landes recht, man
sol yedem man bussen nach seiner wirdiglceit. wie halt got
selber spricht do er Moyses die gebot gab: wer den andern
tötet, den sol man auch totten: hant vmbe hant, aug vmbe
äuge, fusz vmbe fusze : die gebot wern muglichen vnd auch
schedlichen zu halden. das sol man dopei kysen. ab ein konig
einen buben tzu tod sluge, solt man den konig dorumbe toten?
das 1 wer ein schedlich ding, wanne do mochte manig leib vnd
sele 2 dorunder uerlorn werden, es siecht ein man dem andern
die hant abe, oder einen fusz, nu der wirt schon heyl vnd ge-
nyset doran das er nicht stirbet, vnd man siecht genem sein
hant oder fusz herwider abe, der der disen schaden tet der
stiibet, sol man nu den auch toten dem sein hant zum ersten
abgeslagen wart? das wer aber ein schedliche busse. dauon
sol man yedem man bussen :t nach seiner wirdigkeit, vnd sol
auch dem richter bussen in demselben 4 rechten.
341 (II 370).
Welch herrn die hohem hand des gerichtes haben, für 5
den mag man ein vrteil wol an tzihen. 0
380 -389 (II 409—418).
Den konig sollen kysen drey pfaffen fürsten vnd vier
leyen fürsten.
Der bischoff von 7 Meintz ist cantzier in s tewtschen landen,
vnd hat die ersten kure.
Der bischoff von Tryer ist cantzier in dem konigreich
tzu Ach, !) vnd hat auch die andern stymme an der wale.
1 II dor yrabe zu thode auch slagen? das. - II sal. 3 Jn II ist von
,dauon 1 angefangen bis hieher ausgefallen. 4 II in den selben. 5 II We-
liclier hoern hand das gerichte ist, vor. 6 II fügt noch bei: als du
hernach wol hörest. 1 II zu. 3 II zcu. 9 II Achte.
Berichte über Handschriften des sog. Scliwabenspiegels k
459
Der bischoff von 1 Coln ist cantzier tzu Lamparten, vnd
bat auch die dritten stymme an der wale.
Under den leyen fürsten ist der erste tzu kysen an der
stymme der pfaltzgrafe von dem Reyn, 2 des reichs truchsesz,
der sol dem konige die ersten schusseln tragen.
Der ander an der stymme ist der hertzog von Sachsen,
des reichs marschalck, der sol dem konige das swert vortragen.
Der drit an der stymme ist der marggraue 3 von Branden-
burgk, des reichs kamerer, der sol dem konige wasser geben.
Der vierde an der stymme ist 4 der hertzog von Beheym,
des koniges schenck, der sol dem konige den ersten becher
tragen, diese vier leyen fürsten sollen tewtsche man sein von
vater vnd von mutcr, oder von ettwederm.
Wenne sy kysen wollen einen konig, so sollen sye ein
sprach gebieten gein Franckfurt. die sol gebieten der bisch oft’
von Meintz bey dem banne, vnd sol sy der pfaltzgraue 5 gebieten
bey der echte, syc sollen tzu dem gesprech dar gebieten jren
gesellen dy mit jne do sullen kysen, vnd darnach den andern
fürsten so meist sy dar 11 gehaben mugen.
Der fürsten ist dorumbe vngerade gesetzt, ab drey an
einen gefallen, vnd vier an einen andern, das die drey den
viren folgen sollen, vnd ye sol dy mynner volgen dem merteil, 7
das ist an aller kure recht.
395 (II 424).
Was ein man von dem konige empfangen hat der ein
leyhe ist, vnd empfehet das ein ander man von demselben 8
furbasz, so ist er der vorderst nicht an dem lehen. dauon mag
er nicht ein fürste geheissen, so man spricet in latein princeps,
das ist in tewtsch ein fürste, wanne princeps ist alsvil gesprochen
als der vorderst empfaher. princeps dicitur quasi primum capiens.
wan ein man der n ein lehen empfehet von einem der es vor
jme 40 empfangen hat, der heisset nicht der erste an dem lehen,
vnd mag auch nicht geheissen princeps.
404—409 (II 433— 438).
Fvnff stet ligen in Sachsen do der konig hoff hin ge
bieten sol. die erste ist tzu Grüne, die ander tzu Gotslar, die
1 II zu. 2 II vom Reyne. 3 II Der dritte ist marg-raffe. 4 II vierde ist.
3 II pfalczgraffe vom Reyne. 0 II der. 4 II mereren teyi. 8 II dem.
9 II dan. 10 II eym.
Sitzungsber. d. phil.-hist. CI. LXXIII. Bd. III. Hit.
30
460
Rockinger.
dritt tzu Walhusen, die viertle ist tzu Altensteten, die fünfte
ist tzu Merszburg. 1 da sol der konig tzu recht hin hofen.
Siben vaulehen sein in dem lande tzu Sachsen, das erste
ist das hertzog’tlmm zu Sachsen, das ander die pfaltz. das dritt
die marck tzu Brandenburg, das vierde die lantgraffscliafft tzu
Duringen, 2 das fünfte die margk tzu Meichsen. 3 das sechste
die marck tzu Lusitze, das sibende die graffschaft tzu
Escherszleben. 4
Es sint auch tzwey ertzbisthum tzu Sachsen und funf-
tzehen ander bisthum. dem bischof von Meidburg ist vntertan
der bischoff von Newenberg, 5 von Merszburg, von Meichszen,
von Brandenburg, von Kauelnbergen, 0 von Chammen, 7 vnd der
von Hauelberge.
Der ertzbischof von Meintz hat drew bisthum 8 vnder jme
in dem lande zu Sachsen, den von Hallerstat, 9 vnd den von
Hildeszheim, 10 vnd den von Baibrunne.
Dem ertzbischoff [von Köln] ist vntertan der von Eysen-
burg, 11 vnd der von Minden, vnd der von 12 Munsterberge.
Dem ertzbischof von Bremen ist vntertan der 13 von Lübeck, 14
vnd der von Tzwirn, 16 vnd der von Radeszburg.
416 (II 445).
Wer daruff nicht enkomet, der ist dem konig ein busz
schuldig, der furst busset hundert pfunt, vnd ye die swersten 10
muntze die er von dem konige zu lehen hat.
417 (II 446. 447. 448).
Ein freyer herre busset funftzig pfunt pfenninge. hat er
von dem konige muntz zu lehen, so sol er dem konige die
geben, hat er aber von dem konige kein muntze, 17 so gebe er
seins bischofs muntze in des bisthum er gesessen ist.
Der dinstman tzehen pfunt. 18 darnach aller hande leut
tzehen pfunt. 19
Die mittelfreyen sollen tzweintzig pfunt geben des bischofs
muntze 20 dorjnne sy gesessen vnd 21 wonhafftig sein.
1 II Merseburg. 2 II Doringen. 3 II Meyssen. 4 II Escberslobeun.
5 11 Neuburg. 6 II Kannelnbergen. 7 II Cbammen? Cbamiuen ? 8 II bi-
schoff. IJ II Halberstat. 10 II Hildesem. 11 II Essenburg. 12 II vom.
13 II Der ertzbischoff von Bremen hat vnter ym den bischoff. 14 II Lubeg.
18 II Zwiren. 16 II swersten vnd besten. 11 II muntze zu lehen. 18 II pfunt
ir haut pfennig. 19 II pfunt auch ir landtpfennig. 211 II pfennig. 21 II oder.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
461
II 484.
Stirbet ein man vnd lesset weybe vnd kint dye sie mit
ein ander gehabt haben hinder ym, vnd der frawen stirbt gut
auff nach ires mannes tode von jrem oheym oder andern iren
freundenn, ist ein frage ob dye frawe solich gut das auff sye
erstorbenn oder ir sunst worden ist mit iren kinden teyl solle
oder nicht, sprechen etlich, sietz dye frawe mit iren kinden
zu der selben tzeytt yn vngeteylten guten, was ir dan auff er
storben oder sunst werde, das solle sie von rechte mit den
kinden teylen. hette sye aber da vor mit den kinden geteilt,
so dorfft sye yn nicht gebenn.
II 489.
Lesset der man tzinsz lehen hinder ym, das hat das
recht als das eygen, als du vormals auch von geschribenn
hast gelesenn.
II 490.
Lesset er leipgedinge hinder ym, da tliun sye do mit als
dietz buch auch vormals hye vor gesaget hatt.
461 (II 495. 496).
Nympt ein man ein witwen die gut hat das man mit dem
pflüge erbeit oder bawet, vnd stirbet sy, sy 1 sol das gut wider
geben. vnd ist es gesamet, 2 der man nympt den nutz mit
rechte dauon. vnd sol man dauon gelten oder tzins geben, das
sol er geben.
Stirbt aber die frawe ee disz geschee, so gefellet das 3
do hin do es mit rechte gefallen sol. 4
462 (II 497).
Was gutes die frawe hat do man tzins oder gult von
geben sol, vnd hat sich das uergangen ee danne sy starbe, so
sol man es dem man geben, ob er dannoch uff dem gut ist.
Wanne sich ein iglich gulte oder tzins ergangen habe, das
seit vns disz buch wol basz hernach.
467 (II 503).
Ein iglich man sol dem konige vnd andern richtern
rechtes gerichtes helffen do es jn mit rechte geboten wirt, er
sey sein herre oder sein mag, vnd tut domit 5 nicht wider sein
1 II vnd. 2 II gesebet vnd gebawet. 3 II das gute. 4 II hin ge-
fallen ist vnd sal. 5 II da mit rechte.
30*
462
Rockinger.
trewe, 1 also das er jme noch den die mit jme dar 2 sein komen
schaden tu wan als vil als die pferde gossen. 3
479 (II 515).
Stirbt ein eigen on erben von eim gebawr das ein halbe
hübe ist, die ist seins herren 4 des eigen er ist. 5 vnd ist er
rey, so ist es 6 des fronboten.
480 (II 516. 517. 519).
Hat der eigen inan ander gut, das mag er mit gesundem
leib oder an seinem totbette 7 geben wem er wil. 8
Jst es das er mer eigens hat wanne ein halbe hübe, das
sol dem lantrichter werden. 9
Lest er varndes gut, vnd hat domit nicht 10 geschafft, das
sol werden des landes herrn.
521 (II 566).
Dje mawren heissen wir heilig, wer 11 ymant die stat ver
boten, vnd steiget er über die mawr, 12 vnd get 13 nicht tzu dem
rechten tor ein, er hat das hewbt tzu recht uerlorn.
551 (II 596).
Wem der munt abgesniten wirt, oder die oren oder die
tzwnngen, oder die äugen uszgestochen werden,’ 4 wer die
dingk dem andernn tut on gericht, dem 15 sol man dasselbe tun. 1G
1 TI trewe oder das rechte. 2 II do. 3 II fügt hier noch weiter an:
Der man sal auch mit rechte farn für seins herren hawsz, vnd der herre
für seins mannes hawsz, vnd der mag für seins mags hawsz, do er anders
mit rechte für geladen wirtt, vnd thut da mit wider sein trewe nichtt.
4 II herren mit recht. 5 II setzt hier noch bei: oder des gotishawsz
des eygen er was. 8 II er. 7 II thode. 3 II wil one alle ein-
spruch. 0 II setzt hier noch bei: vnde susten nymandts. 10 II recht.
11 II heylig die heyligen besliessent. wo ein mawer vmbe ein stadtt geth
do heyligen ynne ligen, dye mawren heissen wir heylig. vnd wirt.
12 II mawer hyn ein. 13 II geht er. 14 II abgesnyten wirtt, oder
dyc äugen auszgestochen, oder wem dye nasen oder dye oren abgesnyten
werden, oder wem dye zunge wirt auszgcsnyten, oder zwischen den
beynen auszgcsnyten wirt, oder sunst verderbt wirt. 15 II thut, das t
46 II thun, das ist recht.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
463
II 758.
Grjbet ein man einem andern manne trinckfasz oder
anders zu behaldenn, vnd dem manne dem es zu behalden
geben ist setzt soiichs yn ein kamer dar eyn ir beyder gesynde
geth, das trinckfasz oder anders wirt verloren, sol der dem
soiichs also zu behaldenn geben ist soiichs betzalen oder nicht?
sprechen etliche, dorffe der das trinckfas oder anders hat zu
behalden geben dar selbe dryt treten, vnd leiplichen zu den
heyligen sweren das das genant trinckfas oder anders das er
dan dem mann N zu behalden geben habe von ym oder seinem
gesinde in dheyne weise verrückt genomen oder verloren sie.
so musz er gelden dem es zu behalden geben ist, doch das
der des es gewest ist mit dem eyde behalde wye gute es ge
west sey: als tewer betzale ers der yn des gewalt es ver
loren ist.
II 773.
Jaget ein man ein wilt, vnd körnet es vonn ym unuersert,
vnd ist so müde das es nyder feilet vnd nicht furbas mag, vnd
körnet es ausz seinen awgen, das er sein nicht syhet, vnd wer
es dar nach findet nicht wer es yn den dreyenn tagen vecht,
der sal es zu recht wider gebenn. vnd vehet ers an dem
virden tag oder hin nach, so ist es sein.
759 (II 806. 807).
Pfaffen vnd juden die nicht vmbschorn sein nach jrem
rechten, tut man den icht das man jn bessern sol, das sol man
jn bussen als einem leyen. vnd furcn sie lange messer swert
oder ander woppen, 1 so haben sy dasselbe recht.
Vnd 2 ob man sy findet in dem offen hawsz, 1 wer in
dorjnne icht tut, so haben sie 4 dasselb recht.
760 (II 808).
Wer sye in dem weinhawsz findet, tut er in icht dorjnne,
es ist dasselbe recht, also das sy in demselben husz stetlich
1 II furen sie wappen swert oder lange messer oder ander woffen.
2 II Jtem. 3 II man pfaffen oder iuden yn dem hure hawsz findet.
4 II thut, das ist.
Rockiuger.
464
mit wesen sein, vmb die schulde alle kumpt nyemant in
den ban. 1
874 (II 925).
Wer einem globet pfenninge zugeben, vnd ist es in einer
stat oder in einem dorf, oder wo er ist, er sol jm pfenninge
geben die do gang vnd gebe sein vnd die in dem bisthum
gewonlich sein oder in dem lannde. vnd 2 in derselben weise
sol man einer igliclien sacken tun.
898 (II 946).
Was sich ein man vntterwindet mit des willen vnd des
es 3 ist, der tut wider nymant, vnd er uerdinet auch kein busse
weder gein armen noch gein reichen. 4
935 (II 979).
Wjrt aber ein man vmb reublich 6 gewer beclaget, do man
die scheinberlich tage beweisen mag, vnd wirt der richter mit 6
recht dortzu geweiset, der richter sol zu hant über den rauber
richten als hieuor geschriben ist. 7
936 (II 980).
Wir heissen das reublich gewer wo zwen vmb ein gut
krigen vnd ir keiner kein s recht doran hat vnd sich des der
eine vnterwindet oder sie bede ongericht. die tun wider recht.
937 (II 981).
Was ein richter nicht en mag noch wil richten, so sol
der clager für den obern richter faren, vnd sol es jm clagen.
vnd richtet er jme auch nicht, so sol er an 0 konig farn vnd
jme clagen über den richter wie jme der nicht richten wolle,
darnach sol er jme clagen vnd sein Sachen furlegen.
1 II kompt man nicht yn den bann, als hie vor auch geschriben stet.
- II oder. 3 II willen des es da. 4 II fügt hier noch an: Vnd was
man den hoher bussen musz, den werden wan den vnwerden, das dunckt
etliche lute nicht rechte, das wil man hie beweren, das man iglichem
menschenn bussen sol nach seiner wirde. 5 II Jtem wirt der man
vmbe ein rewblich gute oder. 6 II nicht. 7 II fügt hier noch bei:
yn diesem buche. 8 In II fehlt: kein. 9 II au den.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
465
1000 (II 1046).
Und ist es das einer den andern schuldiget diser dinge
on vor gericht, vnd wirt es dem richter 1 nicht geclaget, die
freunde sollen es vntter in versunen. sie sollen jmc als vil ere
erbieten als vil lasters sie jme erboten' 2 haben von den lewten.
vnd ist es das er zu dem andern male vor den lewten gehont
wurde, vnd er elagt es dem richter, er musz jme das bussen
als uor geschriben ist, vnd :i musz das leyden das gener solt
haben geliden. das ist gotes vnd geschriben recht, wanne solde 4
ein iglich man dem andern an sein leip vnd ere sprechen, vnd
solt das nicht pussen, so wer der viel die es teten von neyde
vnd hasz wegen. 5
1001 (II 1047).
Der meyneidigen vnd der falschen hertzen, des 6 hat got
noch die lewt nicht gesetzt, vnd ist das ein richter die schulde
nicht entrichtet als jutzunt 7 geschriben stet, so sol es der
richten von dem er sein s gericht hat.
1041 (II 1087). ,J
Alle heimliche sundc die sol man heimlich bussen, wanne
der beichtiger sol jn busz darüber geben heimlich, vnd vmbe
offen sunde sol man offenlichen bussen.
1042 (II 1088). 1(1
Ye doch wissen der pfaffen vil nicht was offen sunde ist.
welch sunde zwey oder drey menschen wissen, das ist nicht
offen sunde. ob sie halt sechs oder siben wissen, noch 11 ist sie
1 II richter dann. 2 II verboten. 3 II oder er. 4 II solle. 5 II von
hasz vnd von neydes willenn. 6 II das. 1 II yetz. b II sein
gute. 9 In des Bruders Oswald v. Anhausen lateinischer Ueber-
setzung heisst es kurz, dass pro omni occulto peccato debet occulta
poenitentia injungi, et pro manifcsto manifesta. 10 Ebendort lautet
dieser Artikel folgendermassen: Sed queritur, quod peccatum dicatur
manifestum. Respondetur sic. Si duo homines, iiij or , uel vj, aut viij
vnam culpam sciunt, ocultum dicitur, et non manifestum. Sed quando
nouem persone veraciter sciunt et in propatulo locuntur, tune aprimo
dicitur peccatum manifestum. Si non credis, in summa Reymundi quere.
11 II doch.
466
Rockinger.
nicht ein offen sunde. als 1 die sunde newn menschen werlichon
wissen, so ist es ein offen sunde. wer des nicht gleuben wolle,
der such es jn summa Regmundi. 2
1046 (II 1091. 1092).
Wer ein lot 3 eins pfennings geringer macht denne es zu
recht sein sol, dem sol man das 4 hewbt abe slahen.
Und ist es eins pfennings swerer ä uff ymants schaden,
das ist dasselbe recht.
1047 (II 1093).
Wer das lot 6 swerer oder geringer macht wanne es zu
recht sein sol newrt vmbe ein pfenninge mit geverde, 7 der
pfenninge sol es einer sein der man ein pfunt usz der marckt
macht.
1048 (II 1094).
Wer auch ymant über wiget mit rechtem lot 8 gein einem
pfenninge der pfundig 0 ist, dem sol man haut vnd har bej
dem höchsten an der schriat abslahen. 10
1052 (II 1098).
Wer usz fromder seyden oder usz fromder wollen oder
flachsz gewant wircket oder ander ding, das ist auch des mit
rechte des der getzewg gewest ist, ez sey von gold geweben
oder von andern dingen, vnd tut er das mit gewissen das ers
dafür hette 11 das die bereitschaft sein wer, so hat. er recht
bewert, bewert aber gener das der getzewg sein ist, desselbi-
gen ist das werck das darusz gemachet ist.
1053 (II 1098).
Hat aber ein man 12 das werck vnwissen gemacht, so sol
man 13 jrn sein erbeit gelden vnd sein koste die er daruf getan
1 Vgl. über diesen Schluss des Capitels auch Gengier a. a. O. Sp. 143.
2 II Raymundj. 3 II gelote. 4 II das gantz. 5 II Jtem ist es aber
das er es eine pfennigs swerer macht. 6 II gelote. 7 II macht vmbe
ein pfennig mit geuerde wan es zu rechte sein sol. 8 II gelote.
9 II pfennig. 19 II hochstenn abslagenn. 11 II hatte. 12 II aber
diser. 13 II er.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
467
hat. vnd spricht gener, er wolle jme dauon nichts geben, jm
wer über das der gezewg noch vnverwircket were, vnd wil
es jme domit abe zwingen, mag diser das bewern das er das
wonde, 1 vnd auch das dofur hette 2 das der getzewg sein wer,
so sol er sein erbeit vnd sein kost dorumbe nicht uerlorn
haben, er sol sein werck uerkcuffen so aller höchst er mag.
vnd sol genem als vil seyden wollen oder flachs oder goldes
geben, oder was es gewest ist, das sol er jme herwider 3 keuf-
fen das also gut sey als genes was oder besser, wil er des
nicht gleuben, so betzewge er das 1 mit dem wercke darusz das
gemachet sey, oder mit den leuten die es gesehen haben.
1054 (II 1099).
Djs 5 ist auch recht vmbe das der uf fremdes ortreich
sewet oder bawet, vnd vmbe ein iglich werck das ein man
vnwissentüch c bawet, das man also on schaden getun mag.
1055 (II 1100).
Was ein eigen man gewinnet, das ist des herrn des eigen
er ist, ab er wil.
1056 (II 1101).
Was aber 7 einem eigen man von erbschaft angefellet,
das ist des mannes, vnd des herren nicht, was man jme vmb
sunst gibot, das ist des eigen mannes, vnd des herren nicht.
1070 (II 1115).
Wje sich eins pfaffen sone eelichen machen 8 sol, das er
wol sein recht an eins mannes stat uerstet.
1 II sunde. 2 II hatte. 3 II hyn wider. 4 II so er das zu den
heyligen, oder betzewge es. 5 II Dietz recht. 6 II vnwissen.
7 II Jtera was.
8 Diesen Gegenstand behandelt die lateinische Uebersetzung des Bruders
Oswald von Anhausen am erwähnten Orte Fol. 67 1 in nachstehender
Weise:
Filius clerici uel sacerdotis sic potest legittimari, ut loco alterius
[viri legittimi stare possit.
Cum rex romanus cum exercitu suo] iaceat in campestribus contra
alium regem se sibi opponentem, tune equitare debet inter turmas illas,
468
R o c k i n g e r.
Er sol zwuschen zweyen herrn ein sper zu brechen, vnd 1
nirgent anders wanne do ein römisch konig leyt gein einem
andern konige. vnd er gewynnet wol eigen, vnd empfehet lehen,
vnd wirt wol ritter, ab er wil 2 vnd er wol darnach geborn ist.
1073 (II 1119).
Was ein sone hat die weyl er in seins vaters gewalt ist,
das ist auch des vaters jn allem rechten. 3
1076 (II 1122).
Wer Weinreben vnwissen uff fromdes ertreich setzet, vnd
einen Weingarten pflantzet, vnd uff fromdes ertreich zymmert,
also das ers dafür hat das es sein sey, vnd so er des ynnen
wirt das es sein nicht en ist, wes das ertreich danne ist, des
ist auch der bawe der daruff gebawet ist.
et hastiludium exercere cum aliquo de aduersa parte regis, et sic fran-
gere suam hastam, et hoc postea coram rege protestare. Et accipiat
desuper litteras testimoniales: et predia ac feoda obtinebit: et si est de
genere militari, effici miles potest.
Quod si talem oportunitatem quis habere non potest, quicunque tune
illegitime natus sit, accedat ad regem uel jmperatorem, petens humiliter
propter deum, quatenus eum legittime faciat. Hic potest eum ad omnia
negocia secularia legittimare.
Est autem modus iste talis. Kex accipiat sigillum uel annulum
suum, cum quo tangit nudam frontem uel faciem suam, aut manum
ponit super caput illius, dicens hec verba in wlgari:
N, dir sein alle deine recht:
die hab, ritter oder chnecht.
Ge, vnd tail
für dicz vnhail,
Stand auf, vnd gang im frid.
Et de hys accipiat litteras testimony, et valebit.
1 II aber.
2 Hier scliliesst in II der Artikel.
3 II ist des vater mit rechte.
Bruder Oswald drückt diese Bestimmung am angeführten Orte
Fol. 69* unter der Ueberschrift ,de lucro sine patre 1 so aus:
Sj aliquis est vxoratus, et tarnen adhue est in procuracione patris
sui, et lucratur filys suis aliquid ex illa procuracione, totum est patris
quia de suis processit.
Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
469
1077 (II 1123).
Get aber der dar der daruff gebawet hat, vnd beret er
das zu den heiligen das er das want das das ertreich sein
were, vnd das er das vor 1 hette, so sol jme gener seiner
erbeit Ionen vnd seinen schaden ab legen, wil er aber des
nicht bereden, so sol jm der 2 nicht gelden weder kost noch
erbeit. jst aber das gener spricht durch einen beschisz dor-
umbe das er jm weder erbeit noch kost gelden dorffe, das er
ettwas anders daruff 3 bawen wolt, so sol jm gener sein ertreich
reumen. lesset er aber in sten, vnd wil sein genissen, 4 er sol
jm sein kost vnd sein erbeit gelden. 5
Lehenrecht 197.
Ob ein herre gut hin leihet das er einem andern gelihen
hat, vnd der man dem ers gelihen hat gegenwertig stet vnd
das gut nicht uersprichet, vnd hört das gut nennen, der hat
das gut mit recht uerlorn.
198.
Letzet aber den man ehaftige not oder seins leibes vorcht,
so hat er ein jar frist bisz das er kumpt 6 für seinen herrn,
vnd er sol sein ehafft not bereden 7 mit seinen zweyen vingern.
vnd des sol jm der herre gleuben. vnd tut des der herre nicht,
so vntterwinde er sich seins gutes, vnd er tut das mit rechte. 8
260 (II 235).
Sol satzunge gescheen das es helffe, das musz gescheen
mit des herrn hant. vnd ein man ertzewget wol sein satzunge
mit lewten die nicht des herrn man sein.
II 261.
Jtem wen aber einer zinsz lohen gut vorkewfft, so sal es
der auff geben der es vorkewfft, vnd iehener entphaen. das ist
1 II das da vor. 2 II dieser. 3 II domit. 4 II wil er sein nyessenn.
5 II gelden vnd betzalen. 6 II kome 7 II beweysen. 8 II vnter-
windet er sich seins guts mit recht.
470
ßockinger. Berichte über Handschriften des sog. Schwabenspiegels.
dar vmb das der lehen herre wisse zu weme er seinen zinsz
forder vnd warten solle.
Auch ist an etlichen enden gewonheyt, wan man zinsz
lehen gut vorkewfft, das man dem lehenn hern hantlono da von
musz gebenn.
402 (II 370).
Uber fürsten noch über andere herrn die vanlehen haben
sol nymant fursprech sein noch vrteil vinden in lehenrecht
wanne der auch ein fürste ist oder vanlehen 1 hat, der wol ge-
tzewg in lehenrecht über einen fürsten ist. aber der fürsten
lehen die in ir ampt nicht gehören, wanne über der herrn 2 lehen
die nicht in ir vanlehen gehören, ein iglich man mag 3 tzu
lehenrecht sprechen der lehen jnnhat.
