Müller, Über das lateinische Perfectum. 225 Über das lateinische Perfectum. Von Dr. P r i e d rich Mülle r. Professor an der Wiener Universität. Die Bildung des lateinischen Perfectums ist bekanntlich von Seite der vergleichenden Sprachforscher in verschiedener Weise zn erklären versucht worden. Wir finden diese Erklärungen alle in Kürze hei Corssen: Uber Aussprache, Betonung und Vocalismus der lateinischen Sprache. II. Aufl. Bd. I. S. 607 ff. verzeichnet und vom Standpunkte der lateinischen Lautlehre gewürdigt. Nachdem sich die meisten derselben als ungenügend herausgestellt haben, gibt Corssen seihst im Anschluss an Aufrecht und Schleicher eine Erklärung, nach welcher das lateinische Perfectum mittelst eines gesteigerten ßil- dungsvocales i (gleich dem « des Sanskrit im Praesens, Imperfectum und Aorist) und in einigen Personen (2. Sing. 2. und 3. Plural) mit telst eines s gebildet wird, mithin eine innige Verwandtschaft mit dem sogenannten fünften Aorist des Sanskrit zeigt. Gegen diese Erklärung lassen sich nach meiner Ansicht fol gende Einwendungen erheben: I. Ist es sehr misslich eine ausschliesslich sanskritische Erschei nung zur Erklärung lateinischer Formen heranzuziehen. Den Formen mit dem sogenannten euphonischen i des Sanskrit (im Praesens, Imperfectum, Aorist und im Infinitiv sammt den analogen Bildungen) stellt nämlich keine einzige indogermanische Sprache wieder Formen mit diesem i entgegen, nicht einmal im Imperfectum des Verbum sub- stantivum, wo man hei dem hohen Alter dieser Wurzel und dem Vorhandensein derselben in allen indogermanischen Sprachen eine gewisse Übereinstimmung mit Recht erwarten könnte. Sitz.l). d. phil -hist. CI. LXVI. Bd. I. Hft. 15 i