Müller, Indogermanisch und Semitisch. 5 Indogermanisch und Semitisch. Ein Beilrag zur Würdigung dieser beiden Sprachstämme von Dr. Friedrich Müller, Professor an der Wiener Universität. Zu den Fragen von ganz besonderer Wichtigkeit und der grössten Tragweite, mit welchen die höhere vergleichende Sprach wissenschaft noch lange sich wird beschäftigen müssen, gehört jene über das Verhältniss der beiden am meisten entwickelten Sprach stämme, des indogermanischen und des semitischen, zu einander. Die Frage ist gar nicht so einfach als sie auf den ersten Anblick erscheint, und ich glaube sogar, dass die Wissenschaft heutzutage noch nicht auf dem Punkte steht, um sie vollkommen und unzweifel haft zu erledigen. Die Tragweite dieser Frage bezieht sich nicht nur auf die Sprachwissenschaft, sondern auch, und in noch grösserem Masse, auf die Naturgeschichte des Menschen, die Anthropologie. Gelingt es nämlich der Sprachwissenschaft den Beweis zu führen, dass zwischen Indogermanisch und Semitisch eine unzweifelhafte Ver wandtschaft besteht, dass beide Sprachstämme, welche die Wissen schaft bisher geschieden hat, auf eine Einheit zurückweisen, aus welcher sie sich durch einen langen und eigenthiimlichen Process herausdifferenzirt haben, so ist damit auch theilweise bewiesen, dass Volksthum und Rasse sich gegenseitig decken und dass auch die fernere Möglichkeit vorhanden ist, Rassen-Entwicklung und Sprach- Entwicklung in die genaueste Parallele zu bringen. Natürlich muss dieser Beweis methodisch geführt werden und darf sich nicht ohne vorhergegangene strenge Prüfung der Grundlagen auf die Hervorhebung zufälliger Ähnlichkeiten einlassen. Sitzb. (I. piiil.-hist. CI. LXV. Bd. I. Hft. 2