403 (II 371).
Nymant mag gewegern zu lehenrecht vrteil vinden 4 vnd
getzewge sein: der herre uff den man, der man uff den herrn,
uff den man der man, 5 der mag uff den freunt.
1 II pfanlehen. 2 II vber herrn. 3 II gehören mag ein igliche man.
4 II zu linden. 5 In II fehlt: uff den man der man.
Sachau. Zur Geschichte und Chronologie von Kliwarizm.
471
Zur Geschichte und Chronologie von Kliwarizm.
Von
Dr. Ed. Sachau,
ord. Prof, für oriental. Sprachen an der Universität in Wien.
In dem centralasiatischen, durch den Oxus und Jaxartes
gebildeten Mesopotamien finden wir seit ältester Zeit mehrere
Culturstätten, welche ihr Leben, ihre jeweilige Bliithe diesen
grossen Strömen, ihren Tributären und den aus denselben
abgeleiteten Canälen verdanken. Die bedeutendste derselben
war und ist Sogdiana, dessen regstes Leben auf beiden Seiten
des Zarafshän, des IIoaut![j.y;tc' der Alten, pulsirt. Sogdiana
zusammen mit den westlich und südlich vom Oxus angrenzen
den Ländern Margiana und Bactriana, Takhäristän (dem Lande
der Tö^apoi) und Badakhshän dürfte als der Ursitz der Eranier
anzusehen sein. Ihre früheste Wanderung scheint dem Lauf
der beiden Ströme gefolgt zu sein, den Jaxartes hinab nach
Farghäna, der osteranischen Grenzmark gegen Türän, den Oxus
hinab nach Kliwarizm. Die nördlichste Culturstätte dieses Duäb
ist das Land der Xoipaapnoi oder Kliwarizm auf beiden Seiten
des unteren Oxus-Laufes. Ueberall in diesen Landen herrschte
eranische Sprache und Sitte, sowie die Religion Zoroaster’s
bis zur Zeit der arabischen Eroberung und noch Jahrhunderte
darüber hinaus.
In dem vermuthlich ältesten geographischen Denkmal der
Eranier, dem ersten Fargard des Vendidäd wird unter den
sechzehn von Ahuramazda geschaffenen Ländern Khwärizm
mit diesem Namen nicht erwähnt, ist aber nach Sir H. Raw-
linson’s Vermuthung in Vers 38 durch das früher unerklärte
472
Sacliaü.
urväm pouruvästräm bezeichnet. Er identificirt urvä mit
Urganj, der Hauptstadt des Landes; dies ist aber nur die
türkische Aussprache für die einheimische Namensform Gurgänj
(bei den Arabern Jurjaniyya), worin wir wahrscheinlich einen
Stamm gurgä und eine Endung nj zu unterscheiden haben.
Als analog hiermit lassen sich die Namen für den 4- und 11.
Monat des Sughdischen Jahres Bisäk dJLvo und Zhimadä
I A*J\- (entsprechend dem persischen Ti r mäh und Bahmanmäh)
anführen, welche auch in den Formen Bisäkanj j
und Zhimadanj überliefert sind. Aus den uns vor
liegenden Resten des khwärizmischen Dialectes lässt sich aller
dings etwas ähnliches nicht nacliweisen. Die Gleichsetzung von
gurgä und urvä (älterem vurvä, vehrvä?) ist sprachlich
zulässig (vgl. vehrkäna und Gurgän), und dass der Haupt
ort eines Landes als Name des ganzen Landes gebraucht wird,
kommt gerade in Vendidäd I. noch mehrmals vor, wie z. B.
Möuru und Bäkhdhi, vgl. Spiegel, Eranische Alterthumskunde I,
214. Ein Hauptbedenken gegen Rawlinson’s Deutung bleibt
immerhin der Umstand, dass die Hauptstadt des Landes in
ältester Zeit eben nicht Gurgänj, sondern die Stadt Khwärizm
gewesen zu sein scheint. 1
1 Wir geben bei dieser Gelegenheit unsererseits einen Beitrag zur geo
graphischen Erklärung von Vendidäd cap. I. In v. 42 (Klinentern yim
vehrkänöshayanem) ist das Wort khnofitem noch unerklärt, wenn
auch im allgemeinen feststeht, dass mit diesen Worten Hyrcanien (Jurjän)
bezeichnet, ist. Die Combinationen von Ifang und Justi mit je Kandähär
und Jurjänriid entbehren beide gleich sehr der Begründung. Vgl. Kiepert,
,Heber die geographische Anordnung der Namen arischer Landschaften
im I. Fargard der Vendidäd“ in den Monatsberichten der k. PreusSifchen
Akademie der Wissenschaften in Berlin 1856 (S. 631); F. Spiegel, Era
nische Alterthumskunde I, 194. 195.
Die Analogie der vv. 14 (gäum yim Qiighdhöshaynnem) und 34
(väekeretem yim duzliakosliayanem) hilft uns nicht weiter, da in
beiden Stellen ausser dem Worte 911 gh d h ö noch alles andere der Erklä
rung harrt.
Wir identificiren Klinenta mit XaplvSa?, welches nach den alten Geo
graphen (Ptolemaeus und Ammianus) der Name dos Grenzflusses zwischen
Hyrkanien und Medien war, von Ptolemaeus aber Helion zu Medien
gerechnet wurde. Diejenige hyrkanische Völkerschaft, welche dies Grenz
land gegen Medien hin bewohnte, wurde nach dem Flusse benannt: XpfJvSot.
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizni.
473
An einer anderen Stelle des Avesta, im Mitlira-Yasht
V. 14 wird neben Sughdha Khwärizm erwähnt und zwar unter
der Form qäirizäo. Spiegel (Khorda-Avesta S. 81) übersetzt
die Stelle: ,(Wir preisen den Mithra, welcher zuerst mit gol
dener Gestalt die schönen Gipfel ergreift, dann den ganzen
Ariersitz umfasst), wo Herrscher, treffliche, ringsum die Län
der ordnen, wo Berge, grosso, mit vielem Futter versehene,
wasserreiche, Brunnen für das Vieh gewähren, wo Canäle, tiefe,
wasserreiche sind, wo fliessende Wasser, breite, mit dem Wasser
forteilen nach Iskata und Pouruta, nach Möurn und Haraeva,
nach Gäu, Sughdha und Qäirizäo'. Der zweite Theil des
Wortes ist deutlich zem, Land und qäiri leiten wir nach
Wir übersetzen demnach v. 42: ,Den Oharindas, den Sitz Ilyrcans‘
oder ,der Hyrcaniev 1 . Wenn man bedenkt, dass in Centralasien alle Cultur-
stätten ihren Ursprung und ihr Gedeihen den Flüssen verdankten, dass
die alten Eranier ausschliesslich an Flussufern sich ansiedelten, so ist es
begreiflich, wie man dazu kam bei der geographischen Bezeichnung des
Wohnsitzes eines Volkes den Namen des Flusses, an dessen Ufern es
wohnte, als die Hauptsache voranzustellen.
Die lautliche Correspondenz zwischen Kimen tu und Xaplvoa; (Xpjjvoa;
vgl. Forbiger, Handbuch der alten Geographie II, 570. 588) liegt auf der
Hand. Den Wechsel zwischen ?• und n können wir allerdings an ähnlichen
Beispielen nicht nachweisen; er beruht nicht auf einem allgemeinen era-
nischen Lautgesetz, wie jener zwischen r und l. Vielleicht liegt hier eine
dialectische Verschiedenheit vor und wir haben XaplvSa? als die medisch-
hyrkanisc.be Form für das baktrisch-sughdische Kimenta aufzufassen.
Wenn (was wir nicht behaupten wollen) die Silben kand und kard in
den Städtenamen identisch wären (kereta), so könnten wir in den Städte
namen des südöstlichen Alteran’s (Baetriana, Sogdiana, Farghäna) gegen
über den Namen des Westens und Nordwestens (Kburäs,in, Hyrcanien,
Annenien) einen ähnlichen Wechsel zwischen n und r wahrnehmen, vgl-
Paikand, Samarkand (MapaxavSa), Khokand, TAs-
khand, Uzkand, Yarkand mit
Alistakhri cd. de Goejo S. 268. 285 — ZaSpdxapt« Hauptstadt von Hyr
canien, TtypaviizepTa, KapxaOt&eepto. Vgl. Pott, lieber altpcrsischc Eigen
namen, Zeitschrift der deutschen Morgenländischen Gesellschaft XIII,
394. 395.
Durch diese Deutung ist eine sichere Analogie für die Erklärung von
VV. 14 und 34 gewonnen. Nachzuweisen, mit welchem Namen heutigen
Tages der alte Charindas bezeichnet wird, überlassen wir den Geographen.
In den arabischen Geographen haben wir vergebens nach diesem Namen
JüJU-, etc.) gesucht.
474
Sachau.
Burnoufs Vorgang von qar essen ab (vgl. qcvretha Speise,
Futter); also ,Speiseland' oder wie Burnouf will, ,Futterland' 1 .
Dieselbe Wurzel qar findet sich in dem Namen eines der
Canäle des Oxus in Khwärizm, Gäukhwära der von
Istakhri S. 301, 11 und Yäkut (Geographisches Wörterbuch,
herausgeg. von F. Wüstenfeld) IV, 230 durch LiüJI ijS~\ , Kuh
nahrung 1 erklärt wird.
Während die zweifache Erwähnung im Avesta uns Khwä
rizm als ein zoroastrisches Land kennen lehrt, erfahren wir
durch die beiden Keilinschriften von Behistän und Persepolis,
dass Khwärizm unter Darius des Hystaspes Sohn eine Provinz
des Perserreiches bildete (vgl. Spiegel, Die Altpersischen Keil
inschriften S. 5 und 49). Die hier vorkommende Namensform
wird gewöhnlich Uvärazmi gelesen, was mit einem dem grie
chischen Ohr vernehmbaren Hauchlaut angelautet haben soll
(vgl. Spiegel a. a. 0. S. 145).
Ueber die weiteren Schicksale Khwärizm’s und der an
deren Oxus-Länder unter den übrigen Achaemeniden, zur Zeit
Alexanders 2 und seiner Nachfolger, während der Herrschaft
der Arsaciden und Sasaniden fehlt es an zusammenhängenden
Nachrichten. Obgleich in Folge der Expedition Alexanders
die Geographie der Griechen einen bedeutenden Aufschwung
nahm, so war doch ihre Kenntniss von diesen östlichen Ländern
so mangelhaft, dass sie z. B. von der Existenz des Aral-Sees
nichts wussten. Ammianus Marcellinus im 4. Jahrh. war der
erste, der ihn erwähnt und weiss, dass Oxus und Jaxartes in
ihn münden (vgl. Forbiger, Handbuch der alten Geographie
II, 76 Anm. 69). Erst dann, wenn die Muslims den Oxus
1 Vgl. mit dieser Etymologie die Worte Alistakhri’s (ed. de Gorje 304):
,Khwärizm ist eine fruchtbare, an Speisen und Früchten reiche Stadt 1 .
Von derselben Wurzel stammt vermuthlich Xoaprjvi), der Name einer an
Medien angrenzenden Provinz Parthien’s. Die Khwärizmier feierten am
I. Umi-t (^c^o^l) ein Fest genannt — A ^ ^ JoY lo\l, was Albirüni
(R RI. 97) erklärt durch —• ^ -g\ ,•). 1 11 : ■ 4. | J^| mit. Fett, gebackenes
Brod essen 1 . ^
2 In Arrian’s Anabasis IV, 15 (ed Diibner S. 105) wird ein ,König der
Chorasmier, Pharasmanes 1 <hapaa(j.dvr|5 6 Xtupaoputov ßaoiXeu; erwähnt, der
sich dem Alexander als Führer zu einem Zuge gegen die Kolcher und
Amazonen antrug.
Zur Geschichte und Chronologie von Kliwärizm.
475
überschreiten und die Kernlande des Zoroastrianismus in Ivern-
lande des Islands und ganz besonders islamischer Orthodoxie
umwandeln, fallen wieder einige Streiflichter auf die historischen
Verhältnisse Centralasiens. Dieser Religioüswechsel hat sich
über 300—400 Jahre erstreckt. Aber nicht allein die Religion,
sondern auch die Bevölkerung hat Centralasien gewechselt. In
wiederholten Völkerstürmen haben zahlreiche Stämme meist
turanischer Abkunft sich wie vielfach durch einander gescho
bene Schichten über dem ganzen Lande abgelagert. Ein in
der Gegenwart erhaltenes, sprechendes Zeugniss dieses Pro-
cesses ist die Täjik-Bevölkerung Turkistäns, xlie unterdrückten
Reste der Ureinwohner des Landes.
Während für die nachmuhammedanische Geschichte Cen
tralasiens zahl- und umfangreiche Quellen zur Verfügung stehen
und zum Theil auch schon bearbeitet sind, ist die Geschichte
des Landes vor der definitiven Eroberung durch Kutaiba b.
Muslim, der unter den grossen Chalifen 'Abdalmalik b. Marwän
und Walid b. 'Abdalmalik Statthalter von Ivhuräsän war, eine
unbeschriebene Tafel. Was aber speciell Kliwärizm, das heutige
Khiwa betrifft, so hat ein günstiges Geschick eine Nachricht
erhalten, mit deren Hülfe wir versuchen werden ein historisch-
chronologisches Gerüst für die alte Geschichte dieses Landes
aufzubauen.
Kliwärizm selbst hat nämlich einen bedeutenden Alter
thumsforscher hervorgebracht, in dessen Werken, so viele deren
bis auf unsere Zeit überliefert sind, mannigfache Mittheilungen
sowohl über sein Heimathland wie über die angrenzenden
Länder enthalten sind; wir meinen Albirüni oder — mit vollem
Namen — ’Abü-alraihän Muhammad b. 'Ahmad Albirüni Al-
khwärizmi. Geboren in der Stadt Khwärizm A. H. 362 d. 3.
Dhü-alhijja (A. D. 973 d. 4. Sept.) starb er in Ghazna A. H.
430 '. Er stand zu mehreren Fürsten seiner Zeit, zu denen von
1 Eine Handschrift der Leydener Bibliothek (Ms. Gol. 133) enthält auf
S. 33—48 eine arabische Schrift von Albirüni, betitelt:
c \ " <o. Diese Schrift gibt - ausser anderen
Dingen —- auch ein Verzeichniss seiner eigenen Werke (auf S. 42—48),
die er bis Ende A. H. 427 bis zu seinem vollendeten 63. Lebensjahre
verfasst hatte.
SitzungsBer. d. phil.-hist. CI. LXXI1I. Bd. III. Hft.
31
476
Sachau.
Khwärizm, Jurjän und Ghazna wie zu den namhaftesten Ge
lehrten seiner Zeit, darunter Ihn Sinä, in Beziehung. Ein jün
gerer Zeitgenosse des Firdausi theilte er mit diesem die Vor
liebe für das eranische Alterthum. Indem wir uns enthalten
hier auf sein Lehen und Wirken näher einzugehen, bemerken
wir, dass unter seinen zahlreichen Schriften auch ein Ta’rikh-
Khwärizm, eine ,Chronik von Khwärizm* angeführt wird.
Vgl. Sir H. Elliot, History of India II, 5. Dies Werk ist in
den europäischen Bibliotheken bisher noch nicht nachgewiesen,
und auch ist zu bemerken, dass in dem von Albirüni selbst
verfassten Verzeichniss seiner bis Ende A. H. 427 (A. D. 1036
Sept.) verfassten Werke ein Ta’rikh-Khwärizm oder eine Schrift
mit einem ähnlichen Titel nicht erwähnt wird. Es ist aber
möglich, dass er diese Chronik erst nach A. H. 427 in seinen
letzten drei Lebensjahren geschrieben hat (zwischen A. H.
427—430). Unsere Kenntniss von der Existenz und dem Inhalt
derselben schöpfen wir aus folgenden zwei Quellen: Yäküt 1
II, 483 sagt in seinem Artikel Khwärizm: ,Ich habe in einem
von ’Abü-alraihän Albirüni über die Geschichte von Khwärizm
verfassten Buche erwähnt gefunden, dass Khwärizm im Alter
thum Eil genannt wurde. Er erzählt dazu eine Geschichte, die
Dieser Abhandlung ist ein Anhang g 6 f| üJLmijJ ätaLÜL^J!)
beigefiigt von Alghadanfar Faklir-aldin ’Abü-Tsliäk 'Ibrahim ben Muham
mad Altabrizi, datirt von A. H. 692. In diesem Anhänge sind verschie
denartige Nachrichten über Albirüni, sein Geburts- und Todesjahr etc.
gesammelt. Vgl. Catalogus Codd. Mss. Eugdun. I, 296 ff. Das hier gege
bene Geburtsjahr ist so von Alghadanfar überliefert und stimmt überein
mit Albirüni’s eigener Aussage, dass er nämlich A. II. 427 — 65 Mond
jahre alt gewesen sei. Als sein Todesjahr wird gewöhnlich A. II. 430
(nach Ihn 'Abi 'Usaibiya und ’Abü-alfaraj) angegeben, während bei Al
ghadanfar einer der Schüler Albirüni’s, ’Abü-alfadl Alsaraklisi liier A. H.
440 den 2. Rajab überliefert; die bei Alghadanfar mit dom Scheine grosser
Akribie auftretenden Berechnungen dieses Datums wollen aber bei näherer
•Untersuchung nicht übereinstimmen. Auf diese Fragen werden wir bei
Behandlung der Vita Albirünis näher eingehen, bemerken aber im Voraus,
dass wir dem ersteren Datum 430 den Vorzug geben.
1 Yäküt, A. II. 574 (A. D. 1178) geboren, war in Khwärizm A. II. 616
(1219). Im folgenden Jahre floh er vor den Mongolen, welche A. H. 618
Khwärizm heimsuchten. Er starb 626 (1229). S. Wüstenfeld, Yäküt’s
Reisen, in Zeitschrift der D. M. G. 18, 397 fl'.
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
477
ich vergessen habe. Wenn Jemand das Buch findet und diese
Geschichte hier leicht einfugen kann, so gebe ich ihm dazu
meine Erlaubnisse Ferner hat ein jüngerer Zeitgenosse Albi-
rüni’s, ’Abü-alfadl Muhammad heil Alhusain Albaihalp (Ä. H.
386—470) in seiner grossen, ursprünglich aus 30 Bänden be
stehenden Ghaznawiden-Gescliichte (Ta’rikh-i-Al-i-Sabuktagin)
die Chronik Khwärizm’s von Albirüni benutzt und citirt sie
zuweilen im Wortlaut. Albaihaki hat in dem 10. Bande seines
Werkes (Bibliotheca Indica, Tarikh-i-Baihaki. Ed. by W. H.
Morley, Calcutta 1862 S. 832, 833) berichtet, wie Khuräsän,
Khwärizm, Bai und Jibäl von dem Reiche des zweiten Gliaz-
nawiden Mas'üd losgetrennt worden sind; von diesem 10. Bande
ist aber nur der auf Khwärizm bezügliche Theil erhalten (a. a. 0.
£ Ai!
,Vor langer Zeit habe ich ein Buch in der Handschrift
des Meisters ’Abü-alraihän gesehen, der in den Humanitäts-
Wissenschaften, in Geometrie und Philosophie zu seiner Zeit
seines gleichen nicht hatte und der niemals leichtfertig geschrie
ben hat. Aus dem Buch habe ich dies in voller Länge hierher
übertragen, damit man sehe, wie vorsichtig ich in dieser Chro
nik zu Werke gehe — auch allemal dann, wenn Leute, deren
Wort ich kenne, vorangegangen sind; deren gibt es aber nur
noch sehr wenige'. Ueber den Inhalt des Werkes spricht Al
baihaki auf S. 837, 3:
oücwl y** yf ^
c^w! 50^.+j ^Lj
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478
Sachau.
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^L^öLä a.-i *j * ^)'^La-w.j * L! h 4*.äac^ ^^bX-Ajl *j=»
JjMJ
,Ic.h habe es für
richtig'
befunden in dieser Geschichte
von Khwarizm mit der Chronik des Hauses Ma’mün anzufangen,
wie ich es nach dem Meister ’Abü-alraihän niedergeschrieben
habe, der auseinandergesetzt, wodurch die Herrschaft dieser
Familie zu Grunde gegangen ist, wie jene Provinz mit dem
Reiche Mahmüd’s verbunden worden, zu welcher Zeit der ver
storbene Fürst — Gott sei ihm gnädig! — dorthin gezogen
ist, auf welche Weise er jenes Reich seiner Botmässigkeit
unterwarf, den Kammerherrn Altüntäsh dort stationirte und
selbst zurückkehrte, wie späterhin die Verhältnisse sich ent
wickelten — bis zu jener Zeit, als Harun der Sohn des Altün
täsh in Khwarizm rebellirte und sein Unwesen trieb, und das
Haus des Altüntäsh in Khwarizm gestürzt wurde. Denn diese
Nachrichten enthalten viele nützliche und wunderbare Dinge,
so dass sie denen, die sie lesen und hören, viel Anregung und
Nutzen gewähren werden'.
Nach dieser Inhaltsangabe des Albaihald sowie nach seinen
Auszügen zu sehliessen scheint Albirüni’s Werk über Khwarizm
sich lediglich auf die neueste Geschichte des Landes unter den
letzten Samaniden und den beiden ersten Ghaznawiden-Fürsten
Mahmud und Mas'üd bezogen zu haben.
Immerhin ist es nicht
1 Zu den vielen Eigenthiimlichkeiten der Sprache Albaihaki’s gehört auch
V ü 9
das Wort xl t ~». dasfast aufjederSeitein der Bedeutung ,Art und Weise
vorkommt, z. H. als x I , o ,auf solche Weise“, xJL+s» XC> y>
,auf welche Weise“ u. s. w. *
2 Wann Albirüni diese Chronik geschrieben, ist aus Albaihaki’s Bearbei
tung (S. 834—8<i8) nicht zu entnehmen. Man kann nicht bestimmen, wo
Albirüni aufhört und Albaihaki anfängt; der Schluss ist jedenfalls von
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
479
unmöglich, dass z. B. in der Einleitung werthvolle Nachrichten
über das Alterthum Khwärizm’s gesammelt waren. Ein wahr
scheinlich aus dieser Quelle geflossenes Stück bei Albaihalju
S. 834 werden wir späterhin berücksichtigen. 1
Dagegen finden wir in einem anderen Werke von Albi-
rüni, einer ausführlichen Darstellung der historischen Chrono
logie vorder- und mittelasiatischer Völker sowie der Aegypter,
Griechen und Römer, zahlreiche und werthvolle Mittheilungen
über die Chorasmier und Sogdianer, einzelnes auch über die
Saken, über ihre Sprachen, Sitten und Gebräuche, ihre Ge
schichte und Chronologie. Aus diesem Werke, das wir zur
Herausgabe in Text und Uebersetzung vorbereitet haben, theilen
wir einen auf Khwärizm bezüglichen Abschnitt mit, der höchst
eigenthiimliche Aufschlüsse über die älteste Geschichte dieses
Landes gewährt.
R (MS. Rawlinson Bl. 17 b ).
^ C. -E-
J^b I^LXi vilJj Jjsixj
|W J-o
Ls&b£
-iLLo
|W dL!3 ,jl$j
Lid Lj I^cXajI
£^1 d.-Lo Lg-*? aU^LüL
SjotJ 2Uot 6 dLLoj OJOe-Lxö Ld"
jüL+JCw *
letzterem, da Ereignisse aus dem Jahre 432 (2 Jahre nach Albirüni’s
Tod) erwähnt werden. Wir haben schon früher die Vermuthung ausge
sprochen, dass die ,Chronik von Khwärizm 4 zwischen 427 430 abgefasst
wurde.
1 Alsafadi ^IjJ! Handschrift der Hofbibliothek N. F. 234
Bl. 18 b ) erwähnt in einem Verzeichniss historischer Werke auch ein
45-aköl ^.AJ! r;; ^
2 LP 3 LPR 4 R LgöjLof 5 P 6 LP
7 Conj. ^LflJI
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-Y^ 0I ^ ^ ( n^rrx |ym-|g}YX £^/-ÖlO (pfjQÖJ
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^r^li'YV f 1 jpry^ «f'.O -cyyttS-| trvrC( |p~p p J^Tf 1 T’F’I^'
^(Q yyyyy yP cprF fpF cyv* f 7 nfP^S-j “T nrpCl
ö? csV| |f*^ ryTr» <^"0 ^pq?
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
481
phLwJ! HLxXs.
Uebersetzung:
,Aehnlich verfuhren die Chorasmier. .Sie datirten nämlich
nach dem Anfang der Bebauung ihres Landes vom Jahr 980
vor Alexander. Späterhin haben sie den Umstand, dass Siyawush
der Sohn des Kaikäüs nach Ivhwärizm hinabkam und Kaikhusru
und seine Nachkommen sich der Herrschaft des Landes be
mächtigten, als Ausgangspunkt einer Aera angenommen —
rechnend von dem Zeitpunkt, als er (Siyäwush) in das Land
einwanderte und seine Herrschaft über das Türkenreich aus
breitete. Dies geschah 92 Jahre nach dem Anfang der Be
bauung des Landes.
Darauf haben sie dann die Perser nachgeahmt, indem
sie datirten nach den Regierungsjahren des jeweiligen Herr
schers, aus dem Geschlecht des Kaikhusru, welcher den Titel
,Shähiya‘ 7 führte. Dies dauerte bis zur Regierung der Afrigh,
einem der Regenten aus jenem Hause. s Sein Name galt als
ein böses Omen, wie der des Yazdajird des Frevelhaften bei
den Persern. Sein Sohn folgte ihm in der Regierung. Er
(Afrigh) licss Anno Alex. 616 seinen Palast hinter Alfir 9
1 LPR U^A-lS" 2 P L aölZwNjj' 3 L 1 p
6 fehlt in R.
7 Wenn der Text liier richtig überliefert ist, müssen wir annehmen, dass
die dem Persischen »u ,Sh4h‘ entsprechende Form des Khwärizmischen
Dialectes Shähiya XAjßLii lautete, vgl. das Altpersische khshaya-
th iy a.
Punctation
in den Worten
zu d. i. ,der lief
zu d. i. ,der heftigste von ihnen 4 .
9 Üeberliefert ist Al'ir. Zu Y# J^ ,an der Rückseite von 1 , ,hinter 1
vgl. Alistakhri 259, 5; 265, 7; 319, 3.
482
Sachau.
erbauen. So kam es, dass man nach ihm und seinen Nach
kommen datirte.
Dies Alfir war eine aus Thon und Ziegeln gebaute Citadelle
an der Aussenlinie der Stadt Khwärizm, bestehend aus drei
Befestigungen; von denen die eine in die andere hineingebaut
war, alle drei von gleicher Höhe und das ganze überragt von
den Palästen der Könige — ähnlich Ghumdän in Jemen, als
es die Residenz der Tubba's war. Dies war nämlich eine
auf einem Felsen fussende Citadelle in San'ä vor der Haupt
moschee, von der man erzählt, dass sie von Sem dem Sohne
Noah’s nach der Sündfluth erbaut sei. Nach anderer Ansicht
war es ein Tempel, den Al-dahhäk der Venus erbaute.
Dies Alfir war sichtbar aus einer Entfernung von 10
Meilen und mehr. Dann aber hat der Oxus es zerbröckelt
und zerstört und alljährlich Stücke fortgeschwemmt, bis Anno
Alex. 1305 die letzte Spur desselben verschwunden war.
Aus der genannten Dynastie herrschte zur Zeit, als der
Prophet (Muhammed) gesandt wurde, Arthamükh ben Büzkär
b. Khamgri b. Shäwush b. Sakhr b. Azkajawär b. Askajamük
b. Sakhassakh b. Baghra b. Afrigh.
Nachdem Kutaiba b. Muslim Khwärizm nach dem Abfall
der Khwärizmier zum zweiten Mal erobert hatte, setzte er als
ihren König ein den Askajamükh b. Azkajawär b. Sabri
b. Sakhr b. Arthamükh und ernannte ihn für die Shäh-Würde
(das Königthum). Die Wiläya (das Amt des Statthalters)
wurde den Nachkommen der Chosroen genommen, während die
Shäh-Würde ihnen blieb, weil sie ihnen erblich angehörte.
Anstatt der einheimischen Aera wurde die Hijra nach
allgemein muslimischem Brauch adoptirt. Kutaiba hatte aber
alle diejenigen, welche khwärizmische Schrift zu lesen und zu
schreiben verstanden, 1 welche die Traditionen des Landes kannten
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
483
und seine Wissenschaften studierten, dem Untergang' preis-
gegeben und auf alle mögliche Weise ruinirt. 1 In Folge
dessen sind nun diese Dinge dermassen in Dunkel gehüllt,
dass es bei diesem Zustande nicht (einmal) möglich ist die
wirkliche Geschichte des Landes seit dem Islam 2 zu ermitteln,
(geschweige denn die frühere).
In der Folgezeit war nun die Wiläya abwechselnd bald in
den Händen dieses Geschlechtes, bald in den Händen anderer,
bis sowohl die Wiläya wie auch die Shäh-Würde ihnen ver
loren ging nach dem Tode des Märtyrers Abü-'Abdalläh Mu-
hämmad b. ’Al,imad b. Muhammad b. 'Irak b. Mansür b. 'Ab
dallah b. Turkasbätha b. Shäwushfar b. Askajamük b. Azkä-
jawar b. Sabri b. Sakhr b. Arthamükh, von dem ich gesagt
habe, dass zu seiner Zeit der Prophet gesandt wurde.'
Der hier in Text und Uebersetzung mitgetheilte Abschnitt
ist der Schluss des Capitels über die Aeren verschiedener
Völker; in dem unmittelbar Vorhergehenden erörtert Albirüni
die zahlreichen Aeren der vorislamischen Araber und fügt
hinzu, dass die Südaraber nach den Regierungsjahren ihrer
Tubba's datirt hätten, wie die Perser nach ihren Chosroen,
die Griechen nach ihren Kaisern.
Bevor wir uns zur Besprechung der Einzelheiten dieses
Berichtes wenden, müssen wir einige Worte über die Textüber
lieferung der Chronologie (Aläthär Albakiya) vorausschicken,
mit der es leider ziemlich schlecht bestellt ist. Von dem
Werke existiren in europäischen Bibliotheken nur die folgenden
vier Handschriften, die sich in Wirklichkeit auf drei reduciren:
R, im Privatbesitz von Sir Henry Rawlinson, ist copirt A. II.
1254 Ende Safar (A. D. 1838 Mai) in Teheran aus einer
der dortigen Shah-Moschee angehörigen, alten Handschrift.
Zu dem Sprachgebrauch von inf. vgl. Fihrist, cd Flügel
239, 17: (^XäJI bJj tLix.
o-b . I
2 Die Worte xj 7 r jJb U sind der Construction nach =
XJ (Xg-c Lo U
P Handschrift der Bibliotheque nationale in Paris mit der
Signatur Suppl. Arabe 713. 2; sie ist nicht datirt, aber
vermuthlich 200—300 Jahre alt.
L Handschrift des British Museum (Rieh Collection) Add.
7491, datirt A. H. 1079 (A. D. 1668/9).
T Handschrift des British Museum (Taylor Collection) Add.
23, 274, eine Copie von R, datirt A. H. 1255 Muharram
(A. D. 1839 März).
Die drei Manuscripte PLR, denen wir unsern Text ent
nommen haben, geben eine und dieselbe Redaction wieder und
gehen auf eine gemeinsame Quelle zurück; diese Urhandschrift
hat augenscheinlich fast aller Vocale, Lesezeichen und der
meisten diakritischen Punkte entbehrt und PLR sind nichts
als ebensoviele, mehr oder weniger gelungene Interpretations
versuche dieses Originals. Alle drei Schreiber scheinen Perser
gewesen zu sein, deren Kenntniss des Arabischen und der
behandelten Materie .nicht sehr bedeutend war. P und R weichen
am meisten von einander ab; L stimmt bald mit P, bald mit
R überein. Ferner sind P und L sehr vollständig vocalisirt und
punktirt, R dagegen nicht vocalisirt.
Die Sprache Albirüni’s ist keineswegs classisches Arabisch,
und es zeigt sich oft sehr evident, dass nur die Worte Arabisch
sind, während die Form des Gedankens rein Eranisch ist. Im
allgemeinen ist sein Styl klar und präcis, und schwierig nur da,
wo von philosophischen Dingen die Rede ist.
Die Epochen, deren sich die Khwärizmier vor Annahme
der Hijra in ihrer Zeitrechnung bedienten, sind nach Albirüni
die folgenden drei:
I Das Jahr 980 vor Alexander (1292 vor Chr. Geb.), An
fang der Cultur des Landes.
II Das Jahr 888 vor Alexander (1200 vor Chr. Geb.), An
kunft des Siyäwush ben Kaikäüs.
III Das Jahr 616 nach Alexander (305 nach Chr. Geb.),
Erbauung der Königsburg in Khwärizm, der Hauptstadt
des Landes b
1 Nach dem Canon Masudicus (MS. Elliot Bl. 25) rechneten die Magier
Transoxaniens nach dem Todesjahr des Yazdagird; lind zwar rechneten
diejenigen, welche westlich vom Balkhäb wohnten, zwischen diesem Da
tum und der Epoche der gewöhnlichen Yazdagirdisclien Aera (Kegierungs-
Zur Geschichte und Chronologie von Klnvärizm.
485
In dem Wortlaut des auf die erste Epoche bezüglichen
Passus ist alles klar und ohne irgendwelche Zweideutigkeit.
Ueber Klnvärizm in seiner doppelten Bedeutung als Name des
Landes und der Hauptstadt (genau wie das heutige Khiwa)
wird weiter unten die Rede sein. Den , Anfang der Cultur
des Landes' haben wir vermuthlich als gleichbedeutend und
gleichzeitig mit der ersten Einwanderung der Eranier in
Khwärizm anzusehen. Albirüni deutet leider mit keiner Silbe
an, aus welcher Quelle er diese eigenthiimliche Nachricht ge
schöpft hat, ob sie auf einer historischen oder angeblich histo
rischen Tradition beruht, oder ob sie das Resultat gelehrter
Berechnungen ist. Es wäre nicht unmöglich, dass dies Datum
mit der zoroastrischen Ansicht von der Dauer der Schöpfung
in viermal 3000 Jahren unter der Herrschaft von je drei Zei
chen des Thierkreises zusammenhängt. Nach Bundehesh Cap. 34
sind bei der Ankunft Zoroasters die ersten 9000 Jahre ver
flossen ; wenn wir von dem Anfang der Khwärizmischen Cultur
(1292 v. Chr. Geb.) bis zur Eroberung des Landes durch die
Araber (A. H. 93 = A. D. 712) 2000 Jahre rechnen (in
Wirklichkeit sind es 2004 Jahre), so erhalten wir für das Reich
antritt des Yazdagird) 20 Jahre, während die östlich vom Balkhäb woh
nenden (Albirüni nennt sie Mubayyida und xj^lj A_Ä.Ä,wil!
20 Jahre 5 Tage rechneten. Seine Worte sind:
^?;b
tjol ^JwAc. ^yo Lixiiij dUö bOjl 15!
(radirt) ^.p ^yc p» j~pAjtj.j| (jpS?
Ajy Lo u*j-=ä? s-A-uJ! 1*!^ (5^*41 v-zibM li
LöjI Ov=>OjJ ^yo (jajixj bis jp-ÜI
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486
Sachau.
der Araber clas letzte Millennium der Weltdauer unter der
Herrschaft von Pisces.
Eine mit solcher Bestimmtheit auftretende Nachricht über
ein Ereigniss des höchsten Alterthums wird überall gerechtem
Zweifel begegnen; sie steht ganz isolirt da, so dass es durch
aus an Material und Anhaltspunkten zur Vergleichung fehlt,
weshalb wir uns weiterer Vermuthungen enthalten. Sir Henry
Rawlinson bemerkt in Quarterly Review 1866 Oct. nr. 240
S. 491, dass dies Datum einigermassen mit der Zeit der Er
findung des Jyotisha übereinstimmt, d. i. 1391 vor Chr. Geb.
nach Davis und Colebrooke, 1181 vor Chr. Geb. nach Pratt
und M. Müller *, und fügt hinzu: Tliis (the Khwarizmian) dato
too, is almost certainly an astronomical rather than a political
era, and was connected with the Institution of the lunar zodiac,
wliich like the original Indian zodiac commenced with the
asterisms of the Pleiadesb
Als die historische Veranlassung der zweiten Epoche wird
die Ankunft des Siyäwush ben Kaikäüs in Khwärizm bezeich
net, ein Ereigniss, in Folge dessen die Herrschaft im Lande
seinem Sohne Kaikhusrü und dessen Nachkommen zufiel. Diese
Aera ist wahrscheinlich zu einer Zeit, als wirkliche oder angeb
liche Nachkommen des Siyäwush im Lande herrschten, rück
wärts berechnet, indem man die an und für sich unbedeutende
Thatsache der Ankunft eines flüchtigen persischen Prinzen,
der aber zugleich Stammvater der herrschenden Dynastie war,
dieser zu Ehren zum Ausgangspunkt einer neuen Zeitrechnung
nahm. Als das Datum der Einwanderung wird das Jahr 92
nach Anfang der Cultur des Landes, also 888 vor Alexander
oder 1200 vor Chr. Geb. bezeichnet. Unter dieser persischen
Dynastie, die Shähiya genannt, rechnete man wie die Perser
nach den Regierungsjahren des jeweiligen Regenten — bis zur
Zeit des Afrigh, eines Shäh’s aus dieser Dynastie.
Die kurzen Andeutungen Albirüni’s stimmen durchaus
nicht mit dem überein, was wir andenvärtig aus dem Avestä,
dem Shähnäma und den Historikern über die Geschichte der
1 Vgl. über diese Berechnungen A. Weber, Die vedisehen Nachrichten von
den naxatra (Abhandlungen der königl. Akademie der Wissenschaften
in Berlin 1861 S. 355. 363).
Zur 'Geschichte und Chronologie von Khwarizm.
487
Kayaliier erfahren. Dass Siyäwush nach Khwarizm gekommen
sei und dass er die Türken seiner Botmässigkeit unterworfen,
ferner dass seine Nachkommen (die Linie des Kaikhusrü) sich
des Thrones von Khwarizm bemächtigt und ihn von 1200 vor
Chr. bis 995 nach Chr. innegehabt haben, alles dies ist, soweit
wir das hierher bezügliche Quellenmaterial übersehen, gänzlich
unbekanntSiyäwush entfloh, um den Intriguen einer der
Frauen seines Vaters zu entgehen und weil sein Vater den
von ihm mit Afräsiäb, dem Fürsten von Turan, abgeschlossenen
Frieden nicht anerkennen wollte, aus Eran nach Turan, hei-
rathete eine Tochter des Afräsiäb und nahm seinen dauernden
Wohnsitz in Kangdiz, wo er später ermordet wurde. Dies
Kangdiz, altbaktrisch Kan ha, spielt in der mythischen Geo
graphie der Eranier eine grosse Rolle, vgl. Windischmann,
Zoroastrisclie Studien S. 15 ff. Es wäre nicht unmöglich, dass
Albirüni Kangdiz mit Khwarizm identificirte. Nachdem
der Sohn des Siyäwush, Kaikhusrü nach Eran zurückgeführt
und von seinem Grossvater als Thronfolger anerkannt ist,
beginnt er den Rachekrieg gegen Turan; speciell wird erwähnt,
dass einer seiner Helden mit Namen Ashkash Khwarizm er
oberte. Nach dem Tode des Kaikhusrü geht die Herrschaft
der Kayaniden auf eine Seitenlinie (Luliräsp) über; als directe
Nachkommen des Kaikhusrü werden nur vier Töchter und in
einer Avestä-Stelle ein sonst gänzlich unbekannter Sohn Akhrüra
erwähnt. Unter der bei Albirüni erwähnten Ausdehnung der
Herrschaft über das Türkenreich, die sich nach dem arabischen
Wortlaut sowohl auf Siyäwush als auf Kaikhusrü beziehen kann,
ist nicht die Unterwerfung Turan’s durch Kaikhusrü zu ver
stehen, da dieser dem gefangenen Sohne des Afräsiäb das
väterliche Reich zurückgab. Wahrscheinlich ist dabei an eine
Unterwerfung der Ghuzz-Türken gedacht.
1 Audi in der Urgeschichte Bukhärä’s spidt Siyäwush eine Holle — nach
dem Ta’rikh-i-Narshakhi (s. Vambery, Geschichte Bocliara’s I, 3 Anm. I.)
Alsafadi (in seinem «Jl Handschrift der Hofbibliothek
N. F. 234 Bl. 19a) erwähnt ein Ed «Al and
das Bl. 18b eine ,Chronik Samarkand’s von Aridrisi“ sammt einer Fort
setzung (Joö) von ’Abü-Hafs Alnasafi.
488
S a c h a n.
Ebenso eigentümlich, wie diese Nachrichten selbst, ist
nun auch das Datum, 92 Jahre nach Anfang der Cultur des
Landes, d. i. 888 vor Alexander als die Zeit der Einwanderung
des Siyawush. Mit der Vulgata der chronologischen Tradition,
auch in der von Albirüni selbst überlieferten Form ist dies
Datum durchaus unvereinbar. In seinem Werke finden sich
drei chronologische Tabellen für die altpersische Geschichte bis
zur Zeit Alexanders.
In der ersteren, die er als die unter den Persern allge-
-T-
mein gültige (u^äJl ^1; oU) bezeichnet, rechnet er
für die Zeit von der Erschaffung des ersten Menschen bis
zum Tode des Därä ben Dara 3354 Jahre; die Regierung des
Kaikäüs fällt in die Jahre 2736 — 2886 (150 Jahre) dieser Aera.
Die Ereignisse, in Folge deren Siyawush auswanderte, werden
gewöhnlich in die zweite Hälfte seiner Regierung (2811—2886)
verlegt. Das Jahr 2811 nach Erschaffung des ersten Menschen
ist das Jahr 543 vor dem Tode des Darius oder 557 vor dem
Tode Alexanders.
Nach der zweiten Tabelle, welche Hamza Isfahäni aus
dem ,Avestä‘ entnommen haben soll, beträgt die Zeit von der
Erschaffung des Gayomarth bis zum Tode des Darius 3134
Jahre; die Regierung des Kaikäüs fällt in die Jahre 2496—2640.
Die Mitte seiner Regierungszeit (das Jahr 2571) ist nach dieser
Berechnung das Jahr 563 vor dem Tode des Darius und 577
vor dem des Alexander.
Nach der dritten Tabelle, welche Ilamza aus dem ,Buche
des Mobad' entnommen, beträgt die Zeit von der Erschaffung
des Gayomarth bis zum Tode des Darius 3352 Jahre; die Re
gierung des Kaikäüs fällt in die Jahre 2734—2884. Nach dieser
dritten Berechnung entspricht die Mitte seiner Regierungszeit
(2809) dem Jahre 543 vor dem Tode des Darius oder 557 vor
dem Tode Alexanders.
Hieraus ergibt sich zur Genüge, dass das aus der Vulgär
tradition für die Flucht des Siyawush approximativ zu bestim
mende Datum mit der Epoche der zweiten Khwärizmischen
Aera, dem Jahre 888 vor Alexander als Datum desselben
Ereignisses durchaus nicht in Einklang gebracht werden kann.
Es bleibt nichts übrig als anzunehmen, dass Albirüni ein eigen-
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
489
thümliches chronologisches System Vorgelegen hat, welches von
der Vulgata durchaus verschieden war. Ein solches ist nun
wirklich von dem unbekannten Verfasser des Mujmil-altawärikh
überliefert, mit Hülfe dessen wir nachweisen zu können glauben,
wie Albirüni dazu gekommen ist, das Jahr 888 vor Alexander
als das Datum der Flucht des Siyäwush anzusetzen.
Nach dem Mujmil (s. Quatremere, Journal Asiatique 1839,
7 S. 263) regierte Kaikobäd 1063 Jahre vor Alexander. Rech
nen wir mit Firdausi 100 Jahre für die Regierung des Kai-
kobäd, so ergibt sich das Jahr 963 vor Alex, als Regierungs
anfang des Kaikäüs. Letzterer regierte 150 Jahre (Journal
Asiatique 1841, 11 S. 321); setzen wir, wie bisher, die Flucht
des Siyäwush an den Anfang der zweiten Hälfte seiner Regie
rung, so erhalten wir hierfür das Datum, welches Albirüni
angibt, nämlich 888 vor Alexander (963—75 = 888).
Die unter den Nachkommen des Siyäwush nach persischem
Vorgang adoptirte Datirungsweise nach den Regierungsjahren
der einzelnen Shähs wurde unverändert beibehalten bis zum
Jahre 616 nach Alexander (A. D. 311). Zu dieser Zeit regierte
ein Shäh Namens Afrigh aus dem Geschlecht des Siyäwush,
von dem Albirüni berichtet, dass er sich, wie der Sasanide
Yazdajird der Frevelhafte, keines guten Namens erfreut, und
dass er nach seinem Tode die Herrschaft auf seinen Sohn
vererbt habe. Afrigh baute A. Alex. 616 sein Residenz-Schloss
,L inte r AlfiF, was als ein Epoche machendes Ereigniss be
trachtet worden zu sein scheint. Dennoch aber müssen wir aus Al-
birüni’s Worten ,So kam es, dass man nach ihm und seinen Nach
kommen datirte' schliesson, dass man nicht nach der Erbauung
dieses Schlosses datirte, sondern in gewohnter Weise nach den
Regierungsjahren des jeweiligen Shäh’s aus der Familie Afrigli-
Siyäwush zu rechnen fortfuhr.
Das hier erwähnte Alfir wird beschrieben als eine an
der Aussenseite der Stadt Khwärizm gelegene Citadelle,. ein
geschlossen von drei Ringmauern, in deren Mitte die Residenz-
Schlösser der Fürsten emporragten ; sie wurde von den Finthen
des Oxus zerstört und die letzte Spur derselben war A. Ale-
xandri 1305 (A. D. 994) verschwunden. Die meisten grösseren
Städte in Khuräsän und Transoxanien bestanden aus einer
eigentlichen Stadt, einer Citadelle und ausserhalb der Mauer
490
Sachau.
gelegenen Vorstädten; sie waren zum Theil sehr ausgedehnt,
da sie innerhalb der Mauer Saatfelder und Weingärten
umfassten.
Wir müssen an dieser Stelle auf die Stadtgeschichte von
Khwärizm näher eingehen, erstens um unsere Lesart Alftr
(r*)0, die wir anstatt des von allen Handschriften einstimmig
überlieferten Al'tr (^julJI) adoptirt haben, zu rechtfertigen, und
zweitens um nachzuweisen, dass Khwärizm auch der Name
der Stadt, nicht bloss der Name des Landes gewesen ist. Die
Lesart Al'ir wird allein schon durch den rein semitischen Laut
des 'Ain in einem eranischen Worte verdächtigt. Die Zwei
deutigkeit bezüglich des Namens Khwärizm geht in der Haupt
sache auf die Worte ^ I «.i* ääjJuo, welche sowohl ,die Haupt
stadt von Khwärizm' als ,1a ville de Khwärizm 4 übersetzt werden
können. Wir führen nach der Reihe die Aussagen der ältesten
arabischen Geographen und Historiker an.
Albalädhuri (gest. A. IT. 279) beschreibt in seinem vor
trefflichen lvitäb-alfutuh (ed. De Goeje S. 421 Z. 2. 3) Khwä
rizm mit folgenden Worten: Lg-> isls! öJj
Li ,Khwärizm besteht aus drei
Städten (oder Stadttheilen), welche von einem Graben umgeben
sind; der Stadttheil Alfil ist der befestigtste 4 . 1 Für Lls! (bei
De Goeje) lesen wir Lu.sh denn von einem Wasserreservoir
(was gleichfalls bedeuten kann) innerhalb der drei
Stadttheile — etwa zum Zweck der Approvisionirung im Fall
einer Belagerung — ist sonst nirgends etwas überliefert; es
war auch gar nicht nothwendig, da durch den Jardür (einen
die ganze Stadt durchziehenden Oxus-Kanal) für Wasser genü
gend gesorgt war. Dagegen ist eine Bemerkung über die
Befestigung der Stadt durch einen Wassergraben, der durch
die Nähe des Oxus und mittelst des Canal’s leicht herzustellen
war, hier durchaus am Platz. Dieselbe Stadt Fil wird S. 426
zweimal erwähnt, wo es, wie sich aus dem sachlichen Zusam
menhang ergibt, als gleichbedeutend mit der Stadt Khwärizm
(pars pro toto) gebraucht wird. Ferner erfahren wir aus S. 408
Z. 3, dass die Hauptstadt Khwärizm’s östlich vom Oxus lag.
1 Aus dieser Stelle stammt ein grober Irrthum bei Weil, Geschichte der
Chalifen I, 502 Anm. I, wo es heisst: ,Die drei Städte Chuwaresm’s
heissen bei Tabari: Medinat-elfil (Elephantenstadt), Farikein und Hezarest“.
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
491
Nach Albalädhuri bezeiclmete Khwärizm die ganze drei-
theilige Stadt, während Fil der Name des am meisten befestigten
Stadttheiles (also vermuthlich der Citadelle) war. Wie aber
die. beiden andern Stadttheile hiessen, gibt er nicht an.
Ibn Khurdädbih, der zwischen A. H. 240 —260 sein Kitäb-
almasälik-walmamälik verfasste, erwähnt Khwärizm und Kätli
neben einander, s. die Ausgabe von B. de Meynard (Journ.
Asiatique 1865) S. 39. 246.
Ausführlichere Nachrichten finden wir bei Alistakhri, der
um A. H. 340 das Reise werk des A. H. 322 verstorbenen
Albalkhi neu herausgab (vgl. De Goeje, Zeitschrift der deutsch,
morgenländ. Gesellschaft B. 25 S. 42). Er sagt (Ausgabe von
De Goeje S. 299 ff.), dass die Hauptstadt von Khwärizm
nördlich vom Oxus liege, und beschreibt sie weiter: ,Die
Hauptstadt des Landes wird im khwärizmischen Dialekt Käth
genannt. Sie besteht aus einer nunmehr verödeten Citadelle,
und aus einer (eigentlichen) Stadt. Der Oxus hat sie aber
zerstört und die Leute haben sich hinter derselben (also weiter
östlich) wieder angebaut. Der Fluss ist auch der Citadelle schon
sehr nahe gerückt und man befürchtet ihren Einsturz. Die
Hauptmoschee steht hinter der Citadelle, das Schloss des
Khwärizm-Shäh bei der Hauptmoschee und das Gefängniss bei
der Citadelle. Mitten durch die Stadt geht der Canal Jardür,
der Stadt und Markt in zwei Hälften theilt. Die Stadt ist
ungefähr ein Drittel Farsakh lang und breit. Die Thore des
zerstörten Stadttheiles sind verschwunden. Die übrige Stadt
ist hinter dem zerstörten Theil auf der Thalsole erbaut.'
Ferner auf S. 304: ,Khwärizm ist eine fruchtbare, an
Speisen und Früchten reiche Stadt.' Sie war drei Tagereisen
von dem weiter nördlich am Westufer des Oxus gelegenen
Jurjäniyya entfernt (a. a. 0. S. 341).
Das Reisewerk Balkhi-Istakhri wurde zum dritten Mal
von Ibn Haukal bearbeitet und herausgegeben; er war A. H.
331 angefangen zu reisen und seine Publication fällt in das
Jahr A. II. 367. Sein Bericht von Khwärizm stimmt meistens
wörtlich mit dem des Istakhri überein. Während zur Zeit des
ersteren ein Theil der Stadt vom Oxus zerstört war, die Cita
delle, wenn auch Einsturz drohend, noch bestand, so war zur
Zeit Ibn Haukals (Ausgabe von De Goeje S. 351) beides, Stadt
Sitzungsber. d. pliil.-hist. CI. LXXIII. Bd. 111. Hft. 32
492
Sachau.
und Citadelle schon spurlos verschwunden, und hinter dem
zerstörten Stadttheil hatte man sich wieder angebaut. Einzelne
Reste der überschwemmten Stadttlieile dürften aber noch be
deutend länger existirt haben, denn Albirünl, der jedenfalls
aus Autopsie spricht, setzt das gänzliche Verschwinden der
selben in das Jahr Alexanders 1305 (A. H. 384). Da er A. H.
362 geboren war, so hat er möglicherweise einen grossen
Theil der alten Stadt und Citadelle noch selbst gesehen.
Yäküt, der A. H. 616 Khwarizm bereiste (vgl. Wüsten
feld, Zeitschrift der deutschen morgenländ. Gesellschaft 18,
480), kennt dies Wort nur noch als den Namen des Landes,
nicht mehr als den einer Stadt (ed. Wüstenfeld II, 481, 1
Er polemisirt daher gegen den älteren Sprachgebrauch bei
’Ahmad ben Fadian (a. a. 0. II, 482, 13—15 ILlVsM.
Zu seiner Zeit war Gurgänj oder
Jurjäniyya die Hauptstadt des Landes. Aus der Geschichte,
die er II, 481 zur Rechtfertigung seiner Etymologie des Wortes
Khwarizm anführt, ergibt sich die Identität von Käth und
Khwärizm als zweier Namen einer und derselben Stadt. Yäküt
preist die hohe Cultur des Landes und erklärt nie ein blühen
deres gesehen zu haben. In alter Zeit (II, 483, 16) habe die
auf der Ostseite des Flusses gelegene Hauptstadt des Landes
Almansüra geheissen; dann aber habe der Fluss den grössten
Theil des Bodens, auf dem sie stand, weggerissen, in Folge
dessen die Einwohner auf das entgegengesetzte Flussufer nach
Jurjäniyya übergesiedelt seien. Nach einer Nachricht bei Al-
bü'üni sei Khwärizm in alter Zeit Fil genannt worden.
Von Käth erklärt Yäküt (IV, 222), es sei eine grosse
Stadt in Khwärizm, die einzige östlich vom Oxus gelegene,
während das ganze übrige Land westlich vom Oxus liege. Käth
soll im Khwärizmischen Dialekt eine ,Mauer, Einfriedigung
(Hürde) auf freiem Fehle* bedeuten. 1
1 Dies dürfte verwandt sein mit der Endung* welche in so zahl
reichen transoxanischen Ortsnamen vorkommt, s. Sprenger, Die Post-
und Reiserouten des Orients S. 18 ff. (Verzeichniss der Städte Trans-
oxaniens).
Ü
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
493
In B. III, 933 bezeichnet Yäküt Fil als die alte Haupt
stadt des Landes, die späterhin Almansura genannt wurde,
identificirt sie aber irrthümlich mit Glurgänj. Aus seinen Ar
tikeln : Jurjäniyya, Gurganj und Almansura entnehmen wir das
folgende: Gurganj war ursprünglich eine kleine Stadt auf dem
Westufer des Oxus gegenüber Fil oder Almansura. Nachdem
Fil vom Oxus zerstört, übersiedelten die Einwohner nach
Gurganj; dieses blühte auf, jenes verschwand spurlos (sic II,
54). Kurz nachdem Yäküt das Land bereist hatte, wurde es
A. H. 618 nach tapferer Gegenwehr des Khwärizmshäh von
den Mongolen erobert und gänzlich verwüstet.
Der A. H. 903, verstorbene Historiker Mirkhond braucht
noch das Wort Khwärizm als den Namen der Hauptstadt des
Landes und als gleichbedeutend mit Käth, s. Histoire des
Samanides, par M. Defremery S. 185, 186, 275.
Aus den hier mitgetheilten Nachrichten ergibt sich das
Folgende: Die alte Hauptstadt des Landes, vermuthlich die
älteste Ansiedelung der Chorasmier, lag auf dem Ostufer des
Flusses. 1 Dies wird bestätigt durch die Nachrichten der grie
chischen Geographen, welche die Chorasmier als die Bewohner
des östlichen Oxus-Ufers bezeichnen (Forbiger, Handbuch der
alten Geographie II, 561).
In dieser Stadt haben wir drei Theile zu unterscheiden
I. die alte Stadt (x-o A+Jl), II. die Citadelle (kalÄJ! oder
III. die neue Stadt, welche um so mehr zunahm, je mehr die
beiden zuerst genannten Stadttheile von den Fluthen des Oxus
zerstört wurden.
Speciell dem alten Stadttheil, der durch den Canal Jardür
in eine nördliche und südliche Hälfte getheilt wurde, scheint
der Name Khwärizm eigenthümlich gewesen zu sein, der ausser
dem als der vermuthlich älteste und wichtigste Bestandtheil
die gesammte Stadt und — nach alteranischer Weise — auch
das Land bezeichnete. Nachdem der Oxus diesen Stadttheil
zerstört und in den Jahren A. H. 350—384 die letzten Spuren
1 Das alte Khwärizm lag an einem Berge Baljän, s. Ibn-Al’athir IX, 2G7,
2: SJOC Der Name
Baljän kommt mehrfach vor; in dieser Bedeutung ist er bei Yäküt nicht
verzeichnet.
32*
494
Sachau
desselben verschwunden waren, gerieth auch der Name in Ver
gessenheit; zur Zeit Yäküt’s scheint niemand mehr Khwärizm
als den Namen der alten Hauptstadt gekannt zu haben, und
wenn er trotzdem bei Mirkhond in dieser Bedeutung noch
vorkommt, so ist das entweder ein gelehrter Archaismus oder
aus einer älteren Quelle herübergenommen.
Am Aussenrande des Weichbildes der Stadt (ob auf der
Nord-, Ost- oder Süd-Seite, ist nicht zu ersehen) erhob sich
eine stark befestigte Citadelle, auf der oder in deren Nähe
die wichtigsten Staatsgebäude z. B. das fürstliche Schloss, die
Hauptmoschee und das Gefängniss standen. Sie existirte schon
zur Zeit des Shäh Afrigli A. Alex. 616 (A. D. 305). Der am
meisten befestigte von den drei Stadttheilen (also die Citadelle)
hiess nach Albalädhuri Fil (J.«ö), während sie von Albirüni,
der sie genau beschreibt, A l'i r genannt wird. Augenscheinlich
sind beide Namen identisch und wir haben deshalb für das
der Handschriften als die richtigere Lesart adoptirt.
Fir = Fil 1 , indem r die ältere eranische Lautstufe gegenüber
späterem l vertritt. Die Citadelle hat etwas länger den Fluthen
des Öxus widerstanden; aber auch sie war zur Zeit des Ihn
Haukal oder nach Albirünis Aussage spätestens A. H. 384
spurlos verschwunden. Damit verscholl auch der Name, und
Yäküt hat die vage Vorstellung, dass Fil ganz allgemein der
Name der alten Hauptstadt gewesen sei.
Während diese beiden Stadttheile und mit ihnen die Namen
verschollen, blieb der dritte Theil Käth bestehen und war
noch zur Zeit des Yäküt eine grosse Stadt; es war der am
meisten östlich, am weitesten vom Oxus entfernt gelegene
Stadttheil von allen dreien. Schon zur Zeit des Ibn Khurdäd-
bih (Mitte des dritten Jahrh. der Flucht) muss es so bedeutend
gewesen sein, dass er Khwärizm und Käth neben einander
nennen konnte; ferner muss es schon zur Zeit der arabischen
Eroberung (A. H. 93) existirt haben, denn nach Albalädhuri
bestand Khwärizm aus drei Städten, Altstadt (Khwärizm),
Citadelle (Fil) und — Käth. Von diesem letzteren Stadttheil
1 Ob (_Qi -- Juj ist, wage ich nicht zu entscheiden. Vielleicht
ist es derselbe Name, den ein Gau (ji'Ubu;.) in Khuräsän führte, Jlaj
s. Ydküt II, 410, 3. ^ '
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
495
möchten wir nach Analogie der meisten grossen Städte in
Centralasien annehmen, dass es ursprünglich der Rabad (udjj)
d. h. die Vorstadt gewesen ist, die ausserhalb der eigentlichen
Stadtmauer, aber innerhalb des von Albalädhuri erwähnten
Grabens lag. Wir erinnern an das Beispiel der Stadt Rai. Sie
bestand nach Albalädhuri S. 319 aus einer von einem Graben
((jjtX-ü-) umgebenen inneren Stadt; in einiger Entfernung
umzog eine zweite, leichtere Befestigung (eine Pallisadcnkctte
sannnt Graben (hier genannt) die ganze Stadt.
Die Vorstadt zwischen den beiden Befestigungslinien hiess
Almuhammadiyya oder im Munde der Leute ,die äussere
Stadt' (persisch Birün). Und aus diesem Birün des alten
Khwärizm, aus der Vorstadt Kätli stammt nach unserer Ansicht
Albi rüni oder trägt wenigstens von ihr seinen Namen. Diese
Ableitung ist übrigens keineswegs neu, sondern findet sich
schon in Sim'äm’s Kitäb-al’ansäb, welche Dowson in Elliot,
History of India II, 1 Anm. 2 citirt: Birüni is derived from
the Persian and made to apply to any one born out of Khwä
rizm. Ob das Wort Birün auch im khwärizmischen Dialect
existirte, oder ob es die persische Uebersetzung des khwärizmi
schen Käth ist (vgl. die oben auf Auetorität Yäküts angege
bene Bedeutung des Wortes), ist ziemlich irrelevant. Unser
Autor nennt sich mit Recht Alkhwärizn'd ÄUnrünt, weil er in
der alten dreitheiligen Landeshauptstadt, deren beide unmittel
bar am Oxus gelegene Stadttheile zur Zeit seiner Geburt
(A. H. 362) wenigstens bruchstückweise noch existirten, und
speciell in Käth oder Birün, der Vorstadt derselben und dem
einzigen von dem Oxus verschonten, zu einer grossen Stadt
angewachsenen Stadttheil geboren war.
Je mehr Khwärizm an Bedeutung Verlor, um so mehr
blühte Gurgänj auf; im 4. Jahrh. der Flucht war noch Käth
die grösste und Hauptstadt des Landes, Gurgänj die zweit
grösste. Nachdem Käth aufgehört der Sitz der Shälis zu sein
(A. H. 385), wurde Gurgänj, die Residenz der Gouverneure,
die grösste und die Hauptstadt des Landes, als welche sie
Yäküt kennen lernte. Käth soll — nach Yälcüt — auch Al-
mansüra genannt worden sein. Er begeht einen groben Irrthum,
indem er Fil und Gurgänj als auf beiden Seiten des Flusses
sich gegenüber liegend bezeichnet und glaubt, dass nach der
496
S a c h a u.
Zerstörung von Fil seine Einwohner auf das gegenüberliegende
Ufer übergesiedelt seien; die Entfernung zwischen Fil und
Gurgänj war ebenso gross als die zwischen Käth und letzterem
Ort d. h. drei Tagereisen stromabwärts.
Schliesslich bemerken wir nur noch, dass auch Grurgänj
eine sehr alte Stadt gewesen sein muss, wenn anders die Iden
tification von urvä (Vendidad I, 38) mit Gurgänj sich als
stichhältig erweisen sollte. Die Stadt war zur Zeit des Alista-
khri (S. 342, 2. 3.) 1 Farsakh vom Oxus entfernt, während
Yäküt (II, 54) sie als am Ufer des Oxus liegend beschreibt.
Kehren wir nach dieser Digression zurück zur Bespre
chung von Albirünis Bericht über die Aeren der Khwärizmier,
speciell zur dritten Aera, als deren historische Veranlassung
wir die Erbauung eines königlichen Schlosses durch den Shäh
Afrigh kennen gelernt haben. Bis auf diese Zeit (A. D. 305)
führt Albirüni den Stammbaum des chorasmischen Fürsten
hauses zurück; er zählt bis zum Auftreten Muhammads (A. D.
610), also für einen Zeitraum von 305 Jahren 10 Fürsten,
was für jeden eine durchschnittliche Regierungsdauer von 30'/ 2
Jahren ergiebt. Die Namen sind: SjJU, dLw.:^, iJj+iSLu/!,
Uer letztere —
Arthamükh — war nach Albirüni ein Zeitgenosse Muhammads.
In dem Zeitraum von 102 Jahren, der zwischen Muham
mads Auftreten und der definitiven Eroberung Khwärizms
durch Kutaiba ben Muslim (A. H. 93 = A. D. 712) verfloss,
regierten vier weitere Fürsten aus demselben Geschlecht mit
Namen: dJ!.
Der letztere — Askajamük — wurde von Kutaiba ben
Muslim als Shäh von Khwärizm gegen seinen rebellischen
Bruder bestätigt, musste sich aber dafür verpflichten, einen
jährlichen Tribut zu entrichten und einen muslimischen Gou
verneur (Wall) sammt Besatzung aufzunehmen.
Die näheren Verhältnisse der Eroberung Khwärizms durch
die Araber sind nach Albalädhuris Kitäb-alfutüh folgende:
Der erste Eroberungsversuch wurde bereits unter dem
Chalifat Othmans unternommen und zwar von Al’ahnaf ben
Kais, einem der Generäle des 'Abdallah ben 'Amir b. Kuraiz,
der A. H. 29 von Othman zum Statthalter von Basra ernannt
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
497
war (s. Albaladhuri S. 408 und über Al’ahnaf Ibn-el-Athiri
Chronieon III, 25; Afülfedae Annales ed. Reiske I, 249). Nach
einem Zuge gegen Balkli wandte er sich nach Khwärizm,
musste aber unverrichteter Sache wieder umkehren.
Glücklicher war Salm b. Ziyäd, der unter Yazid ben
Müäwiya (A. D. 681—683) Statthalter von Khuräsän war (vgl.
Ibn Kutaiba, Kitab alma'ärif 177, 9; Ibn-el-Athiri Chronieon
IV, 82). Er zwang die Khwärizmier, mit ihm einen Vertrag
zu schliessen, in Folge dessen sie ihm 400.000 Dirham zahlten
(Albaladhuri 413).
Die erste, wenn auch vielleicht nur partielle Eroberung
fällt unter das Chalifat des 'Abdalmalik ben Marwän. 'Umayya
ben 'Abdallah, der von A. H. 74—78 Statthalter von Khuräsän
war (s. Ibn-el-Athiri Chronieon IV, 298), eroberte Fil (Alba-
lädhuri 426), die Citadellc der Landeshauptstadt, in der sich
vermuthlich der Widerstand der Khwärizmier concentirte. Sie
schüttelten aber bald das fremde Joch wieder ab und schon
Yazid ben Almuhallab, der von Ende A. II. 82—85 als Depu-
tirter des Alhajjäj für Khuräsän fungirte, musste einen neuen
Zug gegen Khwärizm unternehmen, der aber fehlschlug. Alba-
lädhuri S. 417 erzählt von ihm: ,Yazid bekriegte Khwärizm
und machte Gefangene. Sein Heer bekleidete er dann mit den
Kleidern der Gefangenen, so dass diese vor Kälte umkamen'
(vgl. Ibn-el-Athiri Chronieon IV, 402). Auf diesen Yazid bezieht
sich der auch von Yäküt III, 933 überlieferte Vers des Ka'b
Al’ashkari:
,Fil hat mit eigenen Händen dich (Kutaiba ben Muslim)
beschenkt und that Recht daran.
Vor dir hat der Schwätzer, der Grossprahler (Yazid ben
Almuhallab) es begehrt/
Die definitive Eroberung des Landes erfolgte durch Ku
taiba ben Muslim Albähili, der von A. H. 85—97 Statthalter
von Khuräsän war und der zuerst diese Provinz wie auch
Transoxanien dauernd dem Scepter des Chalifen unterwarf
(vgl. Ibn Kutaiba, Kitäb-alma'ärif S. 207). Veranlasst und
begünstigt wurde die Eroberung durch innere Streitigkeiten
des einheimischen Fürstenhauses. Die näheren Umstände der
selben waren die folgenden (Albalädhuri 426, 420, 421): Khur-
zäd, ein Bruder des Shäh, hatte sich gegen diesen empört.
498
Sachau.
Der Shäh bat Kutaiba um Hülfe und versprach ihm dafür
Geld und die Schlüssel der Hauptstadt. Nachdem diese Bedin
gung erfüllt war, entsandte Kutaiba seinen Bruder 'Abdalrah-
män ben Muslim mit einem Heere. Die Muslims lieferten dem
Khurzäd eine Schlacht, in der dieser fiel; 4000 Gefangene
wurden gemacht und getödtet. Dem Vertrage gemäss bestätigte
Kutaiba den Shäh als Landesfürsten. Die Khwärizmier aber,
mit diesem Arrangement nicht zufrieden, erklärten den Shäh
für einen Schwachkopf und ermordeten ihn. In Folge dessen
stationirte Kutaiba seinen Bruder 'Abdallah b. Muslim mit
einem muslimischen Heer als Statthalter (Wall) im Lande.
Ein etwas ausführlicherer Bericht über diese Eroberung
findet sich bei Ibn-alathir IV, 451 unter den Ereignissen von
A. H. 93. Kutaiba zog von Merw nach Hezärasp, und nach
dem die Bedingungen des Vertrages von dem Shäh ausgeführt
waren, sandte er seinen Bruder 'Abdalrahmän gegen den Rebel
len, der hier Khämjird 1 heisst, während der Bruder des Shäh
S. 451 Khurzäd genannt wird. Khämjird wird geschlagen und
getödtet, der Prinz und sein Anhang gefangen. Kutaiba über
liefert sie dem Shäh, der sie tödten und ihr Vermögen dem
Kutaiba zukommen lässt. Vgl. Weil, Geschichte der Chalifen
I, 501. 502.
Wenn Albirüni sagt: ,Nachdem Kutaiba ben Muslim
Khwärizm nach dem Abfall der Khwärizmier zum zweiten
Mal erobert hatte*, so dachte er sich vermuthlich die oben
erwähnte Eroberung durch 'Umayya ben 'Abdalläh als die
erste; denn von einer zweimaligen Eroberung durch Kutaiba
ist nichts bekannt. Man müsste denn annehmen, dass, nachdem
die Einheimischen den von Kutaiba bestätigten Shäh (mit
Namen Askajamük nach Albirüni) ermordet, eine Erhebung
gegen die muslimischen Eroberer erfolgt sei, welche eine er
neute Eroberung des Landes nothwendig machte.
Albirüni schildert Kutaiba als den Zerstörer seines Hei-
mathlandes und macht ihn verantwortlich — ob mit Recht oder
Unrecht, lassen wir dahingestellt — für die geistige Verkom
menheit seiner Landsleute. Ueber denselben Gegenstand äussert
1 Unter Khämjird haben wir uns vermuthlich den Hauptführer der Partei
des Prinzen Khurzäd zu denken.
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizra.
499
er sich noch an einer andern Stelle (R. Bl. 22 b ): ^6" LJ
jv-Lviwo 2U£ÄJ oJiL»t ^.jo
l+AJ ^yiy&S !^.ÄJ p-g-Äiä 3 « jVhJ-AÄS^ Xi'LlJ j
-k-ftif J..C xJ! ,Nachdem Kutaiba ben Muslim ihre (der Khwä-
rizmier) Schreiber zu Grunde gerichtet, ihre Priester getödtet,
ihre Bücher und Schriften verbrannt, lebten sie fort in Un
wissenheit, sich in allem, was sie brauchten, auf das Gedächt
nis verlassend*. Vermuthlich schwebte Albirüni bei dieser
Schilderung das Bild Alexanders vor, wie er in Persepolis die
Schätze altpersischer Gelehrsamkeit den Flammen preisgab.
Nach der muhammedanisclien Eroberung Khwärizms scheint
nun ein staatsrechtlicher Dualismus im Lande bestanden zu
haben, nämlich die Wiläya und die Shäkiyya, das Amt des
Gouverneurs und das Königthum, welches in der Familie Afrigh-
Siyäwush forterbte. Die Wälis waren die Unterstatthalter der
jeweiligen Gouverneure oder selbstständigen Beherrscher von
Klmräsän. In welcher Weise die Machtbefugnisse zwischen
beiden getheilt waren, deutet Albirüni nicht an; vermuthlich
hatte der Wäli seinen Sitz in Gurgänj, der Shäli den seinigen
in Käth. In unruhigen Zeiten suchte natürlich der eine auf
Kosten des anderen seine Macht zu erweitern, wobei es sich
ereignet haben mag, dass die Shähs zuweilen die ganze Herr
schaft des Landes wieder an sich rissen. Dies Verhältniss
blieb bestehen bis A. H. 385, in welchem Jahr der letzte Shäli
Abü-Abdallah Muhammad ben Ahmad ermordet wurde. Damit
war der Dualismus aufgehoben und der in Gurgänj residirende
Wall von nun an Alleinherrscher im Lande.
In dem Zeitraum von 283 Jahren zwischen der Eroberung
durch Kutaiba und dem Tode des ’Abü-'Abdalläh Muhammad
A. H. 93—385 (A. D. 712—995) regierten die letzten acht
Fürsten aus der alten Dynastie:
A-*-s? aüjl Aaä y-?l
Von dem vorletzten Shäli Abü-Sa'id Ahmad ben Muham
mad berichtet Albirüni, dass er, nachdem er A. Alexandri 1263
(A. D. 952) aus der Gefangenschaft der Samaniden in Bukhärä
befreit war, eine Reform des khwärizmischen Kalenders nach
500
Sachau.
Art der Reform des Clialifen Almu'tadid-Billäh unternahm, die
A. Alex. 1270 (A. D. 959) durchgeführt wurde.
Mit 'Abu-'Abdallah Muhammad erlosch das Geschlecht
der Chosroen in Khwärizm. Sein Ende erfolgte unter folgenden
Umständen, die wir Mirkhond (Histoire des Samanides. Par
M. Defremery. Paris 1845 S. 184—187) entnehmen: Khwärizm
war eine Provinz des Samaniden-Reiches und wurde unter Nüh
ben Mansür (gest. A. PI. 387 Rajab) durch einen Gouverneur
(Wäli) Ma’mün ben Muhammad, der seine Residenz in Gurgänj
hatte, verwaltet. Gleichzeitig mit ihm war Khwarizmshäh jener
’Abü- 'Abdallah, der, wie es scheint, in Kath residirte. Der
rebellische Statthalter von Khuräsän, ’Abü-'Ali ben Simjür
wandte sich, nachdem das Waffengliiek ihm unhold geworden,
an die Gnade seines Herren, des Nüh ben Mansür. Dieser
wies ihn an, sich nach Gurgänj zu begeben und befahl zugleich
seinem dortigen Statthalter, ihn aufmerksam zu behandeln. Als
aber ’Abü-'Ali in Plezärasp das Gebiet von Khwärizm betrat,
wurde er auf Befehl des Shäh gefangen genommen und nach
Kath geschleppt. Es war dies ein Act der Rache wegen einer
alten Privatfeindschaft zwischen dem Shäh und ’Abü-'Ali 1
(a. a. 0. S. 186). Sobald der Wäli Ma’mün von diesem Vor
gang Kenntniss erhielt, sammelte er Truppen und vereinigte
sie mit den Anhängern des ’Abü-'Ali, marschirte gegen Kath,
eroberte die Stadt, machte den Shäh selbst zum Gefangenen
und befreite ’Abü-'Ali. Darauf zog er nach Gurgänj zurück,
wo ’Abü-'Ali mit grosser Aufmerksamkeit behandelt, der Shäh
aber gefangen gehalten wurde. Als dann Ma’mün eines Tages
seinem Gast ein Bankett gab, wurde der Shäh aus dem Ge-
fängniss geholt, vor die trunkene Gesellschaft geschleppt und
ermordet. Eine andere Folge als die, dass der Statthalter des
Samaniden-Königs, Ma’mün ben Muhammad, von nun an un
bestrittener Alleinherrscher von Khwärizm wurde, dass die Shäh-
1 Als Nüh A. H. 383 vor Bughräkhan aus seinem Lande fliehen musste
und in Amul-shatt seine flüchtigen Schaaren sammelte, wurde er sowohl
von ’Abü-'Abdalhih wie von Ma’mün treu unterstützt. Nach seiner Resti
tution belohnte er sie für ihre Dienste, indem er Abiward dem ’Abü-
‘Abdalläb, Nasa dem Ma’mün als Lehen verlieh. Beide waren im Besitz
des Statthalters von Khuräsän, des ’Abü-'Ali ben Simjür; dieser übergab
nun zwar Nasä an die Beamten des Ma’mün, weigerte sich aber ’Abjward
an ’Abü-'Abdalläh herauszugeben.
G
Zur Geschichte und Chronologie von khwärizm.
501
Würde und mit ihr die Dynastie Afrfgh-Siyäwusli erlosch, und
dass der Titel Khwärizm shäh, der noch Jahrhunderte lang- im
Gebrauch war, einfach auf die nachfolgenden Beherrscher des
Landes übertragen wurde, scheint dies Ereigniss nicht gehabt
zu haben. 1
Wir sind hiermit an das Ende unseres Commentars zu
dem oben mitgetheilten Abschnitt aus Albirünis Chronologie
angelangt. Wenn seine Mittheilung sich bewahrheitet, so erfah
ren wir durch sic die ebenso interessante wie bisher unbekannte
Thatsache, dass eine Dynastie, welche ihren Ursprung auf die
Kayanier zurückführte, während eines Zeitraumes von 690 Jahren
(von A. D. 305—995) den Thron von Khwärizm inne hatte;
sie war gleichzeitig mit den Sasaniden, Omayyaden, Abba-
siden und den Fürstengcschlechtern der Tähiriden, Saffäriden
und Sämäniden, welche den Osten des Chalifenreiches be
herrschten. Bis zur Zeit der Eroberung durch Kutaiba ben
Muslim waren sie die alleinigen Gebieter des Landes; später
hin existirten neben ihnen die Statthalter der Chalifen oder
der jeweiligen Beherrscher von Khuräsän und Transoxanien.
Als der Stammvater des Geschlechtes wird Siyäwush, der
Sohn des Kaikäüs, angegeben. Er soll 92 Jahre nach dom
Anfang der Bebauung Khwärizms (1292 vor Chr. Geb.) dort
hin gekommen sein, also 1200 vor Chr. Geb. Diese beiden
Daten sind höchst wahrscheinlich das Resultat gelehrter, chro
nologischer Berechnung.
Die Zahl der Fürsten dieses Hauses für die Zeit von
A. D. 305—995 beträgt 22, die durchschnittliche Regierungs
dauer eines jeden etwas über 31 Jahre. Für die chronologische
Anordnung gewährt uns Albirüni die folgenden vier Daten:
I. Erbauung des Königsschlosses durch Afrigli A. D. 305.
II. Arthamükh, der 10. Shäh aus diesem Hause, gleichzeitig
mit Muhammads prophetischer Mission A. D. 610.
III. Askajamük, der 14. Shäh, gleichzeitig mit der Eroberung
durch Ibn Kutaiba A. D. 712.
IV. 'Abu-'Abdallah, der 22. Shäh, wird ermordet A. D. 995.
1 Ueber die Schicksale des einheimischen Fürstengeschlechtes von Bukhära
im Islam und sein schliessliehes Verschwinden unter den Samaniden (der
letzte, ’Abu-’Ishäk, starb A. H. 301) s. Vambery, Skizzen aus Mittelasien
S. 212; Geschichte Bukhäräs I, 3. 4. (nach dem Ta’rikh-i-Narshakhi)
502
Sachau.
Wir geben hier eine Uebersicht
suchen die Namen zu lesen:
!) (Varr. £^il, £syl)
S^.*J 1
dlLa? R «älll? P dLJ?L
(Varr.
2
y
(JO^Lw (=
(L ^XsLä.)
10) t ^S;l 4
)y=^j
14)
jSLÜjj L«W (L jSLhüj L»Cu)
-KV)
2Ö La.wA). j ) I v t\3 L-wd.
«JJI cXaä'
der 22 Shähs und ver-
Afrigh
Baghra (Baghza)
Sakhassakh
Askajamulc
Azkajawär
Sakhr
Shäwush
Khamgri
Buzkär
Arthamukh
Sakhr
Sabri
Azkajawär
Askajamuk
Shäwushfar
Turkasbätha
'Abdallah
1 Ueberliefert ist S^.äj PL) R. Obwohl 'Ain zu Anfang eranischer
Namen vorkommt (z. B. in ^ j- f), bezweifeln wir dennoch die Rich
tigkeit dieser Ueberlieferuug; die nächste Aenderung wäre yt. i \ oder
2 Dies ist vermuthlicli identisch mit dem Namen J, g 1V (wie Kaßoupa
— Kabul etc.), dem wir gerade im Osten des Chalifats so häufig begegnen.
Dabei ist allerdings zu bedenken, dass auch unter den Kämpfern bei
Badr dieser Name schon vorkommt; s. Ibn-Duraids Kitab-alislitikäk ed.
Wüstenfeld.
3 Vgl. den Khwärizmi-Namen , v , I ^ Khämjird bei Ibn Al’athir IV,
451, 11 ff. ' ' ~
J Vgl. den kliwärizmischen Ortsnamen Arth akhushmithän (Yäküt I, 191).
5 Vermuthlich war dieser 'Abdallah der erste Slifll), der zum Islam über
trat. Rechnen wir für jeden der letzten seclis Shähs eine Rcgicrungszeit. von
etwas über 30 Jahren, so gelangen wir zurück an den Anfang des
9. christl. Jahrhunderts. Diese Bekehrung zum Islam dürfte daher unter
das Chalifat Ma’müns fallen.
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
503
22) ÄS-Ut cXa£
ü>V
tX+.s?
cX+ü-I
Mansür
'Irak
Muhammad
’Ahmad
'Abu 'Abdallah Muhammad.
Es fehlt uns einstweilen an Mitteln zu untersuchen, wie
weit diese Liste auf historische Glaubwürdigkeit Anspruch hat.
Wir machen übrigens darauf aufmerksam, dass Albirüni nicht
behauptet, ein jeder dieser 22 Prinzen sei Shäh gewesen (aus
genommen den 1., 2., 10., 14. und 22.); es wäre sonst auffal
lend, dass in 21 Fällen die Herrschaft beständig von Vater
auf Sohn, niemals auf einen Bruder oder Enkel übergegangen
wäre. Albirüni war es nur darum zu tliun, die directc Abstam
mung des letzten Shfih von Afrigh nachzuweisen; es ist daher
richtiger, jene 22 Namen als die Repräsentanten eben so vieler
Generationen des khwärizmischen Herrscherhauses, nicht als
so viele wirkliche Regenten oder Shälis aufzufassen.
Wie weit diese Nachrichten von der Shäh-Dynastie durch
anderweitige historische Denkmäler z. B. Münzen geklärt und
bestätigt werden, müssen wir abwarten. Wir können uns aber
nicht enthalten daran zu erinnern, dass eine ähnliche Nach
richt in Albirünis Werk über Indien betreffend die Shähs von
Kabul, obgleich durchaus nicht in Uebereinstimmung mit der
Vulgärtradition der Historiker, durch die numismatischen Nach
weise von Longperier und Thomas eine glänzende Bestätigung
gefunden hat. Wir verweisen in dieser Beziehung auf Reinaud,
Fragments Arabes et Persans inedits S. 153; Lettre a Mr. Rei
naud von A. de Longperier, das. S. 219; Edward Thomas,
Journal of the Royal Asiatic Society (vol. IX S. 194) und
Elliot, History of India (ed. Dowson) II S. 7 ff.
Indem wir uns Vorbehalten, an einem anderen Ort über
Albirünis Glaubwürdigkeit, über seine Quellen und die Methode
seiner Forschung ausführlich zu handeln, erörtern wir hier
noch die Frage über sein Verhältniss zur Shäh-Dynastie. Lässt
es sich durch irgendwelche Umstände wahrscheinlich machen,
dass er zu ihren Gunsten parteiisch war und ihnen daher
eine möglichst alte und ruhmreiche Abstammung anzudichten
suchte? —
504
Sachau.
Von einer persönlichen Beziehung zwischen Albirüni und
den Shähs ist nichts bekannt. Der letzte derselben wurde
getödtet, als Albirüni 22 Jahre alt war. Dagegen war er Jahre
lang der vertraute Rathgeher des Hauses Ma’mün, welches
durch die Ermordung des Shäh die Alleinherrschaft im Lande
an sich gerissen hatte. Er sagt bei Albaihaki (Bibliotheca
Indica) S. 838 Z. 4: ,Ich, Abü-alraihän, der ich 7 Jahre ihm
gedient habe', nämlich dem ’Abü-al'abbäs Ma’mün ben Ma’mün
(gest. A. H. 407), dem zweiten Nachfolger jenes bei Mirkhond
erwähnten Ma’mün b. Muhammad. Ueber die Hochachtung,
die der Fürst ihm zollte, vgl. die von ihm selbst erzählte
Geschichte bei Albaihaki S. 840. Albirüni war zwar nicht
sein Vezir, aber sein Rathgeber bei den wichtigsten Staats
angelegenheiten (das. S. 842). Die sieben Jahre, während
welcher er dem Ma’mün diente, scheinen die Jahre von A. II.
400—407 gewesen zu sein. Nach der Ermordung des Ma’mün
(A. II. 407) wurde Albirüni auf gewaltsame Weise quiescirt
(Albaihaki 448 ^jtj)
Albirüni hat ferner keines seiner Werke dem Shäh ’Abü-
'Abdallah gewidmet, hatte auch vermuthlich bis zu dessen Tode
noch nicht viel geschrieben. . Die Chronologie ist dem Shams-
alma'äli Käbüs ben Washmgir gewidmet, der in den Jahren
A. II. 366—371 und 388—403 Jurjän beherrschte (s. Defre-
mery, Histoire des Samanides S. 210 ff.).
Soweit wir Albirünis Lebensumstände kennen, gewähren
sie keinerlei Anhaltspunkt, um ihn der Parteilichkeit für das
uralte Fürstengeschlecht seiner Heimath zu verdächtigen; im
Gegentheil lag es ihm als Freund der Verdränger und Nach
folger der Shähs näher, diese letzteren herabzusetzen. Er
geniesst den Ruhm höchster Wahrheitsliebe (s. Elliot, History
of India II S. 2) und, soweit wir aus seinen Schriften urtlieilen
können, mit vollem Recht. An mehreren Stellen seiner Chrono
logie verurtheilt er mit besonderer Schärfe diejenigen, welche
aus persönlichen Motiven Genealogien fabriciren und Geschichte
fälschen.
Während Albirüni im allgemeinen sehr sorgfältig die
Quellen seiner Nachrichten bezeichnet, nennt er keinerlei Quel-
Zur Geschichte und Chronologie von Khwärizm.
505
len oder Gewährsmänner in dem auf Khwärizm (und Sug'lid)
bezüglichen Theil. Ueber diese Gegenstände schrieb er aus
eigener Anschauung, schöpfte aus den Traditionen des Volkes
und hatte vermuthlich alles, was an Documenten und Chro
niken aus alter Zeit in den Archiven seiner Vaterstadt und
des ganzen Landes übei’liefert war, vollständig zu seiner Ver-
fügung. Alle diese Quellen scheinen ausser von ihm zu seiner
Zeit und auch späterhin von keinem anderen mehr benutzt
worden zu sein. Die Volkstradition wurde verdrängt durch
die Legenden des Koran und die meisten Schriftwerke mögen
bei der gänzlichen Verwüstung des Landes durch die Mongolen
verloren gegangen sein.
Bevor wir unsere Bemerkungen zu Albirünis Bericht über
die Geschichte Khwärizms schliessen, machen wir noch auf
eine Stelle bei Albaihaki aufmerksam, die vermuthlich aus der
,Chronik von Khwärizm' des ersteren entlehnt ist. Albaihaki
sagt, dass Khwärizm zu aller Zeit ein selbstständiges Reich
mit selbstständigen Fürsten gewesen sei, und berichtet die
sonst unbekannte Thatsache, dass zur Zeit des Sasanidenkönigs
Bahrämgür (s. Mujmil-altawarikh, Journal Asiatique 1841 Dec.
12. B. S. 515) einer seiner Verwandten, der obei’ste Heerführer
des Reiches, sich Khwärizms bemächtigt habe. Ob aber diese
Besitzei’greifung nur eine vorübergehende oder von längerer
Dauer war, wird nicht angedeutet. Wir lassen Albaihaki 834
selbst reden: ,Khwärizm ist eine Provinz, wie ein Iklim,
80 Farsakh lang und breit. Es gibt dort viele Kanzeln. 1 Zu
allen Zeiten ist es der Sitz besonderer 2 , namhafter Könige
gewesen, wie denn in den Chroniken der Perserkönige geschrieben
steht, dass ein Verwandter des Bahräm Gur, der oberste Heer
führer des Perserreiches, in jenes Land kam und sich desselben
bemächtigte. Diese Nachricht hält man für wahr. Als die
Herrschaft der Araber — möge sie ewig dauern! — die Spuren
1 Wie man von einem christlichen Lande sagen würde, es habe viele
Kirchen. Von Farghäna sagt Yfikfit III, 879, 3: ,es hatte 40 Kanzeln 1 .
Eine Aufzählung von Kanzeln s. bei Alistakhri 263, 6.
2 Morley schreibt hier und S. 868, 3 d. i. was
bei Albaihaki auch als Adjectiv mit der Bedeutung .besonders, separat 1
gebraucht wird.
506
Sacliau. Zur Goschichto und Chronologie von Khwarizm.
der Perser vertilgt und durch den Herrn der Menschheit, Mu
hammad, die Oberhand gewonnen, führte Khwarizm gleichfalls
eine gesonderte Existenz, wie es in den Chroniken überliefert
wird, dass Khwarizm immer ein besonderes Königthum gehabt
hat. Dies Reich hat — ebenso wie Khuttalän und Caghäniyän
— niemals zu Khuräsän gehört. Auch zur Zeit der Muawiyaden
und zur Zeit der Tähiriden, als das Chalifat etwas rissig wurde,
stand es mit Khwarizm ebenso. Unwiderlegbare Zeugen sind
auch die Ma’münis, deren Dynastie zur Zeit des gesegneten
Mahmud zu Grunde ging. 4
XL SITZUNG VOM IG. APRIL 1873.
Herr Dr. Ernst Trumpp in Tübingen überreicht sein
mit Unterstützung der kais. Akademie herausgegebeues Werk:
,Grammatik der Afghanischen Sprachen'.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Aeaddmie Impdriale des Sciences de St. Petersbourg: M6moires in 8°.
Tome XXI, Part 3. St. Petersbourg, 1872; 8°.
Accademia Pontificia de’ Nuovi Lieei: Atti. Anno XXVI. Sess. 2 d \ Roma,
1873; 4».
Akademie der Wissenschaften, Königl. Preuss., zu Berlin: Monatsbericht.
December 1872. Berlin, 1873; 8°.
d’Avezac, Annee v£ritable de la naissance de Christophe Colomb et revue
chronologique des priucipales dpoques de sa vie. Paris, 1873; 8°.
Bierens de Haan, D., Notice sur Meindert Semeijns. Rome, 1873; 4°.
Bullettino della Cominissione Archeologica Municipale. Novembre 1872,
Decembre 1872 —Febbrajo 1873. Roma, 1872 & 1873; kl. 4°.
Gesellschaft der Wissenschaften, Oberlausitzische: Neues Lausitzisches
Magazin. XLIX. Band, 2. Hälfte. Görlitz, 1872; 8°.
— geographische, in Wien: Mittheilungen. Band XVI (neuer Folge VI),
Nr. 2. Wien, 1873; 8«.
— für die Geschichte der Herzogthümer Schleswig-Holstein und Lauen
burg: Zeitschrift. III. Band (Schluss-Heft). Kiel, 1873; 8°. — Register
über die Zeitschriften und Sammelwerke für Schl.-II.-L. Geschichte. II.
(Schluss-) Heft. Kiel, 1873; 8°.
Sitzungsber. d. pliil.-liist. CI. LXX1J1. Bd. III. Hft.
33
^ g
508
Istituto, K., Veneto di Scienze, Lettere ed Arti: Atti. Tomo II 0 , Serie
IV a , Disp. 3“ & 4°. Venezia, 1872 — 73; 8°.
Ivellio, Antonio degl’, Saggio d’uno Studio storieo-critico sulla colonia e
sul contadinaggio nel territorio di Ragusa. Ragusa, 1873; 8°.
L enormant, Francois, Etudes accadiennes. Tome I er , l re & 2 dc Partie.
Paris, 1873; 4°.
üller, Friedrich, Allgemeine Ethnographie. Wien, 1873; 8°.
alacky, Franz, Urkundliche Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges
vom Jahre 1419 an. I. Band, 2. Heft. Prag, 1872; 8°.
Rajendraläla Mitra, Notices of Sanskrit Mss. Nr. V. Vol. II. Part 2.
Calcutta, 1872; gr. 8°.
,Revue politique et litteraire“ et ,Revue scientifique de la France et de
l’etranger 1 . II e Annee, 2 e Serie, Nrs. 40—41. Paris, 1873; 4°.
Society, The Royal Geographical, of London: Proceedings. Vol. XVI,
Nr. 5; Vol. XVII, Nr. 1. London, 1872 & 1873; 8°.
Trumpp, Ernest, Graminar of the Pastö or Language of the Afghäns,
compared with the Iränian and Nortli-Indian Idioms (Printed under the
Auspices and by the Aid of the Imperial Academy of Sciences, Vienna).
London & Tübingen, 1873; 8°. — Grammar of the Sindlii Languague.
Compared with the Sanskrit-Prakrit and the Cognate Indian Vernaculars.
London & Leipzig, 1872; 8°.
Verein für Landeskunde von Niederösterreich: Blätter. VI. Jahrgang. 1872,
Nr. 1—12.' 8°. — Topographie von Niederösterreich. IV. Heft. Wien,
1872; 4°.
— für meklenburgiselie Geschichte und Alterthumskunde: Jahrbücher und
Jahresbericht. XXXVH. Jahrgang. Schwerin, 1872; 8°.
— zur Versorgung und Beschäftigung erwachsener Blinder in Wien: Jahres-
Bericht. 1872. Wien, 1873; 4°.
XII. SITZUNG VOM 23. APRIL 1873.
Herr Regierungsrath Dr. C. von Wurzbach in Wien
überreicht den XXV. Band seines biographischen Lexikons des
Kaiserthums Oesterreich.
509
Herr Prof. Dr. Sachau in Wien ersucht um Aufnahme
des II. Theiles seiner Untersuchungen zur Geschichte von
Khwärizm (oder Khiwa) in die Sitzungsberichte.
Herr Dr. Aurel Mayr in Pest sendet ,Beiträge zur Ge
schichte des indischen Erbrechtes: I. Ueber die Vertheilung
des Vermögens*, und ersucht um deren Abdruck in den Sitzungs
berichten.
Herr Ministerialrath Dr. Beer in Wien überreicht eine
Abhandlung ,Zur Geschichte des bayrischen Erbfolgekrieges 1 ,
um deren Aufnahme in das Archiv für österreichische Ge
schichte der Verfasser ersucht.
Die Aufnahme der Abhandlung von Herrn Dr. Gold-
ziher in Pest ,Beiträge zur Sprachgelehrsamkeit bei den
Arabern IIP in die Sitzungsberichte wird genehmigt.
An Druckschriften wurden vorgelegt:
Accademia Pontificia de’ Nuovi Licei: Atti. Anno XXVI., Sess. III“.
Roma, 1873; 4°.
Mascliek, Luigi, Manuale del regno di Dalmazia per l’anno 1872 & 1873.
Zara, 1872 & 1873; 8°.
Moritz, A., Alphabetischer Index der vorzüglichsten Städte und Ansiedlun
gen auf den kaukasischen Karten. Tiflis, 1871; gr. 8°. (Russisch.) —
Schemacha und seine Erdbeben. Tiflis, 1872; 8°.
Prantl, Karl von, Gedäehtnissrede auf Friedrich Adolph Trendelenburg.
München, 1873; 4°.
Prato, Giovanni, Estremi onori resi alla salma di Tommaso Gar dal Muni-
cipio e dai cittadini di Trento il 1° di Marzo 1873. Trento; 8°,
Pullich, Giorgio, L’ideale e la relativa umana facoltä da coltivarsi nella
educazione in genere, e in specie nella educazione ginnasiale. Trento,
1873; kl. 8».
t
33*
510
,Revne politique et litteraire 1 et ,Revue seientifique de la France et de
l’etranger 1 II e Armee, 2 me Serie. Nr. 42. Paris, 1873; 4°.
Verein, histor., für das Grossherzogthum Hessen: Archiv für Hessische
Geschichte und Alterthumskunde. XIII. Band, 1. Heft. Darmstadt, 1872; 8°.
— siebenbürgischer, für romanische Literatur und Cultur des romanischen
Volkes: Transilvania. Anulu VI, Nr. 6—8. Kronstadt, 1873; 4°.
Goldziher. Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern. 511
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit
bei den Arabern.
Von
Dr. Ignaz Goldziher.
III.
Abu-l-Husein ibn Färis.
Es ist schon in einer früheren Abhandlung hervorgehoben
worden, dass wir dem ausgezeichneten Werke ,al Muzhir fi
'ulüm al luga' von dem gelehrten Vielschreiber as-Sujüfi,
die eingehendere Kenntniss so mancher wichtiger Werke der
philologischen Literatur der Araber verdanken, Werke von
denen wir sonst sehr wenig, gar nichts, oder höchstens den
Titel und den allgemeinen Inhalt kennen würden, die aber an
sich oder wegen ihrer berühmten Verfasser genug wichtig sind,
dass die Literaturgeschichte der arabischen kSprachgelehrsam-
keit von denselben insoweit Kenntniss nehme, als dies durch
den bei as-Sujüp erhaltenen reichlichen Citatenschatz noch
möglich ist.
Auch nach dieser Richtung ist es wahr, was Krehl un
längst in einer Recension hervorhob, 1 dass nämlich as-Sujüti’s
,Muzhir' ,noch lange nicht genug gekannt und ausgebeutet' ist.
I. Eines dieser Werke ist eine ziemlich verschollene
Arbeit des gelehrten Lexicologen Ahmed Abu-l-IJusein ibn
Faris (st. 394 H.), welche as-Sujup in zahlreichen und weit
läufigen, vielleicht alles Wichtige und Bemerkenswerthe er
schöpfenden, Excerpten unter dem Titel: ,Fikh-al-luga' ein-
1 Zeitschrift d. d. m. Ges. Bd. XXV (1871) p. 680. Vgl. diese Sitzungs
berichte Bd. LXIX p. 15 f.
512
Goldziher.
führt. — Mit der Herausgabe eines gleichnamigen, jedoch von
at-Ta'älibi verfassten, arabischen Werkes beschäftigt, musste
jenes ungefähr ein Jahrhundert vor at-Ta'älibi verfasste Werk
mit demselben Titel, für mich umsomehr Interesse haben,
als der Catalogist der medicaeischen Bibliothek in Florenz,
welche ebenfalls eine Handschrift des at-Ta'älibi’schen Fikh-
al-luga besitzt, Stephan Evoduis Assemani, 1 von letzterem
Werke sagt, es sei eine Einleitung in das gleichnamige, ältere
Buch des Ibn Färis: ,Abu Mansoris Abdul Malechi Mahometis
,iilii Ismaelis Nisaburensis anno Hegirae 429 mortui Trac-
tatus per modum praefationis in librum grammaticum
,cui titulus Doctrina linguae arabicae et Secretum
,Arabismi cuius auctor Abul Phares, qui obiit anno Hegirae
,395' 2 . At-Ta'älibi selbst gibt gar keine Andeutung, aus
welcher auf ein solches Verhältniss der beiden gleichnamigen
Werke zu einander geschlossen werden könnte, und die Floren
tiner Handschrift, welche Assemani in angeführter Weise be
stimmt, bietet — wie mir Herr Dr. Buonazia auf meine An
frage zu versichern die Güte hatte — gleichfalls gar keinen
besonderen Anhaltspunkt zur Angabe Assemani’s. Ich ver-
muthe, dass den alten Assemani die Anfangsworte des von
ihm beschriebenen Codex’ irre leiteten: LgAjto. kJU ;
üLujJul jmjj kLUI xäi oUcXJ kxAibo, womit der Ver
fasser, oder nach anderen Codices der Abschreiber, die Vorrede
(iooJjLo) beginnt, welche er selbst als eine sJUbezeichnet.
Assemani scheint nun geglaubt zu haben, das ganze Werk sei
✓ w ^ y
eine XjOiXäjc zu einem anderen Werke, dessen Titel ,Doctrina
linguae arabicae et Secretum Arabismi'; er fand im Hägi Chalfa,
dass ein solches Werk von ,Abul Phares' (sic!) verfasst wurde,
während doch die Sache so steht, dass nur die paar Seiten
kJLluj als JLo zu jmj äiTJI xjLi dienen sollen,
verfasst von at-Ta'älib! selbst.
1 Bibliothecae Mediceae Laurentianae et Palatinae Codicum MSS. Orientalium
Catalogus. (Florentiae 1742) p. 434. Nr. CCCCXV.
2 Vgl. Flügel, der vertraute Gefährte des Einsamen p. XXIII. Anmerk. 21.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsaiukeit bei den Arabern.
513
Ist aber das in Frage stehende Werk des Ibn Färis
selbst ein ,opus grammaticuin? Es ist mir nicht bekannt,
dass dasselbe in irgend welcher europäischen Bibliothek vor
handen wäre; wir sind also dem Sujuti um desto mehr zu
Dank verpflichtet dafür, dass uns seine Citate einen genaueren
Einblick in das Ibn Färis’sche Werk gönnen, der uns auch in
den Stand setzen wird, auf obige Frage verneinend zu ant
worten, insofern nämlich nicht von einem grammatischen
Werke, sondern nur von einer Einleitung in die arabische
Sprach künde die Rede sein kann.
Der ursprüngliche Titel des Werkes ist:
welchen Titel der Verfasser zu Ehren des Wezirs
as-Sähib Isma'il b. 'Abbad (st. 385. H.) wählte; den Inhalt
des Buches umschreibt Ibn Färis in dem erweiterten Titel:
^ j k*JJI x£i ^ t5 ^LÖ_ , l >. Von dieser
letzteren Aufschrift kommt es dann, dass das Werk gewöhnlich
nur schlechthin käJJI aüü und nicht genannt wird,
was man aus einem diesbezüglichen Artikel des Hägi Chalfä 2
und daraus ersieht, dass as-Sujüti, welcher ein vom Verfasser
selbst handschriftlich beglaubigtes und bei Vorlesungen benütztes
Exemplar des Buches gebrauchte 3 , bei Gelegenheit seiner viel
fachen und weitläufigen Excerpte daraus, immer nur schlecht
hin sagt:
1 H Ch. IV. p. 87. Vgl. Flügel, Grammatische Schulen p. 241 und 247.
2 ibid. p. 459.
514
Goldzilier.
Dieses Werk des gelehrten Verfassers ist nicht das einzige,
von dem wir sagen können, dass es für uns verloren gegangen.
Unserer Quelle entnehmen wir noch einige andere Angaben
über Monographien auf dem Gebiete der arabischen Sprach-
gelehrsamkeit, von welchen Ilagi Chalfa nichts zu wissen
„ „ *
scheint. So z. B. verfasste er ein Buch über die das
nicht eigentlich wie die anderen Bücher dieses Titels, eine
dürre Zusammenstellung des in diese Gruppe gehörigen lexi-
calischen Materials zu sein scheint, sondern vielmehr eine
Arbeit über dieses Material. Viele Sprachgelehrte stellten
nämlich die Möglichkeit dessen in Abrede, dass eine und die
selbe Form entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinige,
und brachten für ihre Ansicht eine Menge Beweisgründe vor;
diese zu entkräften, und die seinigen zu bestärken war das
Thema der Ibn Faris’schen Monographie über die ,Addäd-
Gruppen', tcX# u*lj (seil.: &ÜJI xäi £ ^!) JU*
lcXi&^ lX^I^
ltXJLg./o
I* \3jSc> IlX# £ tXSj JU lX^-I^
^ vdAJO 3*, jH 5 1 Von den dem Hägi Chalfa
nicht bekannten Monographien des Ibn Färis will ich ferner
erwähnen, sein iütJU! worin er weitläufig die
Arten der Wortverschmelzung (d. h. der Zusammenschmelzung
mehrerer Wörter in eines) abgehandelt haben will 2 ; ein Werk:
£ L3l £ UJ! über die Lautharmonie im Arabischen, welches
1 Mu/.hir Bd. I. p. \\^ wo auch die Hauptvertreter der gegnerischen
Ansicht verzeichnet sind.
äiJU!
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
515
as-Sujüti selbst benützte und anführte; 1 endlich ein vUb''
J-.Ü3 2 worin er sich die grammatisch-lexicalische Kritik
der Dichterwerke zum Vorwurfe setzt. Er muthet nämlich,
im Widerspruche mit der Meinung anderer Gelehrten, den
alten Dichtern keine Unfehlbarkeit in grammatischen Dingen
zu, kann es vielmehr ganz gut begreifen, dass einem alten,
als klassisch geltenden Dichter ein lapsus linguae zustossen
f < »• ^ 5 Ü -r ^ Vt J Gj -*ö ^
kann. Uail^ JaFiJI ^jyiyl ^yMy^0.3M t- Li-tiJ I xJJI (JsJto- l/l
S ju,' r- j ,s, -- I" 9 )*/' u o a
jüo yxj\ X/j! J v/ii+i |L*_s
und führt selbst einige Beispiele hiefür an 3 . H. Ch. kennt
zwar kein <X£j t_)Uc5^ von Ihn Färis; doch, wenn wir
in Betracht ziehen, wie häufig es vorkommt, dass arabische
Bücher theils vom Verfasser selbst, theils aber von späteren
Abschreibern und Nachschreibern, mit verschiedenen Namen
bezeichnet werden, wird es uns nicht als Unmöglichkeit er
scheinen, dass unser tXäj mit dem von H. Ch. erwähnten
Werke: ,Tadel der Sprachfehler in der Poesie' 4 identisch
sei, umsomehr da es höchst unwahrscheinlich wäre, dass Ihn
Färis über dieses eine Thema zwei Monographien geschrieben
hätte.
Einer ähnlichen Aufgabe, nämlich die Poeten von sprach
lichem Standpunkte aus zu kritisiren, unterzog sich auch,
ausser den von as-Sujüti in dem Capitel I iciLr!
1 ibid. p. ft 1 . Die anderen hier aufgezählten Werke hat as-Sujüti nicht
selbst gekannt; Ihn Färis selbst verweist auf dieselben. Es ist jeden
falls verschieden von den pLjAU äuiii
(Flügel, Grammatische Schulen p. ‘248 Nr. 16.)
s ? ’ i' ä 11 ot I . - o - 0
2 Muzhir, Bd. II p. »!•>." CiOO Lo LUjyXMl
tXÄj t >LxW y£* ac/i IfciaAc
3 ibid. wo auch die Bemerkungen anderer Gelehrten über diese Materie.
4 IlägT Chalfä III p. 335 ä Ck=Ll ^6. Flügel, Gram
matische Schulen p, 247 Nr. 2.
516
Goldzilie r.
(il, ! j Fa—Pot") aufgezählten arabischen Sprachgelehrten \ noch
der Rhetoriker Ibn-al-Atir*al-Gazari (in einem Capitel seines
Werkes: t-dol ^ 2 nachdem
er einige derbe Sprachfehler aus den Diwanen älterer und
neuerer Dichter nachgewiesen, kommt er zu dem Resultate:
,Ich habe auf die vorangehenden Beispiele nur deshalb hin
gewiesen, damit in ähnlichen Fällen dessen Nutzen erkannt
werde, so dass du dich davor (d. h. vor ähnlichen Verstössen)
hütest, wiewohl ich nicht einen einzigen unter den ausgezeich
netsten Dichtern gefunden habe, der von solchen Fehlern frei
wäre; vielmehr kann an Jedem derartiges ausgestellt werden,
entweder begeht er einen offenbaren Fehler, durch welchen er
beweist, dass ihm die Regeln der Anwendung des i'räb nicht
ganz klar sind, oder er verstösst gegen die Begriffsbegrenzung
der Worte. Ich beziehe mich hierin nicht nur auf die unserer
Zeit nahe stehenden (d. h. jungen) Dichter, vielmehr habe ich
Obiges auch in Betreff der etwas älteren Dichter, wie z. B.
desMutanabbi gesagt, ja auch in Betreff derjenigen, die vor
ihm lebten, wie al-Buhturi und der noch älteren wie Abu
Tamäm, ja selbt der diesen vorangehenden, wie Abu Nuwäs.
Vor Fehlern bewahrt ist nur derjenige, dem Gott diese Gabe
geschenkt (d. h. der Prophet, welchen die orthodoxe Dogmatik
9 o „
als ^yajuo erklärt)' 3 . Aehnliche Arbeiten sind noch einige
1 Ibn Ginni im (jAiLvO.il i >IjA spricht sich sehr weitläufig hierüber
aus und liefert eine ganze Liste von solchen Verstössen; Einzelnes gibt
Ibn Chälaweihi im Abü Ga'far an-Nahhäs in
dem Commentare zu den Mu'allakät.
2 Flügel’s Katalog I p. 214.
3 Hschr. der k. k. Hofbibliothek N. F. Nr. 38. Bl. 5 recto: ü A_gj
»AAIaJI (Cod. |*£x.z5 l$J| Als äljjoAII
sIpJL&J! jjpo t<A=>.l <Ä=>.| jvJ LgJLuol (i,
l^sclio IaJ. Coli AJA o ^A.eyLa»Jt
£ Ua~J £$}y+J
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
517
unter dem Titel ,Widerlegung der Dichter*
_ „ a ' '
»IjJUiJI) erwähnte Werke, wie z. B. das von dem Sprach-
gelehrten Lukda'. —
II. Wenden wir uns nun zu dem Fikh-al-luga des Ihn
Färis.
Zu Ihn Färis’ Zeit war das Studium und die Kenntnis
der beiden Haupttheile der arabischen Sprachgelehrsamkeit
schon soweit gediehen, dass man sein Augenmerk nun nicht
mehr ausschliesslich auf die Einzelnheiten des Sprachmaterials
und dessen Anwendung einerseits, und auf die äussere Sprach-
form andererseits zu richten hatte. In der Grammatik war
schon längst sowohl basrischer- als küfischerseits das letzte
Wort gesprochen und das Ganze derselben systematisch aul
gebaut; in der Lexicographie war durch den mit Ibn Färis
gleichzeitigen al-Gauhari eben das Sammeln der Lugatradition
endgiltig- abgeschlossen. Es war die Zeit gekommen, in welcher
das vorliegende Material von einem allgemeineren und zusammen-
fassenderen Gesichtspunkte aus betrachtet werden konnte; in
welcher derjenige Gelehrte, welcher den vorhandenen Stoff genug
gründlich beherrschte, den Grund zu einer Isagogik in die
Sprachgelehrsamkeit legen konnte, in welcher die mehr all
gemeinen Fragen derselben abgehandelt werden sollten. —
Ibn Färis unterzog sich dieser Aufgabe auf beiden Gebieten
der arabischen Sprachgelehrsamkeit. Er verfasste, wie uns die
Bibliographen melden: eine Einleitung in die Grammatik
äbojJLo) 2 , von welcher zwar nur der Titel bekannt
ist, welche sich aber gewiss nicht um Einzelfragen der Gram
matik drehte, vielmehr um Punkte von allgemeinerer Bedeu-
Q ^ ^ ^ ^ ^ (J ^
{j* »LiiULs t5 Lc! Jj LoUjj
aüu-w zjoÄäj xXö
y & rO y ^ ^ ^ ^ JO-- J
1 Flügel, Grammatische Schulen p. 211.
2 Hägi Chalfa VI p. 87.
518
G o 1 d z i h e r.
tung, durch deren Kenntniss das Studium der arabischen Gram
matik ein lichtvolleres und — um so zu sagen — wissen
schaftlicheres und bewussteres werden sollte.
An dem Ausbaue der Lexicographie und der handlichen
Sammlung und Verarbeitung des lexicalischen Stoffes nahm
er zwar selbst thätigen Antheil durch die Ausarbeitung eines
systematischen Lcxicons: siXil £ welches sein Dasein
der Erfahrung verdankte, dass die bisherige Methode der
Lexicologie nicht geeignet war, die Kenntniss des Lexicons
weiteren Kreisen zugänglich zu machen, wogen der grossen
Rolle, die in demselben noch immer die Interpretation der
alten Poesie spielt l ; aber ebenso wie er in seinem Mugmil
die Tendenz verfolgt, diesen Zweig der Sprachgelehrsamkeit
von der alten Chablone zu befreien: so wollte er nun in einem
anderen Werke eine Wissenschaft der Einleitung in die Lexi
cologie anbahnen, gleichwie er für eine solche auf grammati
schem Gebiete durch das obenvähnte Werk Sorge trug. Seine
Einleitung in die Lexicologie ist uns in den Fragmenten er
halten, welche uns ein fleissiger arabischer Vielschreiber und
literarischer Nimmersatt glücklicherweise errettete; sie war in
dem xiTJI aÄi niedergelegt 2 .
Wie wenig aber solche Studien dem wissenschaftlichen
Geschmacke der arabischen Gelehrten, welcher mehr auf Einzel
heiten und Curiosa gerichtet war, entsprach, sehen wir daraus,
dass nicht nur die durch Ihn Färis angebahnte Richtung fast
gar keine Vertreter unter den Nachfolgern fand, sondern selbst
die hiehergehörigen Schriften des Begründers dieser Studien-
1 Dem gegenüber behauptet Ibn Färis in seiner Einleitung zum Mug
mil, dass seine Absicht in diesem Werke von Anfang bis zu Ende nur das
Klarmachen und Näherbringen sei: ^yo 1LoLcS^^ ,o S t tl^
5 J
uL-iX»
Ljiiio I Cx
juübH.
ai 4
tv
UoükN* &p j.xJI
2 Wenn Fliigel’s Vermuthung (Gramm. Sch. p. 247), dass das ^_,Lx5
d -o., H ,ein die Hauptsachen enthaltendes Buch 1 sich auf
die Lexicologie bezieht, so ist es auch dieser Gruppe anzureihen.
Beitrage zur Geschichte der Spracligelehrsamkeit boi den Arabern.
519
rieh tu ng durch den Mangel Solcher, die an derselben Geschmack
und Interesse fanden, nur sehr wenig verbreitet waren, zum
Theil vom arabischen Büchermarkt gänzlich verschwanden und
zum andern Theil nur in Trümmern vorhanden blieben.
Der arabische Gelehrte legt einmal zu viel Gewicht auf
seine und so wie auf seine als dass ihm
ein Gelehrter Sympathien abgewinnen könnte, welcher gleich
sam als wissenschaftliches Programm die Worte ausspricht: 1
, denn derjenige, so da weiss, dass Allah bei allem dem
,anwesend ist, was ein jeder Sprechende spricht, der wird sich
,gewisslich davor hüten, seinen Werken dadurch grossen Um
gang zu verleihen, dass er in dieselben verwerfliche Reden
,und hässliche Erzählungen einflechte; gilt doch hier der be
kannte Ausspruch: Wer die seltsamen Erzählungen aufsucht,
,ist sicherlich ein Lügner. Wir rufen Gott als Hülfe gegen
,Solches an.'
Klarer konnte mit der gelehrten Curiositätenkrämerei
nicht gebrochen werden, und dasjenige, was von der literarischen
Thätigkeit des Ihn Färis auf uns gekommen ist, zeigt uns,
dass sich dieser Gelehrte auch, allerdings in seinem Sinne, an
sein Programm getreulich hielt.
Dieser, dem literarischen Geschmacke der Araber durch
aus nicht entsprechende Standpunkt, mag sehr viel zu dem
Umstande beigetragen haben, dass Ibn Färis nie in Mode kam,
und dass seine gelehrte Thätigkeit, so sehr sie auch dazu
angethan war richtunggebend zu werden, ihren Zweck verfehlen
musste. Wenn wir über die Verbreitung gewisser Werke der
arabischen Literatur und die Unterdrückung anderer unsere
Betrachtungen anstellen, werden wir eben von Schritt auf
Schritt zu der Ueberzeugung geleitet, dass auf diesem Gebiete
nicht der Gesichtspunkt der Nützlichkeit und Wissenschaftlich
keit der massgebende war, sondern vielmehr der der Piquanterie
1 Einleitung in das Mugmil: xJJ! ,jl (jN
cjÜJ^_JI Jjyhlj' Lj J-Sli' JLibo
vgl. Muzhir
Bd. I p. o.
520
Goldzih er.
und des Amüsement. Ibn at-Tiktikä’s ,Alfachri‘, ein Ge
schichtswerk im besseren Sinne des Wortes, gehört, weil der
Verfasser in der Geschichtsschreibung ebenfalls ernstere Ten
denzen verfolgt, zu den gänzlich verschollenen; Ibn Badrun’s
Compilation war dafür allenthalben im Orient gesucht und
durch zahlreiche Abschriften verbreitet ,11 ne pouvait en etre
autrement'; sagt Dozy mit Recht ,ce livre, n’etant pas d’une
grand etendue, pouvait se copier en un temps bien moindre
que n’en demandaient les grandes compilations historiques; les
anecdotes nombreuses et piquantes qu’il renferme, exci-
taient au plus haut degre la curiosite des lecteurs* h
Diese Geschmacksrichtung und dieser Massstab der Nach
frage in wissenschaftlichen und literarischen Dingen machte
die curiositätenkrämerischen Werke orientalischer Schriftsteller
wie al-Kazwini, zu Lieblingswerken des Publikums, welches
Werke von wahrhaft wissenschaftlicher Bedeutung fast der
Vergessenheit anheimgab: — es wollte in je kürzerer Zeit je
mehr Anekdoten und Curiosa erfahren. Es war dies der Segen
des sogenannten adab im muhammedanisclien Orient. In den
Rahmen derjenigen Anforderungen, welche diese Richtung an
einen Lieblingsschriftsteller stellt, passte Ibn Färis’ literarisches
Programm nicht, wie überhaupt die kritische Richtung in Dingen,
die mehr oder weniger an das Gebiet der Geschichte streifen,
in dieser Art von Lesepublicum nicht viel Gönner und Auf
munterer gewärtigen konnte und kann.
Ganz anders war es noch allerdings zu jener Zeit, in
welcher dieser Gelehrte lebte; denn die eben besprochene
Richtung in der gelehrten Literatur der Araber entwickelte
sich vornehmlich mit dem Ueberhandnehmen der Vielschreiberei,
wie sie in anderen Literaturen kaum ein annähernd ebenbür
tiges Beispiel aufweisen kann. Ibn Färis’ Zeitgenossen zollten
seiner gelehrten Thätigkeit nicht minder Beifall, als dies bei
der Anerkennung, derer bahnbrechende Gelehrte im Islam
immer theilhaftig wurden, vorauszusetzen ist; sein fikh-al luga
wurde Gegenstand ernsten Studiums. Ein oben angeführtes
Zeugniss weist darauf hin, dass dessen Erklärung beim Ver-
1 Commentaire historique sur le po&me d’Ibn Abdoun par Ibn
Badrotin; Introduction p. 8.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelelirsamkeit bei den Arabern.
521
fasser selbst nachgesucht wurde. Selbst die Stellung, die der
Verfasser seinem Schüler und Beschützer gegenüber einnahm,
der selbst eine Säule der arabischen Lexicographie und Besitzer
einer immensen lexicologischen Bibliothek ] , ihn in der Aus
arbeitung des jüÜJI süi aufmunterte, zeigt uns, dass die Ver
kennung von Seiten der Nachwelt kein Vorbild an der Wür
digung der Zeitgenossen vorfand.
As-Sujüti, der wie wir oben sahen, eine vom Verfasser
selbst beglaubigte Abschrift des Werkes benutzte, gibt uns
Gelegenheit den Inhalt des Ibn Färis’schen fikh al-luga aus
den im Muzhir zerstreuten Excerpten zu reconstruiren. Ich
zweifle nicht daran, dass ich keine überflüssige Arbeit unter
nehme, wenn ich nach dieser Anleitung mich bemühe, eine
Inhaltsübersicht dieses Werkes zu bieten, durch welche im
Einzelnen bestätigt werden soll, was ich vorhin über die lite
rarischen Bestrebungen des Verfassers aufstellte. Ich bin hier
einzig und allein auf as-Sujüti angewiesen; doch glaube ich,
dass dieser Gelehrte nichts Wichtiges vom fikh al-luga zurück-
Hess, wenigstens berechtigen uns seine Worte: kddk tXiV
Ick® £ hjJ Lo darauf zu scliliessen. Unsere Inhalts
übersicht dürfte demnach als eine ziemlich erschöpfende gelten.
Die JyaJ des Ibn Faris’schen fikh-al luga behandelten
folgende Fragen: Wie entstand die arabische Sprache zu aller
Anfang (I p. a.)? 3 ; welches sind die Wege zur authentischen
Kenntnissnahme von dem klassischen Sprachmaterial ? (I p. ("♦
' Nach Muzhir I p. f:<j betrug sie 60Kameellasten
Jüüt £ aJ Jlfti aulc
ÄJt-Uf dJ-jk Seine ganze Bibliothek betrug nach Ibn
al Atlr (bei Quatremfere Memoire sur le goitt des livres eliez les
Orientaux, Paris 1838 p. 17) 400 Kameellasten, oder (Flügel Gramm.
Schulen p. 241) 117.000 Bände. — Siehe unsere Note zu Ende dieser
Abhandlung.
2 ibid. I p. 190.
3 Er entscheidet sich für die conventionelle(0&Ei) Sprachentstehung
522
Goldziher.
vgl. p. vl kxXJ\ Ai^Uo £ t_jü) von wem können Traditionen
über die altklassische Sprache auf blosse Autorität hin (LxU-«;)
als glaubwürdig angenommen werden? (I p. 1a vgl. ae>) ferner
über Idiotismen in den verschiedenen arabischen Dialekten
(p. M yyliJJI oü) und über die grammatischen
Unterschiede in den Mundarten (p. IPf t lajliJ oiLiia.!
wo besonders grammatische Punkte vorgeführt werden). Was
ist das Verhältniss z Avis eben dem Namen und den benannten
Gegenständen? (p. tvv £äj oLaS"” ob);
ist das Princip der Analogie auf die arabische Sprache anwend
bar und können einzelne Sprachausdrücke von anderen etymo
logisch abgeleitet werden? (p. 11t" Jyüf ub
(jA*j pNjCM (jAju (JjJOäj u^bo Lg.i JlsO- — Beide
letztere Fragen wurden ebenso wie die der Sprachentstehung
von den muhammedanischen Dogmatikern vielfach ventilirt,
wie die Dogmatik überhaupt vielmals Gelegenheit nahm in die
Beantwortung von sprachphilosophischen Fragen einzugreifen 2 ;
die erstere wird in überaus grosser Weitläufigkeit unter anderen
auch von dem zähiritisehen Dogmatiker Abu Muhammed
ibn Hazm 3 behandelt. ■— Kleinere Abschnitte des Ihn Faris,
die noch in diese Gruppe der Allgemeinheiten gehören, wären
noch etwa die folgenden Fragen: über eigentliche und meta
phorische Sprachausdrücke xiLoi^.1 p. 111), über die
addäd (p. IaI), über die Unabhängigkeit der Lexicologie von
der Gesetzeskunde, wie nämlich ein Wort lexicologisch behan
delt werden könne, ohne die feste Holle in Betracht zu ziehen,
welche es als Kunstterminus oder Ausdruck eines gesetzlichen
Begriffes in der Religionswissenschaft trägt (p. IM). Mit den
oben erwähnten Capiteln über die grammatischen und lexica-
1 Er hebt zwei Wege hervor, nämlich a) die natürliche, b) die traditionelle
Erlernung der Sprache.
2 Vgl. Muzhir p. \ ? ff, M, l^t" "• a. m., wo sprachwissenschaftliche
Fragen je nach dem dogmatischen Bekenntniss entschieden werden, so
dass z. B. der Mu'tazilismus von dem orthodoxen Islam in den Begriffen
über allgemeine Materien der Sprachwissenschaft differirt.
3 Kitäb-al milal wan-nihal, Leidener Hschr. Cod.'Warner Nr. 480
Bd. II Blatt 182 recto, bis 183 verso.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelebrsamkeit hei den Arabern.
523
lischen Abweichungen in den Mundarten, bängt dann noch die
Frage zusammen: welche Araber waren die Wohlredendsten?
(p. t*P f J«.üJI ub) welche Frage dann natür
lich zu Gunsten der kureisitischen Araber entschieden wird
An diese ganz allgemeinen Fragen der arabischen Philologie
schliesst sich dann die Besprechung des Problemes: ob Jemand
von sich aussagen könne, dass er den ganzen arabischen Sprach
schatz kennt? (p. PP k*J J^äJ! oLs
0 I). Wir werden weiter unten im nächsten Ab
schnitt sehen, welcher Gesichtspunkt den Verfasser bestimmte,
diese Frage so entschieden zu verneinen als er es thut. ,Ein
Rechtsgelehrter — so sagt er — äussert irgendwo, dass die
arabische Sprache ihrer ganzen Ausdehnung nach nur von
einem Propheten gekannt zu werden vermag; dies sind Worte,
welche das Recht haben als richtig anerkannt zu werden/ 2
Darum verwahrt er sich auch entschieden gegen die Annahme
der Echtheit der Schlussworte des Kitäb-al'aj n: ,Dies ist
das Ende der arabischen Rede' Worte
die ein so frommer und gottesfürchtiger Mann wie al-Chalil
nicht geschrieben haben kann, ihm daher nur böswillig ange
dichtet sind 3 . Wie es um die Echtheit der erwähnten Schluss
worte steht, mögen und können wir nicht entscheiden, wollen
1 Dieser Passus ist, nach der Pariser Handschrift mitgetheilt in Renan’s
Histoire generale des langues semitiques; in der ersten Ausgabe Livre IV.
Chap. II. In der zweiten Ausgabe (1858) p. 340 ist das Textstück fort-
gelassen worden.
2 Jli' Sil sj Joas! üi OjjüT j»Sc-Lg gjül (JÖJtJ JLs
Jt bUL Loj ,j! (5^. (J-jÜ
w w 9 ^ ^ O Sj 1 ^ ^ 35 ^ ^ ^ ^ A
Loli iÜuUt ihÄs>
ljü& gjyj ,5, loj 1^1 oUcXÜI
xlj AJii
X ^ ^
^■1 cMb Jyy ,jl (j ,< ?
3 Im Mugmil polemisirt er häufig gegen das Kitäb-al-an.
3itzuugsber. d. phil.-hißt. CI. LXXIII. Bd. III. Hft. $4
524
Gol d zih er.
aber dennoch hervorheben, dass nach dem Berichte Ibn an-
Nadim’s der Verfasser des Kitäb-al-'ajn zu seinem Schüler
sagt: ,dass wenn Jemand nach der von ihm selbst vorgezeich
neten Art die Combinationen des arabischen Alphabetes zusam
menstellen würde, er in dieser Weise den ganzen Sprachschatz
des Arabischen erschöpfend darstellen könnte' *, es sei denn,
dass auch die Echtheit dieser Worte angezweifelt würde, welche
jedoch mit der Frage über die Authenticität des Kitäb-al-ajn
nicht zusammenhängt. Uebrigens wird auch noch von Abu
Mälik 'Amr b. Kirkira erzählt, dass er die ganze luga in
Gedächtniss bewahrte 2 wonach denn die Behauptung des Ibn
Färis: ,es ist nicht auf uns gekommen, dass auch nur einer
der vor uns lebenden udabä die Kenntniss der ganzen luga
für sich in Anspruch genommen hätte' einer Einschränkung
bedürfte.
Neben diesen die arabische Lexicologie einleitenden Ab
handlungen, bespricht Ibn Färis noch einige andere Fragen,
welche streng genommen nicht oben in die lexicologische Isa-
gogik gehören, aber nach der Ansicht des Verfassers, als nah
verwandtes Grenzgebiet der Philologie, doch in diesem Zusam
menhänge besprochen werden mussten. So spricht er in diesem
Werke über die arabische Schrift (Bd. II p. Ivo Jyül ub
JaiU Er beweist in diesem Capitel, dass Adam
es war, der 300 Jahre vor seinem Tode die Schriften sämmt-
licher Sprachen zuerst schrieb, dass mit der Stindfluth diese
Kunst in Vergessenheit gerieth, bis sie dann später wieder
aufgefrischt wurde, namentlich die arabische wieder durch
Isma'il zuerst angcwendet wurde. Freilich stimmt die Repro-
duction diese)' Fabeln und deren Verbreitung als wissenschaft
liche Axiomata nicht ganz gut zu dem obenerwähnten Programm
des Verfassers; doch vergessen wir nicht, dass diese Sätze
nach dem Massst.abe arabischer Wissenschaft ganz ebenso vor
* ^ 0 ^ r-
1 Fihrist al 'ulüm ed. Flügel, Bd. I p. 9 ( \ V ,.<f «J
P- W j
^ ü ^ j ^ ^ } y "c
2 ibid. p. 11 Lgii" kii)!
Beiträge zur Geschichte der Rprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
525
der strengen wissenschaftlichen Kritik bestehen können, als
wenn wir unsere Annahmen auf die bestbeglaubigten historischen
Quellen stützen: denn jene Sätze haben ein von orthodox
muhammedanischem Standpunkte nicht zu beanstandendes isnäd
hinter dem Rücken, ein isnäd, das auf den Juden Ka'b al
ahbar, dieses unfehlbare Orakel für alte Geschichten, zurück
führt. Wissen wir ja, dass selbst Ibn Chaldün trotz seiner
den Traditionen entgegengebrachten kühnen Kritik, den her
gebrachten Respekt vor unzweifelhaften Traditionen dennoch
nicht verläugnen konnte. Und eine unzweifelhafte Nach
richt musste noch der Skepsis des Ibn Färis ein Satz über
,Ursprünge' scheinen, wenn an ihrer Spitze Ka r b al-ahbär zu
lesen ist. —
Es scheintauch, dass er über Poesie weitläufig handelt;
er beschäftigt sich namentlich mit der Beantwortung der Frage:
warum Gott immer mit Entschiedenheit die Zumuthung zurück
weist, als sei sein auserwählter Prophet ein Dichter? (Bd. II
p. PPf 1 ) Wir haben schon oben erwähnt, dass er auch über
die von Anderen bestrittene Thatsache handelt, dass die alten
als klassisch geltenden Dichter in sprachlichen Dingen nicht
unfehlbar sind. ,Die Dichter', sagt er hier 1 ,sind die un
beschränkten Herren der Rede; sie können das Kurze lang
machen, das Lange als kurz behandeln, sie dürfen in ihrer
Darstellung Andeutungen und Hinweisungen anwenden, die
Silben zusammenziehen und metaphorische Ausdrücke gebrau
chen, das uoxepov itpitepov anwenden: aber Verstösse gegen das
i'räb oder eine von dem richtigen Gebrauche eines Wortes
abweichende Anwendung desselben ist ihnen nicht gestattet'. —
(jv—-5 *
nicht übersetzt, da. es
mir zweifelhaft ist, ob ich hier richtig so lese und es als: ,sie schmähen,
9
spotten 4 auffasse, oder ob es gelesen werden soll.
526
Goldziher.
Ibn Färis selbst dichtete nicht viel; man begegnet seinem
Namen selten an der Spitze von Gedichten L Ein gelehrter
Zeitgenosse des Ta'älibi, welcher ein der ,Edelperle der
Zeit' ähnliches Werk verfasste, Abu-l-Hasan'Ali al-Bächarzi
(st. 467 H.) kennt nur drei Verse des Ibn Färis. In dem
Anhang seines Werkes ^o.aJI Jjot tk~oxj ^aJÜI jLyoO 2 bringt
er nämlich folgende Notiz über unsern Ibn Färis:
L LgA*^ 1 i_/.Ä.I_0 ÜjÜJI (J^Lj
Jj.x AJ<3 xäaäjoö * LgJ J^-äJI Jo N
äbLc LgXijaxi ‘ UcLLix ^ ljLL>o Ix
> - ^ s
9^9 Lo ^.aÖ LjtXü xj ^1 jvi^ ^J&L/O ^LwO.^1 ^.X
■Jjd diiU Jüf
° ^ 9 9 9 O ^ ^ o^°
v_*AäJ! löl
)9) M 9 (iT 3 /? <5**^
,Abu-l-Hasan ibn Färis. Wird von der Sprache geredet,
,so ist er der Besitzer des „die Sprache Umfassenden“ 5 , ja
,sogar ihr Herr, der ihr Reize verleiht; ich glaube dass dieses
,sein Werk (J^^JI) zu dem Schönsten gehört, was in diesem
,Betreff je verfasst wurde, und dass dessen Verfasser damit das
,äusserste Ziel des Trefflichen erreichte. Ich kenne kein anderes
,Gedicht von ihm, als dasjenige, welches ich tradire (oder:
,welches mir erzählet wurde), und zwar:
,Sie fragen mich: ,wie geht's'? Ich sag’: , Vortreff lieh',
,Zu Ende ist die Noth, die and’re schont mich.
’ I ’ ?r.
7"
äto-Li. (jdüü
LgJ 4 Usä ^ * Uli
y^XjOj ^ ^öLiO ^xJo
1 Ich erinnere mich jetzt nur noch an ein Citat bei Jak dt I p. 405, wo
Ibn Färis ein Gedicht seines Vaters anführt.
2 Handschrift der k. k. Hofbibliothek, cod. Mixt. nr. 207. Blatt 214 r.
9 9
■V
4 Eine andere Handschrift der k. k. Hofbibliothek (N. F. nr. 395 Blatt 134
verso) hat die Variante: Lo
5 Nämlich sein Werk äiii! £ J^sJt
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkoit bei den Arabern.
527
/Wenn Sorgenlast mein Herz auch drückt so denk’ ich:
,Vielleicht folgt auf dem Fuss der Qual Erlösung!
,Ein Kätzchen ist mein Trinkgenoss, das Lämpchen
,Geliebte mir, und wahre Herzensfreude,
,Die kann ich nur an meinen Büchern findend
Das fikh al-luga umfasst dann ausser diesen allgemeinen
Abschnitten, noch einige besondere Abschnitte aus dem Gebiete
der Lexicologie, doch diese sind auch nur insoferne etwas
specieller, als in denselben nicht mehr die Sprache im All
gemeinen, sondern die Wörter der Sprache den Gegenstand
der Verhandlung bilden. Welches sind die sprachlichen Mittel,
wodurch der Sprechende seine Rede dem Zuhörenden verständ
lich machen kann? (Bd. I p. ta 1 ) ao ^ All ^IhaiLt oLj
Ci ^ q ^ *** o ^ y o
£*LJI Ij Joüü! ist die Frage, die
d/en Verfasser in diese Gruppe hinüberleitet, zu welcher etwa
folgende Paragraphen gehören: über die Stufen der Sprach-
ausdrücke mit Rücksicht auf deren Klarheit oder Dunkelheit
(p. Ha ^ |* AAJI v_Lj'L.« ^); über Wörter,
die der spätere Sprachgebrauch gänzlich aufgegeben hat (p. Hv
. - o y .
A+-g-*JI 3); über diejenigen Ausdrücke, welche erst mit der
Einführung des Islam auftauchen oder eine bestimmte Bedeutung
gewinnen 2 (p. ItG aUjcSL^M ; über die Behandlung
von Fremdwörtern (p. ItT wO**-£Jt £); über Wortzusammon-
schmiedung, d. h. über das Zusammenziehen zweier Wörter
in eines, so dass daraus ein drittes, selbstständiges entsteht 3
1 Antwort: 1) durch i_.fi c l ; 2) durch i,_6. .^ X.
2 Vgl. Ahlwardt, Bemerkungen über die Aechtheit der altarabischen Ge
dichte p. 2.
W ^ ü ^ o ^ ? u -
3 Z. B. , .v. . r- Nisbenbildung aus Aaä : das sonderbarste Bei
spiel dieser Gattung mag wohl eine Nisbenbildung sein, in welcher
in einem Worte sowohl des Vaters als auch der Mutter Heimath zum
Ausdruck kömmt:
p. vv Wüstenfeld)
&JI ( Ibü Challikän Nr. 675, Bd. VII
,i , w
|yA JsLjI
528
6 o 1 d z i li e r.
(p. t J t u f cy-sxJ! oü); über die Lautharmonie in zwei aufein
ander folgenden Worten (p. 1‘H pLot). Ein besonderes Kapitel
wird ferner denjenigen Ausdrücken gewidmet, welche nur dann
angewendet werden können, wenn der zu benennende Gegen
stand zwei oder mehrere Eigenschaften, die in jedem speciellen
Fall näher bezeichnet sind, in sich vereinigt, (p. Ph oIj
0 0 -O Ä
iuc> ^ e * n Ueber-
gang zu dem Kapitel der denen Ibn Färis desgleichen
eine Besprechung gewidmet hat, (p. M uaoLaiLl £ ljL)
welche wieder den Uebergang zur Synonymik bilden, die einer
eingehenden Erörterung unterworfen wird. Mit dieser aber
werden wir es noch im vierten Kapitel dieser Abhandlung zu
thun haben.
III. Wenn wir den im Obigen skizzirten Inhalt des fikh-
al-luga von Ibn Färis nochmals überblicken, so wird sich uns
von selbst die Ueberzeugung aufdrängen, dass in diesem Werke
eine Einleitung in die Lexicologie der arabischen Sprache
vorlag, und dass diese Arbeit ein ziemlich systematisches Ganzes
dieser damals im Entstehen begriffenen Wissenschaft dargeboten
haben mochte. Aber besonders über das Schicksal des Ibn Fa-
ris’schen Werkes erfahren wir daraus noch Eines. Ibn Färis
hat nämlich einen grossen Theil seiner früher selbstständig
abgefassten Monographieen bei der Ausarbeitung des fikh-al-luga
in dieses grössere, encyklopädische Werk hineingearbeitet und
dem hauptsächlichsten Inhalte nach in dasselbe aufgenommen.
So z. B. mochten die Abhandlungen über addäd, itbä', über
Sprachfehler der Dichter, das meiste Material für die betref
fenden Abschnitte des später geschriebenen grösseren, ency-
klopädischen Werkes liefern. Daher kommt es auch, dass jene
durch dieses überflüssig gemacht, von letzterem verdrängt
wurden, so dass das grössere Buch die Monographieen über
dauerte und diese den Bibliographen nicht einmal dem Namen
nach mehr bekannt sind. Wenn die Monographie nicht ihrem
bedeutendsten Inhalte nach in das grössere Buch aufgenommen
wurde, so konnte sie dann in der That ihr Leben auch weiter
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
529
fristen. So z. B. hat das Buch 1 sich eher als die
übrigen kleinen Sonderschriften erhalten können, weil dasjenige,
was daraus in dem jücUt aüi aufgearbeitet wurde, höchstens
derjenige Abschnitt war, welcher über das ä*Dt -redet.
Ein ähnliches Schicksal traf auch die Monographieen an
derer Verfasser. So z. B. wird von Abu Muhammed ihn
Hazin mitgetheilt, dass er ein Werk, unter dem Titel mh
lo (jöi'Lj ^jLo« SkJjlLö
vtUöjjjo verfasst habe, ein Werk, welches das aller
erste in dieser Art gewesen sein soll. :l Trotz des grossen In
teresses, das die spätere theologische Wissenschaft der Muham
medaner an diesem Zweige der religiösen Polemik nimmt, scheint
das erwähnte grundlegende Werk des Ihn Hazm dennoch
gänzlich verloren gegangen. Doch wäre es ein Leichtes, nach
zuweisen, dass es trotz dieses Anscheines dennoch nicht als
verloren gegangen betrachtet werden darf, ja vielmehr dass es
aller Wahrscheinlichkeit nach in seinem ganzen Umfange auf
uns gekommen ist; jedoch nicht als selbständige Monographie,
sondern als Bestandtheil des umfassenderen dogmatischen
Werkes: JA+J! in dessen Kette es ein berech
tigtes Glied bildet. Und um noch ein Beispiel anzuführen,
leitet mich Ihn Hazm’s oben angeführtes Werk zu dem
gleichnamigen und weit mehr bekannten JJ-JI
des Muhammed as-oahrestant. Es hat mit dem ersteren
nur den Titel gemein, hat aber eine von jenem ganz verschie
dene Tendenz, denn der Verfasser ist Religionshistoriker —
einer der Wenigen, die in der muhammedanischen Literatur
dieses Gebiet vertreten 5 — während sein Vorgänger dogmati
scher Polemiker ist, der in seinem Werke die verschiedenen
Religionssysteme, auch nicht so erschöpfend wie as-Sahrestäni,
1 H. Ch. Bd. V. p. 351. Flügel Gramm. Schulen p. ‘247 übersotzt:
,Hilfshandbuch der Wissenschaft“, was entschieden unrichtig.
2 Muzhir Bd. I p. ("• vgl. p. vt-
3 Ihn Challikän Bd. V p. |C A <].
4 Vgl. was ich hierüber mitgetheilt habe in Kobak’s Zschr. für die Gesch.
des Judenthums. Bd. VIII (1872) p. 81 ff.
5 Siehe Note II zu Ende dieser Abhandlung.
530
Goldzilier.
vorfährt, um deren dogmatische Irrthümer zu bekämpfen. Auch
as-Sahrestani verfasste neben seiner grossen von William Cu
reton im Jahre 1846 herausgegebenen Religionsgeschichte
mehrere Monographieen, die dann, weil ihr Inhalt in das um
fassendere Werk überging, natürlicherweise überflüssig wurden
und nicht mehr auf Verbreitung zu rechnen hatten; so z. B.
mehrere kleinere Werke religionsgeschichtlichen Inhaltes, vor
nehmlich das über die griechischen philosophischen Systeme. 1
Dasselbe bei handschriftlicher Verbreitung der Literatur
werke natürliche Schicksal ereilte auch die Monographieen des
Ibn Färis; nur dass in diesem Falle auch die alle kleineren
Einzelschriften verschlingende umfassende Arbeit beinahe das
Schicksal jener theilen musste.
IV. Wir haben nun unseren Ibn Färis noch von einer
Seite zu betrachten, da wo er seine Objectivität gleichsam ab
schüttelt und die Nüchternheit des Gelehrten durch die Vor
eingenommenheit und Befangenheit des Arabomanen ablösen
lässt. Auch in dieser Eigenschaft stellt er sich uns in seinem
fikh al-luga dar, und glücklicherweise hat uns as-Sujüti auch
jene interessante Partie des Werkes, welche uns hiefür einige
bemerkenswerthe Daten liefert, errettet. In dem Jahrhundert
vor Ibn Färis spielte sich in der muhammedanischen Literatur
die Reaction des nichtarabischen Elementes gegen die Ueber-
griffe des Arabismus ab. Sie culminirte in der Schule der
W 9 ?
kjoyu«, deren Aufgabe es war zu beweisen, dass die Ansprüche
der Araber: jwoiM zu sein, die edelste aller Sprachen
zu besitzen u. s. w. trügerisch und unbegründet seien. 2 Ibn
Kuteiba, der Zeitgenosse dieser antiarabischen Reaction in der
Literatur ist der hervorragendste Repräsentant der araberfreund
lichen Polemik gegen die Su'übijja; sie war jedoch mit ihm
nicht zu Ende geführt. Eben Ibn Färis ist es, welcher den
Faden dieser Polemik wieder aufnimmt, und sich namentlich
1 S. Book of religions and philosophical Sects. ed. Cureton, Pre-
faee p. II.
2 Ich habe über diese Bewegung in der Literatur und ihre hauptsächlich
sten Vertreter weitläufiger gehandelt in einer ungarischen Arbeit: ,A
nemzetisegi kerdes az araboknal“ (Die Nationalitätenfrage hei den
Arabern).
Beiträge zur Geschieht der Sprachgclehrsamkeit bei den Arabern.
531
einen Punkt auswählt, den er gegen die Feinde des Araber
thums zu vertheidigen wünscht: die Vorzüglichkeit der
arabischen Sprache und Poesie. 1 Diese seine Polemik
oder vielmehr Apologie hat er in einem Kapitel seines süj
ki-UI niedergelegt, in dem: au Lc ub
(Muzhir Bd. I p. tat" ff.) Er geht natürlich
von dem Standpunkte aus, dass die arabische die vorzüglichste
kann allerdings nicht die Behauptung aufstellen, dass man
seine Gedanken überhaupt nur in arabischer Sprache aus-
drücken könne, doch ist der Gedankenausdruck in anderen
Sprachen die niedrigste der Stufen des Gedankenausdruckes;
denn auch der Stumme drückt seine Gedanken aus, aber nur
durch Bewegungen, welche auf den grössten Theil seiner Ab
sicht hindeuten: doch keiner wird derlei Gedankenausdruck
Sprache nennen können, geschweige denn, dass man von Je
mandem, der sich solcher Mittel zum Ausdruck bedienen muss,
sagen könnte, dass er klar und verständlich, oder gar beredt
spricht. ’ 2 ‘ ,Man kann auch das Arabische, wegen seines
1 Ausser den hielier gehörigen Wettstreiten der Araber und Perser in
Betreff der Vorzüglichkeit ihrer Sprache, sind als Erscheinungen ähnlicher
Art zu verzeichnen ,der Wettstreit der türkischen Sprache mit der
persischen 1 wie ihn Mir ‘Ali iÜir Newä’i in seinem Muhäkemet al-
lugatain (herausgegeben von Quatremere in seiner Chrestomathie
orientale) zu Gunsten der ersteren entschieden; dann noch ein Wett
streit der syrischen Poesie gegen die arabische, vertreten durch
'EbedJesu' Sobensis (Assemani Bibliotheca orientalis T. III. Pars I
p. 328 ff. Eichhorn in der Praefatio zu seiner Ausgabe von Jones’
Poeseos Asiaticae Comment. Leipzig 1777 p. XXIV f.)
532
Goldzilier.
Reichthums an Redekünsten, in keine andere Sprache über
setzen, wie etwa das Evangelium aus dem Syrischen ins
Aethiopische und Griechische, die Tora und der Psalter und
die übrigen Bücher Gottes 1 ins Arabische übersetzt werden
konnten; denn die Nichtaraber können mit uns in der weiten
Anwendung des metaphorischen Ausdruckes nicht concurriren.
Wie wäre es denn z. B. möglich, den 60. Vers der VIII. Sure
in eine Sprache zu übertragen mit Worten, welche genau den
Sinn wiedergäben, der in ihm liegt, man müsste denn zugleich
den ganzen Inhalt desselben klar darlegen, das Abgeschnittene
verbinden, das Verborgene eröffnen, so dass du etwa sagen
würdest: ,Wenn du mit einem Volke einen Waffenstillstand
und Friedensbund geschlossen, du aber dessen betrügerische
List fürchtest: so thue ihm zu wissen, dass du deinerseits die
Bedingungen brichst, und erlaube ihnen das Aufnehmen der
Feindseligkeit, so dass ihr beide gleichmässig im Klaren seiet' 2 .
iXyÜ y\ ULo
1 Wir sehen, dass der Verf. ausser den ,vier Büchern 1 noch andere
äJÜI (wahrscheinlich A. T.) kennt.
£• ^ J- 5 -T- y Q ^
2 Muzliir ibid. Ü
O o ^ ^ 55 ""'»i w w SifO f 9
£ y/X ÜJ ^JuL y£> äJÜ! v^oC5
(J-Äaj »J cXi! SM i KJiJI p Lwj’l
SiLIä. L«l^ jLiS jJjj'
J 5 ***il JöLäILj äjujJ jj! ^SoXjmJ iij &!y»
Llw-aj (Bill: x£c.i>jl) iCCcOj! ^jJ!
-tUJo jyiÄi Lstj Lgx.^la.Ä-«
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit hei den Arabern.
533
Ebenso ist es mit Sure XVI11 v. 10 und vielen Dichterstellen,
die in der Uebersetzung ihre ganze Schönheit, die Anmutli
ihrer gedrungenen Construction und ihres kurzgefassten Aus
druckes einbüssen müssten/ Er ist unendlich überschwänglich
in der Herrechnung derjenigen Hilfsmittel der arabischen Sprache,
wodurch sie alle andern Sprachen übertrifft; man kann die
selben in grammatische und lexicalische eintheilen. In
der Grammatik ragt das Arabische durch sein i'räb über alle
anderen Sprachen hervor, wodurch das Arabische die logischen
Kategorieen der Rede in einer Weise und mit einer Klarheit
unterscheiden kann, wie sie sonst keinem Volke der Welt zu
Gebote steht. ,Allerdings — sagt er — glauben Leute, von
deren Nachrichten man sich abwenden muss, dass auch die
Philosophen (d. h. die Griechen) ‘iräb 1 und grammatische
Werke besassen; auf solche Nachrichten ist aber Nichts zu
geben. Diejenigen Leute, welche solche Dinge Vorbringen,
heuchelten Anfangs Rechtgläubigkeit und entnahmen Vieles
den Büchern unserer Gelehrten, nachdem sie einige Wörter
davon veränderten; dann führen sie dies Alles auf Leute von
hässlichen Namen, welche die Zunge keines rechtgläubigen
Menschen aussprechen kann, zurück. Sie erheben dabei noch
den Anspruch, dass diese Leute Poesie besässen; wir haben
diese gelesen und haben gefunden, dass sie unbedeutend und
".«f <*|> . «= Q* ^ Jo ^ o ^ . 9> o ^ G^OJ
LAÄj. oäs tLg-Cj kick#
cio! u^i-b hxScj-m Lo o-Afij Ai
tsJy's sl^Aubj! (jaJLÜb £ |*S^
b lAi. Ai
jo^ - w ** ü ^ ^ ^ y " u ^ ^ y — ^ ^ w
jAÜj Ajj* yl
.kiÖJI Syätt ^5 f ° lg °" ,nehrere Beis P iele -
1 Auf das i[ f 1 der griechischen S])rache nimmt auch der Verfasser des
Fihrist (I ]>. 14, 4) Bezug. Newä’i 1. c. j). 16 stellt dem arabischen
V !^l die Verbalbildungssilben u. s. w. zur Seite, welche
uiit den Verbaleonjugationen des Arabischen concurriren können.
534
Goldziher.
von geringer Anmuth ist und auch kein rechtes Metrum besitzt.
Führwahr! Poesie hat nur das arabische Volk, das in seinen
poetischen Werken seine geschichtlichen Erinnerungen auf
bewahrt. Die Araber haben eine metrische Wissenschaft, durch
welche das regelrechte Gedicht von dem Mangelhaften unter
schieden werden kann; wer die Feinheiten und Geheimnisse
dieser Wissenschaft kennt, der weiss dass sie Alles dasjenige
übertrifft, was Leute als Argumente für sich anzuführen pflegen,
welche in dem Wahne leben, dass sie die Wesenheiten der
Dinge erkennen können, als da sind: die Zahlen, Linien, und
Punkte — Dinge, deren Nutzen ich nicht einsehen kann, es sei
denn, dass sie trotz des geringen Nutzens, den sie bringen, den
Glauben zu Grunde richten und Dinge im Gefolge haben, gegen
welche wir Gottes Beistand erflehen wollen' *.
0 ? k 9 9 0 ' 9 . 9 ö ■ ^ ^
Muzhir I p. taa—ta^l J«_o o&i'yCj
Q y y (j ^ ^ ? y Q o } ^ ^ ^ ^ t
J.1AV yä yy ^ jö äLLwibü!
lljt Ül 5 xJ.La _yij ^
Lg.fcLLtl UbUXc
l>LXj ^1 \x.w.j *y“ Ad5
j.^üJ dUö ^ j>l* Lgj
jvaäÄaujo j^b. 5 v.;Q| s LiTys Ai'j
> j <j rr" | o ? 9 y '' w , ü . 9 0 * »7° \" °" ü u
cLubo^ yßyLo JäjL=»^ ly yo! v*AJ! l Jo y I
Wfj yLLJI ^jfyuo ^sn uö^xJ\ yyJJ y
äuutji} OyC ^o. 2CS\:SP oyu
eifyfc 2U Lo ;Jv£ xj! |vLt sUIä~>^
9 9 0 o -C.<C ^ ^ ^ ^ 0 ^ y °y
-LvkiAl. bLCco^M (jjjljGs. kijX/!
^jy 14j! y.e ü<3oli LgJ oy! il iaiL'-'4
‘ TL Jjb jyü U |ii5
Beiträge znr Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
535
Diese Auslassungen des Ibn Färis sind als polemische
Expectorationen gegen jene Schule zu betrachten, welche die
griechische Philosophie und Poesie ', die durch die Nichtaraber
in die Welt gesetzten Künste und Wissenschaften hoch über
alles Dasjenige stellen, was je die Araber geleistet, und na
mentlich von der Poesie der Letzteren sagen, dass sie in me
trischer Beziehung mit der griechischen gar nicht verglichen
werden könnte, vielmehr nur dem Wolfsgeheul und dem Gebrüll
irrenden Wildes gleichkomme. 2
Von diesem Gesichtspunkte aus sind dann mehrere Punkte
des fikh al-luga zu betrachten; so
a) die Darlegung dessen, dass es unmöglich ist, das ganze
Material der arabischen Sprache zu beherrschen (s. oben Cap.
III), welche ganz gewiss im Dienste dieser Verhimmelung der
arabischen Sprache steht;
b) die Auffassung der addäd, wie sie Ibn Färis in einem
besonderen Kapitel des f. al-1. und in einer besonderen Mo
nographie darlegt. Nun waren es aber eben die Verächter
der arabischen Sprache, welche die Möglichkeit, dass ein Wort
entgegengesetzte Bedeutungen in sich vereinige, als Mangel
der arabischen Sprache anführten. 3 Wir wissen dies aus
einer Angabe desAbüBekr b. al-Anbäri, welcher ein Buch
über die addäd schrieb und in der Einleitung desselben auf
diesen Vorwurf gegen die arabische Sprache reflcctirt; er sagt; - 1
y q ^ gj C ^ ^ U ^ 0 &J ^ y - 9 q g* < J
1 as-WahrestanT Kitäb al Milal p. stellt den Homer sehl-
hoch und citirt Stellen aus seinen Werken, doch stellt auch erdie Ansicht
auf, dass das Metrum nicht zu den Bedingungen eines griechischen Ge
dichtes gehöre (ibid. p. (G. iLili'.
w Q ü , '
(jÜo^A+J! ojLoÄJLJ! Ol^ol
2 Bei Ibn ’abdi Kabbihi. Hscbr. der Hofbibliothek cod. Mixt. nr. 318
Blatt 188 verso.
3 Newä’i führt im Muhäkernet al-lugatain unter den Vorzügen der
türkischen Sprache an, dass es ihr möglich ist in einem einzigen Worte
fünf incompatible Bedeutungen zu vereinigen.
4 bei as-Sujütij Muzhir Bd. I p. GP
536
Goldziher.
£ U«Ljd^l |V-^A.O^Lj ä-X* ft y-2-X+£~^* ^L»£LftÄj
Jjü dUö ^y£. lü-g.j'üislä’ JLojI cL»-E
\Xj^Lj* XaXc iJIO^ &X^ (^ÄJI ^Äx*jf ^Ä*UC |V-W^I
vJolixJI Oj-£J [J ^iXUciS? (jL^jJW ÜtXi-iyi X&ftjjl ^ÄcT toli
£i vldsLiJi i$ty U4|f Wenn also Ibn Faris eine Apologie
der addäd schrieb, so batte diese ohne Zweifel dieselbe Ten
denz: die nämlich, die arabische Sprache gegen die sLtV^I JjM
gegen welche al-Anbari in dem eben citirten Stücke
zu Felde zu ziehen sich rüstet, zu vertheidigen.
c) Ibn Färis’ Standpunkt, den er der Synonymik gegen
über einnimmt. Hamza al-Isphahäni, ein Gelehrter irani
schen Ursprunges, ebenfalls einer Derjenigen, welche auf ihr
Iranierthum pochend, innerhalb des Islam dasselbe wieder in den
Vordergrund zu drängen suchten, und der dieser Bestrebung
auch in der Sprachgelehrsamkeit Ausdruck gab ', will den Sy-
nonymenreichthum der arabischen Sprache dadurch ins Lächer
liche ziehen, dass er auf die besonders reichlich bedachte
<3- gruppe das witzige Wort ironisch anwendet:
,die Namen für den Begriff Unglücksfall
gehören auch zu den Unglücksfällenb Allerdings, wenn diese
Namen nicht verschiedene Momente und Schattirungen eines
und desselben Begriffes ausdrückten, vielmehr einander voll
kommen deckten. Dass dies Letztere nicht der Fall ist, mussten
alle diejenigen Sprachgelehrten vertheidigen, die in dem Punkte
der Synonymik die Ehre der arabischen Sprache retten wollten.
Dahin gehört natürlich auch unser Ibn Färis. Er stellt sich
diesbezüglich ganz auf seines Lehrers Abu-l-'Abbäs Ta'lab’s
Standpunkt, indem er die Existenz von Synonymen im eigent
lichen Sinne des Wortes in Abrede stellt; vielmehr behauptet
er, dass verschiedene Benennungen eines und desselben Gegen-
1 S. diese Beiträge I p. 45 des Sonderabdrnckes.
2 at-Ta r älibt's Fikh-al-lu'^a (Dahdfth) p. fpp
Beiträge zur Geschichte der Spracbgelehrsamkeit bpi den Arabern.
537
Standes, denselben immer von verschiedenen Gesichtspunkten
und mit Hinblick auf verschiedene begriffliche Momente ins
Auge fassen, was dann aus der Etymologie des Wortes klar
erhellt. Daraus folgt nun für ihn wieder ein Argument mehr
für die Vorzüglichkeit der arabischen Sprache. ,Kein Volk'
sagt er ,kann die arabische Nomenclatur des Schwertes, des
Löwen, der Lanze oder anderer Dinge in seine eigene Sprache
übersetzen. Im Persischen muss sich der Löwe mit einem
einzigen Namen begnügen, wir aber geben ihm fünfzig und
hundert; Ibn Chälaweihi hat 500 Namen für den Begriff Löwe
und 200 für den der Schlange zusammenstellen können'. 1
Dieser unübertreffliche Synonymenschatz ist aber ein noch
unwiderlegbarerer Beweis für die Unübertrefflichkeit der ara
bischen Sprache einerseits und für die hohe Begabung des
arabischen Volkes andererseits, wenn die Synonyma nicht der
Natur sind, dass sie einander vollkommen decken, sondern auf
einer scharfen Beobachtung der Dinge beruhen, welcher kein,
auch nicht das geringfügigste Moment entgehen konnte, ohne
dasselbe sprachlich fixirt zu haben.
Diese falsche Anschauung von der Synonymik wucherte
Jahrhunderte lang in der arabischen Sprachgelehrsamkeit fort.
Erst in neuester Zeit hat die arabische Gelehrtenwelt mit
diesem Vorurtheil und mit den sjj.jiJI Jo Lai überhaupt zu
brechen begonnen. Butrus al-Bustäni hat nämlich in einer
im Jahre 1859 in Beirut gehaltenen Vorlesung sehr verständig
über die arabische Synonymik gehandelt und die alten An
schauungen von Grund aus wankend gemacht, ja seinen Lands
leuten gegenüber die These vertheidigt, dass er die arabische
Sprache gerade ihrer Synonymik wegen für eine arme Sprache
hält 2 .
1 Muzhir Bd. I p. laf“
2 Chutbä fT ’adäb al-ärab lil-'ilm (Beirut 1859) p. p ff. JLilj
538
Goldzihef.
cl) Im Anschluss an das ^-I ci^aLLl l-o ob
folgt das id *üj hl i_j juU i_jb (I p. tov—Gl vgl.
II p. fff und ff<i), welches in ungefähr 30 kurze Paragraphe
zerfällt, jeder beginnend mit den Worten LJjJtll
welche den zweiten Theil des Titels des ganzen Werkes
rechtfertigen. In diesen Paragraphen werden Eigen-
thümlichkeiten der arabischen Sprache vorgeführt, die sonst
in keiner anderen Vorkommen. Es würde uns zu weit führen,
^ 9
diese nach der Reihe aufzuzählen; einigen werden wir
im folgenden Abschnitte dieser Abhandlung begegnen.
V. Wir hätten nun, wie ich glaube, den muthmasslicben
Inhalt des hier besprochenen Werkes genug ausführlich recon-
struirt. Zu einem solchen Werke konnte wohl, wie nun Jeder
einsehen wird, at-Ta'älibfs gleichnamiges Werk nicht als Ein
leitung dienen. Aber dennoch muss ich bemerken, dass diese
beiden Bücher in irgend welchem Zusammenhänge mit einan
der stehen, den man aus dem, was aus at-Takilibi’s Buch
bisher bekannt geworden, nicht recht bemerken konnte. Schon
der Umstand, dass ein späterer Schriftsteller den schon von
einem Vorgänger angewendeten sonderlichen Titel äidJ! xjü
auffrischt, muss uns auf den Gedanken leiten, dass der spätere
Schriftsteller sich mit dem Werke seines Vorgängers beschäf
tigt haben mochte. Unser at-Ta'älibi hat sich aber nicht nur
damit beschäftigt, sondern dasselbe auch ehrlich ausgeplündert.
Diese Beute legte er nicht in demjenigen Theile des jütAJI «JLi
nieder, welcher durch Rusaid Dahdäh’s Druck bekannt ist,
sondern in einem zweiten Theile dieses Buches, welcher nur
in der Wiener und der Leidener Handschrift des Werkes vor
handen ist, und über welchen ich in der Einleitung zu meiner
kritischen Ausgabe dieses Werkes (gegenwärtig unter der
Presse) des Nähern zu sprechen gedenke. Ein grosser Theil
• w c- j , 8/ '
jüLiiAt £ Lgj IbLftJt Lg^i Lg..! hl
(j y 9 £- — ^ q
bLaääI hl pI^JLs LgAsJ« üpr hl ’s i ö• Er lässt die Synonyma
durch die Zusammenstellung des lexicologischen Materials der verschie
denen Stämme von Seiten der Sprachgelehrten entstehen.
Beiträge zur Gescliichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
539
der hundert Abschnitte dieses zweiten Theiles (nach meiner
u, . w - E -
Ansicht y» oder betitelt) ist nun ; wie ich
mich nach einer eingehenden Vergleichung dieses Theiles mit
den Sujutfsehen Fragmenten aus Ihn Färis überzeugte, direct
dem ä*-U! xJLi des Letzteren entnommen, ohne dass at-Ta'älibi
auch nur im Entferntesten andeuten möchte, wem er seine
Darstellung entlehnt. Es ist dies wieder ein Beitrag zu den
literarischen Diebstählen in der orientalischen Literatur. Zu
meist hat er, soweit ich übersehen kann, das piai ub
xJyb ^ ausgeplündert, und z. B. den ersten Paragraph dieses
bäb, wie ich unten zeige, Wort für Wort abgeschrieben. ■—Er
schreibt jedoch nicht immer wörtlich ab. Das System dieser
hat er vollkommen dem Ibn Färis entlehnt, die
in den beigebrachten Paragraphen angeführten Beispiele jedoch
zumeist vermehrt, namentlich hat er eine Fülle von poetischen
Belegstellen, an denen es dem Ibn Färis’schen Buche mangelt,
hinzugefügt, so dass er in Anbetracht dieses Umstandes nicht
gerade Plagiator, sondern im gewissem Sinne Umarbeiter
zu nennen wäre. In jedem Falle wird es sich nicht läugnen
lassen, dass seiner Arbeit die des Ibn Färis zu Grunde liegt,
und nur die gänzliche Verschweigung des IJamens des Letzteren
muss dem Ta'älibi zum Vorwurf gemacht werden.
Es würde eine grosse Auswahl von Stellen zu Gebote
stehen, um unsere Ansicht zu bekräftigen; wir glauben aber,
dass auch die folgende kleine Zusammenstellung genügen wird,
um die von uns hier aufgestellte Behauptung über das Ver-
hältniss des von at-Ta'älibi zu dem äidJ! aäi des
Ibn Färis zu begründen:
at-Ta'älibi: 1
viUö JjLftj' 1 iäiij
yuu Oj-wbSt JUUS"
Ibn Färis: 2
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1 Blatt 107 verso (Hschr. der k. k. Hofbibliothek).
2 Muzhir I, p. |eA.
Sitzungßber. d. phil.-hist. CI. LXXIU. Bd. JTI. Hft.
35
540
Goldzilier.
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Ibn Färis: 5
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(Sure XXXVI v. 39) ,*jXjD1
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1 Cod, ol^ww.
2 S öre XXI v. 31 vgl. al BucliarT LX nr. 25 (ed. Krelil Bd. II p. l).
3 Bfllak : l , ffi5l V und £yJ.
4 Cod. der k. k. Hofbibliothek Blatt 125 verso
5 Muzhir I p. ( a y.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelelirsamlceit hei den Arabern.
541
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1 Süre II v. 259.
2 Süre XVI v. 72; — XXII v. 5.
3 Blatt 126 recto.
4 Muzhir I |*|>»|*».
5 Bülaker Ausgabe: dl!ö r
35*
542
Goldziher.
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at-Ta'älibi: 1
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Manche Paragraphen, in denen sich Ihn Paris nur ganz
kurz fasst, sind durch at-Ta'älibi in ausgedehnterem Umfange
bearbeitet; jedoch nicht ohne dass man, einmal auf des Letzteren
Verhältniss zu seinem Vorgänger aufmerksam geworden, über
sehen könnte, dass wir es blos mit einer ,erweiterten Ausgabe'
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Ihn Färis: 2
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1 1. c. Blatt 126 verso,
2 Muzhir p. f ö <J.
3 Cod. ^jJSy
4 Cod. tjLjJf.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
543
des &*JUI aüi des Ibn Färis zu thun haben; denn einmal ist
die Ueberschrift des Paragraphen wörtlich beibehalten., und
zweitens das von Ibn Färis boigebrachte Beispielematerial
verwendet und nur mit einer mehr oder weniger reichlichen
Auswahl von Dichtercitaten ausgeschmückt. Ich wähle für diesen
Punkt ein Beispiel, das zugleich eine Ehrenrettung at-Ta'älibf s
bewirken möge, indem es uns zeigt, wie reichhaltig er die
dürre Darstellung des Ibn Färis aus der vollen Vorrathskammer
seiner eigenen Belesenheit in den Dichterwerken auszustatten
verstand, und wie er sich hiedurch in gewissem Sinne ein
kleines Anrecht darauf erwarb, diese Arbeit sein Eigenthum
zu nennen.
Wir wählen denn: Ibn Färis (bei Muzhir I Ua):
‘ kiuiiA.1 Skali ,jwJ Lo J.I JjiiJ! äiLöj
j Aj^j ijl USlAI ür?*“
lol; und stellen dieser kurzen trockenen Ausein
andersetzung die durch angemessene Anführungen erweiterte
des Ta'älibi 1 an die Seite :
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^ kaxiAt Lo äiLc4 cLo-i
JLä UV ^jUUüll J.*äj oUAl (j I
* ju; yipr 5but *
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* IS^w (?) ollt jU“Jl ^
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( > JjjA:s* ^.«yjoK (j-o äJ gLSct
J ü ' O-'” 0 . . ^ 5 3 "| * 9 r
C+j Q !<XgJ LUdo/i AÜ J-»os!
UaU^ JUj äJüT v-jIIV ^ 1 U^uuo ^ jJ kclic Ü
iuJÖ, ; !aJJ Si5j| ^ 2 jooli'li (JG-äaj. (jl A^jJ l^lAo?* Lg-o
1 Blatt. 117 recto.
2 Sfire XVIII v. 76 vgl. al-Buchärl (ed. Krehl I p. 10) III ur. 44.
544
Goldziher.
9 Ü Cm ü* ü ^
Cio!^ Lo Jj„oJ! JLs S^LaXw^!!^ y I ^ OpLH £ty*j ji ^y<
!^lpe£ ji£\ ^ yjOL 1 LUcki cXi! ^6 IjUJ
Ä li JLs ^jlyJU LaÄaj r .öf ^ Xaxi id
o.Xüi j^+jc ^a*J Ho LJ Ojjt-U oj.aj jJjc u-LaJI
y£- Uü I JLs l+f L§J JyS^y J yjL) ttst 3 l+4-l jllÜ I_>j.aJ!
* ^ ju, pp.T fei *
5*^-1 J. yS^f UjU IJja ^ol pJ. JLs J^s jvj
tyJ.Ü Lg.AS ÜcX^fci jo>. vi *Jpi Ijivi. Ui!. ^-V*J0 ^AaJ
Jji* Ui)^5c> jjL j«ß &UI aüiH
löl * LpxiLsß JLS oJLÜ &4-g^ ^
ioUl öjmjj jULM cX' -0 ^UJo ^■■“'^ XÄ*iJ! ^jKs
^"LaaS*^!!^ J.*äJI J. j ^-A^aII ^g4.*Xs 1 (JaI^S 0 V-' ■ «
lXaä! ^jeLLXJTj oU.5^ ^tXjpJ! jU-^ 1 p JLs aj H<3!^[ «jJ|
^Syc Ls JLüi aJ ^SLx *Ljs? ^yLxjJ jj-Uil ^yi ^UaJT
UaX^S 5 yo JLäs LlC^Sj cyj.+J (jl dyyjyS* löli ^jiLi lXax
(jLLo^l (Xs^j jis, a.*J jjt (Xs^.J ldy> L)-? UXs
21 L^as UxU^-* JLaj jJjt JLstXi u^UaJ! JLäs
Auf den Stoff selbst, den at-Ta'älibi hier bespricht, kom
men die Commentatoren arabischer Gedichte 3 immer wieder
zurück, so oft ein Dichter einmal in metaphorischer Weise
1 Cod. (XjJ.
1 Vgl. SjLwl^öj.^ 5t5y Li>^*_s ^1 (jdJy+Jl 3\y\ !ö| bei al-
BeidAwi I. p. Z. 26.
3 Ein Beispiel dieser Art citirt auch al-Beidäwf 1. c. p. iV . Z. 12 — 14.
Beiträge zur Lfesehiclite der Spraoligelehrtsamkeit bei den Arabern.
545
von einem unbelebten Ding- aussagt: es wolle, oder bestrebe
sich u. s. w. wie dies doch in poetischer Sprache gar häufig
der Fall ist. Dem arabischen Commentator scheint in solchen
Fällen dieser poetische Sprachgebrauch immer eine gewaltige
Kühnheit, welche der gelehrten Rechtfertigung bedarf. 1
Aus den aus beiden in Rede stehenden Werken vor
geführten Stellen wird der Leser ersehen, dass, wie wir sagten,
at-Ta'älibi den Ibn Färis vor Augen hatte und das durch diesen
in gedrängter Kürze Erwähnte weitläufiger ausgearbeitet hat.
Es ist allerdings möglich, dass in dem Citat des Muzhir selbst
nur ein Auszug aus dem betreffenden Paragraphe des Ibn
Färis’schen Werkes vorliegt ; was ich aber bezweifeln möchte,
da in diesem Buche wie aus allem anderen uns vorliegenden
Material zu ersehen, Citate aus Dichterwerken immer nur sehr
spärlich vertreten sind.
Andere Paragraphe hat at-Ta'älibi noch freier bearbeitet;
aber auch an diesen ist das Grundwerk, welches er vor sich
hatte ohne es zu nennen, nicht verkennbar. Ein Beispiel für
ganz freie Bearbeitung will ich in dem Abschnitt über das
iltifät 2 vorführen, d. h. über diejenige rhetorische und poe
tische Art, dass der Dichter oder Redner, ohne einen Ueber-
gang anzubahnen, plötzlich von der Anrede an eine Person
auf die an eine andere hinüberspringt. Al-Beidäwi nennt
dies ,ein Sichverzweigen in der Rede und das PTinüberneigen
von einer Art zur andern, damit der Sprechende durch diese
Abwechslung neuen Schwung, der Zuhörer neue Aufmunterung
erhalte' 3 , oder wie er sich an einer anderen Stelle 1 ausdrückt
kiJUlJU. Der hebräische Uebersetzer von Abu-l-Walid ibn
1 Gleichwie es z. B. der Midräs nicht als selbstverständlich findet, wenn
es Jeremjä IX v. 18 heisst: ,denn ein Wehgesclirei wird von Sijjön her
gehört 1 , da doch Holz und Stein nicht weinen können. (Pethichtä zu
Ekhä rabbä §. 8. OMSK B'313 Ö'Jt» ’311JTTIW IpK |V3tB»ÖWJ TO blp "3
maia u. a. m.
2 Vgl. al-Beidäwi Bd. II p. Z. 16.
3 ibid. Bd. I. p. v> Z. 17. Uo.aAL>2 »J
4 ibid. Bd. I. p. Z, 4.
546
Go 1 dz i her.
\
Gannäh’s ,Kitäb-al-luma c ‘ nennt diese Redewendung' 1 ntääru
(die wörtliche Uebersetzung des arabischen wenigstens
glaube ich das unverständliche Htaan der Ausgabe des Herrn
Goldberg dahin emendiren zu dürfen. — Statt oL&äJI finden
wir unter den in der Einleitung des Ibn Badrün aufgezählten
rhetorischen Figuren: jo'uixJI :j .
Ibn Färis 4 führt in seinem von uns hier besprochenen
Werke die Redewendung ebenfalls unter den
I auf und sagt:
(AsLciJI «Jyd |vj
Nun hat auch at-Ta'älibi unter seinen hundert Jyxxi
eines der hier besprochenen Redewendung gewidmet, so aber,
dass man in seiner Besprechung derselben keine Spur von
einer Benützung des Ibn Färis’schen jüuül näi bemerken kann;
1 Sepher hä-Eikmä (ed. Goldberg p. 225.): ntSjnni HtOän |l»bn l^KDI
ninjtn 'pbrua pbn, Im arabischen Originale steht wahrscheinlich:
2 Als Niph’al von hier der VIII. von entsprechend.
3 Commentaire historique sur le poeme d’Ibn Abdoun ed. Dozy
p. (" Z. 4.
4 Muzhir p. ( ö /v.
5 Sure XI v. 17.
6 ibid.
7 Sure II v. 234.
Beiträge zur Geschichte der Sprachgelehrsamkeit bei den Arabern.
547
es fehlt nämlich die Erklärung des selbst und auch aus
dem Koran, welcher für diese Redewendung viele Beispiele
hatwird ein anderes Beispiel angeführt, dem dann noch nach
at-Ta'älibis Art, Citate aus den Poeten beigegeben sind, in
Folgendem: 2
20 i ^1 ySb cp LaJ ^11
Ow”*° 0 " j x ö ^ 0 x j jjj 9
pp.JUO.JI JLs 1*5"" 2oJ! OA-äXlj Ü315 S^5"jJ £>y*-'S |*J
y)S lX5j LIxA coo\li
^.kXJI^ J.£xJ! ^LcliLl
^ajuo o-äaJ) |v3‘ Xjlkxs./)
JLi’ l+5b 1 ^jLxXill icaayJuJ Jlüi Äjoik5"
Lg.AAOpLc. jS<Xj!
pULJl ^JLvj U,j *3^.äj
jiXÄÄwpci LjA5" äJj| jj.r. 2JJI JLi 1*5.
1 3
Aij oIlXxj
Ich habe ausser dem terminus ,iltifat 4 für die in diesen
beiden Stücken behandelte Redewendung noch eine andere
Benennung vorgefunden. In einem fälschlich dem Zamachsari
zugeschriebenen Tractate: cjLU.5" ^ ._p:s\X.JI ^SIaJ! ^cXÜ
u ^
cpvxJI ^Lgp.uoJj cyl^buxJ^ — eine Art Isagogik in die Rhe
torik des Korans, auf welche ich bereits einmal zu verweisen
Gelegenheit nahm 1 — werden in einem besonderen Capitel 4
,die Arten der Anrede im Koran' (ollaiLl j»Luj'f) abge
handelt, und unter den fünfzehn Arten auch das uliaia.
1 Sürc I v. 4; X v. 23; XXXV v. 10; XLVIII v. 9—10 u. a. m.
2 Blatt 129 verso.
3 Sure XX v. 63—64.
4 S. diese .Beiträge“ Nr. I. p. 13 (des Separatabdruckes) Aum. 5.
5 Hschr. der Leipziger Universitätsbibliotkek, cod. Ref. Nr. 357. Blatt
9 verso.
548
Gol daiher.
i'' ^ -c-
mit drei Unterarten angeführt, deren dritte: ,_dbli£ ^1
^ X ^ Ü ^ 0 % -j g ^ ^ k W ^ ^ ü rf 1 *
ItXsiLi cJUXwpl lj| ^.a*J! J,l oliait o^aj |vi' Iäajs.
1 xJyjkujy Jjb l«.^ycj IvJ <jo.. — Also wäre auch
eine Benennung dieser rhetorischen Wendung, was dann nicht
mit der gleichnamigen Versform 2 zu verwechseln ist.
Nur noch ein Beispiel will ich aus der Masse derjenigen,
die mir die Vergleichung beider Werke darbot, zum Beweise
dafür anführen, dass at-Ta'älibi seinen Vorgänger nicht immer
ausplündert, sondern mit seinem Gegenstand, allerdings der
von Ibn Färis’ Werke ausgegangenen Anregung folgend, zuweilen
frei verfährt; und zwar ein Beispiel, wo unser Verfasser seine
Belege, gegen seine sonstige Gewohnheit, mehr dem Korane
als den Dichtern entnimmt. Es handelt sich um die Anwendung
des Perfects im Sinne des Imperfectums und umgekehrt; dar
über sagt Ibn Färis ganz kurz: 3
JälLLj jjl I
i i 11T 90 ^ "T * i ü" ° 5 |i p° 9
^5f ' &AJI ye] ^ ^jöl/o y&j JaJLU y
g i ► i " " »T \ u ^ | | ’' ü ,ü T »5 - u ^ ^ ? 0 > f-
^jdoLüftJI jXXä I/O )yXJÜ]y i^Aj! X/O) (i^-O ^30
o-i. j Lo ^ I
Diese Auseinandersetzung erweitert nun at-Ta f älibi in
freier Weise:
Q G ^ ü 7 ^ ü - y **0 8 y ^
FlLL. (J./.äÄa^«c y&k y^L+JI iöjLU JoloJI yä, J~o.i
aii?pr üit ju
I*Xi J»Gi£u*+J I JajLb yä, (JoLs y£- Jlij
1 Sure XLVIII v. 9—10, allerdings nur nach der LA des Nafi', denn
nach der des Ibn Katir und des Abu 'Amt (lyjuCyjJ in der 3. Per
son) findet auch hier kein ,tala.wwun‘ statt.
2 S. Mehren Rhetorik der Araber p. 173.
2 Muzhir I p. 109. — * Sure XVI v. 1. — 5 Sure III v, 106. —
6 Sure II v. 96, — 2 Sure LXXV v, 31.
Es genüge so viel an Beispielen; das Beigebrachte könnte
noch um ein Bedeutendes vermehrt werden.
Note I.
Bücherumfang nach Kameellasten berechnet.
(Zu S. 11). Die Gewohnheit der arabischen Gelehrten,
den Umfang der Bibliotheken nach Kameellasten zu bestim
men, kann vielfach durch Beispiele belegt werden. Az-Zamach-
sari 3 sagt, die Tora bestehe aus tausend Capiteln, deren jedes
tausend Verse fasst und soll im Ganzen siebzig Kameel
lasten betragen; Ibn an-Nadim berichtet, 4 dass indem drei
Tagereisen von Konstantinopel entfernten Haj kal eine Biblio
thek befindlich sei, die gegen 1000 Kameellasten beträgt;
Ibn Kajjim al-Gauzijjä sagt in seinem Buche oUü
5 ^Lä1II 5 dass der Umfang
des ganzen Talmud ungefähr eine halbe Maulthierlast
(Jju ausmache; Ibn al Chatlb schätzt 0 den
Umfang der Schriften des Abu Muhamined ibn Hazra aut
eine Karne
1 Sure II v. 85.
2 S u r e IV v. 151 und noch an vielen anderen Stellen.
3 Kassäf zu Sure xk
4 Fihrist Bd. I p. 26.
5 Leidener Hschr. cod. Testa nr. 1510 Blatt 113 verso.
6 Dozy im Catalog. Codd. Orient. Lugd. Batav. I p. 230 penult.
550
Goldziher.
sclieebaues zu Damaskus betrugen achtzehn Kameel-
lasten u. a. m. 1
So wie nun Ketzer einem in Aegypten und in anderen
muslimischen Ländern häufig erneuerten Ausnahmsgesetze zu
folge nicht auf Kameelen und Pferden reiten, sondern als
Reitthier nur den Esel benutzen sollten (— az-Zamachsari
sagt einmal in einem Epigramm: 2
T
*y ul
und wie das Reiten auf Eseln überhaupt als Zeichen der Nied
rigkeit betrachtet wird: 3 so wird auch der Umfang von ketze
rischen Bibliotheken nicht nach Kameel- sondern nach Esel-
laston bestimmt. Dieser Gegensatz tritt am Klarsten hervor
in einem Beispiele, welches ich einer Quatreinere’schen Ab
handlung entnehme. 4 Als nämlich der Sultan Mahmud b.
Sebuktekm die Stadt Rei eroberte, liess er die Bibliothek der
Bätiniten, w'elche astrologische, philosophische und räfiditische
Bücher enthieLt formant la Charge de cinquants änes
plündern und verbrennen .... ,Les autres livres (also wahr
scheinlich rechtgläubigen Inhaltes) qui composaient la
Charge de cente chameaux' wurden nach Gaznah überführt.
Zu vergleichen mit dieser Bestimmung nach Kameellasten
sind ganz ähnliche Angaben im Talmud; wie wenn z. B. er
zählt wird, dass ein Gesetzeslehrer dem Anderen eine Sendung
von 13 Kameellasten, enthaltend Fragen über das talmüdische
Speisegesetz, übersandte; 5 oder wenn berichtet wird, 6 dass in
dem angeblich verloren gegangenen Midräs zu den Büchern
der Chronik (genannt pem’ ibd) von dem Worte bstK (I. Chron.
VIII. v. 37) bis zu der Stolle, wo dasselbe wiederkehrt (ibid.
X. v. 43 oder vielleicht gar schon VIII v. 38.) vierhundert
1 JäUüt Bd. II p. 15.
2 al-Absihts Mustatrif (Büläker Ausg.) Bd. II p. p'yl.
3 Dahin gehört auch, dass nach dem Berichte des Talmud die Worte
innn by Da'S'Tl (Exod. IV. v. 20) durch die 70 Dolmetscher in bvi
verändert wurden. (Megillä fol. 9. a.)
1 Memoire sur le gout des livres cliez les Orientaux p. 19.
3 C hui lfn fol. 95, b. niSnß’p'SD ’böJID’bn-
6 Pesächfm fol. 62, b. XBnn ’böJ HXÖ ID1N lryti bjtxb bXN J’3 (Mar
Zuträ).
Beiträge zur Geschichte der Spracligelehrsamkeit hei den Arabern.
551
Kameelladungen Deräsoth enthalten waren. — Vgl. noch
einen Ausspruch 'Alis, den ich bei al-'Gazzäli angeführt
gefunden, 1 wonach man zu der ersten Sure des Korans sieben-
zig Kameelladungen Kommentare abfassen könnte: so viel
des Nachdenkens geben diese Worte.
Note II.
(Zu S. 19) Schon von den vorislamitischen Arabern wird
berichtet, dass sie ausser der Genealogie, Traumdeutung und
Wetterkunde noch die Wissenschaft der Religionen
(jjLoüif 2 betrieben haben sollen; die in diese, von der dama
ligen Culturstufe der Araber ausgehend genug räthselhaft er
scheinende Gruppe gehörenden Angaben und Traditionen scheint
der Genealog Ilisäm-al-Kelbi in seinem Buche uUf"
gesammelt zu haben. Von eigentlicher Religionsgeschichte
scheint das älteste arabische Literaturprodüct zu sein: das
^ ibuLJI ijpi} 3500 waralyät
umfassend, von dem ägyptischen Gelehrten al-Muchtär-al-
Musabbih! al-Harräni (st. 420 H.) 4 ; dann folgen die reli
gionsgeschichtlichen Arbeiten des Abu-l-Käsim Ahmed al-
^ C X
Fauräni (st. 461. H.) von welchem gemeldet wird 5 : >—
JdJtj Jt^ Beson
ders den Monotheismus ins Auge fassend schrieb ,der Philosoph
der Araber' al-Kindi: £ J.-UJ! o’r 5 ! ^ kJIwj 5
specielle Religionsgeschichte trieb noch Sihäb-ad-dTn-al-
II amawi, welcher eine muhammedanische Sectengeschichte
schrieb 7 u. a. m. Ueber eine Religionsgeschichte von muham-
medanischer Seite in malayischer Sprache s. Journal of Royal
Asiatic Society New series II (1866) p. 131 nr. VII.
1 Ihjä 'ulüm ad-din (Hschr. der k. k. Hofbibi. Cod. Mixt. nr. 312)
Blatt 59 verso, und Gl recto.
2 as-Sahrestäni Kitab-al-milal p. ult.
3 Fihrist Bd. I p. ‘Jt, 24.
4 Ibn Challikän nr. CG4. Bd. VII p. ‘ff.
5 ibid. nr. 372 Bd. III p. ‘ff.
6 Fihrist Bd. I p. fla, 24.
7 Hfigi Chalfä Bd. V p. 130.
552 Golclzihor. Beiträge zur Geschichte der SprachgelehrBamkeit bei den Arabern.
Es ist bemerkenswerth, dass diese Religionshistoriker zu
meist von nicht über alle Zweifel erhaben stehender Recht
gläubigkeit waren; selbst as-Sahrestäm wird wegen seiner Hin
neigung zu ketzerischen Secten getadelt; er soll in seinen
Predigten nie Texte aus dein Koran angeführt haben
Nachtrag.
• - O 9.
S. 8 und 12. Statt (al-mu^mil) wie an einigen
Stellen dieser Abhandlung irrthümlich gedruckt ist, ist zu lesen
(al -mugmal), wenn vom Lexicon des Ihn Färis die
Rede ist.
S. 37 Vers des Garir. Vgl. Hamäsa p. Pa, 1 (Tebrizi),
wo der erste Halbvers: öl : a 1-Gau-
hari s. v. hat statt die Lesart: £^-rj.
1 Jäküt Bd. III p.
Druckberichtigungen zu dem Aufsatze über die Psychologie des Wilhelm
von Auvergne.
Seite 258, Zeile 3: Inhaltsübersicht statt Inhaltübersicht
„ „ „ 16: vor deren statt von deren
BIBL ÖAW
+YW18984803